Bundesgerichtshof Beschluss, 05. Apr. 2017 - 5 StR 86/17

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:050417B5STR86.17.0
05.04.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 86/17
vom
5. April 2017
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ECLI:DE:BGH:2017:050417B5STR86.17.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 5. April 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 27. Oktober 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat nachträglich die Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
1. Der bereits zuvor mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Betroffene war vom Landgericht Chemnitz mit Urteil vom 24. Juni 1993 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit versuchter Nötigung unter Einbeziehung einer Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden; die Einzelstrafen für die beiden Anknüpfungstaten betrugen drei Jahre sowie drei Jahre und sechs Monate. Die Strafvollstreckung war am 3. Januar 2000 erledigt.
3
Mit Urteil vom 18. Januar 2001 verurteilte ihn das Landgericht Chemnitz wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Maßregel wurde in der Zeit vom 17. April 2001 bis zum 10. Februar 2016 – mehrfach unterbrochen durch die Verbüßung von Freiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen – vollstreckt. Mit Beschluss vom 27. Januar 2016 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Chemnitz die angeordnete Unterbringung des Betroffenen aus dem Urteil vom 18. Januar 2001 gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt und stellte fest, dass die zugleich mit der Maßregel erkannte Freiheitsstrafe vollstreckt sei. Nach einer weiteren Vollstreckung von Restfreiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen ist der Betroffene seit dem 24. Juli 2016 vorläufig aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Landgerichts Chemnitz gemäß § 275a Abs. 6 StPO untergebracht.
4
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er hier zur Entscheidung stand, bereits zulässig sei, wenn die Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) gegeben seien. Es hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 StGB als erfüllt angesehen und zur Gefährlichkeitsprognose ausgeführt, dass der Betroffene, bei dem eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliege, „mit hoher Wahr- scheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden, § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB“.

II.


5
Das Landgericht hat damit seiner Entscheidung einen unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift unter anderem ausgeführt: Die Strafkammer hat übersehen, dass gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB diese Anordnung nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – einen gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16 mwN; vgl. auch BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2759/12). Diese gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben hat die Strafkammer nicht (vollständig) beachtet. (...) Die Urteilsbegründung genügt nicht den Anforderungen an die gesteigerten Prognoseerfordernisse. Der restriktive Begriff der hochgradigen Gefahr dient dazu, eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu gewährleisten. Demselben Ziel dient auch die Vorgabe, dass diese Gefahr aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Denn diese Forderung zwingt das Gericht zu einer äußerst sorgfältigen, auf konkrete Tatsachen gestützten Bewertung und Begründung. Entscheidend für die Gesamtwürdigung muss sein, die Wahrscheinlichkeit und die Schwere der drohenden Straftaten so aufeinander zu beziehen, dass die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle be- grenzt wird (Jehle/Harrendorf in SSW-StGB, 3. Aufl., § 66b Rdnr. 24 mwN). Es kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass bei einer tatgerichtlichen Beurteilung in Kenntnis des weiter eingeschränkten Maßstabes die Strafkammer bei ihrer Ermessensentscheidung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
6
Dem schließt sich der Senat an. Er verweist zur Notwendigkeit von Feststellungen zu einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG als dem hier heranzuziehenden Prüfungsmaßstab auf die Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 15. September 2011 und 7. Mai 2013 (2 BvR 1516/11 und 2 BvR 1238/12, jeweils zu Fällen einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung“ ; vgl. auch EGMR, Entscheidung vom 28. November 2013 – 7345/12; BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 – 5 StR 52/11, BGHSt 56, 254, 261; KG, Beschluss vom 4. März 2015 – 2 Ws 27/15).
Mutzbauer Sander Schneider
Berger Mosbacher

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 67d Dauer der Unterbringung


(1) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf zwei Jahre nicht übersteigen. Die Frist läuft vom Beginn der Unterbringung an. Wird vor einer Freiheitsstrafe eine daneben angeordnete freiheitsentziehende Maßregel vollzogen, so verlängert sich

Therapieunterbringungsgesetz - ThUG | § 1 Therapieunterbringung


(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann,

Strafgesetzbuch - StGB | § 66b Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung


Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidu

Strafprozeßordnung - StPO | § 275a Einleitung des Verfahrens; Hauptverhandlung; Unterbringungsbefehl


(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf zwei Jahre nicht übersteigen. Die Frist läuft vom Beginn der Unterbringung an. Wird vor einer Freiheitsstrafe eine daneben angeordnete freiheitsentziehende Maßregel vollzogen, so verlängert sich die Höchstfrist um die Dauer der Freiheitsstrafe, soweit die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet wird.

(2) Ist keine Höchstfrist vorgesehen oder ist die Frist noch nicht abgelaufen, so setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Gleiches gilt, wenn das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung feststellt, dass die weitere Vollstreckung unverhältnismäßig wäre, weil dem Untergebrachten nicht spätestens bis zum Ablauf einer vom Gericht bestimmten Frist von höchstens sechs Monaten ausreichende Betreuung im Sinne des § 66c Absatz 1 Nummer 1 angeboten worden ist; eine solche Frist hat das Gericht, wenn keine ausreichende Betreuung angeboten wird, unter Angabe der anzubietenden Maßnahmen bei der Prüfung der Aussetzung der Vollstreckung festzusetzen. Mit der Aussetzung nach Satz 1 oder 2 tritt Führungsaufsicht ein.

(3) Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, daß der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

(4) Ist die Höchstfrist abgelaufen, so wird der Untergebrachte entlassen. Die Maßregel ist damit erledigt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

(5) Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für erledigt, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

(6) Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. Dauert die Unterbringung sechs Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden. Sind zehn Jahre der Unterbringung vollzogen, gilt Absatz 3 Satz 1 entsprechend. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird.

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn

1.
sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und
2.
die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.

(2) Absatz 1 ist unabhängig davon anzuwenden, ob die verurteilte Person sich noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindet oder bereits entlassen wurde.

Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 16. Juni 2010 - III StVK 608/08 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Juni 2011 - III - 4 Ws 207/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Arnsberg zurückverwiesen.

2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Bestimmung des Termins für die Entlassung aus der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten "Altfall" im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Aachen vom 15. September 1994 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in einem weiteren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt; zugleich ordnete das Landgericht seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an.

3

Mit Berufungsurteil des Landgerichts Arnsberg vom 25. Januar 1996 wurde der Beschwerdeführer wegen falscher Verdächtigung in Tateinheit mit Verleumdung in zwei Fällen unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Aachen vom 15. September 1994 und unter Einbeziehung der in diesem Urteil verhängten Einzelstrafen und Aufrechterhaltung der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt.

4

2. Vor den seiner Unterbringung zugrunde liegenden Verurteilungen war der Beschwerdeführer bereits mehrfach einschlägig straffällig geworden: Mit Urteil vom 3. Mai 1977 hatte das Landgericht Mönchengladbach den damals 18-jährigen Beschwerdeführer wegen Mordes und Vergewaltigung in zwei Fällen - die Tatopfer waren 23 und 14 Jahre alt - zu einer Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt.

5

Mit Urteil des Landgerichts Köln vom 12. Mai 1982 war der Beschwerdeführer wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer in Tateinheit mit Raub, versuchter Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Die der Verurteilung zugrunde liegenden Taten hatte er im Rahmen eines ihm zur Vorbereitung der Bewährungsaussetzung der Jugendstrafe gewährten Hafturlaubs begangen. Nach vollständiger Verbüßung der gegen ihn verhängten Jugend- und Freiheitsstrafen wurde der Beschwerdeführer am 28. Oktober 1993 aus der Haft entlassen. Am 11. Januar 1994 beging er die erste der Straftaten, die zu seiner erneuten Verurteilung und Unterbringung in der Sicherungsverwahrung führten.

6

3. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird nach vollständiger Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafen seit dem 21. April 1999 vollstreckt. Am 20. April 2009 befand sich der Beschwerdeführer seit zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung. Zur Vorbereitung der Entscheidung nach § 67d Abs. 3 StGB holte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Arnsberg zunächst ein Gutachten der Sachverständigen Dr. S. und sodann noch ein weiteres Gutachten des Sachverständigen Dr. P. ein. Beide Sachverständigen gelangten in ihren Gutachten übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer weiterhin ein sehr hohes Rückfallrisiko bestehe.

7

Die Sachverständige Dr. S. diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 11. Mai 2009 eine dissozial narzisstische Persönlichkeitsstörung. Der Beschwerdeführer verfüge aufgrund seiner narzisstischen Struktur über ein makelloses Selbstbild, lasse keinerlei Empathie erkennen und sehe sich vielmehr selbst als Opfer an.

8

Auch der Sachverständige Dr. P. stellte in seinem Gutachten vom 27. März 2010 fest, dass der Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 mit ausgeprägten narzisstischen Zügen aufweise. Sein Störungsbild sei besonders gekennzeichnet durch eine erhebliche Kränkbarkeit und mangelnde Frustrationstoleranz, ein kaum ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein, einen erheblichen Mangel an Empathie und eine starke Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten. Anhand der "Psychopathy Checklist - Screeningversion" (PCL-SV) erreiche der Beschwerdeführer 19 von möglichen 24 Punkten, womit im Sinn der Hare-Klassifikation von einer Psychopathie gesprochen werden könne.

9

4. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 16. Juni 2010 ordnete das Landgericht Arnsberg die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an. Nach derzeitiger Rechtslage sei davon auszugehen, dass die Sicherungsverwahrung nicht auf zehn Jahre befristet sei. Die angeordnete Sicherungsverwahrung sei vorliegend auch nicht nach § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB für erledigt zu erklären, da - wie in den eingeholten Gutachten übereinstimmend ausgeführt werde - weiterhin die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden. Nach allen bisherigen Entlassungen und Lockerungen sei er innerhalb kurzer Zeit massiv rückfällig geworden. Auch die beim Beschwerdeführer durchgeführten Therapien hätten seine Verhaltensauffälligkeiten nicht positiv beeinflusst.

10

5. Gegen den Beschluss des Landgerichts vom 16. Juni 2010 legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Mit Beschluss vom 10. August 2010 stellte das Oberlandesgericht Hamm die Entscheidung über die sofortige Beschwerde bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs über den Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 4. August 2010 zurück. Mit weiterem Beschluss vom 30. November 2010 ordnete das Oberlandesgericht Hamm im Hinblick auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 9. November 2010 die Einholung eines Gutachtens zu der Frage an, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Beschwerdeführers abzuleiten sei.

11

Der vom Oberlandesgericht beauftragte Sachverständige Prof. Dr. K. stellte in seinem Gutachten vom 7. März 2011 ausgeprägte dissoziale Verhaltenszüge in psychopathischer Ausprägung fest. Der Beschwerdeführer verfüge über eine hohe Durchsetzungsbereitschaft mit manipulativen Fähigkeiten. Im Zentrum stehe seine maximale Egozentrik, bei der die Belange anderer Menschen so gut wie keine Rolle spielten. In eindrucksvoller Weise bediene er sich einer steten und kompletten Schuldzuweisung an andere. Der Beschwerdeführer werde jedoch nicht durch eine psychische Störung zu immer neuen Straftaten gedrängt. Vielmehr gehe es ihm in seiner absolut egozentrischen Art ausschließlich um die Befriedigung durchaus normaler menschlicher Bedürfnisse und Wünsche, nämlich nach sexueller Befriedigung, nach Einfluss, Macht, Durchsetzungsvermögen sowie dem Gefühl eigener Stärke und Überlegenheit. Diese im Grundsatz normalen menschlichen Bedürfnisse habe der Beschwerdeführer in der Vergangenheit nicht in prosozialer, kooperativer und einvernehmlicher Form zu entwickeln versucht, sondern ohne jegliche Rücksichtnahme auf andere durchgesetzt. Dabei sei eine anhaltende und tendenziell eher zunehmende Weigerung festzustellen, wichtige soziale und ethische Normen für sich selbst zu akzeptieren, eigene Schwächen und Fehler zu erkennen und Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Ausdruck einer psychischen Krankheit oder psychischen Störung seien die genannten Verhaltenszüge hingegen nicht.

12

Angesichts der hohen Intensität der begangenen Straftaten, der emotionalen Unberührbarkeit, des völlig fehlenden Lernens aus eigenen Fehlern, der nachdrücklichen Abwehr jeglicher Versuche zur Persönlichkeitsnachreifung und Verhaltenskorrektur und der ausgesprochen raschen Rückfälligkeit trotz vorangegangener langer Haftzeit sei der Beschwerdeführer zweifelsfrei ein Hochrisikoproband, der in eine hohe Gefährlichkeitsstufe einzuordnen sei. Es bestehe ein deutlich erhöhtes, erhebliches Rückfallrisiko mit erneuten gravierenden Sexualstraftaten. Nicht auszuschließen - allerdings weniger wahrscheinlich - sei auch die Begehung eines erneuten Tötungsdeliktes.

13

6. Auf Antrag des Leiters der Justizvollzugsanstalt Werl vom 10. Januar 2011 wurde ein gerichtliches Verfahren zur Unterbringung des Beschwerdeführers nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) eingeleitet. Im Rahmen dieses Verfahrens holte das Landgericht Arnsberg auf der Grundlage von § 9 ThUG zwei weitere Sachverständigengutachten ein, die wegen fehlender Begutachtungsbereitschaft des Beschwerdeführers allerdings nach Aktenlage erstellt werden mussten.

14

Der Sachverständige F. stellte in seinem Gutachten vom 11. April 2011 zusammenfassend fest, dass der Beschwerdeführer von allen bisherigen Gutachtern und allen ihn betreuenden Personen als eine ausgeprägte dissoziale Persönlichkeit geschildert werde. Alle Versuche, im Rahmen von psychotherapeutischen Maßnahmen eine strukturelle Umorientierung in Bezug auf die Betrachtung der eigenen Verhaltensweisen zu erzielen, seien weitgehend gescheitert, da der Beschwerdeführer nur eine geringe Fähigkeit zeige, aus Erfahrung zu lernen. Er zeige weiterhin ausgeprägte Symptome einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10.

15

Der Sachverständige Dr. H. gelangte in seinem Gutachten vom 1. Juni 2011 hingegen zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer nicht an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leide. Alle Störungen - sowohl psychischer als auch körperlicher Art - hätten das Charakteristikum gemein, die Autonomie des Betroffenen zu schmälern und ihn im Hinblick auf seine gesamte Lebensgestaltung zu behindern. Dieser Verlust an Autonomie sei ein wesentliches Kriterium für eine krankhafte Störung. Bei den allermeisten Erkrankungen trete ein Leidensdruck hinzu, der in dem Betroffenen Bestrebungen wecke, eine Milderung herbeizuführen. Ein solcher Leidensdruck und die Einschränkung der psychosozialen Funktions- und Leistungsfähigkeit seien beim Beschwerdeführer jedoch nicht festzustellen. Wie es scheine, seien seine Taten nicht etwa Ausdruck innerseelischer psychischer Konflikte. Vielmehr sei er aufgrund seiner egozentrischen Haltung der Ansicht, sich auf die von ihm gewählte Art und Weise Befriedigung verschaffen zu dürfen. Dies aber sei kein Defizit im Bereich der sozialen Kompetenz. Zwar ließen sich beim Beschwerdeführer formal mehrere Merkmale einer dissozialen Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 feststellen. Das Vollbild der dissozialen Persönlichkeitsstörung sei aber noch durch weitere Eigenschaften - ein völlig desorganisiertes Verhalten und eine Neigung zu biografischem Scheitern - gekennzeichnet, die beim Beschwerdeführer nicht vorlägen. Der Beschwerdeführer sei in anderen Bereichen der sozialen Interaktion gerade nicht gestört und leide auch nicht unter seinen Verhaltensweisen und seinen kognitiven Denkstilen. Damit entfalle ein wesentliches Merkmal einer tatsächlichen psychischen Störung. Die auch vom Sachverständigen Prof. Dr. K. festgestellte ausgeprägte psychopathische und dissoziale Persönlichkeitsstruktur imponiere eher im Sinne eines Lebens- und Denkstils, mit dem sich der Beschwerdeführer stets und auch aktuell noch positiv arrangiert habe. Psychisch gestört zu sein, heiße aber, dass ein Gestörter an sich selbst leide und an seinen mangelnden Lebenskompetenzen scheitere. Der Beschwerdeführer bleibe jedoch in allem, was er tue, souverän. Sein Ich und sein Selbst seien nie erschüttert, und er erweise sich - trotz der langen Hafterfahrung - als überaus robust gegenüber den ihn einengenden Bedingungen.

16

7. Mit Beschluss vom 9. Juni 2011 hob das Oberlandesgericht Hamm den angefochtenen Beschluss des Landgerichts auf und ordnete die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung zum 19. Dezember 2011 an.

17

Zwar sei der Beschwerdeführer in allen über ihn eingeholten Gutachten, die das Gericht für überzeugend halte, als hochgradig rückfallgefährdet und gefährlich beschrieben worden.

18

Die vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 4. Mai 2011 aufgestellten Voraussetzungen einer Aufrechterhaltung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus könne das Gericht jedoch letztlich nicht feststellen. Der Beschwerdeführer leide nicht an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG. Ausweislich der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (BTDrucks 17/3403, S. 53 f.) habe sich der Gesetzgeber mit dem Merkmal der psychischen Störung an die in der Psychiatrie genutzten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angelehnt, ohne jedoch soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein ohne persönliche Beeinträchtigungen mit erfassen zu wollen. Zudem dürfe bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der psychischen Störung nicht außer Betracht bleiben, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Merkmal selbstständig neben das Erfordernis einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten gestellt habe. Das Vorliegen einer derartigen Gefahr könne daher für sich genommen nicht dazu führen, eine psychische Störung zu bejahen. Auf dieser Grundlage sei - wie sich aus den überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. K. und Dr. H. ergebe - beim Beschwerdeführer das Vorliegen einer psychischen Störung nicht festzustellen. Dabei werde nicht verkannt, dass dem Beschwerdeführer in früheren Gutachten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und psychopathischen Anteilen attestiert worden sei. Der Sachverständige Prof. Dr. K. habe in seinem nach Auffassung des Gerichts in jeder Hinsicht überzeugenden aktuellen Gutachten vom 7. März 2011 jedoch ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährlichkeit gerade nicht aus einer psychischen Störung entstehe, die ihn immer wieder zu erheblichen Straftaten drängen würde. Nach Auffassung des Senats könne eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. e) EMRK jedoch nur gerechtfertigt sein, wenn die psychische Störung das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB erreiche. Dies stehe nicht im Widerspruch zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 und des Bundesgerichtshofs vom 23. Mai 2011 (5 StR 394/10). Soweit beide Gerichte ausgeführt hätten, die psychische Störung müsse nicht zur Einschränkung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB geführt haben, beziehe sich dies nur auf den Zeitpunkt der Tat. Ausführungen dazu, welches Gewicht die aktuelle psychische Störung haben müsse, ließen sich beiden Entscheidungen nicht entnehmen.

19

Die somit anzuordnende Freilassung des Beschwerdeführers habe nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bis spätestens zum 31. Dezember 2011 zu erfolgen. Um die Durchführung der erforderlichen Entlassungsvorbereitungen zu ermöglichen, werde die Freilassung auf den 19. Dezember 2011 bestimmt.

II.

20

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 104 Abs. 1 GG. Die vom Oberlandesgericht angeordnete Fortdauer des Vollzugs der Sicherungsverwahrung bis zum 19. Dezember 2011 sei verfassungswidrig. Soweit das Oberlandesgericht unter Verweis auf die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Übergangsregelung die befristete Fortdauer der Sicherungsverwahrung anordne, fehle hierfür eine Rechtsgrundlage, da das Oberlandesgericht entschieden habe, dass die Sicherungsverwahrung zu beenden sei. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sei unterblieben, stattdessen werde der vom Verfassungsgericht gesetzte Höchstrahmen unter Verweis auf notwendige Entlassungsvorbereitungen fast vollständig ausgenutzt. Welche Entlassungsvorbereitungen notwendig seien und aus welchem Grund, bleibe unerörtert.

21

2. Der Kammer hat das Vollstreckungsheft vorgelegen. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

III.

22

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (vgl. § 93a Abs. 2 lit. b) BVerfGG), und gibt ihr statt. Hierzu ist sie nach § 93b in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG berufen, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt sind und die Verfassungsbeschwerde nach diesen Grundsätzen offensichtlich begründet ist.

23

1. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 16. Juni 2010 verletzt den Beschwerdeführer nach Maßgabe des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a. - NJW 2011, S. 1931 ff.) in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

24

Der Beschluss des Landgerichts über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, der die seiner Unterbringung zu Grunde liegenden Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat, genügt nicht den Anforderungen, die sich aus Nummer III. 2. Buchstabe a) des Tenors der Senatsentscheidung vom 4. Mai 2011 (a.a.O., S. 1933) für eine Fortdaueranordnung auf der Grundlage der verfassungswidrigen, aber für vorläufig weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB ergeben. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Strafvollstreckungskammer im Zeitpunkt ihrer Entscheidung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnte, da diese Entscheidung noch nicht ergangen war. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfG, a.a.O., S. 1946 ; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Juni 2011 - 2 BvR 2846/09 -, juris).

25

2. Auch die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Juni 2011 verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

26

Nach Maßgabe von Nummer III. 2. Buchstabe a) des Tenors der Senatsentscheidung vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, S. 1931 <1933>) darf in den von § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB erfassten Fällen die zehn Jahre überschreitende Fortdauer der Unterbringung eines Sicherungsverwahrten, dessen Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen wurden, nur noch dann angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. Aufgrund von Nummer III. 2. Buchstabe b) des Tenors (BVerfG, a.a.O., S. 1933) sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, unverzüglich zu überprüfen, ob diese Voraussetzungen bei den betroffenen Untergebrachten gegeben sind und - falls nicht - ihre Freilassung spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. Die dem absehbaren Prüfungsaufwand der Strafvollstreckungskammern geschuldete Fristsetzung zum 31. Dezember 2011 bedeutet indes nicht, dass der Entlassungstermin innerhalb des verbleibenden Zeitraums bis zum Ende des Jahres 2011 nach Ermessen zu bestimmen wäre.

27

Beruht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf Vorschriften, die nicht nur wegen eines Verstoßes gegen das Abstandsgebot, sondern darüber hinaus auch wegen eines Verstoßes gegen das Vertrauensschutzgebot mit dem Grundgesetz unvereinbar sind - wie insbesondere in den sogenannten "Altfällen" im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB -, überwiegen die öffentlichen Sicherheitsinteressen das grundrechtlich geschützte Vertrauen der Betroffenen nur noch unter den in Nummer III. 2. Buchstabe a) des Tenors der Entscheidung vom 4. Mai 2011 genannten strengen Voraussetzungen. Nur sofern und solange diese Voraussetzungen gegeben sind, genügt die Fortdauer der Sicherungsverwahrung noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, a.a.O., S. 1944 ). Halten daher die zuständigen Gerichte die Voraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht für gegeben, haben sie zwingend die unverzügliche Entlassung der Betroffenen anzuordnen.

28

Eine - wenn auch zeitlich befristete - Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der Durchführung von Entlassungsvorbereitungen kommt insofern nicht in Betracht. Zwar ist es im Hinblick auf eine erfolgreiche soziale Wiedereingliederung grundsätzlich geboten, die von langjährigem Freiheitsentzug Betroffenen rechtzeitig vor dem Entlassungstermin auf die Entlassungssituation und das Leben in Freiheit vorzubereiten (vgl. BVerfGE 116, 69 <90> - zum Jugendstrafvollzug -, BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Mai 1993, NJW 1994, S. 1273 <1274>). Dieses aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsanspruch (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>) abgeleitete Gebot reicht jedoch nur so weit, wie die befristete Fortdauer der Freiheitsentziehung zur Durchführung hinreichender Entlassungsvorbereitungen mit dem Freiheitsanspruch der Betroffenen in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen ist. Von vornherein ausgeschlossen ist ein solcher Ausgleich im Hinblick auf das erhebliche Gewicht des Grundrechtseingriffs in denjenigen Fällen, in denen die Freiheitsentziehung auf Vorschriften beruht, die (auch) gegen das Vertrauensschutzgebot verstoßen. Dem Resozialisierungsanspruch der Betroffenen ist in diesen Fällen, soweit im Einzelfall möglich und notwendig, durch eine dem Fehlen ausreichender Entlassungsvorbereitungen angepasste engmaschige Begleitung und geeignete Weisungen im Rahmen der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 68b StGB) Rechnung zu tragen.

29

Diesen Vorgaben wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Juni 2011 nicht gerecht. Im Fall des Beschwerdeführers, der die seiner Unterbringung zu Grunde liegenden Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat und sich seit dem 20. April 2009 mehr als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung befindet, ist - wie das Oberlandesgericht zutreffend festgestellt hat - § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB nach Maßgabe von Nummer III. 2. des Tenors der Senatsentscheidung vom 4. Mai 2011 anwendbar.

30

Nachdem das Gericht die Voraussetzungen einer Fortdauer der Unterbringung auf der Grundlage der Weitergeltungsanordnung verneint hat, hätte es die unverzügliche Entlassung des Beschwerdeführers anordnen müssen. Dass es den Entlassungstermin statt dessen, bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung, um sechs Monate und zehn Tage hinausgeschoben hat, um - ausweislich der Beschlussgründe - die Durchführung von Entlassungsvorbereitungen zu ermöglichen, verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

31

3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG.

32

4. Das Landgericht hat nach den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, S. 1931 ff.) unverzüglich erneut über die Frage zu entscheiden, ob im Fall des Beschwerdeführers die Voraussetzungen einer Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß Nummer III. 2. Buchstabe a) des Tenors des Urteils vom 4. Mai 2011 vorliegen.

33

In diesem Zusammenhang sieht sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, auf Folgendes hinzuweisen:

34

Das Oberlandesgericht Hamm verkennt in der angegriffenen Entscheidung Sinn und Tragweite des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011.

35

a) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 ausgeführt, dass in den sogenannten "Altfällen", in denen die Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor Inkrafttreten der jeweils einschlägigen Neuregelungen über die Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren, eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus nur noch möglich ist, wenn die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK erfüllt sind (BVerfG, a.a.O., S. 1941 ff. ). Da die Bestimmung der Voraussetzungen einer psychischen Störung bzw. eines "unsound mind" im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, ist für die Dauer der Weitergeltung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung auf den Begriff der "psychischen Störung" aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG als innerstaatlicher Entsprechung des konventionsrechtlichen Begriffs zurückzugreifen (BVerfG, a.a.O., S. 1946 ).

36

Wie den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmen ist, hat der Gesetzgeber mit dem Begriff der "psychischen Störung" ausdrücklich auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK entwickelten Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung Bezug genommen. Er hat damit in Abweichung von der bisherigen Rechtslage, in der lediglich zwischen der Unterbringung gefährlicher Straftäter in einer Justizvollzugsanstalt zu Präventionszwecken auf der einen und der Unterbringung psychisch Kranker, die im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit Straftaten begangen hatten (§§ 20, 21, 63 StGB), auf der anderen Seite unterschieden wurde, erstmals die besonderen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK konkretisiert und eine weitere Unterbringungsart für psychisch gestörte, für die Allgemeinheit gefährliche Personen geschaffen, bei der im Rahmen des Verfahrens eine psychische Störung festgestellt und die Unterbringung sodann nicht in einer Justizvollzugsanstalt, sondern in einer therapeutischen Anstalt vollzogen wird (BVerfG, a.a.O., S. 1946 ). Damit hat der Gesetzgeber gerade nicht an die vorhandenen gesetzlichen Regelungen, insbesondere die §§ 20, 21 StGB angeknüpft, sondern ersichtlich eine neue dritte und damit eigenständige Kategorie geschaffen, die das Verständnis der psychischen Störung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgreift und sich unterhalb der Schwelle von §§ 20, 21 StGB einordnet. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt insbesondere auch für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (BVerfG, a.a.O., S. 1943 , S. 1946 ; vgl. dazu auch BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 23. Mai 2011 - 5 StR 394/10 u.a. -, juris Rn. 7, sowie Beschluss vom 21. Juni 2011 - 5 StR 52/11 -, juris Rn. 24).

37

Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ausdrücklich darauf hinweist, dass auch ein "weiterhin abnorm aggressives und ernsthaft unverantwortliches Verhalten eines verurteilten Straftäters" - und zwar unabhängig vom Vorliegen einer im klinischen Sinn behandelbaren psychischen Krankheit - nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK eine Freiheitsentziehung rechtfertigen kann und in diesem Sinne auch der Begriff der psychischen Störung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG zu verstehen sei (BTDrucks 17/3403, S. 53 f.).

38

Zwar führt die Gesetzesbegründung ferner aus, dass sich die Begriffswahl des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG "zugleich" an den in der Psychiatrie eingeführten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV anlehne. Danach erfordere die Annahme einer der dort aufgeführten Diagnosen einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten, die mit persönlichen Belastungen und Beeinträchtigungen der betroffenen Person verbunden sind; soziale Abweichungen oder Konflikte allein reichen hingegen nicht aus. Allerdings könnten sich spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- oder Triebkontrolle als psychische Störung darstellen. Dies gelte insbesondere für die dissoziale Persönlichkeitsstörung und verschiedene Störungen der Sexualpräferenz, etwa die Pädophilie oder den Sadomasochismus. Letztlich decke der Begriff der "psychischen Störung" ein breites Spektrum von Erscheinungsformen ab, von denen nur ein Teil in der psychiatrisch-forensischen Begutachtungspraxis als psychische Erkrankung gewertet werde (vgl. BTDrucks 17/3403, S. 54).

39

b) Ungeachtet der ergänzenden Bezugnahme des Gesetzgebers auf die psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV handelt es sich danach bei dem Begriff der "psychischen Störung" in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte eigenständig zu prüfen. Auch wenn die Frage nach dem Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG regelmäßig nur auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens zu beantworten sein wird, obliegt die rechtliche Beurteilung der von Sachverständigen ermittelten medizinischen oder psychologischen Tatsachen allein den Gerichten (vgl. BVerfGE 70, 297 <310>; 109, 133 <164>).

40

c) Das Landgericht wird zunächst darüber zu befinden haben, ob die bereits vorliegenden mehreren Gutachten für eine Entscheidung über das Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG genügen oder ob hierfür ein ergänzendes Gutachten erforderlich ist. Mit Blick auf die vorhandenen Gutachten wird das Landgericht zu prüfen haben, ob diese den vorstehend dargestellten, vom Gesetzgeber gewollten Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG zugrunde gelegt haben. Für die vom Oberlandesgericht Hamm herangezogenen Gutachten spricht hiergegen allerdings, dass das Gutachten vom 7. März 2011 ausdrücklich eine "psychische Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB" prüft und das Gutachten vom 1. Juni 2011 maßgeblich auf das Fehlen eines subjektiven Leidensempfindens abstellt. Dass die Betroffenen keinen oder nur einen geringen Leidensdruck empfinden und sich subjektiv in ihrer Lebensführung nicht behindert fühlen, gehört jedoch zum Störungsbild einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung (vgl. Butcher/Mineka/Hooley, Klinische Psychologie, 13. Aufl. 2009, S. 484) und schließt daher für sich genommen das Vorliegen einer "psychischen Störung" im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG nicht aus. Entscheidend ist in den Fällen einer dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung vielmehr der Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht. Dieser Grad ist anhand des gesamten - auch des strafrechtlich relevanten - Verhaltens der Betroffenen zu bestimmen.

41

5. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

42

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
StGB § 66b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2
MRK Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e
1. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung unterfällt, auch wenn
sie nicht die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erfüllt,
dem Begriff der psychischen Störung im Sinne von Art. 5
Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK, § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG und kann
bei aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten
des Verurteilten ableitbarer hochgradiger Gefahr
schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten die nachträgliche
Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB aF rechtfertigen
(im Anschluss an BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011,
BGBl. I S. 1003).
2. Die einschränkenden Maßgaben gemäß dem vorgenannten
Urteil des Bundesverfassungsgerichts beanspruchen jeden-
falls in „Altfällen“ auch für die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB aF
Gültigkeit.
BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 – 5 StR 52/11
LG Potsdam –

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 21. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Juni
2011, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 28. Oktober 2010 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Rechtsmittels.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB aF die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Verurteilte mit der auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.


2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen :
3
1. Der Verurteilte ist mehrfach bestraft.
4
a) Das Landgericht Potsdam hat ihn am 17. November 2000 wegen eines am 1. April 2000 begangenen Verbrechens des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Vergewaltigung und wegen Diebstahls zu zehn Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (Anlassverurteilung).
5
Dem liegt zugrunde, dass der Verurteilte wenige Tage nach seiner Entlassung aus der Strafhaft eine ihm unbekannte Frau in den Kofferraum seines Pkw sperrte, um durch ihre Entführung Lösegeld zu erpressen. Einem während dieser Tat gefassten Entschluss folgend vergewaltigte er sein Opfer unter Todesdrohungen.
6
Wegen Annahme einer Fehldiagnose wurde die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus am 5. Februar 2002 für erledigt erklärt und der Verurteilte in den Strafvollzug überwiesen. Die Gesamtfreiheitsstrafe verbüßte er bis 30. Juni 2010 vollständig. Zuvor hat die Staatsanwaltschaft die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung beantragt.
7
b) Bereits vor der Anlassverurteilung war der Verurteilte vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten:
8
Das Militärgericht Dresden verurteilte ihn am 31. Juli 1989 wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung zu sexuellen Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten. Er hatte unter Anwendung von Gewalt eine junge Frau in die Toilette eines Personenzugs gezerrt , um dort gewaltsam den Geschlechtsverkehr an ihr zu vollziehen. Er verbüßte einen Teil der Strafe bis zum 26. April 1990.
9
Am 18. Juni 1992 verurteilte ihn das Bezirksgericht Leipzig wegen „versuchter Vergewaltigung im schweren Fall, Vergewaltigung im schweren Fall“ in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung und Freiheitsberaubung sowie „mehrfachen Diebstahls“ (vier Fälle) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten. Dem lag unter anderem zugrunde, dass er im August 1990 (und damit rund vier Monate nach der letzten Haftentlassung), im September 1990 und im Juli 1991 ihm unbekannte Frauen im Alter zwischen 17 und 25 Jahren unter Vorhalt einer Waffe in seine Gewalt gebracht hatte, um an ihnen sexuelle Handlun- gen bis hin zum Geschlechtsverkehr vorzunehmen. Er verbüßte die Strafe vollständig bis zum 21. August 1997.
10
Am 12. März 1998 verurteilte ihn das Amtsgericht Gera wegen einer rund einen Monat nach seiner letzten Entlassung aus der Strafhaft begonnenen Diebstahlsserie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Diese Strafe verbüßte er bis zum 21. März 2000.
11
c) Auch während des Strafvollzugs ergingen Straferkenntnisse gegen den Verurteilten. Er wurde am 1. September 2005 wegen versuchter Nötigung zum Nachteil der Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt Brandenburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Am 28. Juni 2010 wurde gegen ihn – nicht rechtskräftig – wegen Körperverletzung zum Nachteil eines Mitgefangenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt.
12
Darüber hinaus war sein gesamtes Vollzugsverhalten durch eine fordernde , berechnende und verbal drohende Verhaltensweise gekennzeichnet. Um seinen Willen durchzusetzen, bedrohte er mehrfach massiv Vollzugsmitarbeiter und zerstörte Anstaltsinventar. Wegen seines aggressiven Verhaltens musste er wiederholt in einem gesondert gesicherten Haftraum untergebracht werden. Aus Sicherheitsgründen – es wurden Übergriffe auf Bedienstete und Mitgefangene befürchtet – wurde er 2007 von der Justizvollzugsanstalt Brandenburg in die Justizvollzugsanstalt Cottbus-Dissenchen und im September 2008 in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel verlegt.
13
2. Das Landgericht hat angenommen, dass vom Verurteilten auch nach Verbüßung der Freiheitsstrafe die hochgradige Gefahr der Begehung weiterer schwerer Sexualstraftaten ausgehe, weil er in seiner gestörten Persönlichkeitsstruktur einen Hang zur Begehung solcher Taten habe. Diese hochgradige Gefährlichkeit zeige sich nicht nur an seinen Vorstrafen und der außerordentlich hohen Rückfallgeschwindigkeit, sondern auch in seinem überaus aggressiven Auftreten während des Strafvollzugs. Die von ihm ausgehende Gefahr sei bereits im Rahmen der Anlassverurteilung erkennbar gewesen, wegen der damals fehlerhaft angenommenen Verminderung der Schuldfähigkeit und daraus resultierend der Unterbringung nach § 63 StGB sei die Sicherungsverwahrung aber nicht angeordnet worden.

II.


14
Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hält revisionsrechtlicher Prüfung stand.
15
1. Das Landgericht hat die sachlichen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung vom 13. April 2007 (aF), die gemäß Art. 316e Abs. 1 EGStGB auf vor dem 31. Dezember 2010 begangene Taten anwendbar bleiben, in der Sache rechtsfehlerfrei bejaht. Danach kann die Sicherungsverwahrung nachträglich dann angeordnet werden, wenn nach der Anlassverurteilung, jedoch vor Vollzugsende der deswegen verhängten Freiheitsstrafe neue Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisen.
16
a) Die formellen Voraussetzungen der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB aF i.V.m. § 66 Abs. 1 StGB liegen im Hinblick auf die Verurteilungen durch das Militärgericht Dresden im Jahr 1989 sowie durch das Bezirksgericht Leipzig im Jahr 1992 vor. Zwar hat es die Strafkammer versäumt, hinsichtlich des letztgenannten Urteils auch die Einzelstrafen mitzuteilen. Dem Urteilstenor und der Schilderung der zugrunde liegenden Taten lassen sich jedoch zumal angesichts der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten Einzelstrafen von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe für die drei Sexualverbrechen sicher entnehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. April 1996 – 1 StR 173/96).
17
b) Auch die Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB aF im Hinblick auf die wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Körperverletzung verhängte Einzelstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Potsdam vom 17. November 2000 hat das Tatgericht rechtsfehlerfrei bejaht.
18
2. Die Annahme neuer Tatsachen im Sinne der vorgenannten Regelungen begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat auf Tatsachen abgestellt, die vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf einer abweichenden Grundlage belegen und somit rechtlich in einem neuen Licht erscheinen lassen (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 7. Oktober 2008 – GSSt 1/08, BGHSt 52, 379, 390 ff.). Beraten von zwei Sachverständigen kommt es zu der Überzeugung, dass beim Verurteilten ein relevanter Defekt im Sinne der §§ 20, 21 StGB zum Tatzeitpunkt nicht bestanden habe, namentlich nicht die im Urteil vom 17. November 2000 angenommene schwere andere seelische Abartigkeit wegen einer Borderline-Störung. Allerdings habe bereits zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der „psychopathischen Struktur“ des Verurteilten im Sinne des „Psychopathie-Konzepts von HARE“ ein Hang zur Begehung von schweren Straftaten, insbesondere Sexualstraftaten , vorgelegen. Der Verurteilte sei mit einem hohen Durchsetzungsbedürfnis und großer Rücksichtslosigkeit ausgestattet und in nur sehr geringem Maße emotional berührbar. Die Annahme einer höchst dissozialen und aggressiven Persönlichkeit sah das Landgericht zudem rechtsfehlerfrei in seinem manipulativen und auf Drohungen ausgerichteten Vollzugsverhalten bestätigt.
19
3. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BGBl. I S. 1003) darf § 66b Abs. 2 StGB aF auf Taten, die – wie vorliegend – vor seinem Inkrafttreten begangen worden sind, allerdings nur noch dann angewendet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Ge- walt- und Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Verurteilten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. Die durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen einschränkenden Voraussetzungen, die auch die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 StGB aF jedenfalls in Fällen der Rückwirkung erfassen, sind hier bereits auf der Grundlage des angefochtenen Urteils ohne Weiteres als erfüllt anzusehen, selbst wenn darin der neue Maßstab noch nicht umfassend berücksichtigt werden konnte.
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a) Mit dem genannten Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Regelungen des Strafgesetzbuchs über die Sicherungsverwahrung mangels ausreichender Wahrung des „Abstandsgebots“ für unvereinbar mit dem – auch im Blick der Wertungen des Art. 7 Abs. 1 MRK auszulegenden – Frei- heitsgrundrecht erklärt und eine gesetzliche Neuregelung bis 31. Mai 2013 verlangt. Darüber hinaus hat es – neben der rückwirkenden unbefristeten Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung – die rückwirkende nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht in seiner Ausprägung durch den rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutz – in einer an den Wertungen des Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 MRK orientierten Auslegung – erklärt. Namentlich die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung kann daher nur noch als verhältnismäßig angesehen werden, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK erfüllt sind (BVerfG aaO Rn. 156). Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber hat das Bundesverfassungsgericht eine weitere Anwendung der Vorschrift nur unter den genannten strengen Anforderungen für zulässig erachtet (BVerfG aaO Tenor Ziffer III).
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b) Diese einschränkenden Maßgaben beanspruchen auch für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB aF Gültigkeit. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in Ziffer II. 2 des Urteilstenors – ersichtlich geschuldet den ihm zur Entscheidung vorgelegten Fällen – ausdrücklich nur § 66b Abs. 2 StGB aF für verfassungswidrig erklärt. Jedoch treten – wie auch der verfahrensgegenständliche Sachverhalt zeigt – im Rahmen des § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB aF ebenfalls häufig Fallgestaltungen auf, in denen die der Anlassverurteilung zugrunde liegende Straftat vor Inkrafttreten der Norm begangen wurde; § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB aF stellt in seinen rechtlichen Voraussetzungen sogar allein auf Straftaten ab, die bereits vor Inkrafttreten der Regelung begangen wurden. Die durch das Bundesverfassungsgericht insbesondere gegen die rückwirkende Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB aF angeführten durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken sind daher jedenfalls in Altfällen auf § 66b Abs. 1 StGB aF zu übertragen. Dem entspricht es, dass das Bundesverfassungsgericht in Leitsatz Ziffer 4 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung umfassend benennt.
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c) Dem Beschluss des Senats vom 21. Juli 2010 – 5 StR 60/10 (BGHSt 55, 234) zur Rückwirkungsproblematik bei nachträglicher Sicherungsverwahrung folgend hat das Landgericht seiner Entscheidung bereits den nunmehr auch vom Bundesverfassungsgericht geforderten erhöhten Gefährlichkeitsmaßstab (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Mai 2011 – 5 StR394, 440, 474/10, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) rechtsfehlerfrei zugrunde gelegt.
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Sachverständig beraten ist es zu der Überzeugung gelangt, dass der 43 Jahre alte und körperlich gesunde Verurteilte kurz- bis mittelfristig nach seiner Entlassung wieder schwerste Sexualstraftaten begehen werde. Es handele sich bei ihm um einen stark bedürfnisorientierten Serienvergewaltiger , dessen innere Einstellung plakativ in seiner Äußerung hervortrete, er nehme sich Geld, wenn er Geld brauche, und eine Frau, wenn er Sex brauche. Behandlungsangebote habe er aufgrund mangelnder Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit sowie seinen Straftaten nicht nutzen können, weshalb „die persönlichkeitsgebundene Disposition zur Begehung erhebli- cher Straftaten, primär von sexuellen Gewaltdelikten fortbestehe“ (UA S. 48). Die außerordentlich hohe Rückfallgeschwindigkeit der früheren Taten sowie das massiv gewaltbereite und berechnende Auftreten im Strafvollzug verdeutlichten die von ihm konkret ausgehende höchste Gefährlichkeit.
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d) Das Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG, die das Bundesverfassungsgericht in Konkretisierung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK verlangt, vermag der Senat – obgleich nicht Prüfungsmaßstab des Landgerichts – den Urteilsfeststellungen hier ohne Weiteres sicher zu entnehmen. Eine solche Störung muss gerade nicht zu einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB führen (vgl. BVerfG aaO Rn. 152, 173; BGH, Beschluss vom 23. Mai 2011 aaO Rn. 7). Spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- und Triebkontrolle sind der psychischen Störung zuzurechnen; dies gilt insbesondere für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (vgl. BVerfG aaO Rn. 152 mwN; siehe auch BT-Drucks. 17/3403 S. 54).
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Auf der Grundlage von Gutachten zweier Sachverständiger hat das Landgericht im Blick auf den Verurteilten nachvollziehbar eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Zügen angenommen. Es hat ihn rechtsfehlerfrei als eine von ihrer eigenen Überlegenheit und Großartigkeit überzeugte narzisstische Persönlichkeit mit hohem Durchsetzungsbedürfnis und nur sehr geringer emotionaler Berührbarkeit gekennzeichnet: Er fühle sich nur gut und stark, wenn er anderen Menschen wehtun, sie beleidigen oder kränken könne; die Verletzung anderer befriedige ein inneres Bedürfnis und sei nicht bloße Begleiterscheinung zielstrebigen Verhaltens. Vor dem Hintergrund dieser Persönlichkeitsstörung seien soziale Auffälligkeiten und kriminelle Fehlverhaltensweisen entwickelt worden, die in die abgeurteilten, überwiegend sehr schweren Gewalt- bzw. Sexualstraftaten eingemündet hätten. Ohne weitreichende therapeutische Behandlung sei eine Änderung des strafrechtlichen Verhaltens des Verurteilten nicht zu erwarten.
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Diese die Gefährlichkeitsbeurteilung tragenden Befunde ergeben die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK mit Eindeutigkeit. Angesichts der fehlerfrei getroffenen Bewertung im angefochtenen Urteil ist zweifelsfrei auszuschließen, dass bei einer tatgerichtlichen Beurteilung in positiver Kenntnis des vom Bundesverfassungsgericht über BGHSt 55, 234 hinaus eingeschränkten Maßstabes ein abweichendes Ergebnis erzielt werden könnte. Dies gestattet hier trotz der Maßstabsverengung – ausnahmsweise – eine sofortige Verwerfung der Revision.
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