Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18

bei uns veröffentlicht am18.07.2018

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 122/18
vom
18. Juli 2018
in der Strafsache
gegen
wegen schwerer sexueller Nötigung u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:180718U1STR122.18.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. Juli 2018, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Raum,
der Richter am Bundesgerichtshof Bellay, die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Fischer, der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Bär und die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Hohoff,
Staatsanwältin als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
der Verurteilte persönlich – in der Verhandlung –,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Mosbach vom 20. November 2017 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat gegen den Verurteilten die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.


2
Das Landgericht Mosbach hatte den Beschwerdeführer am 20. Oktober 2008 wegen schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen und wegen versuchter schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Darüber hinaus wurde dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
3
1. Der Verurteilung lagen im Wesentlichen folgende Feststellungen zu den sechs Anlasstaten zu Grunde:
4
a) Am 10. September 2007 suchte der Verurteilte die sich nach einer Knieoperation in einer Reha-Klinik in H. befindliche 66-jährige Geschädigte S. in ihrem Krankenzimmer auf, nachdem er zuvor einen Klebezettel am Briefkasten angebracht hatte, dass sie zur Visite zu einem bestimmten Zeitpunkt im Zimmer sein sollte. Er forderte die Geschädigte auf, sich aufs Bett zu legen, ihre Hose auszuziehen und den Rücken frei zu machen und klopfte ihren Rücken ab. Anschließend verlor die Geschädigte auf Grund der Wirkung sog. K.O.-Tropfen mit dem Wirkstoff Gammabutyrolacton, die ihr vom Verurteilten – vermutlich durch Beimengung in die Wasserflasche der Geschädigten – verabreicht worden waren, das Bewusstsein. Anschließend schob er – um sich sexuell zu erregen – der Geschädigten Bluse, Unterhemd und BH nach oben über ihre Brüste und berührte diese. Sodann entnahm er eine im Zimmer vorgefundene originalverpackte Strumpfhose aus der Verpackung und zog diese – die nackten Beine der Geschädigten berührend – der bewusstlosen Geschädigten bis zur Hälfte der Oberschenkel an, um sich sexuell zu erregen und sich zu befriedigen. Als eine Krankenschwester das Zimmer der Geschädigten betrat, verließ der Verurteilte fluchtartig den Raum und floh vom Klinikgelände.
5
b) Ende März/Anfang April 2008 begab sich der Verurteilte zur Wohnung der 41-jährigen Geschädigten G. in K. und gab sich ihr gegenüber als Mitarbeiter der Hausverwaltung aus, sodass ihm Einlass in die Wohnung gewährt wurde. Dabei führte er in seiner Umhängetasche zwei Plastikbecher Saft mit sich, wobei er in einen dieser Becher zuvor K.O.-Tropfen geträufelt hatte. Nachdem der Verurteilte mit der Geschädigten einen angeblich von der Hausverwaltung stammenden Fragebogen zur Wohnsituation besprochen hatte, reichte er ihr den Becher mit Saft, den diese austrank. Etwa zehn Minuten danach wurde der Geschädigten schwindlig und sie verlor – wie beabsichtigt – das Bewusstsein. Anschließend entkleidete der Verurteilte die bewusstlos am Boden liegende Geschädigte am Unterkörper vollständig, zog Pullover , Unterhemd und BH über die Brüste nach oben und zog ihr von ihm mitgeführte schwarze Damenschuhe mit hohem Absatz an, wobei er die Geschädigte zumindest an den nackten Beinen und Brüsten berührte, um sich sexuell zu erregen. Weiter fertigte der Verurteilte mit seiner Digitalkamera mindestens 15 Lichtbilder an, welche das Gesicht der Geschädigten, ihre nackten Brüste, ihre Beine und Füße sowie den Genitalbereich zeigen.
6
c) Am 22. April 2008 gab sich der Verurteilte als Mitarbeiter der Krankenkasse aus und kündigte der 70-jährigen Geschädigten Ge. aus B. telefonisch seinen Besuch wegen ihrer Herzbeschwerden an. Etwa zehn Minuten später erschien er vor der Wohnung der Geschädigten, die sich in der Vergangenheit wegen Herzbeschwerden in der Klinik aufgehalten hatte und deshalb davon ausging, dass es sich bei dem Besucher um einen Arzt handele. Sie ließ den Verurteilten in die Wohnung, der nach dem Gespräch mit der Geschädigten angab, man solle etwas gemeinsam trinken. Der Verurteilte nahm aus seiner mitgeführten Umhängetasche zwei Plastikbecher sowie eine Flasche Saft und träufelte – während kurzer Abwesenheit der Geschädigten – eine nicht mehr genau feststellbare Menge K.O.-Tropfen in deren Becher. Nachdem die Geschädigte den Saft getrunken hatte, erbrach sie sich und wurde bewusstlos. In diesem Zustand legte der Verurteilte die Geschädigte auf die Couch im Wohnzimmer , zog ihr die Hose aus, streichelte und berührte sie – nicht ausschließbar über der Nylonstrumpfhose – an Ober- und Unterschenkeln, roch an ihren Bei- nen, um sich hierdurch sexuell zu erregen, und onanierte dabei bis zum Samenerguss.
7
d) Am 23. Mai 2008 suchte der Verurteilte das Anwesen der 56-jährigen Geschädigten H. in Sc. auf, nachdem er mit einem von ihm verfassten und mit dem Briefkopf und Wappen der Gemeinde versehenen Schreiben den Besuch eines Mitarbeiters der Gemeinde angekündigt hatte. Dort wurde er von der Geschädigten in die Wohnung eingelassen, wobei er in seiner Umhängetasche neben seiner Digitalkamera mit K.O.-Tropfen präparierten Traubensaft in Bechern dabei hatte. Wie beabsichtigt trank die Geschädigte aus diesem Becher und musste sich wenige Minuten später im Badezimmer übergeben. Der Verurteilte ergriff sie unter den Unterarmen, schob sie ins Schlafzimmer und legte sie auf das Bett. Dort massierte er zunächst ihre Füße, kniete sich sodann über sie und streichelte ihre Brüste unter dem BH, um sich sexuell zu erregen, ohne dass sich die Geschädigte auf Grund der Wirkung der K.O.Tropfen zur Wehr setzen konnte. Nachdem die Geschädigte vollständig das Bewusstsein verloren hatte, onanierte der Verurteilte neben ihrem Bett bis zum Samenerguss. Anschließend fertigte er 34 Aufnahmen von der Geschädigten mit der Digitalkamera, wobei er sie teilweise in für die Anfertigung der Bilder günstige Positionen drehte und ihr mitgebrachte schwarze Damenschuhe mit hohen Absätzen anzog.
8
e) Am 18. Juni 2008 suchte der Verurteilte die 83-jährige Geschädigte Ho. in ihrer Wohnung in A. auf, nachdem er sein Kommen zwei Tage vorher telefonisch als Geburtstagsbesuch angekündigt und sich dabei als kirchlicher Mitarbeiter ausgegeben hatte. Er gratulierte der Geschädigten zum Geburtstag und überreichte ihr einen Blumenstrauß, um in die Wohnung gelassen zu werden. Im Esszimmer goss der Verurteilte von dem dort stehenden Wein jeweils ein Glas für sich und die Geschädigte ein. Als die Geschädigte kurz in die Küche ging, nutzte er die Gelegenheit, um in deren Glas die mitgeführten K.O.-Tropfen zu träufeln. Die Geschädigte trank den Wein und wurde bewusstlos, was der Verurteilte nutzte, um sie auf die Couch im Wohnzimmer zu legen und dort ihre unbekleideten Beine zu streicheln, um sich sexuell zu erregen. Weiter entblößte er ihren Oberkörper, indem er Pullover und BH nach oben schob, und berührte die nackten Brüste. Anschließend fertigte er insgesamt 48 Lichtbilder mit der Digitalkamera teilweise in Ganzaufnahmen, teilweise einzelne Körperpartien, u.a. die Beine und den nackten Oberkörper.
9
f) Am 19. Juni 2008 suchte der Verurteilte am Tag der Trauerfeier und Urnenbestattung ihres Sohnes die 69-jährige Geschädigte Bu. in Se. auf, wobei er diesen Besuch zwei Tage vorher mit einem Schreiben mit Briefkopf und Wappen der Gemeinde angekündigt und auf Maßnahmen zur Erleichterung der Trauerbewältigung sowie einen Fragebogen zu möglichen Hilfestellungen hingewiesen hatte. Mit einer Umhängetasche mit präpariertem Becher mit Traubensaft und K.O.-Tropfen ausgerüstet begab er sich zur Wohnung und stellte sich als Mitarbeiter der Gemeinde vor. Nachdem ihn die Geschädigte mit Blick auf die am Nachmittag stattfindende Trauerfeier darauf hingewiesen hatte, keine Zeit zu haben, gab der Verurteilte an, dass es nicht lange dauere. Nach einer kurzen Unterhaltung forderte er die Geschädigte auf, gemeinsam einen „Saft für die Kraft“ zu trinken. Die Geschädigte trank nur einen Schluck. Da ihr der Saft nicht schmeckte, leerte sie den Rest in das Spülbecken in der Küche und gab ihn dem Verurteilten zurück. Dieser sah auf Grund der Reaktion der Geschädigten keine Möglichkeit mehr zur weiteren Tatausführung und verließ die Wohnung. Die Geschädigte verlor aber schließlich doch das Bewusstsein und konnte später nicht mehr zur Beerdigung ihres Sohnes gehen.
10
2. Das Landgericht ging bei allen im Tatzeitraum begangenen Taten davon aus, dass der Verurteilte an einer Störung der Sexualpräferenz sowie an einem Fetischismus leidet, weswegen er in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt sei. Es ordnete deshalb die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, da vom Verurteilten wegen seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Die Unterbringung des Verurteilten wurde ab dem 25. November 2008 im Klinikum W. in We. vollzogen. Am 7. Oktober 2013 wurde der Verurteilte in die forensische Klinik des Zentrums für Psychiatrie R. verlegt. Mit Beschluss vom 3. August 2016 erklärte das Landgericht Konstanz die im Ausgangsurteil angeordnete Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt und lehnte gleichzeitig die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung ab. Der Verurteilte befindet sich seit 3. November 2016 in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt M. . Strafende ist auf den 5. Oktober 2018 notiert.

II.


11
Im Nachverfahren hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen zur Entwicklung im Maßregelvollzug und in der Strafhaft getroffen:
12
1. Von Anfang an zeigte der Verurteilte ein problematisches Kontaktverhalten zum therapeutischen Team, wobei er dissoziale Verhaltensweisen an den Tag legte. Für sexuell deviantes Verhalten gab es – bis auf das Starren auf selbst gefertigte Frauenzeichnungen – keine Anhaltspunkte. Der Verurteilte selbst gab an, dass die fetischistischen Gedankeninhalte nunmehr in den Hintergrund getreten seien, wobei aber in Bezug auf die begangenen Straftaten eine Tendenz zur Bagatellisierung erkennbar war und es an einer selbstkriti- schen Haltung fehlte. Im Rahmen der Begutachtung kam der im Vollstreckungsverfahren beauftragte Sachverständige im Dezember 2011 zu dem Ergebnis , dass bei dem Verurteilten keine lebensphasisch auftretende Delinquenz vorliege, sondern die Taten auf eine fixierte Paraphilie zurückzuführen seien, weshalb mangels einer bislang erfolgreich durchgeführten Therapie die weitere Durchführung der Unterbringung erforderlich sei. Der Verurteilte selbst gab an, es sei ihm nicht darum gegangen die Frauen zu dominieren, er habe sie nur betäubt, um möglichst einfach seinen Fetisch ausleben zu können, er benötige keine Therapie mehr, da er sich selbst therapiert habe.
13
Nach seiner Verlegung in die forensische Klinik des Zentrums für Psychiatrie R. kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Mitpatienten , wobei der Verurteilte sich bei der Aufarbeitung seiner Problematik verweigerte. Bei einer Kontrolle seines Mobiltelefons und Laptops stellte sich heraus , dass der Verurteilte ohne Einverständnis von Mitpatientinnen und Mitarbeiterinnen der Klinik Fotos angefertigt hatte, die vornehmlich deren Gesäßpartie zeigten und dem Verurteilten nach seiner Einlassung zur sexuellen Anregung dienten. Auch wurden kurze Videos aus dem Internet gefunden, in denen ältere Frauen in pornographischen Posen und jüngere Frauen in betrunkenem, kontrollgemindertem Zustand zu sehen waren. Der Verurteilte bagatellisierte sein Verhalten und konnte nicht nachvollziehen, dass dieses als deliktsnah eingestuft wurde.
14
Im Rahmen weiterer Begutachtung wurde festgestellt, dass ein deliktspräventiver Fortschritt in der Behandlung nicht erzielt werden konnte. Der Verurteilte erfülle die Kriterien zur Diagnose einer persistenten Störung der Sozialpräferenz bzw. einer sonstigen Störung der Sexualpräferenz. Eine therapeutische Aufarbeitung der früheren Vorkommnisse sei auf Grund der Persönlich- keitsstruktur des Verurteilten und dessen geringer Beeinflussbarkeit nicht möglich gewesen, Fortschritte seien nur im zwischenmenschlichen Bereich zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund habe das Landgericht Konstanz die Unterbringung für erledigt erklärt und gleichzeitig eine Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt. Die im Rahmen der anschließenden Strafhaft begonnene Intensivtherapie habe ebenfalls bisher nicht zu einer erfolgreichen Behandlung des Verurteilten geführt.
15
2. Das Landgericht hat im Verfahren – wie von § 275a Abs. 4 StPO zur Sicherung einer umfassenden Aufklärung der Kriminalprognose ausdrücklich gesetzlich vorgesehen – die Gutachten zweier erfahrener psychiatrischer Sachverständiger eingeholt. Die beiden Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung in Form einer kombinierten Persönlichkeitsstörung in der Ausprägung einer festen Persönlichkeitsdisposition bestehend aus narzistischen Charakterzügen, einer ausgeprägten konflikthaften Selbstwertproblematik und eine schwere Beziehungsstörung vorliege. Vor allem aber sei maßgeblicher Bestandteil des Krankheitsbildes des Verurteilten dessen schwere Störung der sexuellen Präferenz mit Fetischismus, voyeuristischen Störungsanteilen und sonstigen sexuellen Störungen. Die Sachverständigen gehen davon aus, dass die Taten des Verurteilten in dessen schwerer Störung der Sexualpräferenz wurzeln, die von seiner problematischen Persönlichkeit nicht kontrolliert werden können. Hierbei handele es sich um eine chronische Störung, die ohne tiefgreifende therapeutische Behandlung fortbestehe und auch nicht durch das fortgeschrittene Alter des Verurteilten abgeschwächt werde. Vor allem die deliktsnahen Vorkommnisse aus dem Jahr 2014, die im symptomatischen Zusammenhang mit den Ausgangstaten stehen, belegten das Fortbestehen der devianten Fantasien des Verurteilten und dessen mangelnde Kontrolle über seine Paraphilie, ohne dass es zu einer therapeutischen Tataufarbeitung gekommen sei, wobei die Einlassungen des Verurteilten nach wie vor ausgeprägte Verharmlosungs- und Baga- tellisierungstendenzen zeige und die von ihm durchgeführte „Eigentherapie“ unzureichend sei. Auf Grund der im Kern damit auf emotionaler Ebene immer noch unbehandelten schweren sexuellen Präferenzstörung bestehe daher weiterhin ein unverändert hohes, akut einschlägiges Rückfallrisiko.
16
Das Landgericht hat sich auf Grund dieser Ausführungen der Sachverständigen im Rahmen einer Gesamtschau davon überzeugt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung im Sinne des § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB vorliege und weiterhin die akute hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Sexualdelikte besteht, durch welche die Opfer seelisch schwer geschädigt werden.

III.


17
Die auf Verletzung von Verfahrensrecht und sowie die Sachrüge gestützte Revision des Verurteilten hat keinen Erfolg; das angefochtene Urteil ist rechtsfehlerfrei.
18
1. Die erhobenen Verfahrensrügen haben aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift näher dargelegten Gründen keinen Erfolg bzw. sind nicht formgerecht erhoben.
19
2. Auch die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Verurteilten ergeben.
20
a) Das Landgericht hat seiner Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt.
21
Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Verfahren mit Anlasstaten aus den Jahren 2007/2008, wie sie vorliegend zur Entscheidung anstand, gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. (NJW 2011, 1931) umsetzt , nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG aaO; zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268; vgl. auch BGH, Urteile vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16 und vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12, NStZ 2013, 100; Beschlüsse vom 7. August 2013 – 1 StR 246/13, NStZ 2014, 209; vom 5. April 2017 – 5 StR 86/17, NStZ 2017, 526 und vom 24. Juli 2012 – 1 StR 57/12). Darüber hinaus ist es für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16; Beschluss vom 24. Mai 2011 – 5 StR 369/10; Urteile vom 8. November 2011 – 1 StR 231/11 und vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12; vgl. zum Begriff "psychisch Kranker" auch Urteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012 – endgültig seit 19. Juli 2012 – in der Rechtssache B. gegen Deutschland – Individualbeschwerde 61272/09 Ziffer 67 ff.).
22
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16; Beschluss vom 31. Juli 2012 – 3 StR 148/12; BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 – 2 StR 346/11; Beschluss vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11).
23
b) Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die Annahme des Landgerichts, der Verurteilte leide an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 ThUG und es bestehe die hochgradige Gefahr für die erneute Begehung schwerster Sexualdelikte, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
24
Das Landgericht hat dabei im Rahmen seiner Ermessensausübung die wesentlichen relevanten Gesichtspunkte und die prognostische Einschätzung der beiden Sachverständigen berücksichtigt und ist nach einer umfassenden Gesamtwürdigung nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass sich beim Verurteilten weiterhin die von Rechts wegen geforderte hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalttaten feststellen lasse. Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen prognostischen Erwägungen sind weder widersprüchlich, lückenhaft oder unklar noch verstoßen sie gegen Denk- oder allgemeine Erfahrungssätze.
25
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei dem Verurteilten auf der einen Seite weiterhin ausgeprägte Verharmlosungs- und Bagatellisierungstendenzen bestehen, indem er seine Taten als „schräge Sachen“ und sein Rückfallrisiko mit Null bezeichnete, auf der anderen Seite aber – wie die deliktsna- hen Vorkommnisse in der Unterbringung belegen – beim Verurteilten weiterhin deviante Fantasien fortbestehen und von einer mangelnden Kontrolle über seine Paraphilie auszugehen ist, sind die Erwägungen des Landgerichts von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass ohne eine entsprechende Behandlung auf emotionaler Ebene auf Grund der fest verwurzelten Neigung und der Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten weiterhin von einer hochgradigen Gefahr weiterer Rechtsbrüche in Form schwerster Sexualdelikte auszugehen ist. Vor dem Hintergrund der Schwere der Anlassverurteilung mit massiven seelischen Schädigungen der Opfer und einer insgesamt ungünstigen Entlassungssituation lässt die landgerichtliche Prognoseentscheidung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Verurteilten erkennen.
Raum Bellay Fischer
Bär Hohoff

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18

Referenzen - Gesetze

Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18 zitiert 4 §§.

Therapieunterbringungsgesetz - ThUG | § 1 Therapieunterbringung


(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann,

Strafprozeßordnung - StPO | § 275a Einleitung des Verfahrens; Hauptverhandlung; Unterbringungsbefehl


(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18 zitiert oder wird zitiert von 9 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Urteil, 18. Juli 2018 - 1 StR 122/18 zitiert 9 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Juli 2012 - 1 StR 57/12

bei uns veröffentlicht am 24.07.2012

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 57/12 vom 24. Juli 2012 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung u.a. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Juli 2012 beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urtei

Bundesgerichtshof Beschluss, 31. Juli 2012 - 3 StR 148/12

bei uns veröffentlicht am 31.07.2012

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 3 StR 148/12 vom 31. Juli 2012 in der Strafsache gegen wegen besonders schweren Raubes u.a. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf desse

Bundesgerichtshof Urteil, 07. Aug. 2012 - 1 StR 98/12

bei uns veröffentlicht am 07.08.2012

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 98/12 vom 7. August 2012 in der Strafsache gegen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern hier: nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung Der 1. Strafsenat de

Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Jan. 2012 - 5 StR 535/11

bei uns veröffentlicht am 24.01.2012

5 StR 535/11 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 24. Januar 2012 in der Strafsache gegen wegen besonders schweren Raubes Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Januar 2012 beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil de

Bundesgerichtshof Urteil, 08. Feb. 2012 - 2 StR 346/11

bei uns veröffentlicht am 08.02.2012

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 2 StR 346/11 vom 8. Februar 2012 in der Strafsache gegen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Februar 2012, an der te

Bundesgerichtshof Urteil, 11. Aug. 2016 - 2 StR 4/16

bei uns veröffentlicht am 11.08.2016

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 2 StR 4/16 vom 11. August 2016 in der Strafsache gegen wegen nachträglicher Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ECLI:DE:BGH:2016:110816U2STR4.16.0 Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat a

Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Mai 2011 - 5 StR 369/10

bei uns veröffentlicht am 24.05.2011

5 StR 369/10 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 24. Mai 2011 in der Maßregelvollstreckungssache gegen Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Mai 2011 beschlossen: In Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in de

Bundesgerichtshof Beschluss, 05. Apr. 2017 - 5 StR 86/17

bei uns veröffentlicht am 05.04.2017

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 5 StR 86/17 vom 5. April 2017 in der Strafsache gegen wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ECLI:DE:BGH:2017:050417B5STR86.17.0 Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf

Bundesverfassungsgericht Beschluss, 20. Juni 2012 - 2 BvR 1048/11

bei uns veröffentlicht am 20.06.2012

Tenor 1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 - 1 StR 93/11 - und das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 18. November 2010 - 1 KLs 4 Js 1276/06 jug. - verletzen den Besch

Referenzen

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Tenor

1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 - 1 StR 93/11 - und das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 18. November 2010 - 1 KLs 4 Js 1276/06 jug. - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

2. ...

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung einer Sicherungsverwahrung, die in der Anlassverurteilung gemäß § 66a StGB vorbehalten war.

I.

2

1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung fand mit dem Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002, in Kraft getreten am 28. August 2002 (BGBl I S. 3344), in das Strafgesetzbuch Eingang. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, die Verhängung der Maßregel im Urteil zunächst vorzubehalten und über die Anordnung in einem Nachverfahren am Ende der Strafvollstreckung zu entscheiden. Die Gefährlichkeitsprognose sollte auf diese Weise zeitlich nach hinten verlagert und durch Einbeziehung von Erkenntnissen aus dem Strafvollzug auf eine breitere Grundlage gestellt werden können (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5). Flankiert wurde die Regelung durch eine eigene Verfahrensvorschrift in § 275a StPO, die vorsah, dass das Gericht des ersten Rechtszuges über die im Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung entscheidet. Damit sollte klargestellt werden, dass die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung Teil des Erkenntnisverfahrens ist und in zwei Akten durchgeführt wird. Dem Verurteilten sollten in beiden Verfahrensschritten die gleichen Verfahrensrechte zukommen (vgl. BTDrucks 14/9264, S. 10 f.).

3

2. § 66a StGB in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344; im Folgenden: § 66a StGB a.F.) hatte folgenden Wortlaut:

4

§ 66a

5

Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

6

(1) Ist bei der Verurteilung wegen einer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Straftaten nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, ob der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 gefährlich ist, so kann das Gericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 erfüllt sind.

7

(2) Über die Anordnung der Sicherungsverwahrung entscheidet das Gericht spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt, ab dem eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, auch in Verbindung mit § 454b Abs. 3 der Strafprozessordnung, möglich ist. Es ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

8

(3) Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung darf erst nach Rechtskraft der Entscheidung nach Absatz 2 Satz 1 ergehen. Dies gilt nicht, wenn die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 2 offensichtlich nicht vorliegen.

9

§ 66 StGB in der Fassung desselben Gesetzes (im Folgenden: § 66 StGB a.F.) lautete:

10

§ 66

11

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

12

(1) Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

13

1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,

14

2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und

15

3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist.

16

(2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen.

17

(3) Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 3, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

18

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat, in den Fällen des Absatzes 3 eine der Straftaten der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

19

3. a) Die Anordnung des Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB a.F. erfolgt zusammen mit der Anlassverurteilung durch das erkennende Gericht. Sie setzt in formeller Hinsicht voraus, dass der Betroffene wegen einer Tat nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F., das heißt, wegen eines Verbrechens oder einer der weiteren in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. genannten Straftaten, verurteilt wird. Ferner müssen die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB, nämlich die in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. genannten gewichtigen (Vor-)Verurteilungen vorliegen.

20

Aus der Verweisung von § 66a Abs. 1, § 66 Abs. 3 StGB a.F. auf § 66 Abs. 1 Nr. 3 a.F. StGB hat die Rechtsprechung abgeleitet, dass der Ausspruch eines Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB a.F. die Feststellung eines Hangs des Verurteilten zur Begehung erheblicher Straftaten, nämlich solcher, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, voraussetzt (grundlegend hierzu BGHSt 50, 188 <194 f.>).

21

Nicht positiv feststehen dürfe hingegen zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung die in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. vorausgesetzte Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen vorbehaltene und primäre Sicherungsverwahrung in einem "strikten Ausschließlichkeitsverhältnis" zueinander: Vorrangig ist die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB zu prüfen. Die Möglichkeit der Anordnung des Vorbehalts entbindet das erkennende Gericht nicht von seiner umfassenden Aufklärungspflicht. Erst wenn die für die Anordnung erforderliche Gefährlichkeit des Betroffenen nicht feststellbar ist, kommt § 66a StGB zum Tragen (vgl. BGHSt 50, 188 <193>). Nach der Rechtsprechung setzt dies eine "erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit" dafür voraus, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies auch zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; Urteil vom 20. November 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11; so auch Ullenbruch, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/1, 1. Aufl. 2005, § 66a Rn. 30; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 66a Rn. 8).

22

b) Zuständig für die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist gemäß § 74f Abs. 1, § 120a Abs. 1 GVG in der hier maßgeblichen Fassung vom 8. Juli 2008 (Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008, BGBl I S. 1212) das Gericht des ersten Rechtszugs, das heißt, die Strafkammer beziehungsweise der Strafsenat des Oberlandesgerichts, welche beziehungsweise welcher bereits zuvor über die Anordnung des Vorbehaltes entschieden hatte. Die Entscheidung ergeht gemäß § 275a StPO in der hier maßgeblichen Fassung vom 29. Juli 2009 (Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2274) durch Urteil nach Durchführung einer Hauptverhandlung. Für diese gelten im Wesentlichen die gleichen Regelungen wie für die Hauptverhandlung, auf deren Grundlage die Verurteilung des Täters und die Anordnung des Vorbehalts erfolgen. Vor der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung holt das Gericht gemäß § 275a Abs. 4 Satz 1 StPO das Gutachten eines Sachverständigen ein.

23

§ 66a Abs. 2 StGB a.F. sah vor, dass über die Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt entschieden wird, ab dem eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, auch in Verbindung mit § 454b Abs. 3 StPO, möglich ist.

24

Die Sicherungsverwahrung ist zwingend anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs von ihm erhebliche Straftaten erwarten lässt, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen (§ 66a Abs. 2 StGB a.F.; jetzt: § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB). Voraussetzung ist daher die prognostizierte Gefahr schwerwiegender Delikte gegen die Person (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 324/05 -, juris, Rn. 6).

25

4. Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 3007) dehnte mit einer Änderung des § 106 JGG den Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung auf Heranwachsende aus, die nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilt werden.

26

5. Mit der Umgestaltung der Sicherungsverwahrung durch das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) haben die Vorschriften der §§ 66, 66a StGB Änderungen erfahren. Insbesondere ist einerseits der Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ausgeweitet worden. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage kann nunmehr auch gegen sogenannte Ersttäter der Vorbehalt ausgesprochen werden (§ 66a Abs. 2 StGB). Entsprechend der Gesamtkonzeption der gesetzlichen Neuregelung ist andererseits der Straftatenkatalog der Anlasstaten reduziert worden. Einfache Vermögens- und Eigentumsdelikte kommen als Anlasstaten nicht mehr in Betracht.

27

6. Der Zweite Senat hat mit Urteil vom 4. Mai 2011 - neben den anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung - auch § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Zugleich hat er gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Vorschriften bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013, nach Maßgabe der Gründe angeordnet (BVerfGE 128, 326 <332>).

28

7. Nach dem dazu vorliegenden Gesetzesentwurf (vgl. hierzu Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, BTDrucks 17/9874, S. 14) ist beabsichtigt, am Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung festzuhalten. Im Jugendstrafrecht soll die nachträgliche Sicherungsverwahrung durch eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung, auch für Ersttäter, ersetzt werden. Für Heranwachsende, die nach allgemeinem Strafrecht verurteilt werden, sind entsprechende Änderungen vorgesehen.

II.

29

Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

30

1. Der 1944 geborene Beschwerdeführer ist etwa seit den 1980er Jahren kontinuierlich wegen pädophiler Straftaten im In- und Ausland strafrechtlich in Erscheinung getreten und wiederholt zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.

31

a) Er absolvierte in den Jahren 1972 und 1975 das Erste und Zweite Staatsexamen für das Lehramt an Realschulen. Im Jahr 1974 oder 1975 trat er aus dem staatlichen Schuldienst aus und erwarb mit seiner damaligen Lebensgefährtin - seiner späteren Ehefrau - ein Internat. Bei den Internatsschülern handelte es sich um zunächst 12, später 30 Jungen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren.

32

In der Zeit von 1976 bis 1977 kam es zu sexuellen Übergriffen des Beschwerdeführers gegenüber den Schülern. Infolgedessen wurde er mit Urteil des Landgerichts München II vom 24. Oktober 1980 wegen sieben sachlich zusammentreffender Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, davon in drei Fällen jeweils rechtlich zusammentreffend mit einem Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zugleich wurde ein Berufsverbot angeordnet, wonach dem Beschwerdeführer jede Tätigkeit in einer mit der Erziehung und Betreuung von Personen unter 18 Jahren befassten Einrichtung für die Dauer von fünf Jahren untersagt war. Infolge der erlittenen Untersuchungs- und Auslieferungshaft von zwei Jahren - der Beschwerdeführer war während seiner Untersuchungshaft in die Niederlande geflüchtet - wurde er mit Verkündung des Urteils in die Freiheit entlassen.

33

b) Zwischen 1980 und 1983 war der Beschwerdeführer in Südtirol als angestellter Lehrer an verschiedenen Gymnasien sowie als Kulturreferent für den Rundfunk tätig. In dieser Zeit kam es zu wiederholten sexuellen Übergriffen gegenüber Minderjährigen, weswegen er mit Urteil des Appellationsgerichtshofs Trient vom 5. November 1986 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde.

34

c) Nachdem ihm 1988 die Verbüßung seiner Haft als Freigänger genehmigt worden war, ließ sich der Beschwerdeführer in Deutschland nieder. In der Folgezeit kam es erneut zu sexuellen Übergriffen. Das Landgericht Köln verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 24. Juni 1991 wegen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen, sowie in sieben Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem wurde ihm auf Lebenszeit verboten, einen Beruf auszuüben, der die Ausbildung, Betreuung und Beaufsichtigung von Jugendlichen zum Gegenstand hat. Dieses Berufsverbot wurde im Jahre 1992 zur Bewährung ausgesetzt, soweit es die Ausbildung, Betreuung und Beaufsichtigung von Jugendlichen ab 15 Jahren betraf.

35

d) Während des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Belgien in der Zeit von Juli 1991 bis Ende 1995 wurde gegen ihn wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen ermittelt, ein Tatnachweis konnte nicht geführt werden.

36

e) In den Jahren 1995 und 1996 ging der Beschwerdeführer einer Lehrtätigkeit an einer Universität in Kolumbien nach. Nach Erkenntnissen des BKA Wiesbaden, welche vom Beschwerdeführer nicht bestätigt wurden, soll gegen den Beschwerdeführer und weitere Personen der dringende Tatverdacht des fortgesetzten Missbrauchs von Kindern und der Herstellung kinderpornographischer Schriften bestanden haben.

37

f) Im Jahr 1998 wurde der Beschwerdeführer in Tschechien wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen unter 15 Jahren in Haft genommen. Nach Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft Köln stellte diese das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

38

g) Mit Urteil des Bezirksgerichts Pilsen vom 30. Juni 2006 wurde der Beschwerdeführer wegen Sexualstraftaten an Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

39

2. a) Das Landgericht Deggendorf verurteilte den Beschwerdeführer am 22. Februar 2008 wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, der versuchten Vergewaltigung in drei Fällen und des Verstoßes gegen ein Berufsverbot in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren. Zugleich wurde die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

40

b) Die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil vom 22. Februar 2008 verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 9. September 2008. Die Annahme des Landgerichts, wegen der Weigerung des Beschwerdeführers, sich explorieren oder begutachten zu lassen, könne dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nicht festgestellt und deswegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung nur vorbehalten werden, sei zwar nicht rechtsfehlerfrei. Zur Feststellung der Gefährlichkeit eines Hangtäters bedürfe es keiner Erkenntnisse, die nur mit dessen Zustimmung gewonnen werden könnten. Vielmehr ergebe sich die Gefährlichkeit regelmäßig allein aus der hier getroffenen Feststellung eines Hangs. Anhaltspunkte für nach den Taten eingetretene Umstände, die die hangbedingte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers auch nur möglicherweise in Frage stellen könnten, seien nicht ansatzweise zu erkennen. Da die Strafkammer sich letztlich nur durch das Fehlen der von ihr rechtsfehlerhaft für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Erkenntnisse an der Anordnung der Sicherungsverwahrung gehindert gesehen habe, sei der Beschwerdeführer aber durch die nur vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht beschwert.

41

3. a) Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Deggendorf vom 3. Dezember 2009 ordnete das Landgericht Deggendorf - große Jugendkammer - mit hier angegriffenem Urteil vom 18. November 2010 gegen den Beschwerdeführer nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an.

42

aa) Am 29. September 2010 hatte die Kammer gemäß § 33b Abs. 2 JGG beschlossen, in der Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen zu entscheiden. Den Besetzungseinwand des Beschwerdeführers vom 17. November 2010, mit dem dieser geltend machte, die Jugendkammer sei zwingend mit drei Berufsrichtern zu besetzen, hatte die Kammer mit Beschluss vom 18. November 2010 zurückgewiesen. Wie schon im Anlassverfahren sei eine Besetzung mit zwei Berufsrichtern zur sachgerechten Behandlung des Falls ausreichend. Die Sache sei, nachdem nur noch die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausstehe, nicht außerordentlich umfangreich. Die Rechtslage stelle sich nicht schwieriger als im Anlassverfahren dar.

43

bb) Das von der Kammer in Auftrag gegebene forensisch-psychiatrische Gutachten war aufgrund der Weigerung des Beschwerdeführers, an der Begutachtung mitzuwirken, nach Aktenlage erstellt worden. Der beauftragte Sachverständige Prof. Dr. Osterheider hatte ausweislich des landgerichtlichen Urteils ausgeführt, es sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass bei dem Beschwerdeführer eine Präferenzstörung im Sinne einer Pädophilie vom ausschließlichen Typus (Kernpädophilie, ICD-10: F65.4) vorliege, die auch den Bereich der Ephebophilie umfasse. Die Ephebophilie beschreibe einen Zustand sexueller Reizbarkeit durch in der Pubertät befindliche Jugendliche, wohingegen pädophile Täter nur durch vorpubertäre Kinder und Jugendliche gereizt würden. Die Kernpädophilie zeichne sich durch eine hohe Progredienz sowie eine hohe Rückfallhäufigkeit aus. Für eine Pädophilie vom ausschließlichen Typus bestehe abstrakt eine 80%-ige Rückfallwahrscheinlichkeit. Bei sogenannten ich-syntonen Tätern wie dem Beschwerdeführer sei typisch, dass sie ihre Abweichung nicht als störend, abweichend oder normverletzend empfänden, keinerlei Therapiemotivation hätten und bereits bei der Berufswahl ihrer pädophilen Orientierung nachgingen. Es sei als wahrscheinlich zu beurteilen, dass der Beschwerdeführer bei einer unbehandelten Entlassung schnell Kontakt zu Kindern oder Jugendlichen suchen würde. Bei dem Beschwerdeführer bestehe ein seit dreißig Jahren eingeschliffenes Verhaltensmuster und somit eine fest eingewurzelte Neigung. Die Störung bestehe seit der Pubertät, mit einer Persönlichkeitsnachreifung sei nicht zu rechnen. Demzufolge sei von einer ungünstigen Prognose auszugehen. Es bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit deliktanaloger Taten.

44

Die Kammer schloss sich den Ausführungen des Sachverständigen an. Angesichts der Vorverurteilungen und der Anlasstaten bestehe kein Zweifel daran, dass beim Beschwerdeführer eine Pädophilie vom ausschließlichen Typ vorliege. Vom Beschwerdeführer gehe für die Allgemeinheit immer noch eine hohe Gefahr aus. Er habe im Rahmen der sozialtherapeutischen Behandlung die Anlasstaten geleugnet, setze sich mit seiner Delinquenz nicht auseinander und stelle die rechtlichen Aspekte der Haft in den Vordergrund. Aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers und eines Vorfalls mit einem Mithäftling sei eine Weiterführung der Therapie als nicht zielführend angesehen und daher abgebrochen worden. Der Beschwerdeführer habe in seinem letzten Wort zudem unter Beweis gestellt, dass er die Anlasstaten nach wie vor leugne und keinerlei Delikts- beziehungsweise Therapieeinsicht habe. Die Kammer sei daher zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Beschwerdeführer ein eingeschliffener innerer Zustand beziehungsweise eine fest eingewurzelte Neigung zur Begehung deliktanaloger Taten bestehe. Der Beschwerdeführer neige intensiv zu den beschriebenen Rechtsbrüchen. Die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit ergebe sich schon aus dem festgestellten Hang.

45

Das Landgericht berücksichtigte einerseits das Alter des Beschwerdeführers, den zwischenzeitlich eingetretenen Tod der Ehefrau und den voraussichtlichen Verbleib des Beschwerdeführers in der Strafhaft bis zum Endstrafenzeitpunkt im Oktober 2013. In die Abwägung stellte die Kammer andererseits die große Anzahl der Vorverurteilungen, die Vielzahl der Taten über einen langen Zeitraum und die hohe Zahl der Opfer ein. Ferner, so die Kammer, sei zu sehen, dass sich der Beschwerdeführer in keiner Weise mit den von ihm begangenen Taten auseinandersetze und pauschal der Gesellschaft die Schuld dafür zuschreibe. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterliege zwar als ultima ratio engen Grenzen, sei hier jedoch verhältnismäßig.

46

b) Auf Antrag des Generalbundesanwalts verwarf der Bundesgerichtshof mit angegriffenem Beschluss vom 29. März 2011 gemäß § 349 Abs. 2 StPO die Revision des Beschwerdeführers, mit der dieser den absoluten Revisionsgrund einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts gemäß § 338 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 33b Abs. 2 JGG geltend machte und die Verletzung materiellen Rechts rügte, als unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung habe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben.

III.

47

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seines Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie - unter Berufung auf das Urteil des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.

48

1. Die Besetzung der Jugendkammer mit zwei Berufsrichtern verstoße gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Kammer hätte aufgrund der Eingriffstiefe sowie der Schwierigkeit der Rechtsfrage zwingend mit drei Berufsrichtern besetzt sein müssen. Der Gesetzgeber habe bei Schwurgerichtsverfahren ebenso wie bei der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung, gerade auch aufgrund der besonderen Eingriffsqualität, eine Besetzung der Kammer mit drei Berufsrichtern vorgeschrieben. Die Schwere des Eingriffs einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung unterscheide sich jedoch nicht von der Verhängung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Gerade die Eingriffstiefe der Sicherungsverwahrung, die über die einer lebenslangen Freiheitsstrafe hinausgehe, begründe die Schwierigkeit der Angelegenheit. Im Übrigen ergebe sich die Schwierigkeit im vorliegenden Fall auch aus dem Umstand, dass das Landgericht Deggendorf in seinem Urteil vom 22. Februar 2008 die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung völlig verkannt habe, wie sich aus der Revisionsentscheidung vom 9. September 2008 ergebe. Das Landgericht habe schließlich verkannt, dass mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache dem Gericht gerade kein Ermessen, sondern ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei.

49

2. Die Tatsache, dass sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 9. September 2008 nicht mit dem Beschluss des 2. Strafsenats vom 5. September 2008 (2 StR 237/08) auseinandergesetzt, diesen also übersehen habe, stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG dar. Mit diesem Beschluss habe der 2. Strafsenat in einer vergleichbaren Konstellation, in der - wie hier - die Strafkammer bei der Anlassverurteilung die gesetzlichen Voraussetzungen für den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung verkannt habe, das Urteil der Strafkammer aufgehoben.

50

3. Die Vorschrift des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB und damit die hier angeordnete Sicherungsverwahrung verstoße nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Infolgedessen seien der Beschluss des Bundesgerichtshofs und das Urteil des Landgerichts Deggendorf aufzuheben und die Angelegenheit an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

IV.

51

1. Das Bundesministerium der Justiz ist der Ansicht, die vorbehaltene Sicherungsverwahrung sei auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verfassungsgemäß. Das deutsche Strafrecht wähle mit dem zweistufigen Verfahren der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung im Interesse der individuellen Freiheit des Verurteilten eine zurückhaltende Lösung, die über die Anforderungen der Konvention hinausgehe. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung sei für den Verurteilten günstiger als die primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung. Er erfolge, um den Eingriff in die Freiheitsgrundrechte des Betroffenen so gering wie möglich zu halten.

52

Die mit der Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung sei gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt, da sie rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht erfolge. Der erforderliche hinreichende kausale Zusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung sei bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gegeben. Die zeitlich spätere Anordnungsentscheidung sei keine neue Entscheidung, die den Kausalzusammenhang durchbreche, sondern ein Teil der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtsfolgen einer Straftat. Selbst wenn die Anordnungsentscheidung als eigenständige Gerichtsentscheidung gewertet würde, sei der Kausalzusammenhang nicht durchbrochen. Eine Durchbrechung wegen Zeitablaufs könne erst dann angenommen werden, wenn sich die Entscheidung über die Fortdauer oder Beendigung der Freiheitsentziehung auf Gründe beziehe, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung nicht übereinstimmten. Dies sei bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruhe gerade auf den Feststellungen der Anlassverurteilung und berücksichtige ergänzend die Aspekte der weiteren Entwicklung des Verurteilten.

53

2. Die Bayerische Staatsregierung sieht einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als nicht gegeben an. Das Landgericht Deggendorf habe bei der Entscheidung über die Besetzung der Strafkammer weder unter Verkennung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entschieden, noch eine willkürliche oder offensichtlich unhaltbare Auslegung des § 33b Abs. 2 JGG vorgenommen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebiete nicht, dass bei der Entscheidung über die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung nach einem Vorbehalt drei Berufsrichter an der Entscheidung mitwirken.

54

Durch die Anordnung der Sicherungsverwahrung werde der Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG verletzt. Der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 anzulegende strikte Verhältnismäßigkeitsmaßstab sei gewahrt.

55

Ein Grundrechtsverstoß ergebe sich auch nicht aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Freiheitsentzug sei im Falle der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt. Der nach dieser Vorschrift erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung liege vor. Die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung ergebe sich maßgeblich aus dem Vorbehaltsurteil und hänge von diesem ab. Letztlich handele es sich bei dem Verfahren der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung um eines, das in zwei Verfahrensabschnitte unterteilt sei, zwischen denen aber eine enge Verknüpfung bestehe. Mit der Feststellung, dass beim Verurteilten zumindest wahrscheinlich eine hangbedingte Gefährlichkeit für die Allgemeinheit bestehe, seien die Grundlagen für die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung - anders als in den Fällen des § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. - im Wesentlichen schon im Vorbehaltsurteil enthalten. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien Konstellationen für vereinbar mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK erklärt worden, bei welchen im Vergleich ein wesentlich schwächerer Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der anschließenden Freiheitsentziehung vorgelegen habe, so etwa in den Fällen Weeks./. Vereinigtes Königreich und Van Droogenbroeck ./. Belgien, in denen den Freiheitsentziehungen lediglich Verwaltungsentscheidungen zugrunde gelegen hätten. Überdies sei die Freiheitsentziehung im vorliegenden Verfahren aufgrund der beim Beschwerdeführer festgestellten Pädophilie vom ausschließlichen Typus auch gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK gerechtfertigt.

56

3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat die Stellungnahmen der Vorsitzenden des 1., 3. und 5. Strafsenats übermittelt. Der Vorsitzende des 1. Strafsenats merkt mit Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum gebotenen Kausalzusammenhang zwischen Urteil und Freiheitsentziehung an, dass nach dem Urteil eingetretenes Geschehen auch sonst zur Freiheitsentziehung führen könne, nachdem das Urteil selbst eine entsprechende Möglichkeit zwar eröffne, die Entscheidung darüber, ob es tatsächlich zur Freiheitsentziehung komme, aber nicht getroffen habe. Insoweit sei insbesondere auf die Möglichkeit des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56f StGB und § 26 JGG) oder des Widerrufs der Bewährung hinsichtlich einer Unterbringungsanordnung (§ 67g StGB) zu verweisen. Auch das Verfahren nachträglicher Gesamtstrafenbildung ermögliche den Wegfall einer im Urteil noch zugebilligten Strafaussetzung zur Bewährung beziehungsweise gebiete ihn in bestimmten Fällen sogar. Die anderen Vorsitzenden verweisen auf Rechtsprechung ihrer Senate.

57

4. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei vorliegend nicht verletzt. Die Rechtsanwendung des Landgerichts sei jedenfalls nicht willkürlich. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfordere hier von Verfassungs wegen nicht die Mitwirkung von drei Berufsrichtern.

58

Die angegriffenen Entscheidungen seien darüber hinaus auch unter Zugrundelegung der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 mit der Verfassung vereinbar. Ein Verfassungsverstoß ergebe sich nicht daraus, dass die Anordnung der zuvor vorbehaltenen Sicherungsverwahrung mit den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar wäre.

59

Indem das Ausgangsurteil über das Instrument des Vorbehalts das Vorliegen der formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung feststelle, lege es eine hinreichende Basis für die spätere Anordnung des Vollzugs. Der einzige Unterschied zur primären Sicherungsverwahrung bestehe darin, dass die Gefährlichkeit (noch) nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen sei. Das Gericht, welches später über die Anordnung zu entscheiden habe, sei an die Feststellungen und rechtliche Beurteilung der Tat durch das Tatgericht gebunden. Es treffe lediglich hinsichtlich der relevanten Gefährlichkeit eigene Feststellungen. Die nachfolgende Prüfung lasse sich als Annex zum Erkenntnisverfahren verstehen und schließe das zweigeteilte Procedere ab. Die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung greife nicht - wie die Verlängerung einer präventiven Freiheitsentziehung - zum Nachteil des Betroffenen korrigierend in den früheren Urteilsspruch ein, sondern halte sich in dem von der Ausgangsentscheidung vorgegebenen Rahmen.

60

Um eine breitere Entscheidungsgrundlage zu erreichen, werde die abschließende Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose in ein künftiges Verfahren verlagert. Vor diesem Hintergrund relativiere sich auch die Bedeutung des Zeitablaufs zwischen den Entscheidungen. Das Hinausschieben der abschließenden Bewertung der Gefährlichkeit diene - nicht zuletzt im Interesse des Betroffenen - der Sicherheit der zu treffenden Prognose.

61

Der Betroffene könne aufgrund eines Vorbehalts nicht im Unklaren darüber sein, dass der spätere Vollzug der Maßregel ernstlich in Betracht komme und im Wesentlichen nur noch von seiner weiteren Entwicklung abhänge. Dem rechts-staatlichen Anspruch, im Urteil über die Rechtsfolgen berechenbar aufgeklärt zu werden, sei mit dem Vorbehalt, der eine Warnfunktion erfülle, Genüge getan.

62

Schließlich hielten die Entscheidungen den Anforderungen für die Weitergeltung des § 66a StGB nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 auch bei einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.

63

5. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat sowie die übrigen Bundesländer haben von Stellungnahmen abgesehen.


V.

64

Der Beschwerdeführer hat auf die Stellungnahmen repliziert und sein Beschwerdevorbringen vertieft. Er ist der Ansicht, die mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung sei nicht gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt. Der erforderliche hinreichende Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung sei nicht gegeben, da die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgekoppelt vom Schuldspruch erfolge. Dem Erfordernis einer präzisen und vorhersehbaren Anwendung des Gesetzes sei zudem nicht Rechnung getragen, da die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung vom Vollzugsverhalten des Strafgefangenen und damit einem wenig aussagekräftigen Kriterium abhängig sei.

B.

65

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die den angefochtenen Entscheidungen zugrunde liegenden Vorschriften des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) sind nach Maßgabe des Urteils des Senats vom 4. Mai 2011 mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar (I.). Sie verstoßen nicht auch aus anderen Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes (II.). Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer zwar nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (III.), jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (IV.).

I.

66

1. § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) sind gemäß dem Urteil des Senats vom 4. Mai 2011 unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Die Vorschriften genügen nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die vorhandenen Regelungen über die Sicherungsverwahrung strukturell die Wahrung der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs, die aus dem Abstandsgebot resultieren, nicht gewährleisten (vgl. BVerfGE 128, 326 <372 ff., 404>).

67

2. Zugleich hat der Senat gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe angeordnet, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013 (vgl. BVerfGE 128, 326 <332>). Danach dürfen § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. - wie alle übrigen Vorschriften, die wegen des Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt wurden - während dieser Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird dabei in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <405 f.>).

II.

68

§ 66a StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 verstößt nicht aus anderen als den genannten Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes.

69

1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verletzt nicht die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde.

70

a) Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 87, 209 <228>; 96, 375 <398>; 109, 133 <149>). Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 45, 187 <228>; 109, 133 <149 f.>). Menschenwürde in diesem Sinne ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>; 109, 133 <150>).

71

Für die Strafrechtspflege bedeutet das Gebot der Achtung der Menschenwürde insbesondere, dass grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind. Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 109, 133 <150>). Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen auch dann erhalten bleiben, wenn der Grundrechtsberechtigte seiner freiheitlichen Verantwortung nicht gerecht wird und die Gemeinschaft ihm wegen begangener Straftaten die Freiheit entzieht. Aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt die Verpflichtung des Staates, auch die Freiheitsentziehung menschenwürdig auszugestalten. Mit der Garantie der Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn bestehen würde, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <229>; 109, 133 <150>).

72

Für die Androhung und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass diese ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug findet. Die Vollzugsanstalten sind im Blick auf die Grundrechte der eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßenden Gefangenen verpflichtet, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs, vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen, die die Lebenstüchtigkeit ernsthaft in Frage stellen und es ausschließen, dass sich der Gefangene im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben noch zurechtzufinden vermag, im Rahmen des Möglichen zu begegnen. Schädlichen Wirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen ist entgegenzuwirken. Diese Maßstäbe gelten auch für die Unterbringung von Straftätern in der Sicherungsverwahrung (BVerfGE 109, 133 <150 f.>).

73

b) Gemessen an diesen Maßstäben verstößt das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht gegen die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG.

74

aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass die Menschenwürde durch eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist. Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern (vgl. BVerfGE 45, 187 <242>; 109, 133 <151>). Die vom Grundgesetz vorgegebene Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums rechtfertigen es, unabdingbare Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Gemeinschaftsgüter vor Schaden zu bewahren. Das Grundgesetz hat das Spannungsverhältnis Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person aufgelöst, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Vor diesem Hintergrund ist die Sicherungsverwahrung auch als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit mit dem Grundgesetz vereinbar (vgl. BVerfGE 109, 133 <151 f.>).

75

bb) Für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ergibt sich keine hiervon abweichende Beurteilung. Der von ihr Betroffene wird nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Die Maßregel dient ebenso wie alle anderen Formen der Sicherungsverwahrung als Präventivmaßnahme dem Schutz wesentlicher Gemeinschaftsgüter. Zwar unterscheiden sich ihre Voraussetzungen von denen der primären Sicherungsverwahrung insofern, als zum Zeitpunkt der Verurteilung und Anordnung des Vorbehalts die Gefährlichkeit des Betroffenen nicht mit hinreichender Sicherheit feststehen muss und darf. Allerdings setzt der Vorbehalt eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür voraus, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; BGH, Urteil vom 20. Novem-ber 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11).

76

Der Betroffene wird zwar im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zum Zeitpunkt der Verurteilung sowie in der Regel zumindest während eines großen Teils seiner Strafhaft über sein weiteres Schicksal im Ungewissen gelassen, über ihm schwebt gleichsam das "Damoklesschwert" der Sicherungsverwahrung. Er hat jedoch die Herbeiführung der Voraussetzungen der späteren Maßregelanordnung weitgehend selbst in der Hand (vgl. Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 14). So kann er etwa durch Mitwirkung an einer Therapie zu einer für ihn günstigen Gefährlichkeitsprognose beitragen. Nach dem Urteil des Senats vom 4. Mai 2011 ist das gesamte System der Sicherungsverwahrung so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 326 <377>). Das Abstandsgebot verlangt, dass schon während des Strafvollzugs alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Gefährlichkeit des Verurteilten zu reduzieren, wenn später die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. Insbesondere muss gewährleistet sein, dass etwa erforderliche psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlungen zeitig beginnen, mit der gebotenen hohen Intensität durchgeführt und möglichst vor dem Strafende abgeschlossen werden (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>).

77

Hinzu kommt, dass sich die Belastungssituation im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht wesentlich von derjenigen der primären Sicherungsverwahrung unterscheidet (zur Vereinbarkeit der zeitlich unbegrenzten Sicherungsverwahrung mit Art. 1 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 109, 133 <153>). Auch derjenige, bei dem mit der Verurteilung die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet wird, unterliegt insofern der Ungewissheit, ob er nach der Verbüßung der Strafhaft tatsächlich in der Sicherungsverwahrung untergebracht wird, als das Gericht nach § 67c Abs. 1 StGB vor dem Ende des Strafvollzugs prüft, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert, das heißt, ob die bei der Entscheidung getroffene Gefährlichkeitsprognose noch aufrechtzuerhalten oder andernfalls die Vollstreckung gemäß § 67c Abs. 1 Satz 2 StGB zur Bewährung auszusetzen ist.

78

Dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung angesichts der mit ihm verbundenen Ungewissheiten zu besonderen Belastungen psychischer oder physischer Art führt, die als unmenschlich, grausam oder erniedrigend zu werten wären, ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar. Gerade der bloße Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ist geeignet, dem Betroffenen zu verdeutlichen, dass er nicht einem für ihn unbeherrschbaren Verlauf ausgeliefert ist, und kann zu einer größeren Bereitschaft führen, an einer Therapie mitzuwirken, um eine spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung zu vermeiden (vgl. Kreuzer/Bartsch, Forum Strafvollzug 2010, S. 124 <134>; ähnlich Streng, in: Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, S. 611 <635>; Arloth, in: Schöch/Jehle , Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, S. 327 <331>).

79

2. § 66a StGB a.F. verstößt jenseits des bereits im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellten Verstoßes gegen das Abstandsgebot nicht aus weiteren Gründen gegen das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Es liegt unter keinem weiteren Gesichtspunkt eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vor (a). Insbesondere enthält die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht (b). Auch die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (c) und des Gebots der Rechtssicherheit sind gewahrt (d).

80

a) aa) Die Freiheit der Person nimmt - als Grundlage und Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgers - einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sie als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien statuiert (BVerfGE 35, 185<190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372 f.>). Präventive Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht, die - wie die Sicherungsverwahrung - nicht dem Schuldausgleich dienen, sind nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies erfordert. Dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit ist der Freiheitsanspruch des Untergebrachten entgegenzuhalten; beide sind im Einzelfall abzuwägen (BVerfGE 109, 133 <157>; 128, 326 <372 f.>). Dabei müssen die Grenzen der Zumutbarkeit gewahrt bleiben; das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen ist sowohl auf der Ebene des Verfahrensrechts als auch materiellrechtlich abzusichern (vgl. BVerfGE 70, 297 <311>; 109, 133 <157 ff.>; 128, 326 <373>).

81

bb) Nach diesen Maßstäben genügt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Sie steht zu dem angestrebten Ziel - dem Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5) - nicht in einem unangemessenen Verhältnis.

82

(1) Die Anordnung des Vorbehalts stellt für den Betroffenen bei Abwägung mit dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit keine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung muss für die Anordnung des Vorbehalts eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird. Zum anderen setzt die Anordnung des Vorbehalts gemäß § 66a Abs. 1 StGB a.F. auch das Vorliegen eines Hangs voraus (etwas anders § 66a Abs. 1 Nr. 3 und § 66a Abs. 2 Nr. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 , wonach die Gefährlichkeit und das Vorliegen eines Hangs zumindest wahrscheinlich sein müssen). Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung kann daher nach seiner gesetzlichen Ausgestaltung nicht bloß rein vorsorglich angeordnet werden. Bestehen aber gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährlichkeit des Verurteilten, stellt es sich nicht als unangemessen dar, wenn er, obwohl Zweifel nicht ausgeräumt werden können, mit dem Vorbehalt einer späteren Sicherungsverwahrung belastet wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass mit dem Vorbehalt keine rechtlichen Nachteile für den Vollzug der Strafe verbunden sind. Insbesondere steht der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung der Gewährung von Vollzugslockerungen nicht entgegen; diese sind vielmehr aus Gründen, die das Gericht zum Abstandsgebot formuliert hat, geboten (vgl. BVerfGE 128, 326 <381 f.>).

83

In Rechnung zu stellen ist ferner, dass es sich bei der ursprünglichen Einschätzung, es bestehe eine erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Verurteilten, rückblickend betrachtet nicht um eine falsche Prognose gehandelt haben muss, wenn der Betroffene zum Ende seiner Strafhaft nicht als gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft wird und daher von der Verhängung der Maßregel abgesehen wird. Die Erkenntnis, dass der Betroffene nicht für die Allgemeinheit gefährlich ist, kann vielmehr auch daraus resultieren, dass der Betroffene seine Gefährlichkeit während seiner Zeit im Strafvollzug etwa durch die erfolgreiche Teilnahme an einer therapeutischen Behandlung reduzieren oder beseitigen konnte.

84

(2) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung und deren spätere Anordnung stehen auch nicht angesichts der in Betracht kommenden Anlass- und Vortaten außer Verhältnis zur Intensität des Grundrechtseingriffs. Zwar kann der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 1 StGB a.F. in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB a.F. bei einer Verurteilung wegen sämtlicher Verbrechenstatbestände und entsprechender Vorverurteilungen erfolgen, so dass als Anlass- und Vortaten auch solche in Betracht kommen, die sich nicht gegen höchstpersönliche Rechtsgüter richten. Die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung im Urteil vorzubehalten und später anzuordnen, wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass die für den Vorbehalt erforderliche erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit sich auf solche drohenden Straftaten beziehen muss, durch die im Sinne des § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. potentielle Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden. Kann die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. nur zum Schutz der genannten Rechtsgüter erfolgen, so kann auch nur insoweit ein Vorbehalt angeordnet werden (vgl. Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 28; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 66a Rn. 4; Ullenbruch, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/1, 1. Aufl. 2005, § 66a Rn. 31). Damit ist die Anordnung des Vorbehalts und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Praxis regelmäßig dann ausgeschlossen, wenn im Vorfeld Straftaten begangen worden sind, die keine körperliche und seelische Schädigung beim Opfer hervorgerufen haben und nicht geeignet waren, solche Schädigungen herbeizuführen. Dem ultima-ratio-Prinzip im Rahmen der Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>) wird auf diese Weise Rechnung getragen.

85

(3) Eine andere Beurteilung der Angemessenheit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Gefährlichkeitsprognose bei der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 StGB a.F. auf das Verhalten des Betroffenen im Strafvollzug gestützt wird. Auch im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung besteht die Möglichkeit einer validen Gefährlichkeitsprognose (zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit von Prognosegutachten als Grundlage der Sicherungsverwahrung vgl. BVerfGE 109, 133 <158>; 128, 326 <373>).

86

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll die Berücksichtigung des Verhaltens des Verurteilten im Strafvollzug vor allem dessen Entwicklung in einer Behandlung als gewichtigen Prognosefaktor erfassen. Weitere prognoserelevante Gesichtspunkte könnten beispielsweise aggressive Handlungen gegen Strafvollzugsbedienstete oder Mitgefangene, Straftaten oder subkulturelle Aktivitäten im Vollzug, Drohungen oder andere Äußerungen sein, die auf eine Rückkehr in kriminelle Subkulturen und eine Wiederaufnahme insbesondere von Gewalt- oder Sexualkriminalität hindeuten (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 7).

87

Bedenken, was die Aussagekraft des Vollzugsverhaltens für die Gefährlichkeitsprognose betrifft (vgl. Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 1. Aufl. 2009, § 66a Rn. 10; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 66a Rn. 8; Nedopil, NStZ 2002, S. 344 <349>), führen lediglich dazu, dass das Verhalten des Betroffenen mit besonderer Vorsicht zu würdigen ist, nicht aber zur Verfassungswidrigkeit des Instituts der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Der begrenzten Aussagekraft des Verhaltens des Betroffenen im Strafvollzug trägt die Rechtsprechung bereits dadurch Rechnung, dass allgemein verbreitete und vollzugstypische Verhaltensweisen, wie etwa unfreundliches, aufsässiges Verhalten oder einfache Sachbeschädigungen, nicht ohne weiteres als Hinweis auf eine erhebliche Gefährlichkeit eines Verurteilten gewertet werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 324/05 -, juris, Rn. 6; Beschluss vom 10. November 2006 - 1 StR 483/06 -, juris, Rn. 9; zur entsprechenden Rechtsprechung im Hinblick auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 -, NJW 2006, S. 531 <535>; Urteil vom 19. Januar 2006 - 4 StR 222/05 -, NJW 2006, S. 1446 <1448>; Beschluss vom 28. August 2007 - 5 StR 267/07 -, juris; Beschluss vom 22. Januar 2009 - 1 StR 618/08 -, juris, Rn. 15; BVerfGK 9, 108 <113>).

88

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das Verhalten des Strafgefangenen im Strafvollzug in der Gesamtwürdigung mit seiner Person und seinen Taten hinreichend Aufschluss über seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit gibt. Für aussagekräftig im Hinblick auf die zu erstellende Gefährlichkeitsprognose werden insbesondere Erkenntnisse im Rahmen einer therapeutischen Behandlung in der Strafhaft erachtet, die im ersten psychiatrischen Gutachten nicht explorierbar gewesen sind (vgl. Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster , Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 53 <100>; Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 57; Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 1. Aufl. 2009, § 66a Rn. 11). Als Anhaltspunkte für eine eher ungünstige Prognose werden in diesem Zusammenhang etwa genannt: Keine Einsicht in eigene Probleme, Tendenz zur Bagatellisierung, Unmöglichkeit, sich der speziellen Problematik zu nähern, Verweigerung therapeutischer Angebote, mehrfache Therapieabbrüche (vgl. Rasch, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 376).

89

Hinzu kommt, dass mit Blick auf das ultima-ratio-Prinzip künftig in größerem Maße als bislang Vollzugslockerungen vorzusehen und zu gewähren sind, so dass die Gefährlichkeitsprognose auf eine tragfähigere Grundlage gestellt werden kann (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>). Damit wird zugleich der Gefahr begegnet, dass sich der Betroffene wegen der Versagung von Vollzugslockerungen nicht bewähren kann. Falls dennoch das Vollzugsverhalten nach den dargelegten Maßstäben im Einzelfall nicht aussagekräftig sein sollte und auch im Rahmen der Gesamtwürdigung von Täter, Tat und der Entwicklung im Strafvollzug keine fundierte Prognose getroffen werden kann, darf die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden.

90

b) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung enthält auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht.

91

Die Europäische Menschenrechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz. Sie ist jedoch als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Dies gilt auch für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <315 ff.>; 128, 326 <366 ff.>; zur Aufnahme der Wertungen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip BVerfGE 128, 326 <371>).

92

Auch nach den demgemäß heranzuziehenden Wertungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK greift die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht unverhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht ein.

93

Art. 5 EMRK enthält in Absatz 1 eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung (vgl. nur EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 86, m.w.N.). Die Voraussetzungen des Haftgrundes nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK liegen nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB a.F. vor (aa). Dagegen ist eine Rechtfertigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK regelmäßig ausgeschlossen; inwieweit eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK zu rechtfertigen ist, kann offen bleiben (bb).

94

aa) Die mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. verbundene Freiheitsentziehung findet ihre Rechtfertigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK.

95

(1) Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gestattet eine "rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht". Der Begriff "Verurteilung" ist so zu verstehen, dass er sowohl eine Schuldfeststellung bezeichnet, nachdem das Vorliegen einer Straftat in der gesetzlich vorgesehenen Weise festgestellt wurde, als auch die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme. Darüber hinaus bedeutet das Wort "nach" in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht lediglich, dass die Freiheitsentziehung zeitlich auf die Verurteilung folgt. Zusätzlich muss sich die Freiheitsentziehung aus dieser Verurteilung ergeben, ihr folgen und von ihr abhängen oder kraft dieser Verurteilung angeordnet werden ("the detention must result from, follow and depend upon or occur by virtue of the conviction"). Mit anderen Worten muss zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang ("sufficient causal connection") bestehen (grundlegend EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 35; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 87 f.).

96

(2) Nach diesen Maßstäben kann die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach zuvor ergangenem Vorbehalt gemäß § 66a Abs. 2 StGB a.F. für sich betrachtet nicht als Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden (a). Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist jedoch von einem hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung und der Verurteilung auszugehen (b). Der erforderliche Kausalzusammenhang wird nicht durch den Zeitablauf zwischen der Verurteilung und der Anordnung der Sicherungsverwahrung durchbrochen (c).

97

(a) Die Entscheidung eines Strafvollstreckungsgerichts über den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung erfüllt nicht das Erfordernis einer Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK, da sie keine Schuldfeststellung beinhaltet (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 96, Urteile vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 84, Beschwerde-Nr. 27360/04 und 42225/07, Schummer ./. Deutschland, Rn. 53; ferner Urteil vom 24. November 2011, Beschwerde-Nr. 4646/08, O.H. ./. Deutschland, Rn. 82). Gleiches hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für ein Urteil angenommen, mit dem nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. In diesem Fall, so der Gerichtshof, sei allein die strafgerichtliche Aburteilung konventionsrechtlich als Verurteilung anzusehen (vgl. EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 72 f.).

98

Danach kann auch die durch Urteil nachträglich angeordnete, zuvor im Anlassurteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung jedenfalls isoliert betrachtet nicht als Verurteilung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden. Auch sie enthält - ebenso wie die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung - keine Schuldfeststellung im Sinne der zitierten Rechtsprechung. Zwar enthält das Urteil Feststellungen zur Anlassverurteilung. Hierbei handelt es sich jedoch nur um die Wiedergabe der Feststellungen, die bereits in der Anlassverurteilung rechtskräftig getroffen worden sind. Das Gericht ist an diese Feststellungen gebunden (vgl. hierzu etwa Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 82).

99

(b) Ob aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung als zweiaktiges Verfahren (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6; BTDrucks 14/9264, S. 10) der Vorbehalt und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung zusammen genommen als Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden können, bedarf keiner Entscheidung. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, so schließt dies den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht aus. Die Sicherungsverwahrung ist nämlich dann gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt, wenn zwischen ihr und der Verurteilung, welche die Schuldfeststellung beinhaltet, ein hinreichender Kausalzusammenhang existiert (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 97; Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 85; Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 74). Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Kriterium des hinreichenden Kausalzusammenhangs im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK ist ein solcher Kausalzusammenhang zwischen der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung und der Verurteilung zu bejahen.

100

Der Gerichtshof nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die zusammen mit der Verurteilung angeordnet wird und die nicht über die zum Zeitpunkt der Anlasstat und der Verurteilung gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer hinaus erfolgt, unter den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK fällt (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 93 ff.; Urteil vom 21. Oktober 2010, Beschwerde-Nr. 24478/03, Grosskopf ./. Deutschland, Rn. 47; Urteil vom 9. Juni 2011, Beschwerde-Nr. 30493/04, Schmitz ./. Deutschland, Rn. 39; ferner EKMR, Entscheidung vom 4. Februar 1971, Beschwerde-Nr. 4324/69, X. ./. Deutschland; Entscheidung vom 7. Juli 1992, Beschwerde-Nr. 19969/92, Dax ./. Deutschland).

101

Nach den Maßstäben dieser Rechtsprechung steht es der Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung nicht ohne weiteres entgegen, dass letztere nicht zusammen mit der Verurteilung ausgesprochen wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich eine später angeordnete Freiheitsentziehung in dem zum Zeitpunkt der Verurteilung bestehenden gesetzlichen und durch die Verurteilung gesteckten Rahmen bewegt (aa). Diese Voraussetzung ist bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfüllt (bb). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 1 EMRK (cc).

102

(aa)(α) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat es im Hinblick auf den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung grundsätzlich nicht beanstandet, dass nach belgischem Recht ein Straftäter neben seiner Haftstrafe "der Verfügungsgewalt der Regierung" unterstellt ("mise à la disposition du gouvernement") und die Entscheidung über die Art und Weise der Vollstreckung dieser Strafe nach Verbüßung der Haft seitens des Justizministers getroffen wurde (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien; Urteil vom 13. Oktober 2009, Beschwerde-Nr. 27428/07, Schepper ./. Belgien, Rn. 35 ff.).

103

Diese Konstellation ist, was den Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung betrifft, mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vergleichbar (so auch Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 16; Finger, Vorbehaltene und Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2008, S. 216). Zwar wurde nach belgischem Recht mit der Unterwerfung unter die Verfügungsgewalt der Regierung die Entscheidung über die Verhängung einer weiteren, zur Haftstrafe hinzutretenden Rechtsfolge - anders als beim Vorbehalt der Sicherungsverwahrung - bereits in der Verurteilung getroffen. Da das Unterwerfen unter die Verfügungsgewalt der Regierung allerdings nicht zwangsläufig zu einer tatsächlichen Freiheitsentziehung führte, sondern in unterschiedlichen Formen vollzogen werden konnte, war über den tatsächlichen Entzug der Freiheit der Sache nach ebenso wie im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht bereits im Urteil, sondern zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden. Im Fall Van Droogenbroeck ./. Belgien hat der Gerichtshof denn auch angenommen, dass die ministeriellen Entscheidungen mit dem Widerruf der bedingt erfolgten Freilassung die Freiheitsentziehung des Individualbeschwerdeführers verfügt hätten. Das verurteilende Gericht ordne die Freiheitsentziehung nicht an, sondern autorisiere sie (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 38).

104

Ähnlich verhält es sich bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Auch das Vorbehaltsurteil spricht keine Freiheitsentziehung aus, sondern eröffnet die Möglichkeit, die Freiheitsentziehung zu einem späteren Zeitpunkt anzuordnen, sofern sich der Betroffene als gefährlich für die Allgemeinheit erweisen sollte und deswegen ein Bedarf für seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht.

105

(β) Ferner hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Eriksen ./. Norwegen die Möglichkeit im norwegischen Strafrechtssystem, eine im Urteil angeordnete Präventivhaft zu verlängern und bis zur Entscheidung über die Verlängerung als provisorische Maßnahme die Untersuchungshaft anzuordnen, als Haftgrund im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK angesehen, ohne dass das zugrunde liegende Urteil gegen den Individualbeschwerdeführer eine derartige Möglichkeit vorgesehen hätte. Diese ergab sich allein aus dem Gesetz (vgl. EGMR, Urteil vom 27. Mai 1997, Beschwerde-Nr. 17391/90, Eriksen ./. Norwegen).

106

(γ) Auch die Ausführungen in der Rechtssache Haidn ./. Deutschland, in der es um die Unterbringung eines im Jahr 1999 wegen Sexualstraftaten verurteilten Individualbeschwerdeführers nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern (BayStrUBG) vom 24. Dezember 2001 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 978 f.) ging, lassen erkennen, dass der Gerichtshof eine Freiheitsentziehung nicht nur dann als von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt ansieht, wenn sie bereits in der Verurteilung angeordnet wird, sondern dass auch ein Urteil, das eine Sicherungsverwahrung vorbehält, den Anforderungen an einen hinreichenden Kausalzusammenhang genügt (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland; vgl. auch Koller, DRiZ 2011, S. 127 <132>).

107

In die gleiche Richtung deutet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012, die die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß dem außer Kraft getretenen § 66b Abs. 2 StGB in einem Fall betraf, in dem der Individualbeschwerdeführer bereits im Jahr 2000 und somit vor der gesetzlichen Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jahr 2004 (vgl. Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004, BGBl I S. 1838) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass in der strafgerichtlichen Verurteilung keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei. Die Verurteilung zu dieser Zeit habe nicht einmal die Möglichkeit beinhaltet, dass der Betroffene nachträglich in der Sicherungsverwahrung untergebracht werde. Die Vorschriften, auf die die in Rede stehende Sicherungsverwahrung gestützt worden sei, seien erst nach der Tat und der Verurteilung in das Strafgesetzbuch eingeführt worden (vgl. EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 75).

108

Zusammengenommen zeigt diese Rechtsprechung, dass der Annahme eines hinreichenden Kausalzusammenhangs zwischen der Verurteilung und der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung nicht der Umstand entgegensteht, dass die Sicherungsverwahrung nicht bereits in der Verurteilung verhängt wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die Freiheitsentziehung in dem durch das zum Zeitpunkt der Verurteilung geltende Gesetz und die von einem zuständigen Gericht ausgesprochene Verurteilung gesteckten Rahmen hält (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 39; ähnlich im Hinblick auf den Widerruf einer unter Bewährung erfolgten Entlassung eines Straftäters EGMR, Urteil vom 2. März 1987, Beschwerde-Nr. 9787/82, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Rn. 42 f., 49 f.; vgl. ferner Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 99 f.).

109

(bb) Diese Voraussetzung ist bei der nachträglichen Anordnung der im Strafurteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfüllt. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt sich nicht als eine Korrektur, sondern als notwendige Ergänzung des strafgerichtlichen Urteils dar (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6; ferner Mushoff, Strafe - Maßregel - Sicherungsverwahrung, 2008, S. 455). Mit der Entscheidung, die Sicherungsverwahrung vorzubehalten, wird die Grundlage für eine spätere Anordnung geschaffen. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung schließt das durch den Vorbehalt zweigeteilte Verfahren lediglich ab (vgl. Hörnle, in: Festschrift für Ruth Rissing-van Saan, 2011, S. 239 <252>; Laue, JR 2010, S. 198 <203>). Sie hält sich in dem durch das Urteil gezogenen Rahmen, welches gerade die Möglichkeit eröffnet, unter den gesetzlichen Voraussetzungen spätestens bis zu dem in § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB a.F. genannten Zeitpunkt die Sicherungsverwahrung anzuordnen.

110

(cc) Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 1 EMRK, den Einzelnen vor einer willkürlichen Freiheitsentziehung zu schützen (vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Beschwerde-Nr. 5100/71 u.a., Engel u.a. ./. Niederlande, Rn. 58; Urteil vom 6. November 1980, Beschwerde-Nr. 7367/76, Guzzardi ./. Italien, Rn. 92; Urteil vom 25. Juni 1996, Beschwerde-Nr. 19776/92, Amuur ./. Frankreich, Rn. 42). Der Betroffene wird mit dem Vorbehalt im Strafurteil bereits darüber informiert, dass gegen ihn neben der verhängten Strafe eine weitere Rechtsfolge festgesetzt werden kann. Mit der Anlassverurteilung weiß er daher, dass seine Gefährlichkeit vor Ende des Strafvollzuges nochmals unter Berücksichtigung seines Vollzugsverhaltens bewertet wird. Sein Verhalten im Strafvollzug, insbesondere seine Mitarbeit in einer Therapie, kann er hierauf einrichten (vgl. Kreuzer, NStZ 2010, S. 473 <479>; Rissing-van Saan, in: Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 1173 <1183>; ferner BGH, Urteil vom 17. Februar 2011 - 3 StR 394/10 -, juris, Rn. 22). Die Voraussetzungen, unter denen die Sicherungsverwahrung letztlich angeordnet werden kann, liegen zudem nicht im freien Ermessen des Gerichts, sondern sind gesetzlich bestimmt (zu diesem Erfordernis vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 39). Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr einer willkürlichen Freiheitsentziehung bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ebenso wenig wie im Fall der primären Sicherungsverwahrung, zumal die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auf einer breiteren Tatsachengrundlage als im Falle ihrer zusammen mit der Anlassverurteilung vorgenommenen Anordnung erfolgt (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5). Hinzu kommt, dass für die Gefährlichkeit des Verurteilten schon bei der Anlassverurteilung eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen und sein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten feststehen muss. Auf diese Weise wird vermieden, dass die vorbehaltene Sicherungsverwahrung rein vorsorglich angeordnet werden kann (siehe hierzu oben B.II.2.a)bb)(1)).

111

(c) Der Kausalzusammenhang bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird nicht durch die Zeitspanne zwischen der Verurteilung und der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung durchbrochen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und einer weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf allmählich schwächer wird. Eine Durchbrechung des Kausalzusammenhangs nimmt er an, wenn sich die Entscheidung, dem Betroffenen seine Freiheit zu entziehen, auf Gründe stützt, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung unvereinbar wären, oder auf eine Einschätzung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen wäre. Unter diesen Umständen verwandelt sich eine Freiheitsentziehung, die zu Beginn rechtmäßig war, in eine willkürliche, mit Art. 5 EMRK nicht zu vereinbarende Freiheitsentziehung (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 40; Urteil vom 27. Mai 1997, Beschwerde-Nr. 17391/90, Eriksen ./. Norwegen, Rn. 78; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 88).

112

Dies ist nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung knüpft an das erste, den Vorbehalt aussprechende Urteil an. Mit der Anordnung wird abschließend über die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit entschieden, die zum Zeitpunkt der Aburteilung zwar nicht abschließend festgestellt, wohl aber als wahrscheinlich beurteilt werden konnte. Sinn und Zweck des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung ist es gerade, eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob die Notwendigkeit besteht, den Täter zum Schutz der Allgemeinheit in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, und damit eine genauere Gefährlichkeitsprognose zu erhalten (zu ähnlichen Erwägungen vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 79066/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 40). In die für die Erstellung der Gefährlichkeitsprognose notwendige Gesamtwürdigung fließen zudem die Feststellungen über den Täter und dessen Taten ein (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 7). Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruht daher auf Gründen, die bereits in dem Vorbehaltsurteil angelegt sind (so zur aktuellen Rechtslage Radtke, Stellungnahme zu dem Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen" - BTDrucks 17/3404 vom 9. November 2010).

113

bb) (1) Eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK kommt im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung dagegen regelmäßig nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist eine Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde zu rechtfertigen, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, die Person an der Begehung einer Straftat zu hindern. Dieser Haftgrund stellt lediglich ein Mittel zur Verhütung einer konkreten und spezifischen Straftat dar ("a means of preventing a concrete and specific offence") und steht unter formellen Voraussetzungen ("zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde"), die im Rahmen der Sicherungsverwahrung regelmäßig nicht vorliegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat demzufolge in den Fällen, in denen er über die Konventionsmäßigkeit oder -widrigkeit von Sicherungsverwahrungen zu befinden hatte, eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK verneint (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 102, m.w.N.; Urteile vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 17792/07, Kallweit ./. Deutschland, Rn. 52, Beschwerde-Nr. 27360/04 und 42225/07, Schummer ./. Deutschland, Rn. 56; Urteil vom 14. April 2011, Beschwerde-Nr. 30060/04, Jendrowiak ./. Deutschland, Rn. 35; Urteil vom 24. November 2011, Beschwerde-Nr. 4646/08, O.H. ./. Deutschland, Rn. 83; vgl. ferner BVerfGE 128, 326 <395 f.>). Es ist daher davon auszugehen, dass der Gerichtshof auch eine nach Vorbehalt angeordnete Sicherungsverwahrung typischerweise nicht als vom Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK gerechtfertigt ansehen wird.

114

(2) Inwieweit die Freiheitsentziehung aufgrund einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung auch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK gerecht-fertigt werden könnte, kann hier - unbeschadet der im Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 <396 ff.>) entwickelten Grundsätze - offenbleiben.

115

c) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot.

116

aa) Art. 103 Abs. 2 GG findet auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung keine Anwendung, weil diese als Maßregel der Besserung und Sicherung und nicht als Strafe im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist (vgl. BVerfGE 109, 133 <187 f.>; 128, 326 <376 f., 392 f.>). Strafbarkeit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG setzt voraus, dass das auferlegte materielle Übel mit der Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens verknüpft ist und von seiner Zielrichtung her (zumindest auch) dem Schuldausgleich dient (BVerfGE 109, 133<172 ff.>; 128, 326 <376 f., 392 f.>). Der Zweck der Sicherungsverwahrung liegt jedoch allein in der zukünftigen Sicherung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder vor einzelnen, aufgrund ihres bisherigen Verhaltens als hochgefährlich eingeschätzten Tätern. Diese Zweispurigkeit des strafrechtlichen Sanktionensystems entspricht in besonderer Weise dem rechtsstaatlich liberalen Verständnis der deutschen Strafrechtsordnung (vgl. BVerfGE 128, 326 <374, 376 f.>).

117

Maßstab ist Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, der den Gesetzgeber verpflichtet, die Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestimmen. Nur er soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen. Freiheitsentziehungen sind in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Insoweit konkretisiert Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG für den Bereich der Freiheitsentziehung die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bestimmtheitsanforderungen (vgl. BVerfGE 29, 183 <195 f.>; 76, 363 <387>; 109, 133 <188>). Präventive Freiheitsentziehungen greifen ebenso stark in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ein wie Freiheitsstrafen. Der Gesichtspunkt, dass die Vorgaben des Gesetzgebers umso genauer sein müssen, je intensiver der Grundrechts-eingriff ist und je schwerwiegender die Auswirkungen der Regelung sind (vgl. BVerfGE 86, 288 <311>; 93, 213 <238> m.w.N.) erhält daher besonderes Gewicht (BVerfGE 109, 133 <188>). Insoweit enthält Art. 104 Abs. 1 GG ein ähnliches Bestimmtheitsgebot wie Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfGE 29, 183<196>; 78, 374 <383>; 96, 68 <97>).

118

Das Bestimmtheitsgebot schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht aus (vgl. BVerfGE 11, 234 <237>; 28, 175 <183>; 48, 48 <56>; 92, 1 <12>; 126, 170 <196>). Der Gesetzgeber muss in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden (vgl. zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 28, 175<183>; 47, 109 <120 f.>; 126, 170 <195>). Dabei lässt sich der Grad der für eine Norm jeweils erforderlichen Bestimmtheit nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Tatbestandes einschließlich der Umstände ab, die zur gesetzlichen Regelung geführt haben (BVerfGE 28, 175 <183>; 86, 288 <311>; 126, 170 <196>). Gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bestehen keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverläs-sige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (BVerfGE 45, 363 <371 f.>; 86, 288 <311>). Die Rechtsprechung ist zudem gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (zum an die Rechtsprechung gerichteten Präzisierungsgebot im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 126, 170 <198>).

119

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Vorschrift des § 66a Abs. 1 StGB a.F. nicht zu beanstanden. Das für die Anordnung des Vorbehalts erforderliche Merkmal der nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbaren Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit erschließt sich hinreichend deutlich aus dem Regelungsgehalt des § 66a StGB a.F., dem Zusammenhang mit § 66 StGB a.F., der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung.

120

Aus dem Wortlaut des § 66a Abs. 1 StGB a.F. ergibt sich, dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nur dann in Betracht kommt, wenn die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit gerade nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden kann. Der Vergleich mit den Regelungen zur primären Sicherungsverwahrung bestätigt dies. Die Anordnung des Vorbehalts ist daher zum einen ausgeschlossen, wenn das erkennende Gericht von der Gefährlichkeit, wie sie die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung verlangt, überzeugt ist (vgl. BGHSt 50, 188 <193>; BGH, Beschluss vom 9. September 2008 - 1 StR 449/08 -, NStZ 2009, S. 566 <567>). Zum anderen kommt der Vorbehalt nach dem Willen des Gesetzgebers nicht in Betracht, wenn das Gericht die Gefährlichkeit des Täters bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht für ausreichend wahrscheinlich erachtet. Das erkennende Gericht muss diesbezüglich alle seine Aufklärungsmöglichkeiten ausschöpfen (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6).

121

Hinsichtlich der Frage, wie wahrscheinlich die Gefährlichkeit des Betroffenen sein muss, um einen Vorbehalt aussprechen zu können, ergibt sich aus den Ausführungen des Gesetzgebers im Gesetzesentwurf zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, dass bei dieser Frage restriktive Maßstäbe anzulegen sind (vgl. auch Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 25). Der Gesetzgeber hat darauf verwiesen, dass einem denkbaren sogenannten "Net-Widening-Effekt", also der Gefahr einer rein vorsorglichen Anordnung des Vorbehalts, vorzubeugen sei. Das Gericht müsse überprüfbar darlegen, welche Gründe für die Anordnung eines Vorbehalts sprächen (BTDrucks 14/8586, S. 6). Damit wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass die bloß theoretische, nicht ausschließbare Möglichkeit einer Gefährlichkeit des Betroffenen für die Anordnung nicht ausreicht. Die Rechtsprechung hat in diesem Sinne das Kriterium der nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbaren Gefährlichkeit im Sinne des § 66a Abs. 1 StGB a.F. dahingehend präzisiert, dass zur Anordnung des Vorbehalts eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass der Täter gefährlich für die Allgemeinheit ist und dies zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug auch noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; Urteil vom 20. November 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11).

122

cc) Der Bestimmtheitsgrundsatz ist auch unter Berücksichtigung der Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention gewahrt. Mit dem allgemeinen Erfordernis, dass die Freiheitsentziehung "rechtmäßig" und "in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise" erfolgen muss, verweist Art. 5 Abs. 1 EMRK im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss das der Freiheitsentziehung zugrunde liegende innerstaatliche Gesetz seinerseits der Konvention und den darin ausdrücklich genannten oder implizierten allgemeinen Grundsätzen entsprechen. Insbesondere muss es hinreichend zugänglich, präzise und in seiner Anwendung vorhersehbar sein (vgl. EGMR, Urteil vom 25. Juni 1996, Beschwerde-Nr. 19776/92, Amuur ./. Frankreich, Rn. 50; Urteil vom 28. März 2000, Beschwerde-Nr. 28358/95, Baranowski ./. Polen, Rn. 52; Urteil vom 9. Juli 2009, Beschwerde-Nr. 11364/03, Mooren ./. Deutschland, Rn. 73, 76; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 90, 104). Dies ist bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung der Fall. Soweit Bedenken geltend gemacht werden, dass die Vorschriften zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung den Anforderungen an eine präzise und vorhersehbare Anwendung nicht genügten, weil die endgültige Anordnung maßgeblich vom Vollzugsverhalten des Strafgefangenen und damit einem wenig aussagekräftigen Kriterium abhängig sei (vgl. Kinzig, NJW 2011, S. 177 <179>), vermag der Senat diese aus den bereits genannten Gründen nicht zu teilen (siehe hierzu oben B.II.2.a)bb)(3)). Im Übrigen ist auch im Hinblick auf die für konventionsgemäß erachtete primäre Sicherungsverwahrung, bei der ebenfalls eine Gesamtwürdigung im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose vorzunehmen ist, davon auszugehen, dass die zugrunde liegenden Vorschriften in ihrer Anwendbarkeit vorhersehbar sind (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Oktober 2010, Beschwerde-Nr. 24478/03, Grosskopf ./. Deutschland, Rn. 53).

123

d) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt auch nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Gebot der Rechtssicherheit.

124

aa) Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit in einem spezifischen Sinne: Es verbietet, den von einem staatlichen Eingriff in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) Betroffenen über das Ausmaß dieses Eingriffs im Ungewissen zu lassen, wenn und sobald nach der jeweiligen gesetzlichen Grundlage das zulässige Ausmaß des Eingriffs einer abschließenden Beurteilung zugänglich ist. Das Gebot der Rechtssicherheit verlangt vielmehr einen Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, in dem der von einem solchen Eingriff Betroffene Gewissheit über dessen Ausmaß jedenfalls zu demjenigen Zeitpunkt erlangt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt (vgl. BVerfGE 86, 288 <327>).

125

bb) Ob diese Maßstäbe, die der Senat in seiner Entscheidung zum Verfahren der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe entwickelt hat, trotz des kategorialen Unterschiedes zwischen der Verbüßung einer dem Schuldausgleich dienenden Freiheitsstrafe und der allein von der Gefährlichkeit des Betroffenen abhängigen Anordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfGE 109, 133 <174>; 128, 326 <377>) auf letztere übertragbar sind, kann hier dahingestellt bleiben. Ein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass der von einem staatlichen Eingriff in seine Freiheit Betroffene bereits mit der Aburteilung Gewissheit über die tatsächliche Dauer der Freiheitsentziehung haben müsste, ergibt sich aus ihnen nicht (zur Verfassungsmäßigkeit der unbefristeten Sicherungsverwahrung vgl. BVerfGE 109, 133 <149 ff.>). Der Betroffene hat lediglich Anspruch auf Gewissheit über die Länge einer Freiheitsentziehung zu dem Zeitpunkt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt (vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 <1204>).

126

Hiervon ausgehend begegnet die vorbehaltene Sicherungsverwahrung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach der vom Gesetzgeber gewählten Konzeption kommt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nur dann in Betracht, wenn zum Zeitpunkt der Aburteilung trotz erheblicher, nahe liegender Wahrscheinlichkeit die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit gerade nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Haftstrafe zum Schutz der Allgemeinheit soll daher zwecks Verbreiterung der Erkenntnisgrundlage gegen Ende der Haftzeit getroffen werden. Der Konstruktion der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist es daher gerade immanent, dass die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann.

127

Bedenken, dass im Falle der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu spät erfolge und die Gefahr bestehe, dass ein rechtzeitiger Beginn von Entlassungsvorbereitungen nicht gewährleistet sei (vgl. etwa v. Galen, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 16. April 2002; Rzepka, R & P 2003, S. 191 <202>), teilt der Senat nicht. Zum einen kann die Entscheidung hinsichtlich der Gefährlichkeit des Täters auf einer umso sichereren Grundlage erfolgen, je länger der Beobachtungszeitraum ist (vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 <1204> zur nachträglichen Sicherungsverwahrung). Zum anderen erfordert das ultima-ratio-Prinzip, dass bereits während des Strafvollzugs, wenn Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Gefährlichkeit des Verurteilten zu reduzieren (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>). Der Gefahr, dass der Betroffene keine Chance erhält, eine für ihn günstige Gefahrenprognose herbeizuführen, da er nicht ausreichend auf eine Entlassung vorbereitet wurde (vgl. BVerfGE 86, 288 <327 f.>), wird auf diese Weise entgegengewirkt.

III.

128

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Recht auf den gesetzlichen Richter.

129

1. Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt. Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 3, 359 <364>; 29, 45 <49>; 58, 1 <45>; 82, 159 <197>; 82, 286 <299>). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (vgl. BVerfGK 5, 269 <280>; 12, 139 <144>; 15, 102 <105>).

130

2. Nach diesen Maßstäben begegnet die Besetzung der großen Jugendkammer des Landgerichts Deggendorf mit zwei Berufsrichtern keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

131

a) Nach § 33b Abs. 1 JGG in der hier maßgeblichen Fassung vom 7. Dezember 2008 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 7. Dezember 2008, BGBl I S. 2348) ist die - gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1, § 74b GVG in Jugendschutzsachen neben der Strafkammer zuständige - große Jugendkammer mit drei (Berufs-)Richtern - einschließlich des Vorsitzenden - und zwei Schöffen besetzt. § 33b Abs. 2 JGG, der § 76 Abs. 2 GVG in der Fassung vom 7. Dezember 2008 nachgebildet ist, eröffnet die Möglichkeit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln, wenn nicht die Sache nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des GVG zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehört oder nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint.

132

Nach ständiger fachgerichtlicher Rechtsprechung steht der das Hauptverfahren eröffnenden Kammer bei der Entscheidung über die sogenannte Besetzungsreduktion kein Ermessen zu. Die Besetzung mit drei Berufsrichtern ist zu beschließen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache kommt der Kammer ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der es gestattet, die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Bedeutsam sind dabei etwa die Zahl der Angeklagten und Verteidiger, die Zahl der Delikte und notwendigen Dolmetscher, die Zahl der Zeugen und anderer Beweismittel, die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung. Die überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sache kann sich etwa aus der Notwendigkeit umfangreicher Sachverständigengutachten, zu erwartenden Beweisschwierigkeiten oder der rechtlichen oder tatsächlichen Kompliziertheit ergeben (vgl. zur Parallelvorschrift des § 76 Abs. 2 GVG grundlegend BGHSt 44, 328<334 f.>; BGH, Beschluss vom 14. August 2003 - 3 StR 199/03 -, NStZ 2004, S. 56; ferner Beschluss vom 16. Dezember 2003 - 3 StR 438/03 -, NStZ-RR 2004, S. 175).

133

b) Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist die Besetzungsreduktion gemäß § 76 Abs. 2 GVG beziehungsweise § 33b Abs. 2 JGG nicht maßgeblich von der Eingriffstiefe der zu erwartenden Maßnahme abhängig zu machen. Der Gesetzgeber hat gerade mit Blick auf die Bedeutung der Kammerbesetzung für die Qualität der zu treffenden Entscheidung (vgl. BTDrucks 12/1217, S. 46 f.) auch für Strafsachen, in denen die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach zuvor ergangenem Vorbehalt in Frage steht, die Besetzung der Strafkammer mit drei Richtern nicht zwingend vorgeschrieben, sondern dies von Umfang und Schwierigkeit der Sache abhängig gemacht (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2003 - 3 StR 438/03 -, NStZ-RR 2004, S. 175). Darin liegt keine unzureichende Berücksichtigung des Gewichts der Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung; vielmehr beruht die gesetzliche Regelung auf der vertretbaren Annahme, dass auch bei solchen Entscheidungen die notwendige Entscheidungsqualität von der Mitwirkung dreier Berufsrichter nur nach Maßgabe des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache abhängt.

134

Die Begriffe der Schwierigkeit und des Umfangs der Sache sind schon ihrem Wortsinn nach nicht ohne weiteres mit der Schwere der zu erwartenden Sanktion gleichzusetzen. Die Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wirft zudem weder per se schwierige Rechtsfragen auf, noch ist sie stets auf einer überdurchschnittlich umfangreichen Tatsachengrundlage zu treffen, so dass die Besetzung der Kammer mit drei Berufsrichtern bei der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht zwingend erscheint. Dass im Falle einer Besetzung mit lediglich zwei Berufsrichtern eine sachgerechte Durchführung derjenigen Verfahren, in denen über die Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgeschlossen wäre, behauptet auch der Beschwerdeführer nicht.

135

c) Auch die Anwendung des § 33b Abs. 2 JGG auf den vorliegenden Fall ist weder willkürlich oder offensichtlich unvertretbar, noch lässt sie erkennen, dass die Kammer Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt hätte. Die Jugendkammer hat zur Begründung ihrer Besetzungsentscheidung ausgeführt, dass in Anbetracht der Ladung von lediglich drei Zeugen und einem Sachverständigen die Sache nicht außerordentlich umfangreich sei und sich die Rechtslage nicht schwieriger als schon im Anlassverfahren darstelle. Damit hat sie ihrer Entscheidung die Maßstäbe der fachgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde gelegt. Der Umstand, dass die Kammer in ihrem Beschluss vom 18. November 2010 von einem ihr zustehenden "Ermessen" spricht, vermag entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Mit der Formulierung hat die Kammer ersichtlich den ihr nach der Rechtsprechung zustehenden Beurteilungsspielraum gemeint.

136

Eine die Besetzung mit drei Richtern erfordernde Schwierigkeit der Sache ergibt sich, anders als der Beschwerdeführer meint, nicht aus der von ihm vorgebrachten vermeintlich unterschiedlichen Rechtsprechung der Senate des Bundesgerichtshofs zu § 66a StGB a.F. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. September 2008 (2 StR 237/08 -, juris) betraf das Verfahren zur Anordnung des Vorbehalts, nicht aber - wie hier - die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach vorherigem Vorbehalt.

IV.

137

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, weil sie auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 66a StGB a.F. beruhen. Die Gründe der Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Norm führen daher auch zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 66a Abs. 1, Abs. 2 StGB a.F. aus der Maßgabe des Urteils des Senats vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) ergeben. § 66a Abs. 1, Abs. 2 StGB a.F. kann während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. In der Regel wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur Genüge getan, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfGE 128, 326 <405 f.>).

138

Die Gerichte haben nicht geprüft, ob nach diesem Maßstab die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung das Urteil vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil es noch nicht ergangen war. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).

139

Zur Beseitigung des festgestellten Verfassungsverstoßes wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 aufgehoben und die Sache an diesen zurückverwiesen. Eine Aufhebung des Urteils des Landgerichts Deggendorf vom 18. November 2010 ist hingegen nicht geboten. Insofern ist lediglich gemäß § 95 Abs. 1 BVerfGG die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG festzustellen (vgl. zum Umfang der Aufhebung fachgerichtlicher Entscheidungen auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1995 - 2 BvR 1180/94 -, juris, Rn. 14 f.; BVerfGK 14, 177 <186 f.>). Der Bundesgerichtshof hat in seiner erneuten Revisionsentscheidung unter Anwendung der Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (Nummer III.1. des Tenors in Verbindung mit den Urteilsgründen) zu prüfen, ob die vom Landgericht Deggendorf bereits getroffenen Feststellungen genügen, um abschließend über die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung entscheiden zu können, oder ob hierfür ergänzende Feststellungen zu treffen sind.

C.

140

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 4/16
vom
11. August 2016
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ECLI:DE:BGH:2016:110816U2STR4.16.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 10. August 2016, in der Sitzung am 11. August 2016, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach, die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Ott, Dr. Bartel,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger des Angeklagten,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Trier vom 3. August 2015 wird verworfen. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Es hat weiter ausgesprochen , dass der Verurteilte für die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in der Zeit vom 27. November 2014 bis zum 3. August 2015 aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2
Das Landgericht Trier hatte K. mit Urteil vom 30. März 2007 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Jugendschöffengerichts Bitburg vom 24. November 2005 zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat durch Beschluss vom 21. November 2007 (2 StR 409/07) als unbegründet verworfen.
3
Der Verurteilte befand sich seit diesem Zeitpunkt im Strafvollzug. Das Strafende war für den 27. November 2014 vorgemerkt.
4
Am 13. Oktober 2014 beantragte die Staatsanwaltschaft, nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Durch Beschluss vom 18. November 2014 ordnete das Landgericht die einstweilige Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung an und hob diesen Beschluss mit Erlass des angegriffenen Urteils am 3. August 2015 auf.

II.

5
Ausweislich des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Trier vom 30. Mai 2007 hat der Verurteilte folgende Anlasstat begangen:
6
Am 15. August 2006 zwischen 13.30 Uhr und 14.00 Uhr begab sich der 18 Jahre alte K. mit seinem Fahrzeug zu einem Parkplatz, an dem – wie er aus vorangegangenen Besuchen wusste – in einem dort abgestellten Wohnmobil Frauen der Prostitution nachgingen. Er hatte kein Geld bei sich und hoffte darauf, sexuelle Leistungen ohne Entgelt in Anspruch nehmen zu können. Er traf dort auf die ihm bislang unbekannte B. , die jedoch auf Vorkasse bestand, worauf er sich zunächst entfernte und ankündigte, später wiederkommen zu wollen. Anschließend fuhr er nach Hause; dort geriet er möglicherweise mit seiner Lebensgefährtin in Streit. Nach einiger Zeit begab er sich erneut zu dem auf dem Parkplatz abgestellten Wohnmobil der B. und bejahte wahrheitswidrig ihre Frage, ob er nunmehr Geld dabei habe. Er betrat das Wohnmobil und entschloss sich aus nicht näher feststellbarem Grund dazu, B. zu töten. Unvermittelt versetzte er der arg- und wehrlosen Frau einen wuchtigen Faustschlag gegen das Kinn, der zu einer Kieferhöhlenfraktur führte. Anschließend schlug und trat er in rascher Folge wuchtig auf sein Tatopfer ein. Schließlich zog er aus der Hosentasche ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von 8 Zentimetern und stach mit Tötungsvorsatz auf B. ein. Im Rahmen einer ersten Messerattacke verletzte er die Geschädigte an der rechten Halsseite. Nachdem er das Messer, das ihm zunächst aus der Hand gefallen war, wieder an sich gebracht hatte, stach er auf die am Boden liegende und ihm den Rücken zukehrende Frau mehrfach ein und brach ihr durch die wuchtig geführten Stiche mehrere Rippen. Schließlich ließ er von der Geschädigten in der Annahme, sie tödlich verletzt zu haben, ab und floh. B. hatte zahlreiche Stichverletzungen erlitten, die unter anderem zu einer Verletzung des Rückenmarks in Höhe des 2. bzw. 3. Brustwirbelkörpers mit einer vollständigen Zerstörung des 3. Wirbelkörpers führten. Trotz ihrer lebensgefährlichen Verletzungen gelang es ihr, Hilfe herbeizurufen. Durch eine sofortige Operation konnte ihr Leben gerettet werden. Sie befand sich bis Ende des Jahres 2007 in stationärer Behandlung und trug eine „inkomplette“ Querschnittslähmung davon.
7
Das Landgericht hat die Tat rechtlich als versuchten Heimtückemord und als schwere Körperverletzung gewürdigt und hat unter Einbeziehung einer Vor- verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Betrugs in sechs Fällen eine Jugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verhängt.

III.

8
Im Nachverfahren hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
9
1. Im Verlaufe seiner zur Tatzeit bestehenden, mehrere Monate dauernden Beziehung zu der zehn Jahre älteren A. kam es zu mehreren gewalttätigen Übergriffen des Verurteilten, die sich in ihrer Intensität steigerten; darüber hinaus hatte der Verurteilte die dreijährige Tochter seiner Lebensgefährtin mehrfach nachts aus ungeklärten Gründen geweckt. A. zog schließlich aus Furcht um ihr Kind für einen Monat in ein Frauenhaus, kehrte aber auf Intervention der Mutter des Verurteilten zu ihm zurück. Auch im weiteren Verlauf der Beziehung kam zu sich in ihrer Schwere steigernden tätlichen Angriffen des Verurteilten auf seine Lebensgefährtin, die er verdächtigte, der Prostitution nachzugehen.
10
2. Das Verhalten des Verurteilten während der Untersuchungshaft war problematisch. Mehrfach behauptete er wahrheitswidrig, von Mitgefangenen geschlagen oder auf andere, schwerwiegende Weise misshandelt – etwa auf eine Kreissäge gestoßen – worden zu sein; darüber hinaus war er in Schlägereien verwickelt.
11
3. Während des Strafvollzugs erreichte der Verurteilte im Juni 2008 den Hauptschulabschluss und absolvierte von April bis Oktober 2008 ein Antiaggressionstraining. Im Oktober 2008 wurde er auf die Sozialtherapeutische Abteilung der Vollzugsanstalt verlegt; sein Verhalten in der Wohngruppe war zu- nächst problematisch und durch manipulative Drohungen, Stimmungsschwankungen und aggressive Durchbrüche geprägt. Im Jahr 2009 führte der Verurteilte zweimal wöchentlich Einzelgespräche mit einer Anstaltspsychologin zur Tataufarbeitung. Diese therapeutischen Gespräche führten zu einer Verbesserung der Impulskontrolle des Verurteilten. Im Verlaufe der Therapiegespräche wurde das negative Frauenbild des Verurteilten thematisiert; zu einer Tataufarbeitung im eigentlichen Sinne oder einer Klärung der Tatmotivation kam es jedoch nicht. Das Vollzugsverhalten des Verurteilten verbesserte sich im Jahr 2010 und der Verurteilte übernahm zeitweise die Aufgaben des Wohngruppensprechers.
12
4. Im Rahmen des ab Juli 2010 stufenweise vorgesehenen Lockerungsprogramms bewährte sich der Verurteilte – von einzelnen Rückfällen in frühere manipulative Verhaltensweisen abgesehen – und wurde im August 2011 in das Freigängerhaus verlegt. Von dort aus besuchte er die Berufsschule, um seine Schreinerausbildung abzuschließen. Im Rahmen seiner Hafturlaube suchte der Verurteilte verschiedene Prostituierte auf. Über eine Kontaktanzeige lernte er die 36 Jahre alte Prostituierte S. kennen und ging mit ihr, nach einigen Treffen im Anschluss an entgeltliche sexuelle Kontakte, eine Beziehung ein, um künftig kostenlos sexuelle Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Er verschwieg S. sein wahres Alter und den Umstand, dass er eine langjährige Jugendstrafe verbüßte; später behauptete er wahrheitswidrig, eine kurze Freiheitsstrafe wegen einer zum Nachteil eines Mannes begangenen Körperverletzung zu verbüßen. Den Vollzugsbediensteten berichtete er im März 2010 zwar, dass er eine Freundin habe, verschwieg jedoch, dass sie – wie das Tatopfer der Anlasstat – als Prostituierte tätig war. Der Verurteilte führte im Verlaufe der ihm gewährten Lockerungen mehrfach unerlaubt größere Bargeldbeträge mit sich und fuhr wiederholt ein Kraftfahrzeug, obwohl er nach wie vor nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis war; darüber hinaus übernachtete er mehrfach in der Wohnung von S. . Nachdem es in der Beziehung zunehmend zu Spannungen gekommen war, weil der Verurteilte S. wegen ihrer Tätigkeit als Prostituierte kritisierte, kam es schließlich im August 2011 zu einem Aggressionsausbruch des Verurteilten, in dessen Verlauf er ein Handy seiner Freundin und eine Vase zerstörte. Zwar entschuldigte er sich bei seiner Freundin: sie war jedoch durch sein plötzlich verändertes Verhalten und die Massivität des Aggressionsausbruchs verunsichert und verzieh ihm nicht. Auf Bitte des Verurteilten versuchte seine Mutter erfolglos, den Streit zu schlichten. Der Verurteilte suchte S. trotz ihrer Ablehnung auf, wartete, bis sie ihre Wohnung verließ und folgte ihr, ohne dass ihm eine Versöhnung gelang. Anschließend begab er sich zu seiner Familie. Nachdem Polizeibeamte dort erschienen waren, die nach ihm fahndeten, weil er nicht zum Besuch der Berufsschule erschienen war, gelang ihm mit Unterstützung seiner Mutter die Flucht. S. erfuhr erstmals vom Stiefvater des Verurteilten, dass dieser wegen versuchten Mordes an einer Frau inhaftiert war, wobei die Mutter des Verurteilten ihren Ehemann wahrheitswidrig dahin korrigierte, dass das Tatopfer keine Frau, sondern ein Mann gewesen sei. Erst nachdem der Verurteilte erneut inhaftiert wurde, erfuhr S. , dass das Tatopfer des Verurteilten eine Prostituierte gewesen sei. Sie brach in der Folgezeit trotz Interventionen der Familienangehörigen den Kontakt zum Verurteilten vollständig ab.
13
5. Infolge seines Lockerungsversagens wurde der Verurteilte vom offenen Vollzug abgelöst, aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen und in die Justizvollzugsanstalt W. verlegt. Weil er unter der Trennung von S. litt, versuchte er Mutter und Schwester zu überreden, zu ihr Kontakt aufzunehmen und drohte ihnen für den Fall, dass sie ihn nicht wie gewünscht unterstützten , mit einem Abbruch des Besuchskontakts. Ungeachtet seines massiven Lockerungsversagens und des hochmanipulativen Verhaltens des Verurteilten fand in der Folgezeit eine Behandlung des Verurteilten nicht mehr statt. Zu einer psychotherapeutischen Weiterbehandlung der Anlasstat und der Aufarbeitung der Beziehungsproblematik fand der Verurteilte sich nicht bereit; einen Wechsel in die Sozialtherapeutische Anstalt D. lehnte er ebenso ab wieeine Psychotherapie oder eine Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. Er führte einige Gespräche mit dem Anstaltspsychologen, die jedoch lediglich dem Kennenlernen und der Vorbereitung der weiteren Vollzugsplanung dienten. Sein vollzugliches Verhalten gab zunächst zu Beanstandungen keinen Anlass. Der Verurteilte erbrachte in der Schreinerei gute Arbeitsleistungen , betätigte sich zuverlässig als Hausreiniger und bestand einen Schiedsrichterlehrgang.
14
Zu den ab Mai 2014 geplanten Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der für den 27. November 2014 vorgesehenen Entlassung kam es jedoch nicht, weil der Verurteilte am 6. Mai 2014 in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen geriet. Nach zunächst verbalen Beleidigungen kam es im Hof zu einer auch körperlich geführten Auseinandersetzung zwischen beiden, in deren Verlauf der Verurteilte dem Mitgefangenen heißen Kaffee über Kleidung und Körper goss. Ungeachtet eines Gesprächs mit einem Vollzugsbeamten, in dessen Verlauf der Verurteilte versicherte, dass nunmehr nichts mehr geschehen werde, folgte er dem Mitgefangenen auf die Toilette, drehte sich beim Händewaschen unvermittelt um und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Durch das Eingreifen eines Mitgefangenen wurde eine weitere Eskalation verhindert.

IV.

15
Das Landgericht hat sich davon überzeugt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung im Sinne des § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB vorliegt und eine „gewisse Gefahr“ bestehe, der Verurteilte werde künftig erneut schwerste Gewalttaten begehen. In Ansehung der Persönlichkeitsnachreifung des Verurteilten im Strafvollzug und einiger protektiver Umstände hat es sich jedoch von der nach § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB erforderlichen hochgradigen Gefahr der Begehung schwerster Gewaltstraftaten oder Sexualstraftaten nicht zu überzeugen vermocht.

V.

16
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge deckt aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift genannten Gründen keinen Rechtsfehler zugunsten des Verurteilten auf.
17
1. Das Landgericht hat seiner Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Das Landgericht ist davon ausgegangen , dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er vorliegend zur Entscheidung anstand, gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. (NJW 2011, 1931; BGBl. I S. 1003) umsetzt , nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG aaO; zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268; vgl.
auch BGH, Urteil vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12 und Beschluss vom 24. Juli 2012 – 1 StR 57/12). Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2011 – 5 StR 369/10; Urteile vom 8. November 2011 – 1 StR 231/11 und vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12; vgl. zum Begriff „psychischKranker“ auch Urteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012 – endgültig seit 19. Juli 2012 – in der Rechtssache B. gegen Deutschland – Individualbeschwerde 61272/09 Ziffer 67 ff.).
18
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2012 – 3 StR 148/12; BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 – 2 StR 346/11; BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11).
19
2. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die Annahme des Landgerichts, der Verurteilte leide zwar an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 ThUG, es fehle jedoch an der erforderlichen hochgradigen Gefahr für die erneute Begehung schwerster Gewaltdelikte, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
20
a) Das Landgericht hat im Verfahren – wie von § 275a Abs. 4 StPO zur Sicherung einer umfassenden Aufklärung der Kriminalprognose ausdrücklich gesetzlich vorgesehen – die Gutachten zweier erfahrener psychiatrischer Sach- verständiger eingeholt. Die beiden Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung in Form einer dissozialen Persönlichkeitsstörung sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Anteilen vom impulsiven und vom ängstlich-vermeidenden Typus vorliege. Beide Sachverständige haben die Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte erneut Gewalttaten begehen könnte, als „mittelhoch“ eingestuft und sind von einem Rückfallrisiko bezogen auf einen Zeitraum von sieben Jahren von 44 %, bezogen auf einen Zeitraum von zehn Jahren von 58 % ausgegangen; eine Vorhersage der wahrscheinlichen Schwere des Delikts sei nicht möglich.
21
b) Das Landgericht hat die prognostische Einschätzung der beiden Sachverständigen berücksichtigt und ist nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass sich die von Rechts wegen geforderte hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalttaten trotz einiger prognostisch ungünstiger Umstände nicht feststellen lasse. Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen prognostischen Erwägungen sind weder widersprüchlich, lückenhaft oder unklar noch verstoßen sie gegen Denk- oder allgemeine Erfahrungssätze. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift Bezug. Lediglich ergänzend ist zu bemerken:
22
Das Landgericht hat nicht übersehen, dass die in seiner Persönlichkeitsstörung wurzelnde Neigung des Verurteilten zu manipulativem Verhalten und zu „Falschheit, die sich in wiederholten Lügen“ manifestiert,unverändert fortbe- steht. Das Landgericht hat in seine Entscheidung eingestellt, dass das Vollzugsverhalten des Verurteilten nicht unproblematisch war und es ihm ungeachtet des bestehenden hohen Anpassungsdrucks nicht gelungen ist, sich regelkonform zu verhalten. Berücksichtigung fand auch, dass der Sachverständige Dr. Bu. zu der Auffassung gelangt ist, es habe sich bei den aggressiven Entladungen des Verurteilten gegenüber S. um eine „hochriskante“ Situation gehandelt. Dass die Kammer gleichwohl „die Gefahr einer Aggressi- onsverschiebung auf unbeteiligte Prostituierte“ als reduziert angesehen hat, weil es zwar zu verbalen Entgleisungen und zu Gewalt gegen Sachen, nicht aber zu einer gewalttätigen „Entgleisung“ gegenüber S. gekommen ist, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen, in denen die wesentlichen, prognostisch aussagekräftigen Umstände Berücksichtigung finden, weist ungeachtet der Schwere der Anlassverurteilung angesichts einer Verbesserung der Impulskontrolle, der Bereitschaft des Verurteilten, sich einer Therapie zu unterziehen, und einer insgesamt nicht ungünstigen Entlassungssituation die landgerichtliche Prognose, eine hochgradige Gefahr der Begehung erneuter schwerster Gewalttaten bestehe nicht, keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Fischer Krehl Eschelbach Ri'nBGH Dr. Ott ist aus rechtlichen Gründen an der Unterschrift gehindert. Fischer Bartel

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 98/12
vom
7. August 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern
hier: nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 7. August
2012, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl
als Vorsitzender
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Sander,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Cirener,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 16. September 2011 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Die Strafkammer hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.

I.

2
Die Strafkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
3
1. Der Verurteilte ist pädophil (ICD 10 F 65.4). Er war bereits 1999 wegen früherer sexueller Missbrauchstaten gegen Kinder zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit - später widerrufener - Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Bereits ab 1998 - und im weiteren Fortgang von der gegen ihn 1999 ergangenen Verurteilung unbeeindruckt - bis 2001 missbrauchte er in zahlreichen Fällen seine beiden 1987 und 1992 geborenen Stieftöchter sowie seinen 1987 geborenen Stiefsohn.
4
Wegen dieser Taten wurde der für uneingeschränkt schuldfähig befundene Verurteilte durch das Landgericht Nürnberg-Fürth im Anlassverfahren am 12. Juni 2003 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 23 Fällen unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von drei Monaten aus einem Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 24. Oktober 2002 wegen Entziehung elektrischer Energie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wurde vorbehalten. Das Urteil erlangte noch am selben Tage Rechtskraft.
5
2. Von Juli 2001 bis November 2011 verbüßte der Verurteilte ohne Unterbrechungen die Strafen aus den genannten Verurteilungen. Nach Rechtskraft der Anlassverurteilung wurde er von der Justizvollzugsanstalt St. GeorgenBayreuth in die Justizvollzugsanstalt Straubing verlegt. Ende November 2011 war die mit der Anlassverurteilung ausgesprochene Freiheitsstrafe verbüßt.
6
3. Im Strafvollzug verhielt sich der Verurteilte unauffällig. Während seines Aufenthaltes in der Justizvollzugsanstalt St. Georgen-Bayreuth war der Verurteilte in mehrere Therapiegruppen, u.a. eine niederschwellige Gruppentherapie zur Vorbereitung einer späteren Sozialtherapie, eingebunden. Diese Gruppentherapie hatte zwar Sexualdelikte zum Inhalt, betraf allerdings nur solche, die Gegenstand der Vorverurteilung aus dem Jahr 1999 gewesen waren. Zudem war unter Berücksichtigung der Anlassverurteilung eine solche niederschwellige Gruppentherapie keinesfalls ausreichend.
7
Mit der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Straubing unterblieben weitere Therapien. Nur im Rahmen halbjährlicher "Konferenzgespräche" wurde der Verurteilte regelmäßig zu seiner Therapiebereitschaft befragt. Dabei gab er von April 2005 bis April 2008 stets wahrheitswidrig vor, seine Rückverlegung und Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt St. Georgen-Bayreuth vorzubereiten bzw. auf die ihm von dort zugesagte Aufnahmebestätigung zu warten, um dort eine Verhaltenstherapie ("echte Sozialtherapie" ) durchzuführen. Tatsächlich hatte er sich weder in Bayreuth beworben , noch wäre für ihn dort ein Therapieplatz verfügbar gewesen. Seine Angaben wurden durch die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Straubing nicht überprüft. Auch war er zu keiner Zeit ernsthaft zu einer umfassenden Therapie motiviert, sondern versuchte durch die Vorspiegelung seines Therapiewillens, der Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zu entgehen.
8
4. Am 14. Februar 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf den im Urteil ausgesprochenen Vorbehalt die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a.F.. Mit dem Antrag und nochmals im weiteren Verfahrensverlauf wurde von der Staatsanwaltschaft ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Sicherungsverwahrung auf den in der Anlassverhandlung ausgesprochenen Vorbehalt nach dem Ablauf der in § 66a Abs. 2 StGB a.F. bestimmten Frist nicht mehr möglich ist. Seitens der Strafkammer wurden daraufhin verschiedene Nachermittlungen veranlasst und die Antragsschrift zugestellt ; eine Hauptverhandlung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung fand aber innerhalb der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F., die am 25. Juli 2008 ablief, nicht mehr statt. Auf Anregung der Strafkammer nahm die Staatsanwaltschaft den Antrag am 3. September 2008 zurück.

II.

9
Den nunmehr von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag, die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 und 2 StGB (i. d. bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung - § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 316e Abs. 1 EGStGB) anzuordnen, hat das Landgericht abgelehnt.
10
Die Ablehnung wurde von der Strafkammer wie folgt begründet: Zwar bestehe bei dem Verurteilten ein Hang zu erheblichen Straftaten, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen. So verspüre er noch immer sexuelles Interesse an Kindern; bei ihm liege ein eingeschliffenes Verhaltensmuster vor, immer wieder Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern zu begehen. Auch habe er keine erfolgversprechende Therapie durchlaufen, und die Gefahr künftiger einschlägiger Straftaten sei deutlich überdurchschnittlich bzw. hoch, der Verurteilte sei für die Allgemeinheit gefährlich. Indes mangele es am Vorliegen neuer Tatsachen. Insbesondere sei die mangelnde Therapiebereitschaft des Verurteilten bereits im Zeitpunkt der letztmöglichen Entscheidung über eine primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung - dies sei der Zeitpunkt des Verstreichens der Frist nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. - erkennbar gewesen.

III.

11
Die Ablehnung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung hält revisionsgerichtlicher Prüfung stand.
12
1. Als Grundlage einer - nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NStZ 2011, 450 ff.) noch längstens bis zum Ablauf des 31. Mai 2013 möglichen - nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB a.F. darf eine solche Maßnahme nur noch dann ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet (zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2011 - 2 BvR 2846/09). Im Übrigen ist Voraussetzung einer solchen Anordnung , dass sich diese nur auf solche "neuen" Tatsachen stützen kann, die "nach einer Verurteilung" und "vor dem Ende des Vollzuges" erkennbar geworden sind. Dabei kommt es nicht auf den Entstehungszeitpunkt der Tatsachen, sondern allein auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme und Berücksichtigung im vorangegangenen Strafverfahren an (BGH, Urteil vom 11. Mai 2005 - 1 StR 37/05, BGHSt 50, 121 ff.).
13
Maßgeblich für die Frage, ob eine Tatsache "neu" ist, ist demnach der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem eine (primäre) Sicherungsverwahrung hätte angeordnet werden können (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 2006 - 5 StR 113/06, NStZ-RR 2006, 302 f.; Beschluss vom 15. April 2008 - 5 StR 635/07, BGHSt 52, 213 ff.). Hierzu zählt auch die Entscheidung im Vorbehaltsverfahren; denn diese ist Bestandteil des Erkenntnisverfahrens (so bereits OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Oktober 2008 - 2 Ws 405/08 [263/08], NStZ-RR 2009, 75 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2010 - 4 Ws 348/09, StV 2010, 189 ff.).
14
2. Nicht anders zu beurteilen ist der Fall, in dem - wie hier - eine Entscheidung über den Vorbehalt ganz unterblieben ist. Der Verurteilte ist dann so zu stellen, als sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Vorbehaltsverfahren rechtskräftig abgelehnt worden. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. eine grundsätzlich verbindliche materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung darstellt (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159 ff.); denn nach den Gesetzesmaterialien ist die Entscheidung über den Vorbehalt spätestens sechs Monate vor dem von § 66a Abs. 2 StGB a.F. in Bezug genommenen Aussetzungszeitpunkt zu treffen (BT-Drucks. 14/8586, S. 6).
15
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Das hiernach zwingende Ergebnis kann nicht dadurch umgangen werden, dass Tatsachen, die als Grundlage einer auf § 66a StGB gestützten Sicherungsverwahrung nicht (mehr) herangezogen werden können, stattdessen Grundlage einer auf § 66b StGB a.F. gestützten Sicherungsverwahrung werden. Die Auffassung, dass anderes gelte, wenn die im Vorbehaltsverfahren zur Entscheidung berufene Strafkammer das Verfahren bis zum Fristablauf so sehr verzögert hat (wofür auch vorliegend einiges spricht), dass eine Sachentscheidung nicht mehr möglich war (zur Möglichkeit einer Untätigkeitsbeschwerde im strukturell vergleichbaren Fall drohender Verjährung vgl. BGH, Beschluss vom 22. Dezember 1992 - 3 BJs 960/91 - 4 [85] - StB 15/92, NJW 1993, 1279 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 29. Oktober 2001 - 3 Ws 986/01, NStZ 2002, 220 f. mwN), teilt der Senat nicht.
16
Die "Neuheit" von Tatsachen im Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB a.F. beurteilt sich in diesem Falle nach dem Tag des Ablaufs der Ausschlussfrist des § 66a Abs. 2 StGB a.F.. Der Verurteilte hat einen Anspruch darauf, dass bis zu diesem Tag eine Entscheidung getroffen worden und - im Falle der Ablehnung - eine nachträgliche Anordnung dann nur noch unter den engeren Voraussetzungen des § 66b StGB a.F. möglich ist.
17
3. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Strafkammer das Vorliegen "neuer Tatsachen" i.S.v. § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB rechtsfehlerfrei verneint. Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg.
18
a) Insbesondere ist die Beweiswürdigung nicht lückenhaft oder widersprüchlich. Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der Revision versagen. Der Verurteilte hat jedenfalls seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Straubing seine Therapieunwilligkeit planmäßig verdeckt. Dies war nicht erst nach Ablauf der in § 66a Abs. 2 StGB a.F. normierten Frist erkennbar. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Staatsanwaltschaft beschränkt sich auf eine eigene Bewertung auch von der Strafkammer gesehener Gesichtspunkte und vermag daher keinen revisiblen Rechtsfehler aufzuzeigen.
19
b) Hinsichtlich der Feststellungen des Sachverständigen, dass der Verurteilte nach seiner Haftentlassung ein neues Umfeld aufbauen und dabei das Vertrauen fremder Kinder sich erschleichen könnte, handelt es sich um keine neue Tatsache i.S.v. § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB, denn dieser Umstand war bereits bei der Anlassverurteilung erkennbar. Auch bei den Vorverurteilungen bezüglich der Taten von Dezember 1996 bis April 1998 waren Opfer Kinder , die nicht aus seinem unmittelbaren Nahbereich stammten und deren Vertrauen er sich erschlichen hatte (UA S. 8 f.).

IV.

20
Der Senat weist darauf hin, dass über den Vorbehalt von Amts wegen entschieden werden muss (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159 ff.; Peglau JR 2002, 449, 451). Dies gilt auch, wenn der Antrag auf Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zurückgenommen worden ist. Diese Entscheidung kann nach Auffassung des Senats entsprechend dem Rechtsgedanken des § 206a StPO auch im Beschlusswege getroffen werden.
Wahl Graf RiBGH Prof. Dr. Jäger ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Wahl Sander Cirener

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
5 StR 86/17
vom
5. April 2017
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ECLI:DE:BGH:2017:050417B5STR86.17.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 5. April 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Betroffenen wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 27. Oktober 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat nachträglich die Unterbringung des Betroffenen in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
1. Der bereits zuvor mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Betroffene war vom Landgericht Chemnitz mit Urteil vom 24. Juni 1993 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit versuchter Nötigung unter Einbeziehung einer Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden; die Einzelstrafen für die beiden Anknüpfungstaten betrugen drei Jahre sowie drei Jahre und sechs Monate. Die Strafvollstreckung war am 3. Januar 2000 erledigt.
3
Mit Urteil vom 18. Januar 2001 verurteilte ihn das Landgericht Chemnitz wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die Maßregel wurde in der Zeit vom 17. April 2001 bis zum 10. Februar 2016 – mehrfach unterbrochen durch die Verbüßung von Freiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen – vollstreckt. Mit Beschluss vom 27. Januar 2016 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Chemnitz die angeordnete Unterbringung des Betroffenen aus dem Urteil vom 18. Januar 2001 gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt und stellte fest, dass die zugleich mit der Maßregel erkannte Freiheitsstrafe vollstreckt sei. Nach einer weiteren Vollstreckung von Restfreiheitsstrafen aus anderen Verurteilungen ist der Betroffene seit dem 24. Juli 2016 vorläufig aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Landgerichts Chemnitz gemäß § 275a Abs. 6 StPO untergebracht.
4
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er hier zur Entscheidung stand, bereits zulässig sei, wenn die Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) gegeben seien. Es hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 Nr. 1 Var. 2 StGB als erfüllt angesehen und zur Gefährlichkeitsprognose ausgeführt, dass der Betroffene, bei dem eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliege, „mit hoher Wahr- scheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden, § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB“.

II.


5
Das Landgericht hat damit seiner Entscheidung einen unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift unter anderem ausgeführt: Die Strafkammer hat übersehen, dass gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB diese Anordnung nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – einen gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2016 – 2 StR 4/16 mwN; vgl. auch BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2759/12). Diese gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben hat die Strafkammer nicht (vollständig) beachtet. (...) Die Urteilsbegründung genügt nicht den Anforderungen an die gesteigerten Prognoseerfordernisse. Der restriktive Begriff der hochgradigen Gefahr dient dazu, eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu gewährleisten. Demselben Ziel dient auch die Vorgabe, dass diese Gefahr aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Denn diese Forderung zwingt das Gericht zu einer äußerst sorgfältigen, auf konkrete Tatsachen gestützten Bewertung und Begründung. Entscheidend für die Gesamtwürdigung muss sein, die Wahrscheinlichkeit und die Schwere der drohenden Straftaten so aufeinander zu beziehen, dass die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle be- grenzt wird (Jehle/Harrendorf in SSW-StGB, 3. Aufl., § 66b Rdnr. 24 mwN). Es kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass bei einer tatgerichtlichen Beurteilung in Kenntnis des weiter eingeschränkten Maßstabes die Strafkammer bei ihrer Ermessensentscheidung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
6
Dem schließt sich der Senat an. Er verweist zur Notwendigkeit von Feststellungen zu einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThuG als dem hier heranzuziehenden Prüfungsmaßstab auf die Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 15. September 2011 und 7. Mai 2013 (2 BvR 1516/11 und 2 BvR 1238/12, jeweils zu Fällen einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung“ ; vgl. auch EGMR, Entscheidung vom 28. November 2013 – 7345/12; BGH, Urteil vom 21. Juni 2011 – 5 StR 52/11, BGHSt 56, 254, 261; KG, Beschluss vom 4. März 2015 – 2 Ws 27/15).
Mutzbauer Sander Schneider
Berger Mosbacher

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 57/12
vom
24. Juli 2012
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Juli 2012 beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Coburg vom 15. November 2011 im Maßregelausspruch mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO). Die weitergehende Revision wird verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
1. Die Strafkammer hat festgestellt:
2
Während der 1989 geborene Angeklagte an "Familienplanung" dachte, wollte seine Freundin eher eine "Wochenendbeziehung". Er schied bei der Bundeswehr aus, um mehr Zeit für sie zu haben. Die Freundin hatte ihm im Vorfeld dieser Entscheidung weder zu- noch abgeraten. Er verübelte ihr letztlich den Verlust seines "Traumjobs" und fühlte sich nicht ernst genommen. Der Stand der Beziehung wurde unklar. Einerseits "endete" sie, andererseits hatten seine "Annäherungsversuche" noch "teilweise" Erfolg. Sie sprach von "Nachdenken" , er hoffte. Insgesamt war er sehr unzufrieden, er projizierte "Hass und Wut" immer mehr auf "die Frauen im Allgemeinen".
3
Er wollte sich an jungen, äußerlich seiner Freundin ähnlichen Frauen rächen und sie physisch und psychisch verletzen. Daher fuhr er zwischen Ende Oktober 2010 und Ende März 2011 in insgesamt acht Fällen nachts mit dem Pkw herum, bis er ihm geeignet erscheinende Opfer, die zwischen 14 und 21 Jahre alt waren und z.B. aus der Diskothek kamen, traf. Er griff sie von hinten an, schlug und boxte sie, riss sie zu Boden und trat auf sie ein oder kniete sich auf sie und schlug. Sein Gesicht war dabei durch eine schwarze Sturmhaube mit zwei Sehschlitzen verborgen. Am Ende, oder wenn ein Opfer zu schreien begann, rannte er weg. Ein Zusammenhang mit sexuellen Empfindungen beim Angeklagten war bei alledem nicht feststellbar. Die meist länger anhaltenden psychischen Folgen der unerwarteten nächtlichen Attacken durch einen "Maskenmann" bei den Opfern überwogen deren körperliche Schmerzen (z.B. durch Boxhiebe in den Bauch oder Hämatome) bei weitem.
4
2. Nach Maßgabe der in Details abweichenden Geschehensabläufe (manchmal waren es zwei Opfer gleichzeitig, manchmal hatte er sich gezielt - z.B. im Gebüsch - versteckt; im letzten Fall flüchtete er, als die Frau zu schreien anfing und auf ihn einschlug, als er ihr in das Haus folgen wollte) wurde der Angeklagte wegen
5
- vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen;
6
- gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen (hinterlistiger Überfall wegen Versteckens, vgl. BGH, Urteil vom 28. Februar 1968 - 2 StR 54/68, GA 1969, 61, 62), davon zweimal zum Nachteil von zwei Opfern;
7
- versuchter vorsätzlicher Körperverletzung (letzter Fall)
8
verurteilt.
9
Gegen den nicht vorbestraften Angeklagten, bei dem nach sachverständiger Beratung keine Anhaltspunkte für ein Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB feststellbar waren, wurden differenziert nach dem jeweiligen Tatgeschehen folgende Einzelstrafen verhängt:
10
- einmal ein Jahr und neun Monate (Einsatzstrafe);
11
- zweimal ein Jahr und sechs Monate;
12
- einmal ein Jahr;
13
- dreimal neun Monate;
14
- einmal sechs Monate (Versuch).
15
Hieraus wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren gebildet.
16
3. Zugleich hat die Strafkammer Sicherungsverwahrung angeordnet.
17
a) Formal wurden die Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB bejaht, weil aus den Einzelstrafen von über einem Jahr - insoweit wäre auch die Einzelstrafe von einem Jahr zu berücksichtigen gewesen - (fiktiv) eine Gesamtstrafe von drei Jahren zu bilden gewesen wäre (vgl. schon BGH, Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 295/95, NJW 1995, 3263).
18
b) Hang und Gefährlichkeit als materielle Voraussetzungen von Sicherungsverwahrung lägen vor, was, so die Strafkammer, die Anhörung von zwei Sachverständigen überzeugend ergeben habe. Auch wenn der Angeklagte noch jung und unvorbestraft sei und sozial bisher unauffällig gelebt habe, müsse ihm eine ungünstige Kriminalprognose gestellt werden. Dies ergebe sich, ohne dass hier die Urteilsausführungen in allen Einzelheiten nachzuzeichnen wären, im Wesentlichen aus Folgendem: Die Taten seien persönlichkeitsbe- gründet, er nehme eigene Schwächen oder Insuffizienzen kaum wahr. Negative Emotionen seien für ihn nicht spürbar. Soziale Interaktionen mit negativen Emotionen überforderten ihn. In Krisen könne er nur schwer sein inneres Gleichgewicht halten und er entwickle bei Trauer, Enttäuschung und Wut keine adäquaten Bewältigungsstrategien. Er sei der Meinung, an seiner Lage trügen "die Frauen an sich" die Schuld. Insbesondere könne er nicht über Gefühle reden, sodass damit zu rechnen sei, dass sich ein Gefühlsstau in Gewalttaten kanalisiere. Es fiele auch ins Gewicht, dass die Taten in immer kürzeren zeitlichen Abständen begangen worden seien; zu den ersten vier Taten war es zwischen Oktober 2010 und Januar 2011 gekommen, zu den letzten vier im März 2011. Auch zeige die - als Versuch freilich mit sechs Monaten am niedrigsten von allen Taten geahndete - letzte Tat eine zunehmende Steigerung der Gefährlichkeit , weil der Angeklagte dem Opfer bis zur Haustür gefolgt sei. Insoweit zusammenfassend führt die Strafkammer aus, insgesamt bestehe "eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte in Zukunft erneut gewaltsame Überfälle auf Frauen begehen wird. Es besteht auch die Wahrscheinlichkeit, dass es in Zukunft zu einer weiteren Progredienz ... bis ... zu ... Tötungsdelikten kommen wird. Diese Überzeugung hat sich die Kammer aus dem unmittelbaren Eindruck von dem Angeklagten in der Hauptverhandlung sowie den Ausführungen des Sachverständigen ... gebildet, der eine sehr hohe Rückfallwahrscheinlichkeit annimmt."
19
4. Die Revision des Angeklagten ist auf die Sachrüge gestützt. Sie ist näher ausgeführt hinsichtlich eines Rücktritts vom Versuch und hinsichtlich der Sicherungsverwahrung. Die Revision bleibt zum Schuldspruch und zum Strafausspruch erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO); die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann hingegen nicht bestehen bleiben (§ 349 Abs. 4 StPO).

20
a) Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei. Die Ausführungen der Revision können die nach ihrer Auffassung übersehene Möglichkeit eines freiwilligen Rücktritts im letzten Fall, als der Angeklagte flüchtete, nachdem die von ihm verfolgte Frau schrie und auf ihn einschlug, nicht nachvollziehbar verdeutlichen. Auch der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand.
21
b) Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann dagegen keinen Bestand haben.
22
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat durch Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931) sämtliche die Anordnung von Sicherungsverwahrung betreffenden Bestimmungen als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Zugleich hat es angeordnet, dass diese Bestimmungen nach Maßgabe der Gründe seiner Entscheidung noch bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber - längstens aber bis zum 31. Mai 2013 - unter Beachtung eines strikten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzuwenden sind. Dieser Grundsatz wird dabei in der Regel nur gewahrt sein, wenn die Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG aaO, zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 - 2 BvR 1048/11).
23
(2) Es ist nicht hinreichend deutlich zu erkennen, dass sich die Strafkammer , die die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht erwähnt, in dem gebotenen Umfang damit befasst hat, dass Sicherungsverwahrung nur noch nach einem gegenüber der früheren Rechtslage strengeren Maßstab angeordnet werden kann. Dieser strengere Maßstab betrifft beide Elemente der Gefährlichkeit, also sowohl die Erheblichkeit der zu erwartenden Straftaten, als auch die Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - 5 StR 535/11 mwN).
24
(a) Freilich wären zu erwartende vorsätzliche Tötungsdelikte unabhängig vom anzulegenden Maßstab auf jeden Fall schwerste Straftaten.
25
(b) Die erforderlichen "konkreten Umstände", die diese Taten künftig erwarten lassen, sind jedoch nicht tragfähig festgestellt. Die Erwägungen hierzu knüpfen im Wesentlichen an die Einschätzung innerpsychischer Vorgänge beim Angeklagten an und kaum an nach außen erkennbar gewordenes Geschehen. Daraus, dass - dies ist nach außen erkennbar geworden - zwischen den Taten zuletzt ein Abstand von ein bis zwei Wochen lag, während er zuvor etwas länger war, lässt sich tragfähig ebenso wenig die Gefahr von künftigem Mord oder Totschlag ableiten wie daraus, dass sich der Angeklagte (erneut) durch Schreien und (hier auch) Schläge in die Flucht schlagen ließ, nachdem er einer jungen Frau ins Haus folgen wollte.
26
(3) Unabhängig davon erscheint der in einer Hauptverhandlung gewonnene persönliche Eindruck schwerlich eine tragfähige Grundlage für die Annahme , von einem Täter seien, anders als bisher, künftig Tötungsdelikte zu erwarten. Bei einer derart ungewöhnlichen Prognose hätte es näherer und konkretisierender Darlegung bedurft, worauf sich dieser Eindruck stützt. Soweit schließlich auf die vom Sachverständigen gesehene hohe "Rückfallwahrscheinlichkeit" verwiesen ist, ist dies insoweit unklar, als es nicht um einen Rückfall in früher aufgetretene Verhaltensweisen geht, sondern um eine Steigerung des bisherigen, von der Strafkammer als "mittlere" Kriminalität bewerteten strafbaren Verhaltens hin zur Schwerstkriminalität.
27
Über die Anordnung von Sicherungsverwahrung ist daher neu zu befinden.
Nack Wahl Graf Sander Cirener

(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn

1.
sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und
2.
die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.

(2) Absatz 1 ist unabhängig davon anzuwenden, ob die verurteilte Person sich noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindet oder bereits entlassen wurde.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 4/16
vom
11. August 2016
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ECLI:DE:BGH:2016:110816U2STR4.16.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 10. August 2016, in der Sitzung am 11. August 2016, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach, die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Ott, Dr. Bartel,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger des Angeklagten,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Trier vom 3. August 2015 wird verworfen. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Es hat weiter ausgesprochen , dass der Verurteilte für die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in der Zeit vom 27. November 2014 bis zum 3. August 2015 aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2
Das Landgericht Trier hatte K. mit Urteil vom 30. März 2007 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Jugendschöffengerichts Bitburg vom 24. November 2005 zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat durch Beschluss vom 21. November 2007 (2 StR 409/07) als unbegründet verworfen.
3
Der Verurteilte befand sich seit diesem Zeitpunkt im Strafvollzug. Das Strafende war für den 27. November 2014 vorgemerkt.
4
Am 13. Oktober 2014 beantragte die Staatsanwaltschaft, nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Durch Beschluss vom 18. November 2014 ordnete das Landgericht die einstweilige Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung an und hob diesen Beschluss mit Erlass des angegriffenen Urteils am 3. August 2015 auf.

II.

5
Ausweislich des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Trier vom 30. Mai 2007 hat der Verurteilte folgende Anlasstat begangen:
6
Am 15. August 2006 zwischen 13.30 Uhr und 14.00 Uhr begab sich der 18 Jahre alte K. mit seinem Fahrzeug zu einem Parkplatz, an dem – wie er aus vorangegangenen Besuchen wusste – in einem dort abgestellten Wohnmobil Frauen der Prostitution nachgingen. Er hatte kein Geld bei sich und hoffte darauf, sexuelle Leistungen ohne Entgelt in Anspruch nehmen zu können. Er traf dort auf die ihm bislang unbekannte B. , die jedoch auf Vorkasse bestand, worauf er sich zunächst entfernte und ankündigte, später wiederkommen zu wollen. Anschließend fuhr er nach Hause; dort geriet er möglicherweise mit seiner Lebensgefährtin in Streit. Nach einiger Zeit begab er sich erneut zu dem auf dem Parkplatz abgestellten Wohnmobil der B. und bejahte wahrheitswidrig ihre Frage, ob er nunmehr Geld dabei habe. Er betrat das Wohnmobil und entschloss sich aus nicht näher feststellbarem Grund dazu, B. zu töten. Unvermittelt versetzte er der arg- und wehrlosen Frau einen wuchtigen Faustschlag gegen das Kinn, der zu einer Kieferhöhlenfraktur führte. Anschließend schlug und trat er in rascher Folge wuchtig auf sein Tatopfer ein. Schließlich zog er aus der Hosentasche ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von 8 Zentimetern und stach mit Tötungsvorsatz auf B. ein. Im Rahmen einer ersten Messerattacke verletzte er die Geschädigte an der rechten Halsseite. Nachdem er das Messer, das ihm zunächst aus der Hand gefallen war, wieder an sich gebracht hatte, stach er auf die am Boden liegende und ihm den Rücken zukehrende Frau mehrfach ein und brach ihr durch die wuchtig geführten Stiche mehrere Rippen. Schließlich ließ er von der Geschädigten in der Annahme, sie tödlich verletzt zu haben, ab und floh. B. hatte zahlreiche Stichverletzungen erlitten, die unter anderem zu einer Verletzung des Rückenmarks in Höhe des 2. bzw. 3. Brustwirbelkörpers mit einer vollständigen Zerstörung des 3. Wirbelkörpers führten. Trotz ihrer lebensgefährlichen Verletzungen gelang es ihr, Hilfe herbeizurufen. Durch eine sofortige Operation konnte ihr Leben gerettet werden. Sie befand sich bis Ende des Jahres 2007 in stationärer Behandlung und trug eine „inkomplette“ Querschnittslähmung davon.
7
Das Landgericht hat die Tat rechtlich als versuchten Heimtückemord und als schwere Körperverletzung gewürdigt und hat unter Einbeziehung einer Vor- verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Betrugs in sechs Fällen eine Jugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verhängt.

III.

8
Im Nachverfahren hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
9
1. Im Verlaufe seiner zur Tatzeit bestehenden, mehrere Monate dauernden Beziehung zu der zehn Jahre älteren A. kam es zu mehreren gewalttätigen Übergriffen des Verurteilten, die sich in ihrer Intensität steigerten; darüber hinaus hatte der Verurteilte die dreijährige Tochter seiner Lebensgefährtin mehrfach nachts aus ungeklärten Gründen geweckt. A. zog schließlich aus Furcht um ihr Kind für einen Monat in ein Frauenhaus, kehrte aber auf Intervention der Mutter des Verurteilten zu ihm zurück. Auch im weiteren Verlauf der Beziehung kam zu sich in ihrer Schwere steigernden tätlichen Angriffen des Verurteilten auf seine Lebensgefährtin, die er verdächtigte, der Prostitution nachzugehen.
10
2. Das Verhalten des Verurteilten während der Untersuchungshaft war problematisch. Mehrfach behauptete er wahrheitswidrig, von Mitgefangenen geschlagen oder auf andere, schwerwiegende Weise misshandelt – etwa auf eine Kreissäge gestoßen – worden zu sein; darüber hinaus war er in Schlägereien verwickelt.
11
3. Während des Strafvollzugs erreichte der Verurteilte im Juni 2008 den Hauptschulabschluss und absolvierte von April bis Oktober 2008 ein Antiaggressionstraining. Im Oktober 2008 wurde er auf die Sozialtherapeutische Abteilung der Vollzugsanstalt verlegt; sein Verhalten in der Wohngruppe war zu- nächst problematisch und durch manipulative Drohungen, Stimmungsschwankungen und aggressive Durchbrüche geprägt. Im Jahr 2009 führte der Verurteilte zweimal wöchentlich Einzelgespräche mit einer Anstaltspsychologin zur Tataufarbeitung. Diese therapeutischen Gespräche führten zu einer Verbesserung der Impulskontrolle des Verurteilten. Im Verlaufe der Therapiegespräche wurde das negative Frauenbild des Verurteilten thematisiert; zu einer Tataufarbeitung im eigentlichen Sinne oder einer Klärung der Tatmotivation kam es jedoch nicht. Das Vollzugsverhalten des Verurteilten verbesserte sich im Jahr 2010 und der Verurteilte übernahm zeitweise die Aufgaben des Wohngruppensprechers.
12
4. Im Rahmen des ab Juli 2010 stufenweise vorgesehenen Lockerungsprogramms bewährte sich der Verurteilte – von einzelnen Rückfällen in frühere manipulative Verhaltensweisen abgesehen – und wurde im August 2011 in das Freigängerhaus verlegt. Von dort aus besuchte er die Berufsschule, um seine Schreinerausbildung abzuschließen. Im Rahmen seiner Hafturlaube suchte der Verurteilte verschiedene Prostituierte auf. Über eine Kontaktanzeige lernte er die 36 Jahre alte Prostituierte S. kennen und ging mit ihr, nach einigen Treffen im Anschluss an entgeltliche sexuelle Kontakte, eine Beziehung ein, um künftig kostenlos sexuelle Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Er verschwieg S. sein wahres Alter und den Umstand, dass er eine langjährige Jugendstrafe verbüßte; später behauptete er wahrheitswidrig, eine kurze Freiheitsstrafe wegen einer zum Nachteil eines Mannes begangenen Körperverletzung zu verbüßen. Den Vollzugsbediensteten berichtete er im März 2010 zwar, dass er eine Freundin habe, verschwieg jedoch, dass sie – wie das Tatopfer der Anlasstat – als Prostituierte tätig war. Der Verurteilte führte im Verlaufe der ihm gewährten Lockerungen mehrfach unerlaubt größere Bargeldbeträge mit sich und fuhr wiederholt ein Kraftfahrzeug, obwohl er nach wie vor nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis war; darüber hinaus übernachtete er mehrfach in der Wohnung von S. . Nachdem es in der Beziehung zunehmend zu Spannungen gekommen war, weil der Verurteilte S. wegen ihrer Tätigkeit als Prostituierte kritisierte, kam es schließlich im August 2011 zu einem Aggressionsausbruch des Verurteilten, in dessen Verlauf er ein Handy seiner Freundin und eine Vase zerstörte. Zwar entschuldigte er sich bei seiner Freundin: sie war jedoch durch sein plötzlich verändertes Verhalten und die Massivität des Aggressionsausbruchs verunsichert und verzieh ihm nicht. Auf Bitte des Verurteilten versuchte seine Mutter erfolglos, den Streit zu schlichten. Der Verurteilte suchte S. trotz ihrer Ablehnung auf, wartete, bis sie ihre Wohnung verließ und folgte ihr, ohne dass ihm eine Versöhnung gelang. Anschließend begab er sich zu seiner Familie. Nachdem Polizeibeamte dort erschienen waren, die nach ihm fahndeten, weil er nicht zum Besuch der Berufsschule erschienen war, gelang ihm mit Unterstützung seiner Mutter die Flucht. S. erfuhr erstmals vom Stiefvater des Verurteilten, dass dieser wegen versuchten Mordes an einer Frau inhaftiert war, wobei die Mutter des Verurteilten ihren Ehemann wahrheitswidrig dahin korrigierte, dass das Tatopfer keine Frau, sondern ein Mann gewesen sei. Erst nachdem der Verurteilte erneut inhaftiert wurde, erfuhr S. , dass das Tatopfer des Verurteilten eine Prostituierte gewesen sei. Sie brach in der Folgezeit trotz Interventionen der Familienangehörigen den Kontakt zum Verurteilten vollständig ab.
13
5. Infolge seines Lockerungsversagens wurde der Verurteilte vom offenen Vollzug abgelöst, aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen und in die Justizvollzugsanstalt W. verlegt. Weil er unter der Trennung von S. litt, versuchte er Mutter und Schwester zu überreden, zu ihr Kontakt aufzunehmen und drohte ihnen für den Fall, dass sie ihn nicht wie gewünscht unterstützten , mit einem Abbruch des Besuchskontakts. Ungeachtet seines massiven Lockerungsversagens und des hochmanipulativen Verhaltens des Verurteilten fand in der Folgezeit eine Behandlung des Verurteilten nicht mehr statt. Zu einer psychotherapeutischen Weiterbehandlung der Anlasstat und der Aufarbeitung der Beziehungsproblematik fand der Verurteilte sich nicht bereit; einen Wechsel in die Sozialtherapeutische Anstalt D. lehnte er ebenso ab wieeine Psychotherapie oder eine Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. Er führte einige Gespräche mit dem Anstaltspsychologen, die jedoch lediglich dem Kennenlernen und der Vorbereitung der weiteren Vollzugsplanung dienten. Sein vollzugliches Verhalten gab zunächst zu Beanstandungen keinen Anlass. Der Verurteilte erbrachte in der Schreinerei gute Arbeitsleistungen , betätigte sich zuverlässig als Hausreiniger und bestand einen Schiedsrichterlehrgang.
14
Zu den ab Mai 2014 geplanten Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der für den 27. November 2014 vorgesehenen Entlassung kam es jedoch nicht, weil der Verurteilte am 6. Mai 2014 in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen geriet. Nach zunächst verbalen Beleidigungen kam es im Hof zu einer auch körperlich geführten Auseinandersetzung zwischen beiden, in deren Verlauf der Verurteilte dem Mitgefangenen heißen Kaffee über Kleidung und Körper goss. Ungeachtet eines Gesprächs mit einem Vollzugsbeamten, in dessen Verlauf der Verurteilte versicherte, dass nunmehr nichts mehr geschehen werde, folgte er dem Mitgefangenen auf die Toilette, drehte sich beim Händewaschen unvermittelt um und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Durch das Eingreifen eines Mitgefangenen wurde eine weitere Eskalation verhindert.

IV.

15
Das Landgericht hat sich davon überzeugt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung im Sinne des § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB vorliegt und eine „gewisse Gefahr“ bestehe, der Verurteilte werde künftig erneut schwerste Gewalttaten begehen. In Ansehung der Persönlichkeitsnachreifung des Verurteilten im Strafvollzug und einiger protektiver Umstände hat es sich jedoch von der nach § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB erforderlichen hochgradigen Gefahr der Begehung schwerster Gewaltstraftaten oder Sexualstraftaten nicht zu überzeugen vermocht.

V.

16
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge deckt aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift genannten Gründen keinen Rechtsfehler zugunsten des Verurteilten auf.
17
1. Das Landgericht hat seiner Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Das Landgericht ist davon ausgegangen , dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er vorliegend zur Entscheidung anstand, gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. (NJW 2011, 1931; BGBl. I S. 1003) umsetzt , nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG aaO; zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268; vgl.
auch BGH, Urteil vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12 und Beschluss vom 24. Juli 2012 – 1 StR 57/12). Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2011 – 5 StR 369/10; Urteile vom 8. November 2011 – 1 StR 231/11 und vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12; vgl. zum Begriff „psychischKranker“ auch Urteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012 – endgültig seit 19. Juli 2012 – in der Rechtssache B. gegen Deutschland – Individualbeschwerde 61272/09 Ziffer 67 ff.).
18
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2012 – 3 StR 148/12; BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 – 2 StR 346/11; BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11).
19
2. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die Annahme des Landgerichts, der Verurteilte leide zwar an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 ThUG, es fehle jedoch an der erforderlichen hochgradigen Gefahr für die erneute Begehung schwerster Gewaltdelikte, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
20
a) Das Landgericht hat im Verfahren – wie von § 275a Abs. 4 StPO zur Sicherung einer umfassenden Aufklärung der Kriminalprognose ausdrücklich gesetzlich vorgesehen – die Gutachten zweier erfahrener psychiatrischer Sach- verständiger eingeholt. Die beiden Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung in Form einer dissozialen Persönlichkeitsstörung sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Anteilen vom impulsiven und vom ängstlich-vermeidenden Typus vorliege. Beide Sachverständige haben die Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte erneut Gewalttaten begehen könnte, als „mittelhoch“ eingestuft und sind von einem Rückfallrisiko bezogen auf einen Zeitraum von sieben Jahren von 44 %, bezogen auf einen Zeitraum von zehn Jahren von 58 % ausgegangen; eine Vorhersage der wahrscheinlichen Schwere des Delikts sei nicht möglich.
21
b) Das Landgericht hat die prognostische Einschätzung der beiden Sachverständigen berücksichtigt und ist nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass sich die von Rechts wegen geforderte hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalttaten trotz einiger prognostisch ungünstiger Umstände nicht feststellen lasse. Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen prognostischen Erwägungen sind weder widersprüchlich, lückenhaft oder unklar noch verstoßen sie gegen Denk- oder allgemeine Erfahrungssätze. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift Bezug. Lediglich ergänzend ist zu bemerken:
22
Das Landgericht hat nicht übersehen, dass die in seiner Persönlichkeitsstörung wurzelnde Neigung des Verurteilten zu manipulativem Verhalten und zu „Falschheit, die sich in wiederholten Lügen“ manifestiert,unverändert fortbe- steht. Das Landgericht hat in seine Entscheidung eingestellt, dass das Vollzugsverhalten des Verurteilten nicht unproblematisch war und es ihm ungeachtet des bestehenden hohen Anpassungsdrucks nicht gelungen ist, sich regelkonform zu verhalten. Berücksichtigung fand auch, dass der Sachverständige Dr. Bu. zu der Auffassung gelangt ist, es habe sich bei den aggressiven Entladungen des Verurteilten gegenüber S. um eine „hochriskante“ Situation gehandelt. Dass die Kammer gleichwohl „die Gefahr einer Aggressi- onsverschiebung auf unbeteiligte Prostituierte“ als reduziert angesehen hat, weil es zwar zu verbalen Entgleisungen und zu Gewalt gegen Sachen, nicht aber zu einer gewalttätigen „Entgleisung“ gegenüber S. gekommen ist, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen, in denen die wesentlichen, prognostisch aussagekräftigen Umstände Berücksichtigung finden, weist ungeachtet der Schwere der Anlassverurteilung angesichts einer Verbesserung der Impulskontrolle, der Bereitschaft des Verurteilten, sich einer Therapie zu unterziehen, und einer insgesamt nicht ungünstigen Entlassungssituation die landgerichtliche Prognose, eine hochgradige Gefahr der Begehung erneuter schwerster Gewalttaten bestehe nicht, keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Fischer Krehl Eschelbach Ri'nBGH Dr. Ott ist aus rechtlichen Gründen an der Unterschrift gehindert. Fischer Bartel
5 StR 369/10

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 24. Mai 2011
in der Maßregelvollstreckungssache
gegen
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Mai 2011

beschlossen:
In Fällen, in denen die erstmalige Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wegen Taten angeordnet wurde, die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I 160) begangen worden waren, darf die Fortdauer der Maßregelvollstreckung über zehn Jahre hinaus auf der Grundlage der bis zu einer Neuregelung, längstens bis 31. Mai 2013 weiter anwendbaren Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 2 Abs. 6 StGB nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet; andernfalls ist die Maßregel – spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 – für erledigt zu erklären (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a.).
Zur Begründung verweist der Senat auf die im Beschluss vom 23. Mai 2011 – 5 StR 394, 440, 474/10 – dargelegten Grundsätze.
Basdorf Brause Schneider König Bellay

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 4/16
vom
11. August 2016
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ECLI:DE:BGH:2016:110816U2STR4.16.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 10. August 2016, in der Sitzung am 11. August 2016, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl, Dr. Eschelbach, die Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Ott, Dr. Bartel,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger des Angeklagten,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Trier vom 3. August 2015 wird verworfen. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Es hat weiter ausgesprochen , dass der Verurteilte für die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in der Zeit vom 27. November 2014 bis zum 3. August 2015 aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2
Das Landgericht Trier hatte K. mit Urteil vom 30. März 2007 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung unter Einbeziehung des Urteils des Jugendschöffengerichts Bitburg vom 24. November 2005 zu einer Einheitsjugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat durch Beschluss vom 21. November 2007 (2 StR 409/07) als unbegründet verworfen.
3
Der Verurteilte befand sich seit diesem Zeitpunkt im Strafvollzug. Das Strafende war für den 27. November 2014 vorgemerkt.
4
Am 13. Oktober 2014 beantragte die Staatsanwaltschaft, nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Durch Beschluss vom 18. November 2014 ordnete das Landgericht die einstweilige Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung an und hob diesen Beschluss mit Erlass des angegriffenen Urteils am 3. August 2015 auf.

II.

5
Ausweislich des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Trier vom 30. Mai 2007 hat der Verurteilte folgende Anlasstat begangen:
6
Am 15. August 2006 zwischen 13.30 Uhr und 14.00 Uhr begab sich der 18 Jahre alte K. mit seinem Fahrzeug zu einem Parkplatz, an dem – wie er aus vorangegangenen Besuchen wusste – in einem dort abgestellten Wohnmobil Frauen der Prostitution nachgingen. Er hatte kein Geld bei sich und hoffte darauf, sexuelle Leistungen ohne Entgelt in Anspruch nehmen zu können. Er traf dort auf die ihm bislang unbekannte B. , die jedoch auf Vorkasse bestand, worauf er sich zunächst entfernte und ankündigte, später wiederkommen zu wollen. Anschließend fuhr er nach Hause; dort geriet er möglicherweise mit seiner Lebensgefährtin in Streit. Nach einiger Zeit begab er sich erneut zu dem auf dem Parkplatz abgestellten Wohnmobil der B. und bejahte wahrheitswidrig ihre Frage, ob er nunmehr Geld dabei habe. Er betrat das Wohnmobil und entschloss sich aus nicht näher feststellbarem Grund dazu, B. zu töten. Unvermittelt versetzte er der arg- und wehrlosen Frau einen wuchtigen Faustschlag gegen das Kinn, der zu einer Kieferhöhlenfraktur führte. Anschließend schlug und trat er in rascher Folge wuchtig auf sein Tatopfer ein. Schließlich zog er aus der Hosentasche ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von 8 Zentimetern und stach mit Tötungsvorsatz auf B. ein. Im Rahmen einer ersten Messerattacke verletzte er die Geschädigte an der rechten Halsseite. Nachdem er das Messer, das ihm zunächst aus der Hand gefallen war, wieder an sich gebracht hatte, stach er auf die am Boden liegende und ihm den Rücken zukehrende Frau mehrfach ein und brach ihr durch die wuchtig geführten Stiche mehrere Rippen. Schließlich ließ er von der Geschädigten in der Annahme, sie tödlich verletzt zu haben, ab und floh. B. hatte zahlreiche Stichverletzungen erlitten, die unter anderem zu einer Verletzung des Rückenmarks in Höhe des 2. bzw. 3. Brustwirbelkörpers mit einer vollständigen Zerstörung des 3. Wirbelkörpers führten. Trotz ihrer lebensgefährlichen Verletzungen gelang es ihr, Hilfe herbeizurufen. Durch eine sofortige Operation konnte ihr Leben gerettet werden. Sie befand sich bis Ende des Jahres 2007 in stationärer Behandlung und trug eine „inkomplette“ Querschnittslähmung davon.
7
Das Landgericht hat die Tat rechtlich als versuchten Heimtückemord und als schwere Körperverletzung gewürdigt und hat unter Einbeziehung einer Vor- verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Betrugs in sechs Fällen eine Jugendstrafe von acht Jahren und drei Monaten verhängt.

III.

8
Im Nachverfahren hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
9
1. Im Verlaufe seiner zur Tatzeit bestehenden, mehrere Monate dauernden Beziehung zu der zehn Jahre älteren A. kam es zu mehreren gewalttätigen Übergriffen des Verurteilten, die sich in ihrer Intensität steigerten; darüber hinaus hatte der Verurteilte die dreijährige Tochter seiner Lebensgefährtin mehrfach nachts aus ungeklärten Gründen geweckt. A. zog schließlich aus Furcht um ihr Kind für einen Monat in ein Frauenhaus, kehrte aber auf Intervention der Mutter des Verurteilten zu ihm zurück. Auch im weiteren Verlauf der Beziehung kam zu sich in ihrer Schwere steigernden tätlichen Angriffen des Verurteilten auf seine Lebensgefährtin, die er verdächtigte, der Prostitution nachzugehen.
10
2. Das Verhalten des Verurteilten während der Untersuchungshaft war problematisch. Mehrfach behauptete er wahrheitswidrig, von Mitgefangenen geschlagen oder auf andere, schwerwiegende Weise misshandelt – etwa auf eine Kreissäge gestoßen – worden zu sein; darüber hinaus war er in Schlägereien verwickelt.
11
3. Während des Strafvollzugs erreichte der Verurteilte im Juni 2008 den Hauptschulabschluss und absolvierte von April bis Oktober 2008 ein Antiaggressionstraining. Im Oktober 2008 wurde er auf die Sozialtherapeutische Abteilung der Vollzugsanstalt verlegt; sein Verhalten in der Wohngruppe war zu- nächst problematisch und durch manipulative Drohungen, Stimmungsschwankungen und aggressive Durchbrüche geprägt. Im Jahr 2009 führte der Verurteilte zweimal wöchentlich Einzelgespräche mit einer Anstaltspsychologin zur Tataufarbeitung. Diese therapeutischen Gespräche führten zu einer Verbesserung der Impulskontrolle des Verurteilten. Im Verlaufe der Therapiegespräche wurde das negative Frauenbild des Verurteilten thematisiert; zu einer Tataufarbeitung im eigentlichen Sinne oder einer Klärung der Tatmotivation kam es jedoch nicht. Das Vollzugsverhalten des Verurteilten verbesserte sich im Jahr 2010 und der Verurteilte übernahm zeitweise die Aufgaben des Wohngruppensprechers.
12
4. Im Rahmen des ab Juli 2010 stufenweise vorgesehenen Lockerungsprogramms bewährte sich der Verurteilte – von einzelnen Rückfällen in frühere manipulative Verhaltensweisen abgesehen – und wurde im August 2011 in das Freigängerhaus verlegt. Von dort aus besuchte er die Berufsschule, um seine Schreinerausbildung abzuschließen. Im Rahmen seiner Hafturlaube suchte der Verurteilte verschiedene Prostituierte auf. Über eine Kontaktanzeige lernte er die 36 Jahre alte Prostituierte S. kennen und ging mit ihr, nach einigen Treffen im Anschluss an entgeltliche sexuelle Kontakte, eine Beziehung ein, um künftig kostenlos sexuelle Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Er verschwieg S. sein wahres Alter und den Umstand, dass er eine langjährige Jugendstrafe verbüßte; später behauptete er wahrheitswidrig, eine kurze Freiheitsstrafe wegen einer zum Nachteil eines Mannes begangenen Körperverletzung zu verbüßen. Den Vollzugsbediensteten berichtete er im März 2010 zwar, dass er eine Freundin habe, verschwieg jedoch, dass sie – wie das Tatopfer der Anlasstat – als Prostituierte tätig war. Der Verurteilte führte im Verlaufe der ihm gewährten Lockerungen mehrfach unerlaubt größere Bargeldbeträge mit sich und fuhr wiederholt ein Kraftfahrzeug, obwohl er nach wie vor nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis war; darüber hinaus übernachtete er mehrfach in der Wohnung von S. . Nachdem es in der Beziehung zunehmend zu Spannungen gekommen war, weil der Verurteilte S. wegen ihrer Tätigkeit als Prostituierte kritisierte, kam es schließlich im August 2011 zu einem Aggressionsausbruch des Verurteilten, in dessen Verlauf er ein Handy seiner Freundin und eine Vase zerstörte. Zwar entschuldigte er sich bei seiner Freundin: sie war jedoch durch sein plötzlich verändertes Verhalten und die Massivität des Aggressionsausbruchs verunsichert und verzieh ihm nicht. Auf Bitte des Verurteilten versuchte seine Mutter erfolglos, den Streit zu schlichten. Der Verurteilte suchte S. trotz ihrer Ablehnung auf, wartete, bis sie ihre Wohnung verließ und folgte ihr, ohne dass ihm eine Versöhnung gelang. Anschließend begab er sich zu seiner Familie. Nachdem Polizeibeamte dort erschienen waren, die nach ihm fahndeten, weil er nicht zum Besuch der Berufsschule erschienen war, gelang ihm mit Unterstützung seiner Mutter die Flucht. S. erfuhr erstmals vom Stiefvater des Verurteilten, dass dieser wegen versuchten Mordes an einer Frau inhaftiert war, wobei die Mutter des Verurteilten ihren Ehemann wahrheitswidrig dahin korrigierte, dass das Tatopfer keine Frau, sondern ein Mann gewesen sei. Erst nachdem der Verurteilte erneut inhaftiert wurde, erfuhr S. , dass das Tatopfer des Verurteilten eine Prostituierte gewesen sei. Sie brach in der Folgezeit trotz Interventionen der Familienangehörigen den Kontakt zum Verurteilten vollständig ab.
13
5. Infolge seines Lockerungsversagens wurde der Verurteilte vom offenen Vollzug abgelöst, aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen und in die Justizvollzugsanstalt W. verlegt. Weil er unter der Trennung von S. litt, versuchte er Mutter und Schwester zu überreden, zu ihr Kontakt aufzunehmen und drohte ihnen für den Fall, dass sie ihn nicht wie gewünscht unterstützten , mit einem Abbruch des Besuchskontakts. Ungeachtet seines massiven Lockerungsversagens und des hochmanipulativen Verhaltens des Verurteilten fand in der Folgezeit eine Behandlung des Verurteilten nicht mehr statt. Zu einer psychotherapeutischen Weiterbehandlung der Anlasstat und der Aufarbeitung der Beziehungsproblematik fand der Verurteilte sich nicht bereit; einen Wechsel in die Sozialtherapeutische Anstalt D. lehnte er ebenso ab wieeine Psychotherapie oder eine Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. Er führte einige Gespräche mit dem Anstaltspsychologen, die jedoch lediglich dem Kennenlernen und der Vorbereitung der weiteren Vollzugsplanung dienten. Sein vollzugliches Verhalten gab zunächst zu Beanstandungen keinen Anlass. Der Verurteilte erbrachte in der Schreinerei gute Arbeitsleistungen , betätigte sich zuverlässig als Hausreiniger und bestand einen Schiedsrichterlehrgang.
14
Zu den ab Mai 2014 geplanten Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der für den 27. November 2014 vorgesehenen Entlassung kam es jedoch nicht, weil der Verurteilte am 6. Mai 2014 in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen geriet. Nach zunächst verbalen Beleidigungen kam es im Hof zu einer auch körperlich geführten Auseinandersetzung zwischen beiden, in deren Verlauf der Verurteilte dem Mitgefangenen heißen Kaffee über Kleidung und Körper goss. Ungeachtet eines Gesprächs mit einem Vollzugsbeamten, in dessen Verlauf der Verurteilte versicherte, dass nunmehr nichts mehr geschehen werde, folgte er dem Mitgefangenen auf die Toilette, drehte sich beim Händewaschen unvermittelt um und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Durch das Eingreifen eines Mitgefangenen wurde eine weitere Eskalation verhindert.

IV.

15
Das Landgericht hat sich davon überzeugt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung im Sinne des § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB vorliegt und eine „gewisse Gefahr“ bestehe, der Verurteilte werde künftig erneut schwerste Gewalttaten begehen. In Ansehung der Persönlichkeitsnachreifung des Verurteilten im Strafvollzug und einiger protektiver Umstände hat es sich jedoch von der nach § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB erforderlichen hochgradigen Gefahr der Begehung schwerster Gewaltstraftaten oder Sexualstraftaten nicht zu überzeugen vermocht.

V.

16
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge deckt aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift genannten Gründen keinen Rechtsfehler zugunsten des Verurteilten auf.
17
1. Das Landgericht hat seiner Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt. Das Landgericht ist davon ausgegangen , dass eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, wie er vorliegend zur Entscheidung anstand, gemäß § 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. (NJW 2011, 1931; BGBl. I S. 1003) umsetzt , nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG aaO; zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268; vgl.
auch BGH, Urteil vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12 und Beschluss vom 24. Juli 2012 – 1 StR 57/12). Darüber hinaus ist für die rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e MRK Voraussetzung, dass der Betroffene an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leidet (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2011 – 5 StR 369/10; Urteile vom 8. November 2011 – 1 StR 231/11 und vom 7. August 2012 – 1 StR 98/12; vgl. zum Begriff „psychischKranker“ auch Urteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012 – endgültig seit 19. Juli 2012 – in der Rechtssache B. gegen Deutschland – Individualbeschwerde 61272/09 Ziffer 67 ff.).
18
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert es, hinsichtlich beider Elemente der Gefährlichkeitsprognose – der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengeren Maßstab anzulegen (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2012 – 3 StR 148/12; BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 – 2 StR 346/11; BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11).
19
2. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die Annahme des Landgerichts, der Verurteilte leide zwar an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 ThUG, es fehle jedoch an der erforderlichen hochgradigen Gefahr für die erneute Begehung schwerster Gewaltdelikte, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
20
a) Das Landgericht hat im Verfahren – wie von § 275a Abs. 4 StPO zur Sicherung einer umfassenden Aufklärung der Kriminalprognose ausdrücklich gesetzlich vorgesehen – die Gutachten zweier erfahrener psychiatrischer Sach- verständiger eingeholt. Die beiden Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass beim Verurteilten eine psychische Störung in Form einer dissozialen Persönlichkeitsstörung sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen Anteilen vom impulsiven und vom ängstlich-vermeidenden Typus vorliege. Beide Sachverständige haben die Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte erneut Gewalttaten begehen könnte, als „mittelhoch“ eingestuft und sind von einem Rückfallrisiko bezogen auf einen Zeitraum von sieben Jahren von 44 %, bezogen auf einen Zeitraum von zehn Jahren von 58 % ausgegangen; eine Vorhersage der wahrscheinlichen Schwere des Delikts sei nicht möglich.
21
b) Das Landgericht hat die prognostische Einschätzung der beiden Sachverständigen berücksichtigt und ist nachvollziehbar zu der Überzeugung gelangt, dass sich die von Rechts wegen geforderte hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalttaten trotz einiger prognostisch ungünstiger Umstände nicht feststellen lasse. Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen prognostischen Erwägungen sind weder widersprüchlich, lückenhaft oder unklar noch verstoßen sie gegen Denk- oder allgemeine Erfahrungssätze. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift Bezug. Lediglich ergänzend ist zu bemerken:
22
Das Landgericht hat nicht übersehen, dass die in seiner Persönlichkeitsstörung wurzelnde Neigung des Verurteilten zu manipulativem Verhalten und zu „Falschheit, die sich in wiederholten Lügen“ manifestiert,unverändert fortbe- steht. Das Landgericht hat in seine Entscheidung eingestellt, dass das Vollzugsverhalten des Verurteilten nicht unproblematisch war und es ihm ungeachtet des bestehenden hohen Anpassungsdrucks nicht gelungen ist, sich regelkonform zu verhalten. Berücksichtigung fand auch, dass der Sachverständige Dr. Bu. zu der Auffassung gelangt ist, es habe sich bei den aggressiven Entladungen des Verurteilten gegenüber S. um eine „hochriskante“ Situation gehandelt. Dass die Kammer gleichwohl „die Gefahr einer Aggressi- onsverschiebung auf unbeteiligte Prostituierte“ als reduziert angesehen hat, weil es zwar zu verbalen Entgleisungen und zu Gewalt gegen Sachen, nicht aber zu einer gewalttätigen „Entgleisung“ gegenüber S. gekommen ist, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen, in denen die wesentlichen, prognostisch aussagekräftigen Umstände Berücksichtigung finden, weist ungeachtet der Schwere der Anlassverurteilung angesichts einer Verbesserung der Impulskontrolle, der Bereitschaft des Verurteilten, sich einer Therapie zu unterziehen, und einer insgesamt nicht ungünstigen Entlassungssituation die landgerichtliche Prognose, eine hochgradige Gefahr der Begehung erneuter schwerster Gewalttaten bestehe nicht, keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Fischer Krehl Eschelbach Ri'nBGH Dr. Ott ist aus rechtlichen Gründen an der Unterschrift gehindert. Fischer Bartel

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 148/12
vom
31. Juli 2012
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schweren Raubes u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 31. Juli
2012 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 10. November 2011 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und dessen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3
2. Die vom Landgericht nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB angeordnete Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand; denn die erforderliche Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Angeklagten ist nicht dargetan.
4
a) Das Landgericht hat zunächst den gehörten Sachverständigen referiert , wonach der Angeklagte ein bewusster Entscheidungstäter mit einer Bereitschaft zur Gewalt sei, der Waffen als Handlungsinstrument benutze und Straftaten bei verschiedenartigen, auch guten Lebensumständen begehe, "was insgesamt für ein gewisses Rückfallrisiko spreche", so dass eine "ungünstige Kriminalprognose" gegeben sei. In ihrer anschließenden eigenen Würdigung hat die Strafkammer es für "prognostisch wahrscheinlich" gehalten, dass der Angeklagte erneut erhebliche Straftaten begehen werde.
5
b) Es bestehen bereits erhebliche Bedenken, ob diese Ausführungen nach der Rechtslage vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931) genügt hätten, um die erforderliche Gefahrenprognose zu belegen; denn erforderlich war insoweit die Erwartung, d.h. die bestimmte Wahrscheinlichkeit , dass von dem Täter weitere erhebliche Taten ernsthaft zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist (st. Rspr.; vgl. schon BGH, Urteil vom 21. November 1972 - 1 StR 390/72, BGHSt 25, 59, 61).
6
c) Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erweist sich jedenfalls nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, aaO) als nicht verhältnismäßig.
7
aa) Danach bedarf es wegen der derzeit verfassungswidrigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung", wenn sie gleichwohl angeordnet werden soll. Die Anordnung wird "in der Regel" nur verhältnismäßig sein, wenn "eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist" (BVerfG, aaO, NJW 2011, 1946 Rn. 172). Diese vom Bundesverfassungsgericht geforderte "strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung" ist dahin zu verstehen, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit - mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist (BGH, Beschluss vom 4. August 2011 - 3 StR 235/11, StV 2011, 673). Das Erfordernis, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Taten "aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten" sein muss, stellt somit höhere Anforderungen als die bislang vom Gesetz als Beurteilungsgrundlage für die Gefährlichkeitsprognose geforderte "Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten" (BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11, NStZ 2011, 692).
8
bb) Ein "gewisses Rückfallrisiko", eine "ungünstige Kriminalprognose" oder eine "prognostische Wahrscheinlichkeit" reicht nicht aus, um den nach diesen Vorgaben notwendigen erhöhten Grad der Gefährlichkeit zu begründen.
9
3. Es ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen, dass ein neues Tatgericht Tatsachen festzustellen in der Lage ist, die auch bei Beachtung der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen können. Die Sache bedarf deshalb zum Maßregelausspruch neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung. Becker Hubert Schäfer Ri'inBGH Dr. Spaniol befindet sich im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Gericke Becker

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 346/11
vom
8. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Februar
2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann
und die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Dr. Berger,
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
Bundesanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 4. April 2011 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen in Tatmehrheit mit Verbreitung kinderpornographischer Schriften in 113 Fällen in Tatmehrheit mit Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften in 44 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gleichzeitig hat es von der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abgesehen. Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt ist, bleibt ohne Erfolg.

I.

2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit Urteil des Landgerichts Gera vom 15. November 2007 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 22 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Dieser Verurteilung lagen sexuelle Übergriffe auf zwei sieben- bzw. dreizehnjährige Jungen zugrunde, an deren Geschlechtsteil der Angeklagte manipuliert hatte. In einem der Fälle hatte sich der Angeklagte auf einen der Jungen gelegt, dessen Arme festgehalten und es so erreicht, ihn zu küssen.
3
Nach der Haftentlassung in dieser Sache im November 2009 wandte sich der Angeklagte auf Veranlassung eines früheren Mitgefangenen an dessen ehemalige Lebensgefährtin, um die er sich kümmern sollte. Mit ihr hatte der Mitgefangene eine gemeinsame fast volljährige Tochter, die ebenso wie der damals zwölfjährige Nebenkläger, der aus einer anderen Beziehung der Frau stammte, in deren Haushalt lebte. Dem Angeklagten war es im Rahmen der Entscheidung zur Führungsaufsicht zwar untersagt, mit Kindern zu verkehren. Gleichwohl ließ er sich nicht davon abhalten, Kontakt zur Familie des ehemaligen Mitgefangenen aufzubauen und derart zu intensivieren, dass er für den Sohn der Frau bald eine Art Ersatzvater darstellte. Bereits nach kurzer Zeit übernachtete der Angeklagte im Hause der Familie, wobei er grundsätzlich auf einer Matratze im Zimmer des Jungen, gelegentlich aber auch neben ihm in dessen Bett schlief.
4
Anlässlich einer solchen Gelegenheit griff der Angeklagte, der wusste, dass der Nebenkläger noch keine vierzehn Jahre alt war, zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, jedenfalls vor Weihnachten des Jahres 2009, an dessen Penis und manipulierte daran (Fall 1). Dies wiederholte er bis zur Aufnahme des Jungen in ein Kinderheim am 17. Februar 2010 bei mindestens vier weiteren Gelegenheiten (Fälle 2-5).
5
Im Zeitraum vom 19. Dezember 2009 bis zum 3. Januar 2010 nutzte der Angeklagte einen Laptop, den er dem Nebenkläger geschenkt hatte, um über einen Chatraum Bild- und Videodateien zu verschicken bzw. zu erlangen, die pornographische Darstellungen sexueller Handlungen von oder an Personen wiedergaben, die tatsächlich oder nach ihrem Erscheinungsbild unter 14 Jahre alt waren. Er versandte insgesamt 113 und verschaffte sich 44 solcher Dateien.
6
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellem Missbrauchs gemäß § 176a Abs. 1 StGB in fünf Fällen zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten (Fall 1) und viermal jeweils zwei Jahren (Fälle 2-5), wegen Verbreitens kinderpornographischer Schriften nach § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB in 113 Fällen zu Freiheitsstrafen von jeweils sechs Monaten und wegen Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften gemäß § 184b Abs. 4 StGB in 44 Fällen zu Geldstrafen von 60 Tagessätzen zu 1 € verurteilt und eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren gebildet.
7
Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen, weil der Angeklagte nicht im Sinne des § 66 Abs. 1 Ziff. 4 StGB infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden, für die Allgemeinheit gefährlich sei. Es spreche aus Sicht der Kammer nichts dafür, der Angeklagte werde künftig pädophile Delikte unter Einsatz von Gewalt begehen.
8
Die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die Höhe der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe. Außerdem rügt sie, dass das Landgericht fehlerhaft von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen habe.
9
2. Der Senat hatte die Revisionshauptverhandlung mit Beschluss vom 11. Januar 2012 ausgesetzt. Dies beruhte auf der Ansicht des Senats, er sei in der Person des Vorsitzenden Richters am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann nicht ordnungsgemäß besetzt, weil dieser seit 1. Januar 2012 zugleich geschäftsplanmäßiger Vorsitzender des 4. Strafsenats ist. Der Senat hat daher dem Präsidium des Bundesgerichtshofs Gelegenheit gegeben, durch eine Änderung der Geschäftsverteilung Abhilfe zu schaffen. Mitglied des Präsidiums ist auch der Vorsitzende des 2. und 4. Strafsenats.
10
Das Präsidium des Bundesgerichtshofs, dem die Entscheidung des Senats in vollem Wortlaut vorlag, hat mit nicht begründetem Beschluss vom 18. Januar 2012 einstimmig entschieden, dass an dem Beschluss vom 15. Dezember 2011, mit dem VRiBGH Dr. Ernemann der Vorsitz des 2. und zugleich des 4. Strafsenats übertragen worden ist, festgehalten wird.
11
Nach der Beschlussfassung hat das Präsidium drei Richter des Senats, die an der Entscheidung vom 11. Januar 2012 beteiligt waren, jeweils einzeln angehört; von der Anhörung der weiteren Richter wurde abgesehen. Gegenstand der Befragungen war unter anderem, wie der Senat, aber auch der einzelne Richter mit der mitgeteilten Entscheidung des Präsidiums umgehen werde.

II.

12
Der Senat gibt dem Verfahren Fortgang. Er ist allerdings weiterhin der Ansicht, dass er nicht ordnungsgemäß besetzt ist. Insoweit gelten die Gründe aus dem Beschluss vom 11. Januar 2012 unverändert fort.
13
Der Senat sieht aber nach der Entscheidung des Präsidiums, keine Maßnahmen zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans zu ergreifen, keine rechtliche Möglichkeit, den Verfahrensbeteiligten in überschaubarer Zeit zu einer Entscheidung durch ein ordnungsmäßig besetztes Revisionsgericht zu verhelfen.
14
Der Senat hat erwogen, wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache den Großen Senat für Strafsachen anzurufen, hiervon aber letztlich abgesehen. Das Präsidium hat seine Entscheidung vom 18. Januar 2012 nicht begründet ; daher ist offen geblieben, welche Gründe das Präsidium bewogen haben , auf Änderungen der Geschäftsverteilung zu verzichten.
15
Sollte dem die Ansicht zugrunde liegen, Beschlüsse eines gerichtlichen Präsidiums zur Geschäftsverteilung seien regelmäßig bindend, so dass die Spruchkörper des Gerichts nicht befugt seien, im fachgerichtlichen Verfahren die Gesetzmäßigkeit ihrer Besetzung zu prüfen und darüber zu entscheiden, würde dem der Senat nicht folgen. Diese - möglicherweise aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. November 1975 – VII C 47.73 (BVerwGE 50, 11) abgeleitete - Ansicht stünde - worauf der Senat in seinem Beschluss vom 18. Januar 2012 bereits tragend hingewiesen hat - in deutlichem Widerspruch zum Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, wonach jeder Spruchkörper bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung von Amts wegen zu prüfen und darüber zu entscheiden hat (BVerfGE 95, 322, 330; vgl. schon BVerwG, Beschluss vom 7. April 1981 - 7 B 80/81, NJW 1982, 900). Wenn man gleichwohl annähme, die Spruchkörper des Gerichts seien nicht befugt, die Gesetzund Verfassungsmäßigkeit ihrer Besetzung im Rahmen des fachgerichtlichen Verfahrens auch mit Blick auf den Geschäftsverteilungsplan zu prüfen, wäre für das Präsidium auch eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen unbeachtlich.
16
Andere eigene Möglichkeiten, den Verfahrensbeteiligten entsprechend der Rechtsansicht des Senats Rechtsschutz durch ein ordnungsgemäß besetztes Gericht zu verschaffen, hat der Senat nicht gesehen.
17
Bei dieser Sachlage, die sich dem Senat in allen bei ihm anhängigen Verfahren gleichermaßen stellt, hält er es für geboten, über sämtliche bei ihm eingelegte Revisionen in der Sache zu entscheiden, auch wenn er sich weiterhin nicht für ordnungsgemäß besetzt hält. Maßgebend für diese Entscheidung, die ungeachtet des Ausgangs der Rechtsmittel zu treffen war, war namentlich die Erwägung, dem rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen und in angemessener Zeit zu einer - gegebenenfalls mit der Verfassungsbeschwerde überprüfbaren - Entscheidung zu gelangen. Die Alternative, die Sache bis zu einer weiteren Klärung, etwa durch erneute Vorlage an das Präsidium oder bis zum vorläufigen Ende der Doppelbesetzung Ende Juni 2012, ruhen zu lassen, würde nicht nur zu einem nicht hinnehmbaren zeitweiligen, partiellen Stillstand der Strafrechtspflege führen. Sie bedeutete zudem eine nicht in den Verantwortungsbereich der Betroffenen fallende Rechtsschutzverweigerung , die mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsschutzgewährung nicht in Einklang stünde. Dass das Präsidium Rechtsprechung des Senats nicht umgesetzt hat, darf nicht zu Lasten der Rechtsmittelführer gehen.
18
Aus diesem Grund hatte bei dieser besonderen Fallkonstellation die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG partiell zurückzustehen. Danach ist zwar gewährleistet, dass die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Im Bereich richterlicher Tätigkeit sind Richter demnach an keine Weisungen und nur an das Gesetz gebunden. Dies bedeutet Freiheit und Pflicht jeden Richters zu eigenverantwortlicher Entscheidung im Rahmen von Gesetz und Recht. Diese Freiheit sieht der Senat im konkreten Fall eingeschränkt , weil er nach der Entscheidung des Präsidiums gehalten ist, in seiner Meinung nach verfassungswidriger Besetzung zu entscheiden. Er nimmt es nach umfassender Abwägung hin, weil er zum einen ausdrücklich auf den Fortbestand seiner Rechtsansicht hinweisen kann und den Angeklagten zum anderen mit der Verfassungsbeschwerde eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit offen steht.

III.

19
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
20
1. Soweit sie sich gegen den Strafausspruch richtet, bleibt sie schon aus dem vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift genannten Gründen ohne Erfolg. Die insoweit von der Revision vorgebrachten Einwendungen zeigen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten nicht auf. Die Höhe der Strafen selbst ist unter Berücksichtigung des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums nicht zu beanstanden.
21
2. Die Revision hat aber auch keinen Erfolg, soweit sie sich gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung wendet. Dabei kann dahin stehen, ob die Begründung, mit der die Kammer von der Anordnung abgesehen hat, an sich rechtlicher Überprüfung standhielte. Denn der Senat schließt unter Beachtung der Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Weitergeltung der verfassungswidrigen Vorschrift des § 66 StGB aus, dass das Urteil auf einem möglichen Rechtsfehler beruht.
22
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift des § 66 StGB verfassungswidrig und gilt nur vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter. Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrechtsgrundrecht handelt. Nach der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts darf die Regelung der Sicherungsverwahrung nur nach Maßgabe einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung" angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab (Senat, Urteil vom 7. Juli 2011 - 2 StR 184/11; Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11; BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 - 5 StR 192/11; Beschluss vom 4. August 2011 - 3 StR 235/11).
23
Unter Beachtung dieses besonderen Maßstabs ist für die Annahme eines Hangs zur Begehung ausreichend schwerer Straftaten und einer daran anknüpfenden Gefährlichkeit des Angeklagten kein Raum.
24
a) Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten hat das Landgericht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen nur hinsichtlich solcher Straftaten angenommen, die im vorliegenden Verfahren abgeurteilt worden sind (UA S. 46). Die Verbreitung und der Erwerb kinderpornographischer Schriften gemäß § 184b Abs. 1 und 4 StGB (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2011 - 2 StR 328/11) stellen aber keine ausreichend schwere Sexualstraftat im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts dar. Dies gilt unter Berücksichtigung der Strafdrohungen auch für den sexuellen Missbrauch eines Kindes nach § 176 Abs. 1 StGB, mag er auch wiederholt begangen sein (§ 176a Abs. 1 StGB), jedenfalls dann, wenn die Missbrauchshandlungen , wie hier, in ihrer konkreten Gestalt ein eher geringfügiges Maß nicht überschritten haben (vgl. UA S. 42).
25
b) Eine konkrete Gefahr, der Angeklagte könne künftige pädophile Delikte unter Einsatz von Gewalt verwirklichen, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Dass es sich darüber hinaus nicht ausdrücklich mit der Frage befasst hat, ob es bei dem Angeklagten zu einer relevanten Steigerung der Sexualdelinquenz kommen könnte, ist vorliegend auch angesichts der Fragen des Angeklagten an das Opfer zu möglichem Oralverkehr jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden (vgl. UA S. 32). Zwar stellen Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 StGB regelmäßig "schwere Sexualstraftaten" im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts dar (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 2 StR 328/11; BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11 und vom 11. August 2011 - 3 StR 221/11), doch liegt hier die Annahme, der Angeklagte werde gerade solche Delikte begehen, unter Beachtung des nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltenden strengeren Maßstabs bei der Gefahrenprognose (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 208/11) nicht hinreichend nahe. Sämtliche Taten des Angeklagten, auch diejenigen aus der Vorverurteilung , beschränkten sich trotz des Umstands, dass sie sich über einen längeren Zeitraum hinzogen, stets wiederkehrend auf Manipulationen mit der Hand am Geschlechtsteil des Tatopfers. Demgegenüber geben allein die Fragen des Angeklagten nach der Möglichkeit von Oralverkehr keinen konkreten Aufschluss darüber, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen mit solchen sexuellen Übergriffen gerechnet werden könnte. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte einen entgegenstehenden Willen des Opfers jederzeit respektiert hat (UA S. 46) und es zudem an greifbaren Anhaltspunkten dafür fehlt, der Angeklagte könne Anreizen zu Straftaten nach § 176a Abs. 2 StGB nicht wiederstehen. Eine in den Fragen des Angeklagten an das Tatopfer zum Ausdruck kommende gewisse Tatgeneigtheit begründet deshalb nach Maßgabe der verfassungsgerichtlichen Anforderungen an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit der Begehung zukünftiger Straftaten keine hinreichende Gefährlichkeit des Angeklagten.
Ernemann Fischer Berger Krehl Eschelbach
5 StR 535/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 24. Januar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schweren Raubes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Januar 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 15. Juli 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Maßregelausspruchs. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen :
3
a) Am Tatnachmittag begab sich der vielfach – auch einschlägig – vorbestrafte, alkoholisierte Angeklagte (Blutalkoholkonzentration ca. 2,5 ‰) aufgrund eines spontanen Tatentschlusses in eine Drogeriefiliale, um sich dort unter Einsatz eines mitgeführten Küchenmessers Geld zu verschaffen. Er trat von hinten dicht an die einzige im Laden befindliche, mit der Auffüllung der Warenregale beschäftigte Verkäuferin heran, fasste sie um die Taille und hielt ihr mit der anderen Hand das Küchenmesser vor das Gesicht. Auf seine Aufforderung öffnete die Zeugin die Kasse, der der Angeklagte Geldscheine und -münzen im Wert von insgesamt 74 € entnahm. Von Passanten, die auf das Geschehen aufmerksam geworden waren, wurde er am Verlassen des Geschäfts gehindert und wenig später festgenommen.
4
b) Sachverständig beraten ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass der 47-jährige Angeklagte, der seit 30 Jahren erheblichen Alkoholmissbrauch betreibt, unter einer Polytoxikomanie leidet und zur Tatzeit aufgrund seiner Alkoholisierung vermindert schuldfähig war (§ 21 StGB). Die dem Strafrahmen des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB entnommene Strafe hat sie deshalb gemildert. Eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat sie mangels hinreichend konkreter Erfolgsaussicht abgelehnt; seine Alkohol- und Drogensucht ist in der Vergangenheit bereits mehrfach, unter anderem auch im Rahmen einer Unterbringung nach § 64 StGB erfolglos behandelt worden. Die Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hat die Strafkammer auf § 66 Abs. 1 StGB (idF vom 22. Dezember 2010) gestützt, dessen formelle Voraussetzungen sie – rechtsfehlerfrei – bejaht hat. Auch die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB und deren Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, 1931 Rn. 172) hat sie angenommen.
5
2. Während Schuld- und Strafausspruch frei von Rechtsfehlern sind, hält der Maßregelausspruch sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand. Die Urteilsbegründung genügt nicht den Anforderungen an die strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung , die im Hinblick auf die durch das Bundesverfassungsgericht festgestellte Verfassungswidrigkeit des Rechts der Sicherungsverwahrung für die Übergangszeit geboten ist. Danach muss in der Regel eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten sein (BVerfG aaO).
6
a) Das Landgericht orientiert seine Verhältnismäßigkeitsprüfung (in Anlehnung an Mosbacher, HRRS 2011, 229, 231) alleine an der gesetzgeberisch vorgenommenen Abstufung der Anlassdelikte nach §§ 66 ff. StGB. Danach seien unter schweren Gewaltstraftaten „nach der Wertung des § 66 Abs. 3 StGB zumindest alle Verbrechen zu verstehen, die sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und in schwerwiegender Weise gegen die persönliche Freiheit richteten“. Hierzu zählt das Landgericht insbesondere auch „Raub- und Erpressungsdelikte nach § 249, 250, 253, 255 StGB“, die von dem Angeklagten nach dessen bisheriger delinquenter Vorgeschichte weiterhin zu erwarten seien (UA S. 42).
7
b) Ob es sich bei prognostizierten Taten um schwere Gewalttaten im Sinne der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Maßstäbe handelt, ist nicht alleine anhand der gesetzgeberischen Abstufung der Anlassdelikte der Sicherungsverwahrung (vgl. die Kataloge in § 66 Abs. 1 Nr. 1, § 66 Abs. 3 Satz 1 und § 66a Abs. 2 Nr. 1 StGB nF) zu entscheiden. Diese bietet allenfalls eine erste Orientierung. Während vorsätzliche Tötungsdelikte und Vorsatzdelikte mit qualifizierender Todesfolge grundsätzlich als schwere Gewaltstraftaten anzusehen sind, gilt dies für die von der Strafkammer erwarteten Raubdelikte ungeachtet der in den Fällen der §§ 249, 250, 255 StGB hohen Strafdrohungen und der für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen nicht ohne Weiteres (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober2011 – 2 StR 305/11). Sie können nur in Abhängigkeit vonihren – auf der Grund- lage konkreter Umstände in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen – vorhersehbaren individuellen Umständen als schwere Gewalttaten gewertet werden (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 – 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9 Rn. 8). Dabei spielt naturgemäß vor allem das Ausmaß der eingesetzten oder angedrohten Gewalt bei den zu prognostizierenden Straftaten eine mitbestimmende Rolle.
8
c) Die Strafkammer hat ferner nicht berücksichtigt, dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderte strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung dahin zu verstehen ist, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit, das heißt, nicht nur der Erheblichkeit weiterer Straftaten, sondern auch der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung, ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 – 3 StR 175/11, NStZ 2011, 692; Beschlüsse vom 13. September 2011 – 5StR 189/11, Rn. 21 und vom 26. Oktober 2011, aaO, Rn. 7). Die – gegenüber bisherigen Maßstäben – erhöhte Gefährlichkeit muss im Übrigen „aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen“ abzuleiten sein. Auch dies stellt höhere Anforderungen an die bislang vom Gesetz als Beurteilungsgrundlage für die Gefährlichkeitsprognose ge- forderte „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten“ (BGH, Urteil vom 4. August 2011, aaO). Diese konkreten Umstände (wie etwa Anzahl und Frequenz der Vorstrafen, Tatbilder der Vor- und Anlasstaten, psychische Störungen des Angeklagten) sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu benennen.
9
d) Der Senat hebt die Maßregelanordnung mit den Feststellungen auf, um eine umfassende Prüfung der materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB durch das neue Tatgericht zu ermöglichen.
Raum Brause Schaal Schneider Bellay

(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn

1.
sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und
2.
die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.

(2) Absatz 1 ist unabhängig davon anzuwenden, ob die verurteilte Person sich noch im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindet oder bereits entlassen wurde.