Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Juli 2010 - 5 StR 243/10

published on 21/07/2010 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Juli 2010 - 5 StR 243/10
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate
5 StR 243/10

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 21. Juli 2010
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Juli 2010

beschlossen:
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10. Februar 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben. Der Antrag der Staatsanwaltschaft , den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Staatskasse.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt er die Verletzung sachlichen Rechts. Über den Teilaufhebungsund Zurückverweisungsantrag des Generalbundesanwalts hinausgehend führt das Rechtsmittel zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückweisung des Antrags auf Unterbringung.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der 49 Jahre alte Beschuldigte seit Ende der 90er Jahre wegen akuter psychotischer Zustände wiederholt stationär medikamentös behandelt. Im Herbst 2005 wurde er nach dem Hamburger PsychKG untergebracht, weil er in einem psychotischen Zustand einen Baumstamm über die Fahrbahn einer Bundesstraße gelegt und die Tür einer Feuerwache in Brand gesetzt hatte.
3
Im Juni 2008 verurteilte ihn das Landgericht Hamburg wegen Diebstahls in zehn Fällen, tätlicher Beleidigung, Trunkenheit im Verkehr und gefährlicher Körperverletzung sowie Nötigung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wurde. Unter anderem hatte er eine Passantin durch einen gezielten Flaschenwurf am Kopf verletzt und eine weitere ihm unbekannte Person „in den Schwitzkasten genommen“. Dabei war er schuldunfähig, da er wegen des Absetzens der Medikation an einer akut ausgebrochenen chronisch paranoiden Schizophrenie litt.
4
Gegenstand des vorliegenden Sicherungsverfahrens ist der Diebstahl persönlicher Gegenstände aus einer Handtasche, die im Personalbereich eines Blumenladens abgelegt war. Diesen beging der Beschuldigte, nachdem er die ihm verordneten Neuroleptika erneut eigenmächtig abgesetzt hatte und deswegen in einen akut psychotischen Zustand geraten war. Kurz nach der Tat ließ er sich von den herbeigerufenen Polizeibeamten in der Nähe des Tatorts widerstandslos festnehmen. Eine Woche später wurde er wiederum auffällig, weil er in der Hamburger Innenstadt seine Hose verlor; von der Polizei wurde er in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht.
5
Nach neuerlicher stationärer Unterbringung und medikamentöser Einstellung wurde der Beschuldigte in Freiheit entlassen. Nunmehr erhält er in regelmäßigen Abständen eine Depotspritze und sein Betreuer wird informiert, wenn er nicht rechtzeitig zu deren Verabreichung erscheint. Seitdem haben sich die Lebensverhältnisse des Beschuldigten deutlich stabilisiert und er fühlt sich besser.
6
Die Strafkammer hat sachverständig beraten festgestellt, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte rechtswidrige Tat im Zustand „zumindest möglicher Schuldunfähigkeit, allerdings bestehender verminderter Schuldfähigkeit“ (UA S. 11) begangen hat. Aufgrund der psychischen Erkrankung des Beschuldigten seien „vergleichbare erhebliche rechtswidrige Taten zu erwar- ten“, „so wie in der Vergangenheit“ auch solche, die mit der Gefährdung von Leib und Leben von Personen einhergehen könnten (UA S. 12).
7
2. Die erneute Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus kann keinen Bestand haben.
8
a) Die Darlegungen des Landgerichts genügen – worauf der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme zu Recht hingewiesen hat – nicht den Anforderungen, die an die hierfür erforderliche Gefahrenprognose zu stellen sind.
9
Im Ansatz zutreffend ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass die Anlasstat für die Gefährlichkeit des Beschuldigten keinen hinreichenden Anhaltspunkt bietet und stellt bei der Bejahung einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Delikte maßgeblich auf die Vortaten des Beschuldigten ab: Es sei nicht vorhersehbar, welche Art von Taten der Beschuldigte im Zustand akuter psychotischer Schübe begehen werde. Mit fremdaggressiven Impulsausbrüchen sei vor allem dann zu rechnen, wenn er sich nicht medikamentös behandeln lasse und zusätzlich erneut Drogen oder Alkohol konsumiere.
10
Diese auf das Sachverständigengutachten gestützten Feststellungen genügen indes nicht für die nach § 63 StGB erforderliche Gefahrenprognose. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades und nicht nur die einfache Möglichkeit neuerlicher erheblicher Straftaten besteht (vgl. die Nachweise bei Fischer, StGB 57. Aufl. § 63 Rdn. 15). Im maßgeblichen Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung gab es angesichts der zwischenzeitlich getroffenen Vorkehrungen auch keine Anhaltspunkte mehr dafür, dass der Beschuldigte wiederum eigenmächtig die Medikamentierung absetzen oder Drogen oder Alkohol konsumieren könnte.
11
Überdies sind die Erwägungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose lückenhaft. Die Strafkammer hat wesentliche zugunsten des Beschuldigten zu wertende Umstände unerwähnt gelassen. Sie berücksichtigt nicht, dass die erheblicheren Vortaten zum Teil geraume Zeit zurückliegen und sich der Beschuldigte weder im Rahmen der Begehung der Anlasstat und der darauf folgenden Festnahme, noch anlässlich des Vorfalls eine Woche nach der Tat aggressiv verhielt. Zudem lässt sich der zwischen der Anlasstat und der zukünftigen Gefahr geforderte symptomatische Zusammenhang nicht erkennen (vgl. hierzu Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 63 Rdn. 18 m.w.N.).
12
c) Im Übrigen war die nochmalige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus neben der bereits bestehenden unverhältnismäßig. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sie zur Erreichung des Maßregelziels erforderlich war, weil von ihr Wirkungen ausgehen , die nicht bereits der erste Maßregelausspruch zeitigt (vgl. BGHR StGB § 62 Verhältnismäßigkeit 6). Etwaigen neu zu Tage getretenen Betreuungsoder Kontrollbedürfnissen des Beschuldigten hätte auch durch eine Anpassung der im Rahmen der bestehenden Unterbringung angeordneten Bewährungsauflagen Genüge getan werden können.
13
3. Nach den getroffenen Feststellungen ist es ausgeschlossen, dass aufgrund einer neuen Hauptverhandlung noch Umstände festgestellt werden, unter denen die nochmalige Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB gegen den Beschuldigten rechtsfehlerfrei angeordnet werden könnte. Analog § 354 Abs. 1 StPO ist der entsprechende Antrag der Staatsanwaltschaft daher zurückzuweisen.
Brause Sander Schneider
König Bellay
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erört

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.