Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Jan. 2014 - 4 StR 529/13

bei uns veröffentlicht am14.01.2014

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 529/13
vom
14. Januar 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Geiselnahme
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 14. Januar 2014 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 8. Juli 2013 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „gemeinschaftlicher“ Gei- selnahme zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge, mit der die Einnahme eines Augenscheins in Abwesenheit des Angeklagten beanstandet wird (§ 338 Nr. 5 StPO), Erfolg.
2
1. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
3
Das Landgericht hat am zweiten Hauptverhandlungstag die Geschädigte M. L. vernommen und für die Dauer der Vernehmung die Entfer- nung des Angeklagten gemäß § 247 StPO angeordnet. Während der Vernehmung wurden Lichtbilder in Augenschein genommen. Das Protokoll verhält sich dazu wie folgt:
4
„Es wird mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, die Lichtbildvorlage Bl. 55,58, 61 Bd. II d. A. im Wege des Augenscheins in das Verfahren einzuführen und zum Gegenstand der Verhandlung zu machen.
5
Alle Prozessbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme.
6
A.d.V.
7
Die Lichtbildvorlage Bl. 55, 58, 61 Bd. II d. A. soll im Wege des Augenscheins in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden.
8
Die Zeugin erklärte sich hierzu und weiter zur Sache.“
9
Nachdem der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal gerufen worden war, wurde er vom Vorsitzenden über den Verlauf und das Ergebnis der Zeugenvernehmung informiert.
10
Während die „Lichtbildvorlage Bl. 55 d. A.“ bereits am ersten Hauptver- handlungstag – in Anwesenheit des Angeklagten – in Augenschein genommen worden war, fand eine (nochmalige) förmliche Augenscheinseinnahme in Bezug auf die weiteren Lichtbilder nicht statt.
11
2. Dieser Verfahrensgang begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. Der hier durchgeführte Augenscheinsbeweis ist vom restriktiv auszulegenden Begriff der Vernehmung in § 247 StPO nicht umfasst, sodass entgegen § 230 Abs. 1 StPO ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt wurde. Der daraus resultierende Verfahrensverstoß wurde hier auch nicht geheilt.
12
a) Die beiden Wahllichtbildvorlagen (Bl. 58 und 61 Bd. II d. A.) wurden förmlich in Augenschein genommen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gegenständlichen Lichtbilder lediglich – was als Teil der Vernehmung zulässig gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2001 – 1 StR 367/01, Rn. 17 ; Urteil vom 23. Oktober 2002 – 1 StR 234/02, NJW 2003, 597) – als Vernehmungsbehelf herangezogen wurden. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätten keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2000 – 1 StR 488/00, NStZ 2001, 262, 263; Urteil vom 5. Mai 2004 – 2 StR 492/03, NStZ-RR 2004, 237 f.). Hier wird durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung jedoch bewiesen (§ 274 StPO), dass eine förmliche Beweisaufnahme stattgefunden hat. Die hier gewählte Formulierung enthält keine Unklarheiten und lässt Zweifel daran nicht aufkommen, dass ein förmlicher Augenschein durchgeführt worden ist.
13
b) Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 Satz 1 und 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Dieser Begriff ist im Regelungszusammenhang der §§ 247 und 248 StPO auf Grund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessener Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, restriktiv auszulegen (BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 90 mwN). Die Erhebung eines Sachbeweises kann demnach, auch wenn er eng mit der Vernehmung verbunden ist, nicht als Teil der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO angesehen werden, sondern ist ein Vorgang mit einer selbständigen verfahrensrechtlichen Bedeutung (BGH, Beschluss vom 19. November 2013 – 2 StR 379/13). Die Inaugenscheinnahme der beiden Wahllichtbildvorlagen in Abwesenheit des Angeklagten war daher vom Beschluss über seine Ausschließung nicht gedeckt. Somit fand ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten statt, dessen Anwesenheit das Gesetz vorschreibt (§§ 230, 247 StPO). Dies begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.
14
c) Der Verfahrensfehler wurde nicht geheilt. Dies hätte nur durch eine – hier nicht erfolgte – Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erfolgen können. Zwar muss der förmliche Augenscheinsbeweis nicht dergestalt wiederholt werden , dass das Gericht und die Verfahrensbeteiligten das Augenscheinsobjekt nochmals besichtigen. Vielmehr hätte die Besichtigung der Wahllichtbildvorlagen durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO ausgereicht, wenn die weiterhin anwesenden Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einer neuerlichen Augenscheinseinnahme gehabt hätten (BGH, Urteil vom 11. November 2009 – 5 StR 530/08, BGHSt 54, 184, 187 f. mwN). Indes lässt sich aus dem zu dieser wesentlichen Förmlichkeit (§ 274 StPO) schweigenden Protokoll der Hauptverhandlung nicht feststellen, dass der Augenschein – wenigstens – in dieser Weise nachgeholt worden wäre.
15
d) Der Augenscheinsbeweis war auch ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung , da es um die Frage ging, wer an dem dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen beteiligt war. Das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO führt zur Aufhebung des Urteils, ohne dass es darauf ankommt, ob das – sorgfältig begründete – Urteil tatsächlich auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
16
Ein Fall, in dem es denkgesetzlich ausgeschlossen wäre, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (vgl. für die Augenscheinseinnahme während der Abwesenheit des Angeklagten BGH, Beschlüsse vom 22. Dezember 1999 – 2 StR 552/99, vom 6. Dezember 2000 – 1 StR 488/00, NStZ 2001, 262, 263, vom 30. Januar 2001 – 3 StR 528/00, NStZ-RR 2002, 102, vom 5. Februar 2002 – 5 StR 437/01, BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25, vom 20. Februar 2002 – 3 StR 345/01, vom 19. Juli 2007 – 3 StR 163/07, BGHR StPO § 338 Beruhen 2, und vom 5. Oktober 2010 – 1 StR 264/10, NStZ 2011, 51), liegt entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht vor. Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen, dass der – die Tat bestreitende – Angeklagte insbesondere die Inaugenscheinnahme der Wahllichtbildvorlage Nr. 58 zum Anlass für weiter gehendes Verteidigungsvorbringen genommen hätte. Unter den acht Porträtfotos befand sich auch das Bild des I. C. , den die Ehefrau des wegen der Tat bereits rechtskräftig Verurteilten A. im Ermittlungsverfahren als weiteren Mittäter bezeichnet hatte. In diesem Verfahren käme er damit als unmittelbarer Tatzeuge in Betracht; auch erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Angeklagte sich darauf berufen hätte, die der Geschädigten während ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung ohne Erfolg vorgelegten Lichtbilder seien veraltet.
Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak
RiBGH Dr. Mutzbauer ist urlaubsabwesend und deshalb an der Unterschrift gehindert. Sost-Scheible Bender

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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswid

Strafprozeßordnung - StPO | § 274 Beweiskraft des Protokolls


Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Strafprozeßordnung - StPO | § 230 Ausbleiben des Angeklagten


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Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen.

Strafprozeßordnung - StPO | § 248 Entlassung der Zeugen und Sachverständigen


Die vernommenen Zeugen und Sachverständigen dürfen sich nur mit Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Gerichtsstelle entfernen. Die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte sind vorher zu hören.

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Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 367/01
vom
22. November 2001
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
21. November 2001 in der Sitzung am 22. November 2001, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Dr. Kolz,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt und
Rechtsanwalt
als Verteidiger
- in der Verhandlung vom 21. November 2001 -,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 23. März 2001 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. 2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit von Sicherungsverwahrung abgesehen ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels , an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

I.


1. Die Jugendkammer hat folgendes festgestellt:

a) Im November 1998 erbot sich der Angeklagte, der als Türsteher einer Diskothek tätig war, die Zeugin und Nebenklägerin N. von der Diskothek nach Hause zu fahren. Als er in eine andere Richtung fuhr, wollte N. aus dem Auto fliehen, was der Angeklagte gewaltsam verhinderte. Er fuhr in eine Tiefgarage, wo er einen weiteren Fluchtversuch ebenso gewaltsam verhinderte. Er brachte sie in eine Wohnung, wo er gegen ihren Willen mit ihr den Geschlechtsverkehr ausübte, wobei er erkannte, daß sie nur wegen seiner vorangegangenen Gewalttätigkeit keinen weiteren Widerstand leistete.

b) Am 10. Juli 1999 bot der S. nach einem Besuch der selben Diskothek seiner Bekannten B. und deren etwa 17 Jahre alten Freundin, der Zeugin und Nebenklägerin L. an, sie nach Hause zu fahren. Der Angeklagte stieg mit in das Fahrzeug. Die Mädchen wurden in die Wohnung der M. gebracht, zu der der Angeklagte einen Schlüssel hatte. Während sich S. und B. in einem anderen Teil der Wohnung aufhielten, warf der Angeklagte die sich wehrende und schreiende L. gewaltsam auf ein Bett und führte mit ihr gewaltsam den Geschlechtsverkehr durch. L. trug mehrere Hämatome am ganzen Körper davon.

c) Schon im Herbst 1996 hatte M. die damals etwa 17 Jahre alte R. nach einem gemeinsamen Diskothekenbesuch mit zum Übernachten in die Wohnung des Angeklagten genommen. M. und der Angeklagte schliefen im Schlafzimmer, R. im Wohnzimmer. Am nächsten Morgen kam der Angeklagte und legte sich gegen den Widerstand der R. , die dabei Schmerzen und Rötungen im Brustbereich erlitt, auf ihren Körper, wobei er sie mit seinem erigierten Glied mehrfach im Bereich der Scheide berührte. R. schrie laut und der Angeklagte sah - wie die Jugendkammer feststellt, freiwillig - von dem von ihm geplanten Geschlechtsverkehr ab.
Einige Zeit später drohte der Angeklagte R. mit Schlägen, wenn sie weiterhin im Bekanntenkreis über diesen Vorfall rede.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wie folgt verurteilt:

a) wegen Vergewaltigung zum Nachteil N. zu vier Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe;

b) wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zum NachteilL. zu vier Jahren Freiheitsstrafe; in diesem Fall ging die Jugendkammer im wesentlichen auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten von alkoholbedingt erheblich verminderter Schuldfähigkeit aus (§ 21 StGB);

c) wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil R. zu zwei Jahren Freiheitsstrafe;

d) wegen versuchter Nötigung von R. zu sechs Monaten Freiheitsstrafe.
Aus den genannten Strafen wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten gebildet.
3. Gegen dieses Urteil richten sich die auf mehrere Verfahrensrügen und die nicht näher ausgeführte Sachrüge gestützte unbeschränkte Revision des Angeklagten und die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft , die sich nur dagegen wendet, daß von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen wurde.
Die Revision des Angeklagten bleibt erfolglos; die Revision der Staatsanwaltschaft greift durch.

II.


Zur Revision des Angeklagten:
1. Der Angeklagte war während der Vernehmung der Zeugin L. aus dem Sitzungssaal entfernt worden (§ 247 StPO).Während der Vernehmung legte der Verteidiger ausweislich des Protokolls "einen Stadtplan zum Zwecke des Vorhalts an die Zeugin vor; die Zeugin wurde von ihm bezüglich der Fahrtstrecke ... befragt".

Ein Verfahrensfehler (§ 247 StPO i. V. m. § 338 Nr. 5 StPO) ist entgegen der Auffassung der Revision nicht ersichtlich.
Der Ausschluß des Angeklagten von der Vernehmung eines Zeugen erstreckt sich auf alle mit der Vernehmung zusammenhängende Verfahrensvorgänge , wie z. B. auch Vorhalte (vgl. zu Vorhalten aus einer Urkunde BGH NStZ 2001, 262; 1997, 402; NJW 1968, 167; Gollwitzer in LR 25. Aufl. § 247 Rdn. 19). Der Stadtplan wurde nur als Vernehmungsbehelf verwendet. Ein darüber hinaus gehender Vorgang mit selbständiger verfahrensrechtlicher Bedeutung , wie es die Einnahme eines Augenscheins wäre, ist nicht ersichtlich.
2. Die Jugendkammer ließ die Zeugin B. gemäß § 61 Nr. 1 StPO unvereidigt , da nach pflichtgemäßem Ermessen eine Vereidigung der 17 Jahre alten Zeugin nicht geboten sei. Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Entscheidung ausreichend begründet. Hierfür genügt die Angabe der Jugendlichkeit des Zeugen oder der Gesetzesstelle (BGHSt 3, 229). Auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens sieht der Senat keine Veranlassung, hiervon abzuweichen.
3. Die Zeugen H. und K. haben im Kern übereinstimmend bekundet, die Zeugin N. hätte ihnen gegenüber behauptet, in jungen Jahren von ihrem Vater sexuell belästigt ("angefaßt") worden zu sein. Den Antrag, den Vater zum Beweis dafür zu vernehmen, daß er seine Tochter niemals sexuell belästigt habe, hat die Jugendkammer als bedeutungslos abgelehnt (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Zur Begründung hat sie im einzelnen dargelegt, warum die Zeugin, etwa im Hinblick auf ihr damals noch geringes Alter, inso-
weit einer Fehleinschätzung unterlegen sein kann. Damit hat die Jugendkammer mit hinlänglicher Deutlichkeit dargelegt, warum sie auch dann, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellten Behauptungen glaubhaft bestätigen würde , daraus keine Rückschlüsse auf die Unrichtigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen der Zeugin ziehen würde. Entgegen der Auffassung der Revision ist eine so begründete Bedeutungslosigkeit einer möglichen Indiztatsache rechtlich nicht zu beanstanden (st. Rspr., vgl. die Nachw. bei Kleinknecht /Meyer-Goûner, StPO 45. Aufl. § 244 Rdn. 56).
4. Im Hinblick auf die Angabe der Zeugin N. , sie habe 1990 eine zu ihrem Nachteil begangene Vergewaltigung angezeigt, hatte die Verteidigung die Vernehmung des Zeugen Mi. , Polizeiinspektion Lü. , zum Beweise dafür, daû dort keinerlei Unterlagen über eine Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin existierten und die Vernehmung des damaligen Kommissariatsleiters "Sitte" in Lü. zum Beweis dafür, daû er keinerlei Erkenntnisse über eine derartige Anzeige hat und daû er sich an die Anzeige einer "richtigen Vergewaltigung" erinnern würde, beantragt.
Die Jugendkammer hat die in das Wissen des Zeugen Mi. gestellte Behauptung als wahr unterstellt. Ebenso hat sie als wahr unterstellt, daû auch der frühere Kommissariatsleiter keine entsprechenden Erkenntnisse hat. Die Behauptung, er werde bekunden, daû er sich andernfalls an eine Anzeige erinnern würde, hat sie als bedeutungslos angesehen.
Soweit die Revision nunmehr im einzelnen darlegt, warum die Jugendkammer ausweislich der Urteilsgründe die Wahrunterstellung hinsichtlich der
Erinnerung nicht eingehalten habe, geht dies schon allein deshalb ins Leere, weil insoweit keine Wahrunterstellung erfolgt ist.
Soweit die Strafkammer Behauptungen als wahr unterstellt hat, hat sie sich dazu in den Urteilsgründen nicht in Widerspruch gesetzt. Anderes behauptet auch die Revision nicht.
5. Die Verteidigung hatte ein Sachverständigengutachten zur Glaubwürdigkeit der Aussagen der Zeugin N. beantragt und diesen Antrag nach dessen Zurückweisung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung mit ergänzender Begründung wiederholt. Auch diesen Antrag hat die Jugendkammer unter Berufung auf eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) abgelehnt und zur Begründung (in beiden Beschlüssen inhaltlich im wesentlichen identisch ) ausgeführt, daû eine körperliche Behinderung oder eine psychische Auffälligkeit , die über eine "übliche Schwierigkeit bei der Verarbeitung des Erlebten hinausgeht" bei der - erwachsenen - Zeugin nicht festzustellen seien. Auch der Sachverhalt weise keine solche Besonderheiten auf, daû richterliche Sachkunde zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung nicht ausreiche, zumal es auûerhalb der Aussage der Zeugin selbst liegende Umstände gebe, die zur Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit herangezogen werden könnten.
Damit ist die Jugendkammer von einem zutreffenden rechtlichen Ansatzpunkt ausgegangen (vgl. zusammenfassend Gollwitzer aaO § 244 Rdn. 82, Kleinknecht/Meyer-Goûner aaO § 244 Rdn. 74 jew. m.w.N.) .Die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit bedarf es nur dann, wenn die Eigenart des Einzelfalls, etwa aus den von der Jugendkammer angesprochenen Gesichtspunkten, eine auûergewöhnliche Sachkunde
erfordert. Die Entscheidung, ob ein solcher Fall gegeben ist, liegt im pflichtgemäûen Ermessen des Tatrichters. Das Revisionsgericht hat sich bei seiner Nachprüfung darauf zu beschränken, ob der Tatrichter die durch die Gegebenheiten des Einzelfalls seinem Ermessen gezogenen rechtlichen Grenzen eingehalten hat (BGH NStZ 1987, 182).
Dies ist zu bejahen.
Die Jugendkammer hat sich (in den Urteilsgründen; vgl. Herdegen in KK 4. Aufl. § 244 Rdn. 28 m.w.N.) eingehend mit der Glaubwürdigkeit der Aussage der Zeugin auseinander gesetzt und hat dabei auch die in den Anträgen genannten Gesichtspunkte, die gegen eine Glaubwürdigkeit der Angaben der Zeugin sprechen könnten, nicht übersehen. Die Erwägung der Jugendkammer, für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin sprächen entscheidend die Schilderungen der Zeugen H. und K. über die Angaben, die die Zeugin N. ihnen gegenüber unmittelbar nach der Tat gemacht hat und über den psychischen Zustand, in dem sich die Zeugin N. dabei befunden hat, läût Rechtsfehler nicht erkennen.
Aus alledem folgt zugleich, daû die Einholung eines Sachverständigengutachtens auch kein Gebot der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) war.
6. Ebenso wenig ist die Beweiswürdigung sachlich-rechtlich zu beanstanden.
Auch im übrigen hat die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

III.


Zur Revision der Staatsanwaltschaft:
Obwohl die hier abgeurteilten Taten die formalen Voraussetzungen von § 66 (Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 ) StGB erfüllen, hat die Jugendkammer Sicherungsverwahrung nicht angeordnet, weil kein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB festzustellen sei. Die hierfür maûgeblichen Erwägungen halten rechtlicher Überprüfung jedoch nicht Stand:
1. Die Jugendkammer, die insoweit dem von ihr gehörten Sachverständigen "nicht ohne Bedenken" folgt und seine Ausführungen nur "mit Einschränkungen" nachvollziehen kann, geht letztlich davon aus, daû der Angeklagte kein "egozentrischer Notzuchtstäter" sondern ein "uneigentlicher Notzuchtstäter" sei. Ohne daû der Senat dieser Unterscheidung im übrigen näher nachgehen müûte, ist jedenfalls der in diesem Zusammenhang zur Begründung mit herangezogene Hinweis auf die "sture Selbstverständlichkeit", mit der der Angeklagte vorging, ersichtlich nicht geeignet, die Annahme eines Hangs zu widerlegen. Es ist nicht zu erkennen, warum sture Selbstverständlichkeit bei der Durchführung gewichtiger Straftaten gegen eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen im Sinne eines eingeschliffenen Verhaltensmusters (vgl. zusammenfassend Dreher/Tröndle StGB 50. Aufl. § 66 Rdn. 18, Lackner/Kühl StGB 24. Aufl. Rdn. 13 jew. m.w.N.) sprechen könnte. In diesem Zusammenhang kann auch nicht auûer Betracht bleiben, daû der Sachverständige und ersichtlich auch die Strafkammer davon ausgehen, auch künftig seien in zu erwarten-
den sexuell geprägten Situationen "vergleichbare Taten ernsthaft zu besorgen".
2. Soweit die Jugendkammer bei der Ablehnung eines Hangs darauf hinweist, daû sich der Angeklagte in einem "fremden sozialen Milieu bewegt", ist dies, unbeschadet der Frage der generellen Bedeutung dieses Umstands, hier schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil es mit den Feststellungen zur Person des Angeklagten nicht vereinbar ist.
Der Angeklagte stammt aus Ghana, wo er 1988 seine Schulausbildung mit der Berechtigung zum Universitätsstudium abschloû. Anschlieûend lebte er bis 1990 in den USA und seit 1991 - mit kürzeren Unterbrechungen - in Deutschland. Er ist seit 1993 mit einer Deutschen verheiratet und war als Montagearbeiter tätig, bis er Türsteher wurde.
Ebensowenig wird unter den gegebenen Umständen deutlich, warum der von der Jugendkammer ebenfalls genannte "ethnologische Aspekt" gegen einen Hang sprechen könnte.
3. Weiter hebt die Jugendkammer darauf ab, daû ein "früher Beginn der Delinquenz" (zu der Bedeutung dieses Gesichtspunkts vgl. Hanack in LK 11. Aufl. § 66 Rdn. 94, 101 m.w.N.) nicht festzustellen sei. Ob damit auf bisherige Vorverurteilungen oder eher auf das Lebensalter bei Beginn der kriminellen Karriere abgestellt sein soll, wird nicht deutlich. Dies kann aber schon deshalb dahinstehen, weil keiner dieser Gesichtspunkte hier zur Ablehnung eines Hangs tragfähig wäre.
Unbeschadet des Gesichtspunkts, daû sich sowohl aus § 66 Abs.2 StGB als auch aus § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB ergibt, daû ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht allein deshalb ausgeschlossen sein muû, weil der Täter über die Anlaûtaten hinaus strafrechtlich bisher nicht in Erscheinung getretenen ist (vgl auch BGH StV 2000, 257, 258), ist der Angeklagte einschlägig vorbestraft. Er wurde 1993 wegen sexueller Nötigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt, weil er ein 15 Jahre altes Mädchen, das er auf der Straûe angesprochen hatte, zunächst in sein Auto "bugsiert" und dann nach einem Lokalbesuch "an einen abgelegenen Ort verbracht und sich ihr dort gewaltsam sexuell genähert hatte".
Aus alledem ergibt sich, daû der Angeklagte zwischen 1993 und 1999 vier Sexualdelikte begangen hat, die - bei allen Unterschieden im Detail - in gleicher Weise dadurch gekennzeichnet sind, daû ein gemeinsamer Aufenthalt in einem Lokal oder einer Diskothek vorausgegangen ist. Bei der 1993 begangenen Tat war der Angeklagte 25 Jahre alt, bei der Tat im Jahre 1999 war er 31 Jahre alt. Unter diesen Umständen ist der Hinweis auf fehlende Erkenntnisse über Frühdelinquenz zur Ablehnung eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht geeignet.
4. Schlieûlich bestehen auch rechtliche Bedenken gegen die Annahme der Jugendkammer, gegen einen Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB spräche auch, daû ein "Alkoholabusus" nicht festzustellen sei. Hingen die Straftaten des Angeklagten mit einer Neigung zu übermäûigem Alkoholkonsum zusammen, wäre in erster Linie nicht Sicherungsverwahrung sondern Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zu prüfen.
5. Über die Anordnung von Sicherungsverwahrung muû nach alledem neu befunden werden. Auch bei Annahme eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB und der sonstigen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung stünde diese gemäû § 66 Abs. 2 StGB (bzw. § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB) im Ermessen des Gerichts (vgl. hierzu nur BGH NStZ 1985, 261 m.w.N.).
6. Im Einzelfall kann eine nicht rechtsfehlerfrei abgelehnte Sicherungsverwahrung dazu führen, daû zugleich der Strafausspruch zu Gunsten des Angeklagten aufzuheben ist, wenn nicht auszuschlieûen ist, daû andernfalls eine niedrigere Strafe verhängt worden wäre (BGH StV 2000, 615, 617 m.w.N.).Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Strafe und der Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung hergestellt ist (vgl. BGH Urteil vom 7. November 2000 - 1 StR 377/00; Urteil vom 4. September 2001
- 1 StR 232/01). Daû die Jugendkammer eine niedrigere Strafe verhängt hätte, wenn sie davon ausgegangen wäre, daû beim Angeklagten ein Hang zu gefährlichen Straftaten vorliegt, ist hier jedoch ausgeschlossen.
Schäfer Nack Wahl Herr RiBGH Dr. Kolz befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterschrift verhindert. Boetticher Schäfer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 488/00
vom
6. Dezember 2000
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Dezember 2000 beschlossen
:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Passau vom 17. Juli 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO mit
den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht
zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Zu Recht rügt der Angeklagte die Verletzung der §§ 247, 230 Abs. 1 StPO und macht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend. Die Revision trägt vor, im Rahmen der Vernehmung der Zeugin M. S. , während der der Angeklagte nach § 247 Satz 2 StPO von der Hauptverhandlung ausgeschlossen war, seien das Urteil und das Protokoll aus einer beigezogenen Scheidungsakte und ein Brief des Angeklagten verlesen
sowie mehrere Fotos in Augenschein genommen worden. Bis zum Ende der Beweisaufnahme seien diese Beweiserhebungen nicht in Anwesenheit des Angeklagten wiederholt worden. Dieses Verfahren beanstandet der Beschwerdeführer zu Recht. Da in der Niederschrift über die Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, wird durch sie bewiesen (§ 274 StPO), daß eine förmliche Beweisaufnahme (Verlesung von Urkunden, Einnahme eines gerichtlichen Augenscheins) stattgefunden hat. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätte keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft. Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen könnten, liegen nicht vor. Der Senat kann deshalb nicht davon ausgehen, die Urkunden und die Fotos seien im Rahmen der Vernehmung der Zeugin M. S. lediglich als Vernehmungsbehelf verwendet worden (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 6; BGH NStZ 1999, 522 f.). Eine Verlesung zum Zwecke des Urkundenbeweises und eine Augenscheinseinnahme durften aber nicht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen, denn es handelt sich dabei um wesentliche Teile der Hauptverhandlung , von denen der Angeklagte nicht nach § 247 StPO ausgeschlossen werden darf (vgl. BGHSt 21, 332 f.; BGHR StPO § 247 - Abwesenheit 4, 5, 6, 9; BGHR StPO § 338 Nr. 5 - Angeklagter 3; BGH StV 1981, 57; 1987, 475; 2000, 238; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 247 Rn. 7, 19). Zumindest hätte die Verlesung der Urkunden und die Augenscheinseinnahme in Gegenwart des Angeklagten wiederholt werden müssen. Dies ist ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht geschehen, so daß der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vorliegt.
Ein Fall, in dem es denkgesetzlich ausgeschlossen wäre, daß das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht, liegt nicht vor. Schäfer Nack Wahl Boetticher Schaal

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 492/03
vom
5. Mai 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Geiselnahme u. a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 5. Mai 2004,
an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode
als Vorsitzender,
und die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
die Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 15. Mai 2003 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen

Gründe:

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Nach den Feststellungen des Landgerichts verdächtigte der Angeklagte die Geschädigte B., sein Portemonnaie mit 1200 € Bargeld entwendet zu haben. Als die Geschädigte den Diebstahl abstritt, hielten sie der Angeklagte und zwei Mittäter über mehrere Stunden in ihrer Wohnung fest, durchsuchten die Wohnung und versuchten, sie abwechselnd durch gutes Zureden und den Einsatz körperlicher Gewalt und Drohungen dazu zu bringen, den Diebstahl einzugestehen. Die Geschädigte wurde u. a. mit den Händen und mit einem Brotmesser geschlagen, mit einem zerrissenen Kissenbezug
stranguliert, so daß sie in Luftnot geriet, und mit einem heißen Bügeleisen am Gesicht bedroht. Der Angeklagte täuschte der Geschädigten vor, er werde sie durch einen Frankfurter Freund abholen lassen, der sie auf den Strich schicken werde. Diese Rolle übernahm der Bruder des Angeklagten, der in der Wohnung erschien und die Geschädigte durch Äußerungen, man könne durch Veräußerung ihrer Organe zusätzliches Geld einnehmen, noch mehr ängstigte. Dennoch bestritt die Geschädigte weiterhin den Diebstahl. Eine zwischenzeitliche Suche nach dem Portemonnaie im Gasthaus der Eltern des Angeklagten blieb erfolglos. Die vollkommen erschöpfte und verstörte Geschädigte, die danach mit dem Angeklagten wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt war, sah zum Schluß keinen anderen Ausweg mehr, als sich mit einem Tapeziermesser die Pulsadern aufzuschneiden, woraufhin der Angeklagte einen Notarzt rief.

II.

Die Revision des Angeklagten hat fünf Verfahrensrügen erhoben (im einzelnen siehe nachstehend); mit der Sachrüge macht sie insbesondere geltend , daß die Feststellungen bezüglich der Voraussetzungen sowohl des § 46 a StGB als auch des § 239 b Abs. 2 i. V. m. § 239 a Abs. 4 StGB lückenhaft seien und daß die erkannte Strafe unvertretbar hoch sei. Die Rügen sind unzulässig oder unbegründet. 1. Die vier Angeklagten waren während der Vernehmung der Zeugin B. aus dem Sitzungssaal entfernt worden (§ 247 StPO). Während der Vernehmung am dritten Hauptverhandlungstag wurden ausweislich des Protokolls die Lichtbilder Bl. 29 bis 32 der Akte, welche den Tatort (Wohnung der Zeugin B.) zeigen, "zum Gegenstand der Verhandlung gemacht, von der Zeugin und Nebenklägerin und den Verfahrensbeteiligten eingesehen". Anschließend bekundete die Zeugin auf Fragen der Beteiligten weiter zur Sache. Die Ver-
nehmung der Zeugin wurde sodann unterbrochen und sie verließ den Sitzungssaal. Nach Fortsetzung der Hauptverhandlung mit den Angeklagten wurden sie über den wesentlichen Inhalt der Vernehmung der Zeugin und Nebenklägerin unterrichtet. Ein Verfahrensfehler (§ 247 StPO i. V. m. § 338 Nr. 5 StPO) ist entgegen der Auffassung der Revision und des Vertreters der Bundesanwaltschaft nicht nachgewiesen. Die Niederschrift über die Hauptverhandlung ist unklar. Das Wort "Augenschein" wird dort nicht verwendet. Nach dem auslegungsfähigen Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls kommt sowohl in Betracht, daß die Lichtbilder zur Veranschaulichung der Aussage der Zeugin bei der Darstellung der Örtlichkeiten und somit als Vernehmungsbehelf dienten (vgl. BGHSt 18, 51, 54), als auch, daß eine förmliche Beweisaufnahme (Einnahme eines gerichtlichen Augenscheins ) stattgefunden hat. Auch die Einbeziehung der sonstigen Umstände führt zu keinem eindeutigen Auslegungsergebnis: Der Umstand, daß die Verwendung der Lichtbilder überhaupt protokolliert worden ist, könnte zwar auf eine förmliche Beweisaufnahme hindeuten, denn die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelf im Verlauf einer Zeugenvernehmung bedarf nicht der Aufnahme in die Sitzungsniederschrift (Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 273 Rdn. 8). Entsprechende Protokollierungen erfolgen jedoch nach der Erfahrung des Senats immer wieder , so daß der Protokollierung als solcher kein Beweiswert für die eine oder andere Auslegung zukommt. Die Tatsache, daß die Lichtbilder in der Anklageschrift als Beweismittel genannt worden sind, belegt nicht, daß sie auch tatsächlich zum förmlichen Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht worden sind. Es ist nicht unüblich, daß nicht alle in der Anklageschrift aufgeführten
Beweismittel in der Hauptverhandlung verwendet werden. Aus dem Urteil ergibt sich kein Anhaltspunkt für eine Augenscheinseinnahme; dort werden die Lichtbilder nicht erwähnt. Soweit der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft den Vorgang für sich als Augenscheinseinnahme notiert hat, ist er möglicherweise einem Irrtum erlegen; hierfür könnte sprechen, daß er auch das schlichte Angebot an die Angeklagten, Einsicht in die Lichtbilder zu nehmen, als Wiederholung der Augenscheinseinnahme vermerkt hat. Dieses Angebot an die Angeklagten muß nicht deshalb erfolgt sein, weil eine förmliche Augenscheinseinnahme vorangegangen ist; möglicherweise sollte ihnen die angebotene Einsichtnahme in die Lichtbilder auch nur zum besseren Verständnis des mitgeteilten Inhalts Zeugenaussage dienen. Hierfür könnte sprechen, daß der Vorsitzende der Strafkammer diesen Vorgang nach seiner dienstlichen Erklärung nicht für protokollierungsbedürftig gehalten hat, was für einen Vernehmungsbehelf zutrifft. Im übrigen läßt auch die dienstliche Erklärung des Vorsitzenden nicht erkennen, ob in Abwesenheit der Angeklagten eine Augenscheinseinnahme stattgefunden hat. Nach alledem bleibt die Formulierung im Protokoll mehrdeutig. Eine Auslegung "in dubio pro reo" zugunsten des Angeklagten kommt nicht in Betracht. Verfahrensfehler müssen nachgewiesen sein (Kuckein in KK 5. Aufl. § 344 Rdn. 41). Das ist hier nicht der Fall. 2. Am vierten Verhandlungstag wurde die Hauptverhandlung nach einer Unterbrechung ab 14.05 Uhr ohne die Angeklagten fortgesetzt. In ihrer Abwesenheit wurde auf den am ersten Hauptverhandlungstag gefaßten und ihnen bekannt gegebenen Beschluß über ihre Entfernung aus dem Sitzungszimmer für die Dauer der Vernehmung der Zeugin B. Bezug genommen und die Vernehmung der Zeugin fortgesetzt. Dieses Vorgehen läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Der Entfernungsbeschluß galt für alle Abschnitte der Vernehmung dieser Zeugin.
3. Am vierten Hauptverhandlungstag hat der Verteidiger des Angeklagten mit der Zeugin B. die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs in Abwesenheit des Angeklagten erörtert. Dieser Vorgang war hier Teil der Vernehmung der Zeugin und von dem am ersten Hauptverhandlungstag gefaßten Beschluß gedeckt. 4. Die Rüge der fehlerhaften Ablehnung des am vierten Hauptverhandlungstag gestellten Beweisantrags auf Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens ist unzulässig, weil die Revision zwar den Inhalt dieses Beweisantrags mitteilt, nicht aber den Inhalt des darin in Bezug genommenen Beweisantrags betreffend die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Aussagetüchtigkeit der Zeugin. 5. Die Begründung, mit der die Strafkammer den Beweisantrag vom fünften Hauptverhandlungstag auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens über die Zeugin B. abgelehnt hat, hält der rechtlichen Nachprüfung stand. Die Strafkammer hat durch die Zuziehung des Sachverständigen Prof. Dr. G. die Beweisaufnahme auch auf die Frage des Einflusses einer posttraumatischen Belastungsstörung auf die Aussagetüchtigkeit und die Erinnerungsfähigkeit der Zeugin B. erstreckt. Durch die Anhörung des Sachverständigen hat sie sich entsprechende eigene Sachkunde verschafft, so daß sie mit dieser Begründung entsprechende Beweisanträge ablehnen konnte. 6. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Auf den unklaren Feststellungen, ob die Voraussetzungen des § 46 a StGB vorliegen, beruht das Urteil nicht. Falls die Voraussetzungen des § 46 a
StGB vorliegen, ist dieser vertypte Milderungsgrund dadurch verbraucht, daß die Strafkammer das Bemühen des Angeklagten um den Täter-Opfer-Ausgleich ebenso wie den Umstand, daß er die Tat abbrach, als die Zeugin einen Selbstmordversuch unternahm, bei der Bejahung eines minder schweren Falls der Geiselnahme berücksichtigt hat. Eine weitere Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB kommt dann nach § 50 StGB nicht in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 46 a StGB hingegen nicht vor, scheidet auch eine Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB aus. Die von der Strafkammer gegen den Angeklagten verhängte Strafe liegt innerhalb des dem Tatrichter bei der Strafzumessung eingeräumten Ermessens , ihre Höhe ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Bode Otten Rothfuß Fischer Roggenbuck

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Die vernommenen Zeugen und Sachverständigen dürfen sich nur mit Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Gerichtsstelle entfernen. Die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte sind vorher zu hören.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 379/13
vom
19. November 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 19. November 2013 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 15. März 2013 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt wurde. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die weiteren Beanstandungen nicht ankommt.

I.

2
Der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 230 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:
3
Der Angeklagte wurde in der Hauptverhandlung während der Vernehmung der Zeugin H. von der Anwesenheit ausgeschlossen. Im Rahmen der Vernehmung der Zeugin wurde dieser eine Luftbildaufnahme von "Google Earth" vorgelegt, die den T. -Platz in K. zeigte, auf dem sich die Tat ereignet hatte. Die Aufnahme wurde mit der Zeugin erörtert, wobei sie Standorte von Personen und Fahrzeugen auf dem Bild markierte und kennzeichnete. "Sodann wurde die Skizze von allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und Erklärungen seitens des Vorsitzenden abgegeben" (Protokoll der Hauptverhandlung vom 6. Dezember 2012). Nach Abschluss der Zeugenvernehmung wurde der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal geführt. Der Augenscheinsbeweis wurde in seiner Anwesenheit nicht wiederholt.

II.

4
Die Revision des Angeklagten rügt bei dieser Sachlage zu Recht, dass ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit stattgefunden hat, so dass sein Anwesenheitsrecht verletzt wurde (§ 230 Abs. 1, § 247 Satz 2, § 338 Nr. 5 StPO). Der Verfahrensfehler wurde auch während der weiteren Hauptverhandlung nicht geheilt, was zur Aufhebung des Urteils zwingt.
5
Aus dem Protokollvermerk ergibt sich, dass es sich bei der Betrachtung des Luftbilds um ein Beweiserhebung durch "Augenschein" und nicht lediglich um einen Vernehmungsbehelf bei der Befragung der Zeugin gehandelt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 1 StR 264/10, NStZ 2011, 51). Gegenstand der Beweisaufnahme war nicht etwa nur die Erläuterung einer Skizze, welche die Zeugin zur Illustration ihrer Angaben während der Vernehmung angefertigt hat (vgl. BGH, Urteil vom 4. Mai 2004 - 1 StR 391/03, NStZ-RR 2005, 260 f.). Vielmehr wurde eine außerhalb der Hauptverhandlung angefertigte und ausgedruckte Luftbildaufnahme in der Hauptverhandlung betrachtet und erörtert , was bereits für sich genommen - unabhängig von der Bewertung der Einzeichnungen durch die Zeugin - einen Fall des Augenscheinsbeweises darstellt.
Die Ausschließung des Angeklagten von der Anwesenheit in der Hauptverhandlung rechtfertigte aber nur die Verhandlung in seiner Abwesenheit während der Zeugenvernehmung, nicht bei der Erhebung von Sachbeweisen (vgl. Senat, Urteil vom 7. April 2004 - 2 StR 436/03, StV 2005, 6 f.).
6
Der Augenscheinsbeweis war auch ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung , da die Luftbildaufnahme den Tatort betraf. Sie gab den Richtern und Verfahrensbeteiligten einen Eindruck von dessen Gestaltung zur Tatzeit und den dort herrschenden räumlichen Verhältnissen.
7
Gemäß § 338 Nr. 5 StPO ist davon auszugehen, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (vgl. Senat, Beschluss vom 8. August 2007 - 2 StR 224/07, NStZ 2007, 717, 718), auch wenn die Urteilsgründe auf diesen Augenschein nicht ausdrücklich Bezug nehmen und die Aussage der Zeugin H. im Rahmen der Beweiswürdigung im Hinblick auf den Tatvorwurf als nicht aussagekräftig bezeichnet wurde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der visuell durch eine Luftbildaufnahme vom Tatort vermittelte Eindruck für die Entscheidungsfindung unausgesprochen von Bedeutung war. Appl Krehl Eschelbach Ott Zeng

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung
gemäß § 247 StPO in andauernder Abwesenheit
des Angeklagten eine förmliche Augenscheinseinnahme,
so ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht
erfüllt, wenn dem Angeklagten das in seiner Abwesenheit in
Augenschein genommene Objekt bei seiner Unterrichtung
nach § 247 Satz 4 StPO gezeigt wird (im Anschluss an BGHR
StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1 unter Aufgabe entgegenstehender
Senatsrechtsprechung, BGHR StPO § 247 Abwesenheit
5).
BGH, Urteil vom 11. November 2009 – 5 StR 530/08
LG Berlin –

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 11. November 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. November
2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König
alsbeisitzendeRichter,
Bundesanwalt
alsVertreterderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin Z.
alsVerteidigerin,
Rechtsanwältin P.
alsVertreterinderNebenklägerin,
Justizangestellte
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. März 2008 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Tateinheit mit Zuhälterei, wegen Betruges in 13 Fällen, versuchten Betruges in fünf Fällen und Anstiftung zum Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten in zwei Fällen unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
2
1. Jenseits der auf Verletzung des § 247 StPO gestützten Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere steht die Wertung des Landgerichts zur Bedeutungslosigkeit des auf Zeugenvernehmung mehrerer Prostituierter gerichteten Beweisbegehrens des Angeklagten nicht in unauflösbarem Widerspruch zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin und der Zeugin D. . Sachlichrechtlich ist die Beweiswürdigung des Land- gerichts nicht zu beanstanden. Durchgreifende Rechtsfehler zur Frage der Schäden aus den vom Angeklagten eingeräumten Vermögensdelikten sind nicht ersichtlich.
3
2. Auch die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO ist unbegründet.
4
a) Insoweit beanstandet die Revision die Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme. Die Nebenklägerin ist gemäß § 247 Satz 1 und 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten zeugenschaftlich vernommen worden. Dabei ist ihr Kalender in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten in Augenschein genommen worden. Während der Unterrichtung des Angeklagten von dem wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 4 StPO ist der Kalender auf Anordnung der Strafkammervorsitzenden „von dem Angeklagten in Augenschein genommen“ worden.
5
b) Die Rüge ist – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts in seinem Beschlussverwerfungsantrag – zulässig. Das Augenscheinsobjekt ist durch die Wiedergabe der anschaulichen und konkret für die Beweisführung maßgeblichen Teile des Kalenders im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hinreichend deutlich bezeichnet worden. Die Statthaftigkeit von Rügen der hier vorliegenden Art hängt nicht davon ab, dass der Verteidiger die Anordnung der Augenscheinseinnahme in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten durch den Strafkammervorsitzenden gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat; daher brauchte hierzu auch nicht gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgetragen zu werden.
6
c) Trotz von der Nebenklägerin in dem Kalender während der Vernehmung vorgenommener Markierungen vermag der Senat die ausdrücklich protokollierte Augenscheinseinnahme, mit welcher die Art von Eintragungen und das Vorhandensein unterschiedlicher Schriftbilder in dem Kalender veranschaulicht werden sollten, nicht als bloßen Vernehmungsbehelf zu verste- hen, so dass die Rüge nicht etwa schon deshalb (offensichtlich) unbegründet ist.
7
3. Der Senat möchte zwar dem Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO bei entsprechenden Rügen nach § 338 Nr. 5 StPO in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung (BGHSt 26, 218; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352) den Inhalt geben, den er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO hat, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser gemäß §§ 171a bis 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist. Dort wird „die Vernehmung“ im Sinne des entsprechenden Verfahrensabschnitts verstanden ; hierzu rechnen alle Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663, insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761, insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2004 – 4 StR 254/04).
8
Hier hing die erfolgte Augenscheinseinnahme mit der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin, die sich zu ihrem Kalender geäußert und ihn erläutert hat, sachlich (sogar besonders) eng zusammen; das Landgericht hat in seiner Gestaltung eine Bestätigung ihrer Aussage gefunden (UA S. 6/7, 15, 19; ausweislich des Protokolls hat eine förmliche Augenscheinseinnahme betreffend den Kalender vor Vernehmung der Nebenklägerin – was der Rüge den Boden entzogen hätte –, anders als auf UA S. 19 notiert, nicht stattgefunden ). Diesen Kalender während der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin unter fortdauerndem Ausschluss der von der Vernehmung ausgeschlossenen Öffentlichkeit in Augenschein zu nehmen, wäre nach der zitierten Rechtsprechung unbedenklich gewesen (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein

1).


9
An einer identischen Auslegung, wonach § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO die Augenscheinseinnahme auch in Abwesenheit des während der Vernehmung der Zeugin entfernten Angeklagten gestattete, ist der Senat wegen nach wie vor entgegenstehender Rechtsprechung (vgl. dazu, jeweils m.N., Diemer in KK 6. Aufl. § 247 Rdn. 6 und 8 sowie Kuckein, ebenda § 338 Rdn. 77) gehindert. Auf entsprechende Anfrage bei den anderen Strafsenaten (Senatsbeschluss in dieser Sache vom 10. März 2009, StV 2009, 226 m. Anm. Schlothauer; vgl. ferner den Anfragebeschluss des Senats in einer Parallelsache vom selben Tage – 5 StR 460/08, StV 2009, 342 m. Anm. Eisenberg ; hierzu nunmehr – betreffend die Vereinbarkeit fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen mit § 247 StPO – Vorlagebeschluss des Senats vom heutigen Tage) hat lediglich der 1. Strafsenat seine entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.
10
4. Die Rüge greift indes aus anderen Gründen nicht durch, so dass eine Divergenzvorlage an den Großen Senat für Strafsachen hier nicht veranlasst ist. Unterstellt man nämlich auf der Grundlage der verbindlichen Rechtsprechung den Verfahrensverstoß, so ist dieser jedenfalls wirksam geheilt worden.
11
a) Auch die den Senat bindende Rechtsprechung, die eine Erhebung des Sachbeweises während der Zeugenvernehmung in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten von § 247 StPO grundsätzlich nicht als gedeckt ansieht , verneint einen durchgreifenden Verstoß für den Fall nachträglicher Heilung (vgl. BGHSt 37, 48, 49). Diese liegt in einer Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung nunmehr in Anwesenheit des Angeklagten.
12
Hierfür reicht die Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO aus. Alle weiterhin anwesenden notwendigen Verfahrensbeteiligten hatten dabei selbstverständlich die Möglichkeit, das Augenscheinsobjekt ihrerseits nochmals zu besichtigen. Das genügt für die eine Heilung bewirkende wiederholte Augenscheinseinnahme. Beim Augenschein in der Hauptverhandlung ist ein zusätzlicher „Kommunikationsakt“ unter den Verfahrensbeteiligten mit ausdrücklicher Erörterung zur Erheblichkeit einzelner Beobachtungen grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 86 Rdn. 17; a.A. Schlothauer StV 2009, 228, 229 m.w.N.). Bei einem überschaubaren schlichten Erscheinungsbild des Augenscheinsobjekts kann selbst für den Fall sukzessiver Augenscheinseinnahme nichts Weitergehendes gelten. Ein Ausnahmefall mag gegeben sein, wenn das Gericht einem eher unauffälligen Detail des Augenscheinsobjekts entscheidende Bedeutung zumisst, ohne die Prozessbeteiligten hierüber deutlich zu informieren, so dass die Gefahr einer Überraschungsentscheidung bestünde. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Im Übrigen liegt, namentlich angesichts der Abhandlung der Reaktion des Angeklagten auf die Augenscheinseinnahme im Urteil (UA S. 19), sogar auf der Hand, dass die Strafkammervorsitzende auf von der Nebenklägerin erläuterte, teils gar markierte Kalendereintragungen im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO in Gegenwart der übrigen Verfahrensbeteiligten – entsprechend der Erörterung bei der Augenscheinseinnahme im Rahmen der Zeugenvernehmung – besonders hingewiesen hat; weitergehender Protokollierung hätte dieser Vorgang nicht bedurft (vgl. Alsberg /Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl. S. 240). Die Verteidigung hat in diesem Zusammenhang auch nicht etwa eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten geltend gemacht und auch mit der Revision zu einer etwa unterschiedlichen Kommunikation bei der Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des Angeklagten und bei der Besichtigung im Rahmen seiner Unterrichtung nichts vorgetragen.
13
b) Der 2. Strafsenat hat bereits bei identischer Fallgestaltung eine wirksame Heilung des angenommenen Verstoßes bejaht (BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1; ähnlich bereits in StV 1983, 3; entsprechend der Antwortbeschluss vom 17. Juni 2009 – 2 ARs 138/09). Der erkennende 5. Straf- senat hat seine einer Heilung – mangels nochmaliger förmlicher Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch sämtliche Prozessbeteiligte gemeinsam – entgegenstehende Rechtsprechung (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 5; BGH StV 1981, 57; 1986, 418; vgl. auch Beschluss vom 26. Februar 1985 – 5 StR 108/85), auf die sich die Revision beruft, bereits im Anfragebeschluss aufgegeben. Auch nach Überprüfung der Ergebnisse des Anfrageverfahrens , in dem die übrigen Strafsenate bestätigt haben, bislang nicht entsprechend entschieden zu haben, hält der Senat an dieser Auffassung fest. Sie ist auch vom 1. und vom 4. Strafsenat ausdrücklich gebilligt worden (vgl. die Antwortbeschlüsse vom 22. April 2009 – 1 ARs 6/09 – und vom 25. August 2009 – 4 ARs 7/09).
14
c) Soweit der 3. Strafsenat (Antwortbeschluss vom 7. Juli 2009 – 3 ARs 7/09) zu einer abweichenden Auffassung neigt und die Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen wegen grundsätzlicher Bedeutung anregt, folgt der erkennende Senat dem nicht. Er sieht bei Annahme einer Heilung in Form des hier in Frage stehenden Vorgehens keine Anhaltspunkte für ernstliche rechtsstaatliche Defizite. Die Gefahr, dass die insgesamt schwer überschaubare Rechtsprechung zu § 247 StPO noch komplizierter würde, könnte der Senat allein in der Fortführung seiner bisherigen überformalen Rechtsprechung erblicken. Ob in sonstigen Fällen weitergehender Beweiserhebung während einer gemäß § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten erfolgten Vernehmung eine Heilung anders als durch vollständige Wiederholung erfolgen könnte, etwa gar in einer Art Selbstleseverfahren beim Urkundenbeweis , wird gegebenenfalls zu entscheiden sein.
15
5. Abschließend bemerkt der Senat zu den für eine Vorlage an den Großen Senat ins Feld geführten Argumenten des 3. Strafsenats: Dessen Vorschlag, eine einheitliche Rechtsprechung zu den absoluten Revisionsgründen aus § 338 Nr. 5 und 6 StPO durch Aufgabe der „Zusammenhangformel“ bei § 338 Nr. 6 StPO zu finden, folgt der 5. Strafsenat nicht. Dem ste- hen gegenüber der Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes vorrangige Belange einer stringenten Gestaltung der Hauptverhandlung entgegen.
16
6. Trotz der beträchtlichen durch das Anfrageverfahren verursachten Verzögerung der Revisionsentscheidung (vgl. Rieß in NStZ-Sonderheft für Miebach 2009, S. 30, 32 f.) besteht kein Anlass für eine irgendwie geartete Kompensation in der Rechtsfolge. Das Verfahren nach § 132 GVG vermag als rechtsstaatliche Ausgestaltung des gerade auch dem Schutz des Beschwerdeführers dienenden Rechtsmittelrechts grundsätzlich keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu begründen (vgl. BVerfGE 122, 248,

280).


Basdorf Brause Schaal Schneider König

Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 488/00
vom
6. Dezember 2000
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Dezember 2000 beschlossen
:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Passau vom 17. Juli 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO mit
den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht
zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Zu Recht rügt der Angeklagte die Verletzung der §§ 247, 230 Abs. 1 StPO und macht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend. Die Revision trägt vor, im Rahmen der Vernehmung der Zeugin M. S. , während der der Angeklagte nach § 247 Satz 2 StPO von der Hauptverhandlung ausgeschlossen war, seien das Urteil und das Protokoll aus einer beigezogenen Scheidungsakte und ein Brief des Angeklagten verlesen
sowie mehrere Fotos in Augenschein genommen worden. Bis zum Ende der Beweisaufnahme seien diese Beweiserhebungen nicht in Anwesenheit des Angeklagten wiederholt worden. Dieses Verfahren beanstandet der Beschwerdeführer zu Recht. Da in der Niederschrift über die Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, wird durch sie bewiesen (§ 274 StPO), daß eine förmliche Beweisaufnahme (Verlesung von Urkunden, Einnahme eines gerichtlichen Augenscheins) stattgefunden hat. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätte keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft. Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen könnten, liegen nicht vor. Der Senat kann deshalb nicht davon ausgehen, die Urkunden und die Fotos seien im Rahmen der Vernehmung der Zeugin M. S. lediglich als Vernehmungsbehelf verwendet worden (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 6; BGH NStZ 1999, 522 f.). Eine Verlesung zum Zwecke des Urkundenbeweises und eine Augenscheinseinnahme durften aber nicht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen, denn es handelt sich dabei um wesentliche Teile der Hauptverhandlung , von denen der Angeklagte nicht nach § 247 StPO ausgeschlossen werden darf (vgl. BGHSt 21, 332 f.; BGHR StPO § 247 - Abwesenheit 4, 5, 6, 9; BGHR StPO § 338 Nr. 5 - Angeklagter 3; BGH StV 1981, 57; 1987, 475; 2000, 238; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 247 Rn. 7, 19). Zumindest hätte die Verlesung der Urkunden und die Augenscheinseinnahme in Gegenwart des Angeklagten wiederholt werden müssen. Dies ist ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht geschehen, so daß der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vorliegt.
Ein Fall, in dem es denkgesetzlich ausgeschlossen wäre, daß das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht, liegt nicht vor. Schäfer Nack Wahl Boetticher Schaal

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 528/00
vom
30. Januar 2001
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwaltes, zu Ziffer 2. auf dessen Antrag, am
30. Januar 2001 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 5. Mai 2000 im Strafausspruch hinsichtlich der Einzelstrafe von zwölf Jahren wegen versuchten Mordes mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:



Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes in zwei Fällen und wegen versuchten Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Beschlußformel ersichtlichen Erfolg.
Mit Recht beanstandet die Revision, daß die Hauptverhandlung unter Verstoß gegen § 230 Abs. 1, § 247 Satz 1 StPO zeitweise in Abwesenheit des Angeklagten stattgefunden hat (§ 338 Nr. 5 StPO). Dies ergibt sich aus folgendem :
Das Landgericht hatte den Angeklagten während der Vernehmung seiner Schwester, der Zeugin K. , gemäß § 247 Satz 1 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernt. In Abwesenheit des Angeklagten wurde jedoch nicht nur seine Schwester vernommen, sondern während deren Aussage auch ein Brief der Zeugin an das Tatopfer A. in Augenschein genommen. Durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung wird bewiesen (§ 274 StPO), daß es sich dabei um eine förmliche Beweisaufnahme in Form der Einnahme eines richterlichen Augenscheins handelte, denn der Brief wurde laut Protokoll "mit den Beteiligten und der Zeugin K. in Augenschein genommen und erörtert". Da Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen könnten, nicht ersichtlich sind, kann der Senat nicht davon ausgehen, der Brief sei der Zeugin K. im Rahmen der Vernehmung lediglich als Vernehmungsbehelf vorgehalten worden (vgl. BGH NStZ 1999, 522, 523).
Die Inaugenscheinnahme des Briefes in Abwesenheit des Angeklagten war durch den Beschluß nach § 247 StPO nicht gedeckt. Da sie auch nicht später in Anwesenheit des Angeklagten wiederholt wurde, liegt damit der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vor. Der Senat muß sich daher nicht mit der weiteren Rüge der Revision befassen, dieser Revisionsgrund sei auch deswegen gegeben, weil der Angeklagte während der Verhandlung über die Entlassung der Zeugin noch nicht wieder im Sitzungszimmer anwesend war.
Der dargestellte Verfahrensverstoß führt hier indessen nur zur Aufhebung der gegen den Angeklagten wegen versuchten Mordes verhängten Einzelstrafe von zwölf Jahren. Auch wenn ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 StPO gegeben ist, gefährdet dies den Bestand des angefochtenen Urteils nicht, soweit ein Einfluß des Verfahrensfehlers auf das Urteil zum Nachteil des Beschwerdeführers denkgesetzlich ausgeschlossen ist (BGH NJW 1977, 443; BGHR StPO § 338 Beruhen 1). Dies ist hier hinsichtlich des Schuldspruchs, der beiden lebenslangen Einzelfreiheitsstrafen wegen vollendeten Mordes und der lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe der Fall. Die Inaugenscheinnahme des Briefes diente allein der Aufklärung eines möglichen Tatmotivs des Angeklagten. Dieses war aber ausschließlich für die Strafzumessung wegen des versuchten Mordes von Bedeutung (vgl. BGH NStZ 1983, 375 m.w.Nachw.). Denn das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten wegen zweifachen vollendeten und eines versuchten Mordes rechtsfehlerfrei auf das Mordmerkmal der Heimtücke gestützt, für welches das Tatmotiv des Angeklagten ohne Belang war. Da für die vollendeten Morde die absolute Strafandrohung des § 211 Abs. 1 StGB gilt, konnte sich das Tatmotiv auch nicht auf die Zumessung der wegen der beiden vollendeten Delikte festzusetzenden Einzelstrafen auswirken. Ebenso bleibt die als Gesamtstrafe verhängte lebenslange Freiheitsstrafe von dem Rechtsfehler denknotwendig unberührt, da sie schon wegen der beiden lebenslangen Einzelfreiheitsstrafen zu verhängen war (§ 54 Abs. 1 Satz 1 StGB). Dagegen ist nicht ausschließbar (allein fehlendes Beruhen im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO genügt wegen der Vermutung des § 338 StPO nicht), daß es sich bei der Festsetzung der wegen versuchten Mordes zu verhängenden zeitigen Einzelfreiheitsstrafe zu Gunsten des Angeklagten ausgewirkt hätte , wenn durch eine verfahrensfehlerfreie Beweisaufnahme möglicherweise die Beziehung zwischen dem Tatopfer A. und der Schwester des Ange-
klagten als Tatmotiv positiv festgestellt worden wäre. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer hat daher ausschließlich die wegen versuchten Mordes zu verhängende und in die lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe einzubeziehende Einzelstrafe neu zuzumessen.
Im übrigen hat die Überprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwaltes genannten Gründen keinen weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, der zu einer weitergehenden Aufhebung des Urteils führt (§ 349 Abs. 2 StPO). Insbesondere könnte die vom Angeklagten erhobene Rüge, das Landgericht habe sich im Zusammenhang mit der Vernehmung der Zeugin K. s eine Überzeugung nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet und damit gegen § 261 StPO verstoßen, aus den dargelegten Gründen ebenfalls nur zur Aufhebung der Einzelstrafe wegen versuchten Mordes führen, da das Urteil nur insoweit auf dem Verfahrensverstoß beruhen kann (§ 337 Abs. 1 StPO).
Kutzer Miebach Winkler von Lienen Becker
5 StR 437/01

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 5. Februar 2002
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Februar 2002

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 6. Februar 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher und mit fünffacher vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt; es hat ferner die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das Urteil hat aufgrund einer vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge keinen Bestand.
1. Die Revision beanstandet mit Recht, daß in Abwesenheit des Angeklagten , dessen Entfernung aus dem Sitzungssaal während der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 1 StPO angeordnet worden war, ein Schreiben eines die Nebenklägerin behandelnden Psychologen an einen den Angeklagten zivilrechtlich beratenden Rechtsanwalt verlesen worden ist. Anhaltspunkte, daß die protokollierte Verlesung zu einem anderen Zweck als dem des Urkundenbeweises erfolgt wäre, liegen nicht vor. Ungeachtet eines Sachzusammenhanges zwischen dem Gegenstand dieses Urkundenbeweises und der Zeugenvernehmung, von welcher der Angeklagte verfahrensfehlerfrei ausgeschlossen war, deckte dessen Entfernung von der Vernehmung nach § 247 StPO nicht seine Abwesenheit während der Erhebung des Urkundenbeweises. Da die Verlesung nicht in Gegenwart des Angeklagten wiederholt worden ist, liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vor, der die umfassende Aufhebung des angefochtenen Urteils nach sich zieht (BGHSt 21, 332; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 6 und 9; BGH NStZ 1997, 402; st. Rspr.).
2. Nach den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung müûte der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO in gleicher Weise durchgreifen wegen der wiederholten förmlichen Beweiserhebungen durch Einnahme von Augenschein in verschiedene mit der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin zusammenhängende schriftliche Unterlagen während durch § 247 StPO nicht gerechtfertigter Abwesenheit des Angeklagten (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 4 und 5). Auch dieser Augenschein ist nicht in Gegenwart des Angeklagten wiederholt worden. Gleiches gilt für die in seiner Abwesenheit erfolgte Verlesung des Protokolls einer polizeilichen Zeugenvernehmung der Nebenklägerin, die nach ausdrücklichem Gerichtsbeschluû der Erhebung des förmlichen Urkundenbeweises gemäû § 253 StPO diente (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450).
Zumal angesichts der Vielzahl der einschlägigen Verfahrensverstöûe sieht der Senat keinen Anlaû, im vorliegenden Fall eine Änderung der Rechtsprechung mit dem Ziel zu erwägen, den Umfang der Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO den Grundsätzen anzupassen, die von der Rechtsprechung für den Ausschluû der Öffentlichkeit gemäû § 171b oder § 172 GVG während einer Vernehmung, also für einen Teil der Hauptverhandlung , anerkannt sind; hier findet der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO keine Anwendung, wenn eine auch gesonderte förmliche Beweiserhebung im Zusammenhang mit der Vernehmung stand, von welcher die Öffentlichkeit ausgeschlossen war (vgl. BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1; Kleinknecht/Meyer-Goûner, StPO 45. Aufl. § 172 GVG Rdn. 17 und § 171b GVG Rdn. 12 m.w.N.; vgl. zu Überlegungen der Übertragbarkeit dieser Grundsätze auf § 247 StPO: Basdorf in Festschrift für Hannskarl Salger , 1995, S. 203, 206 f., 212 f.). Zwar erschiene die “Zusammenhangformel” gerade bei der Verfahrensweise nach § 253 StPO sachgerecht, bei der eine Verlesung in Anwesenheit des von der Protokollverlesung unmittelbar betroffenen Zeugen und damit in Abwesenheit des Angeklagten, mit dem er nach § 247 StPO nicht konfrontiert werden soll, besonders nahe liegt. Eine Anfrage nach § 132 Abs. 3 GVG kommt indes hier nicht in Betracht. Es fehlt nämlich mindestens teilweise an Belegen für eine vollständige Information des Angeklagten, die nach einer gesonderten Beweiserhebung in seiner Abwesenheit in ähnlicher, jedenfalls inhaltlich gleichwertiger Weise wie eine formgerechte Heilung nach bisheriger Rechtsprechung zu verlangen wäre.
3. Erhebliche Bedenken bestehen im übrigen auch an der gerügten Abwesenheit des Angeklagten während einer vom Verteidiger vorgetragenen Beanstandung der Sachleitung des Vorsitzenden im Rahmen der Befragung der Nebenklägerin durch den Verteidiger. Zwar mag insoweit eine bloûe organisatorische Gestaltung der Abwesenheitsvernehmung zu erwägen sein, während der ein fortdauernder Ausschluû des Angeklagten im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO noch unschädlich sein könnte (vgl. nur BGHR StPO § 247 Abwesenheit 11 und 13). Das eigene Verhalten des Gerichts, das für die Verhandlung über die Beanstandung die für die Dauer der Vernehmung ausgeschlossene Öffentlichkeit wieder zugelassen hat, spricht indes gegen eine solche Betrachtungsweise.
4. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift letztlich zutreffend darauf verwiesen, daû die genannten förmlichen Beweiserhebungen , die in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt sind, sachlich überflüssig gewesen sein dürften. Der damit erstrebte Beweisertrag war nämlich ersicht- lich überwiegend allein durch Vorhalte an die Nebenklägerin zu erreichen, die als Teil ihrer Vernehmung während der Entfernung des Angeklagten hätten erfolgen dürfen, im übrigen jedenfalls im Rahmen von Zeugenvernehmungen der Urheber oder Empfänger verlesener oder in Augenschein genommener Urkunden bzw. der Vernehmungsperson bei dem verlesenen Protokoll. Erfolgte indes eine naheliegend zwar entbehrliche, tatsächlich aber konkret zur Aufklärung des Verfahrensgegenstandes genutzte Beweiserhebung , so kommt einer der ganz seltenen Ausnahmefälle nicht in Betracht, in dem der absolute Revisionsgrund trotz förmlicher Erfüllung der Voraussetzungen daran scheitert, daû ein Beruhen des Urteils darauf – hier auf der verfahrenswidrigen Abwesenheit des Angeklagten während jener Beweiserhebung – denkgesetzlich auszuschlieûen ist.
Da die Heilung einer verfahrenswidrig in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten förmlichen Beweiserhebung regelmäûig allein durch deren Wiederholung möglich ist, nicht indes durch andersartige Beweiserhebungen zum selben Thema, nämlich etwa einen späteren dem Urkunden- oder Augenscheinbeweis inhaltlich entsprechenden Vorhalt im Rahmen der Vernehmung eines anderen Zeugen, muûte der Revisionsführer zu einer solchen Möglichkeit auch nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nichts vortragen.
5. Vorsorglich weist der Senat noch auf folgendes hin: Eine Protokollierung, die über § 273 Abs. 1 StPO hinausgehend zwar kein Inhaltsprotokoll ergibt, indes – gleichermaûen überflüssig – Hinweise auf Vernehmungsbehelfe, insbesondere erfolgte Vorhalte aufnimmt, ist nicht nur nutzlos, kann vielmehr den Bestand eines Urteils sogar gefährden (vgl. BGH NStZ 1999, 522, 523 m.w.N.).
Zutreffend hat das Landgericht den Vorrang einer Verfahrensweise nach § 247 StPO vor einer solchen nach § 247a StPO beurteilt (BGHR StPO § 247a Audiovisuelle Vernehmung 3; BGH StV 2002, 10, 11). Dies sollte den neuen Tatrichter, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung die gleiche Problematik stellt, indes zusätzlich veranlassen zu erwägen, zur effektiven Information des aus dem Sitzungssaal entfernten Angeklagten eine Videosimultanübertragung der gemäû § 247 StPO in seiner Abwesenheit durchgeführten Zeugenvernehmung zu ermöglichen (vgl. BGH StV 2002, 10, 11; van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264). Eine solche Verfahrensweise würde gegebenenfalls die Unterrichtungspflicht nach § 247 Satz 4 StPO erheblich reduzieren.
Harms Basdorf Gerhardt Brause Schaal

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 264/10
vom
5. Oktober 2010
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 5. Oktober 2010 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 3. Dezember 2009 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 20 Fällen, davon in 13 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, in fünf Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
2
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge, mit der die Einvernahme eines Augenscheins in Abwesenheit des Angeklagten beanstandet wird (§ 338 Nr. 5 StPO), Erfolg.
3
1. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
4
Das Landgericht hat am ersten und am fünften Hauptverhandlungstag die Geschädigte, die 1992 geborene Zeugin R. (Stieftochter des Angeklagten), vernommen und jeweils für die Dauer der Vernehmung die Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 StPO angeordnet. Gelegentlich der Vernehmung der Geschädigten am fünften Hauptverhandlungstag hat die Verteidigung eine Fotografie vorgelegt, welche die Gegebenheiten einer von der Geschädigten in ihrer Vernehmung genannten Örtlichkeit zeigt. Das Protokoll verhält sich dazu wie folgt:
5
„Der Verteidiger des Angeklagten übergab ein Lichtbild über die Örtlichkeiten des Badezimmers. Das Lichtbild wurde von der Kammer, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Sachverständigen, dem Verteidiger und der Zeugin in Augenschein genommen. Die Zeugin äußert sich hierzu.“
6
Nachdem der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal gerufen wurde, wurde er vom Vorsitzenden über den Inhalt der Aussage der Zeugin R. informiert , auch zu deren Angaben zum vorgenannten Lichtbild. Eine (nochmalige ) förmliche Augenscheinnahme fand nicht statt.
7
2. Dieser Verfahrensgang begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. Die hier durchgeführte Augenscheinsnahme (a) ist vom restriktiv auszulegenden Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO nicht umfasst (b), so dass entgegen § 230 Abs. 1 StPO ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt wurde. Der daraus resultierende Verfahrensverstoß wurde hier auch nicht geheilt (c).
8
a) Das Lichtbild wurde förmlich in Augenschein genommen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das gegenständliche Lichtbild lediglich - was als Teil der Vernehmung zulässig gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2002 - 1 StR 234/02) - als Vernehmungsbehelf herangezogen wurde. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätten keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2000 - 1 StR 488/00, NStZ 2001, 262). Hier wird durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung jedoch bewiesen (§ 274 StPO), dass eine förmliche Beweisaufnahme stattgefunden hat. Umstände, die die Beweiskraft des Protokolls in Zweifel ziehen könnten, liegen nicht vor. Zwar ist der Inhalt eines Hauptverhandlungsprotokolls insoweit auslegungsfähig (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2004 - 2 StR 492/03, NStZ-RR 2004, 237). Die hier gewählte Formulierung enthält (anders als in dem der Entscheidung vom 4. Mai 2004 - 1 StR 391/03 - zugrunde liegenden Fall) indes keine Unklarheiten und lässt Zweifel daran nicht aufkommen, dass ein förmlicher Augenschein durchgeführt wurde. Außerdem wird die Durchführung einer förmlichen Beweisaufnahme durch die dienstliche Stellungnahme des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft bestätigt („Lichtbild wurde … in Augenschein genommen“) und auch in den vom Senat eingeholten ergänzenden Stellungnahmen der Berufsrichter nicht in Abrede gestellt („der Zeugin dieses Foto vorgehalten bzw. mit ihr in Augenschein genommen“).
9
b) Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 Satz 1 und 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Dieser Begriff ist im Regelungszusammenhang der §§ 247 und 248 StPO aufgrund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung , die als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, restriktiv auszulegen (BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 21. April 2010 - GSSt 1/09, Rn. 14 mwN, wistra 2010, 352 = NJW 2010, 2450).
Die Erhebung eines Sachbeweises kann demnach, auch wenn er eng mit der Vernehmung verbunden ist, nicht als Teil der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO angesehen werden, sondern ist ein Vorgang mit einer selbstständigen verfahrensrechtlichen Bedeutung. Die Augenscheinsnahme in Abwesenheit des Angeklagten war daher vom Beschluss über seine Ausschließung nicht gedeckt. Somit fand ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten statt, dessen Anwesenheit das Gesetz vorschreibt (§§ 230, 247 StPO). Dies begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.
10
c) Der Verfahrensfehler wurde nicht geheilt. Dies hätte nur durch eine - hier nicht erfolgte - Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erfolgen können. Zwar muss die förmliche Augenscheinseinnahme nicht dergestalt wiederholt werden, dass das Gericht und die Verfahrensbeteiligten das Augenscheinsobjekt nochmals besichtigen. Vielmehr hätte die Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO ausgereicht, wenn die weiterhin anwesenden Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einer neuerlichen Augenscheinsnahme hatten (BGH, Urteil vom 11. November 2009 - 5 StR 530/08 mwN, NStZ 2010, 162). Indes lässt sich aus dem zu dieser wesentlichen Förmlichkeit (§ 274 StPO) schweigenden Protokoll zur Hauptverhandlung nicht feststellen, dass der Augenschein - wenigstens - in dieser Weise nachgeholt worden wäre. Soweit den dienstlichen Stellungnahmen zu entnehmen ist, das Lichtbild sei „thematisiert“ oder (soweit erinnerlich durch Hochheben) vorgezeigt worden, vermag dies die - negative - Beweiskraft des Protokolls nicht zu entkräften.
11
3. Das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds (§ 338 Nr. 5 StPO) führt zur Aufhebung des Urteils, ohne dass es darauf ankommt, ob das Urteil tatsächlich auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
12
Ein Fall, in dem es denkgesetzlich ausgeschlossen wäre, dass das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 - 4 StR 131/06), liegt nicht vor. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob derartiges hier hätte angenommen werden können, wenn das in Augenschein genommene Lichtbild vom Angeklagten selbst stammte oder von diesem sogar selbst gefertigt wurde, es also keinem Zweifel unterliegen kann, dass er die dem Augenscheinsobjekt zu entnehmenden Tatsachen mindestens so gut kennt, als wäre ihm das Foto zur Augenscheinsnahme vorgelegt worden. Denn dies kann weder aus dem Protokoll noch aus den ergänzend eingeholten dienstlichen Stellungnahmen mit der dazu erforderlichen Bestimmtheit festgestellt werden.
Nack Rothfuß Hebenstreit Elf Graf