Bundesgerichtshof Beschluss, 23. Okt. 2001 - 4 StR 249/01
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
IV. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten "der schweren räuberischen Erpressung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Diebstahl, des schweren Raubes in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung, des Computerbetruges, des versuchten Computerbetruges, des gemeinschaftlichen Diebstahls, des versuchten gemeinschaftlichen Diebstahls in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Sachbeschädigung, der Körperverletzung und der Bedrohung" schuldig gesprochen. Im übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Es hat ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und seine Unterbringung in "einer Erziehungsanstalt" (richtig: Entziehungsanstalt) angeordnet.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts.
I.
Das Verfahren gegen den Angeklagten wird im Fall II 1 c der Urteilsgründe mit Zustimmung des Generalbundesanwalts gemäß § 154 a Abs. 2 StPO auf den Vorwurf des schweren Raubes beschränkt. Soweit der Angeklagte im Fall II 6 der Urteilsgründe wegen Bedrohung verurteilt worden ist, wird das Verfahren auf Antrag des Generalbundesanwalts gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Damit entfallen die Verurteilungen wegen tateinheitlich
versuchter schwerer räuberischer Erpressung und wegen Bedrohung in den genannten Fällen.
II.
Das Rechtsmittel hat zum Schuldspruch in den Fällen II 1 a und b der Urteilsgründe und zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg, im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Diebstahl (Fall II 1 a der Urteilsgründe) und wegen Computerbetruges (Fall II 1 b) hat keinen Bestand. Insoweit greift die von der Revision erhobene Rüge der Verletzung des § 261 StPO durch.
Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten im Fall II 1 a der Urteilsgründe (Überfall auf das Pizza-Bistro in Demmin gegen 19.10 Uhr) und im Fall II 1 b (Verwendung der bei dem Überfall erbeuteten EC-Karte und der vom Tatopfer genannten Geheimnummer zur Abhebung von Bargeld um 19.35 und 19.37 Uhr) auf Videoprints (Bd. I Bl. 22 d.A.) gestützt. Es hat dazu u.a. ausgeführt:
"Der Angeklagte ist auf Videoprints, die gefertigt worden sind von einem Videofilm, der von der Überwachungskamera am Geldautomaten der Sparkasse Demmin, Zweigstelle Dargun aufgenommen wurde, eindeutig zu erkennen. Insbesondere die Nase, der Mund, die Augen und die Kopfform des Angeklagten stimmen mit der auf diesen Videoprints erkennbaren Person überein" (UA 20).
Daû die in Bezug genommenen Videoprints in Augenschein genommen worden wären, ist jedoch in dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht vermerkt. Die Einnahme eines Augenscheins ist eine wesentliche Förmlichkeit, deren Beurkundung durch § 273 Abs. 1 StPO vorgeschrieben ist. Schweigt das Protokoll über die Einnahme eines Augenscheins, so gilt dieser wegen der Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO als nicht erfolgt (BGH NStZ 1993, 51; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 31). Auch wenn dieses Ergebnis der wahren Sachlage widersprechen sollte, muû es als Konsequenz der dem § 274 StPO zugrundeliegenden gesetzgeberischen Entscheidung hingenommen werden (BGH NStZ 1993, 51 m.N.).
Die Beweiskraft des Protokolls entfällt nur dann, wenn es offensichtliche Widersprüche oder Lücken aufweist. Dann kann das Revisionsgericht das Protokoll im Wege des Freibeweises ergänzen (vgl. BGHSt 17, 220, 222; 31, 39, 41). Hier liegen die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Protokolls im Wege des Freibeweises jedoch nicht vor.
Das Protokoll weist zwar aus, daû die Videoprints sowohl der in dem Pizza-Bistro überfallenen Zeugin St. als auch dem Polizeibeamten T. und dem Bankkaufmann O. im Rahmen ihrer Zeugenvernehmungen vorgehalten und damit als Vernehmungshilfsmittel eingesetzt worden sind (Bd. III Bl. 270, 272, 299). Soweit das Protokoll darüber hinaus keinen Hinweis darauf enthält, daû die Videoprints dabei auch Gegenstand der Beweisaufnahme durch Augenschein wurden, liegt darin aber entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts keine offensichtliche Lücke des Protokolls. Es kann dahinstehen , ob es gängiger Praxis beim Vorhalt von Lichtbildern an Zeugen entspricht , daû alle Mitglieder des Gerichts den Beweisgegenstand in Augen-
schein nehmen und allen Prozeûbeteiligten Gelegenheit gegeben wird, diesen zu besichtigen. Eine solche – im übrigen nicht belegte - gängige Praxis der Strafkammer würde eine Durchbrechung der negativen Beweiskraft des Protokolls nicht rechtfertigen. Die vorliegende Fallgestaltung ist mit den Sachverhalten , die den Entscheidungen des 3. Strafsenats (NStZ 1999, 424: Unterbleiben der Verlesung des Anklagesatzes, der Belehrung über die Aussagefreiheit sowie der Vernehmung zur Sache) und des 2. Strafsenats (Urteil vom 8. August 2001 – 2 StR 504/00 : fehlende Anwesenheit eines notwendigen Verteidigers an einem der Sitzungstage) nicht vergleichbar.
Soweit der Angeklagte in den Fällen II 1 a und b verurteilt worden ist, beruht das Urteil auf dem Verfahrensfehler. Die Zeugin St. hat den Täter, der bei dem Überfall eine gestrickte Maske trug, auf den ihr vorgelegten Videoprints , "die nach Überzeugung der Kammer den Angeklagten A. zeigen", nicht erkannt (UA 22). Das Landgericht hat mithin insoweit seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auf den selbständigen Beweiswert der Videoprints gestützt, auf denen der Angeklagte “eindeutig zu erkennen” ist.
2. Der Rechtsfolgenausspruch hat insgesamt keinen Bestand.
Die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf den zu den Tatzeiten zwischen 20 Jahre und 20 Jahre acht Monate alten Angeklagten begegnet aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 13. September 2001 (S. 6 ff.) zutreffend ausgeführten Gründen, auf die der Senat Bezug nimmt, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte, bei dem Entwicklungsdefizite nicht vorhanden seien, habe bis zur Begehung der Straftaten eine gute Sozialisationsleistung gezeigt (UA 39),
ist durch die bisherigen Feststellungen nicht belegt. Der Werdegang des Angeklagten , insbesondere die von ihm von Anfang 1996 bis März 1999 begangenen Straftaten, sein Drogenkonsum sowie die Tatsache, daû er nach dem Scheitern des Versuchs, im Jahr 1999 eine Lehre aufzunehmen, mit einer Clique umherzog und keiner geregelten Arbeit nachging, lassen es zweifelhaft erscheinen, daû bei dem Angeklagten zur Tatzeit keine Reifeverzögerungen vorgelegen haben. Entgegen der Auffassung des Landgerichts läût auch die Heirat des Angeklagten im April 1998 nicht ohne weiteres auf eine altersgerechte Entwicklung schlieûen, da der Angeklagte die Ehe mit einer Armenierin "traditionsgemäû und auf Anraten seiner Eltern" schloû (UA 6) und zu seiner Ehefrau, die nach Armenien zurückkehren muûte, kaum Kontakte hat.
Da nicht auszuschlieûen ist, daû sich die neu festzusetzende Strafe auf die verhängte Maûregel auswirken kann, hebt der Senat auch diese auf.
Tepperwien Maatz Athing Ernemann Sost-Scheible
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(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,
- 1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder - 2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.
(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.
(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.
(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.
(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.
(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
(1) Das Protokoll muß den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im wesentlichen wiedergeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Urkunden oder derjenigen, von deren Verlesung nach § 249 Abs. 2 abgesehen worden ist, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen und die Urteilsformel enthalten. In das Protokoll muss auch der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b aufgenommen werden.
(1a) Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben. Gleiches gilt für die Beachtung der in § 243 Absatz 4, § 257c Absatz 4 Satz 4 und Absatz 5 vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrungen. Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, ist auch dies im Protokoll zu vermerken.
(2) Aus der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend.
(3) Kommt es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung an, so hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person die vollständige Protokollierung und Verlesung anzuordnen. Lehnt der Vorsitzende die Anordnung ab, so entscheidet auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person das Gericht. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß die Verlesung geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind.
(4) Bevor das Protokoll fertiggestellt ist, darf das Urteil nicht zugestellt werden.
Die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.
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