Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Mai 2016 - 1 ARs 5/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2016:100516B1ARS5.16.0
bei uns veröffentlicht am10.05.2016

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 ARs 5/16
vom
10. Mai 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier: Antwort auf den Anfragebeschluss des 3. Strafsenats
vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15
ECLI:DE:BGH:2016:100516B1ARS5.16.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Mai 2016 gemäߧ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG beschlossen:
Die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 1. Strafsenats, der an dieser festhält.

Gründe:

I.

1
Der 3. Strafsenat hat über die Revision eines Angeklagten zu entscheiden , der wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zwischen 1990 und 1994 zu sexuellen Missbrauchstaten des Angeklagten zu Lasten seiner im März 1985 geborenen Tochter. Während der Taten erklärte er seiner Tochter, dies gehöre dazu und eine gute Tochter mache das so. Er schärfte ihr auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da ihm sonst Gefängnis drohe. Der 3. Strafsenat möchte das Urteil im gesamten Strafausspruch aufheben. Anlass hierzu gibt ihm die Wertung des Landgerichts, wonach zwar zugunsten des Angeklagten spreche, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen, dieser Umstand jedoch nicht in gleicher Weise wie bei anderen Straftaten berücksichtigt werden könne, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld geschehen und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Der anfragende Senat sieht hierin eine sachlich nicht gerechtfertigte Vermischung von Gesichtspunkten der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er beabsichtigt daher zu entscheiden: „Dem zeitlichenAbstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kin- des die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“
2
Hieran sieht er sich jedoch durch entgegenstehende Rechtsprechung des 1. Strafsenats (Senat, Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06) gehindert.

II.

3
An der in dem in Bezug genommenen Beschluss geäußerten Rechtsansicht hält der Senat grundsätzlich fest.
4
Der Senat hat damals ausgeführt, dass dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zukomme. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
5
Der Senat hatte sich dabei auf eine frühere Entscheidung des anfragenden Senats (Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749) gestützt. Dem lag eine Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter zugrunde. Einwänden gegen die Strafzumessung – insbesondere unter dem Aspekt der nicht ausreichenden Berücksichtigung des langen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil – hat der anfragende Senat damals entgegengehalten, dass gerade dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei solchen Missbrauchsfällen nur eine eingeschränkte Bedeutung zukomme. Denn kindliche Opfer, insbesondere wenn sie vom im gleichen Familienverband lebenden eigenen Vater missbraucht werden, fänden häufig erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige. Dem entspreche, dass der Gesetzgeber mit der durch das 30. StrÄndG eingeführten Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Ruhen der Verjährung bei Straftaten nach §§ 176 bis 179 StGB bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers angeordnet und damit zu erkennen gegeben habe, dass er solche Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet.

III.

6
Mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafmildernd auswirkt, kann nicht allgemein, sondern nur nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden. Der Senat hält daran fest, dass das Tatgericht dabei die gesetzgeberische Wertung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB berücksichtigen darf.
7
1. Der Senat ist mit dem anfragenden Senat und der einhelligen Rechtsprechung der Ansicht, dass allein einem besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt – unabhängig von der Dauer des Strafverfahrens –, strafmildernde Wirkung zukommt (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f. und vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7). Dies gilt grundsätzlich für alle Delikte (vgl. Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 746: „bei den meisten Delikten“), auch für die Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern; ausgenommen sind lediglich solche Delikte, bei denen nach der gesetzgeberischen Entscheidung nur das aus der Verwirklichung von objektivem und subjektivem Tatbestand abzuleitende Tatunrecht die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertigt (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, 288, 310, 323).
8
2. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses gegenüber der Verfahrensdauer unabhängigen (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7; vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78 und vom 29. November 1985 – 2 StR 596/85; NStZ 1986, 217) Strafzumessungsaspekts ist hingegen in der Rechtsprechung nicht eindeutig (vgl. zusammenfassende Darstellung bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie, 2015, S. 158; kritisch zur Behandlung durch die Rechtsprechung Frisch, 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft , 2000, Bd. 4, S. 269, 298).
9
a) Schon in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone (Urteil vom 26. Oktober 1948 – StS 59/48, OGHSt 1, 119, 121) wird die lange Zeitspanne als Strafzumessungsaspekt anerkannt. Als Begründung der strafmildernden Wirkung wird darauf abgestellt, dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile, und je weniger im Laufe der Zeit der Schaden empfunden werde, den jemand schuldhaft einem anderen zugefügt habe, umso geringer werde in der Regel das Sühnebedürfnis. Dieser Gedanke sei vom Gesetzgeber anerkannt, wie die Vorschriften über die Verjährung belegten. Konnte allerdings die Tat nicht durch deutsche Gerichte gesühnt werden, würden die Verletzungen sowohl durch das Opfer als auch durch die Allgemeinheit als un- verändert schmerzhaft empfunden, ihr Sühnebedürfnis bestehe ungemindert fort. Deswegen müsse diese Zeitspanne unberücksichtigt bleiben; der gesetzlich vorgesehene Ausschluss der Verjährung zeige, dass allein dies dem Gesetz entspreche (so auch OGH, Urteil vom 28. Juni 1949 – StS 16/49, OGHSt 2, 94, 98).
10
b) aa) Diesen Erwägungen hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen (BGH, Urteile vom 25. September 1952 – 4 StR 26/50 und vom 24. Januar 1952 – 4 StR 10/50). Dabei ist für die Frage der gerechten Sühne trotz Zeitablaufs die Sicht des Geschädigten gegenüber den Interessen der Allgemeinheit hervorgehoben worden. Habe er empfinden müssen, dass eine Sühne während dieses Zeitraums unmöglich war, so könne die heilende Wirkung des Zeitablaufs nicht eintreten (BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR 303/51, BGHSt 2, 20, 22).
11
bb) In der Folge hat die Rechtsprechung die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs materiell mit einem geminderten Sühneanspruch (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205) bzw. allgemein abnehmendem Strafbedürfnis (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90, NJW 1993, 3254) oder abnehmendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung begründet (BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225).
12
cc) Daneben ist aber in zunehmendem Umfang auf durch den Zeitablauf beeinflusste spezialpräventive Aspekte der Strafzumessung zur Begründung der strafmildernden Wirkung abgestellt worden. Jedenfalls dann, wenn der Täter sich während des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil straffrei verhalten habe, wirke dies strafmildernd (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 1972 – 2 StR 607/71; Beschluss vom 6. September 1988 – 1 StR 473/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 3), bzw. erfordere dies eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225; BGH, Urteil vom 31. Oktober 1995 – 5 StR 470/94, NStZ-RR 1996, 120 und Beschluss vom 20. April 2005 – 5 StR 73/05 jeweils zu den Zwecken des Jugendstrafrechts entgegenstehenden Zeitablaufs). Auch sonstige, sich seit den Taten geänderte persönliche Umstände sind zur Gewichtung der strafmildernden Wirkung des Zeitablaufs herangezogen worden (BGH, Urteil vom 20. Dezember 1995 – 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1: vorgerücktes Alter und angegriffener Gesundheitszustand).
13
dd) Vereinzelt ist der Belastung des Angeklagten durch den Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung strafmildernde Wirkung zuerkannt worden (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78).
14
3. Auch in der Literatur ist die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil anerkannt (Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; MünchKommStGB/Miebach, 2. Aufl., § 46 Rn. 152). Soweit Erklärungsansätze hierfür unternommen werden, variieren diese, was auch durch abweichende strafzumessungstheoretische Fundamente bedingt ist. So wird darauf abgestellt , dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile; mit ihrem Ablauf schwäche sich auch das Sühnebedürfnis ab und wandelten sich die präventiven Erfordernisse (Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Es wird auch argumentiert, dass die durch Zeitablauf eingetretene Entdramatisierung des deliktischen Geschehens und eine zwischenzeitliche soziale Bewährung des Täters als Strafmilderungsgründe in Betracht kommen (Streng, JR 2006, 256), der Zeitablauf den Normgeltungsschaden verringere (NK/Streng, StGB, 4. Aufl., § 46 Rn. 88), bzw. der Notwendigkeit der Wiederherstellung des Rechts eine gewisse zeitliche Dimension innewohne (Frisch aaO, S. 269, 299 f.; vgl. auch Stahl aaO, S. 159: Reaktionsbedürfnis) oder dass der Ablauf der Zeit Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lasse, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre, so etwa bei jahrelanger einwandfreier Führung und völliger Überwindung der Folgen der Tat durch den Verletzten (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240).
15
4. Der Senat ist auf dem Boden dieser dargestellten Rechtsprechung ebenfalls der Ansicht, dass die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs bei hiervon unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Strafbedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne beruht. Daneben wird ein langer Zeitablauf aber auch besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände für die Strafzumessung auslösen.
16
Im Ergebnis entspricht dies auch der Sichtweise der dargestellten Stimmen aus der Wissenschaft, ohne dass es einer Auseinandersetzung mit den die unterschiedlichen Ausdrucksformen bedingenden Strafzumessungskonzepten bedürfte. Vor allem aber stimmt diese Sicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben überein, wonach die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muss. Strafe hat die Bestimmung , gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149 mwN). Ihre Zumessung wird dementsprechend durch das Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit begrenzt (BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1995 – 2 BvL 19/91 u.a., BVerfGE 92, 277, 326).
17
5. Die Anerkennung eines abnehmenden Strafbedürfnisses bzw. eines sich verringernden Sühneanspruchs in Folge von Zeitablauf führt aber zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung dieses Faktors in Bezug auf die Bemessung der schuldangemessenen Strafe.
18
Inwieweit das Strafbedürfnis abnimmt bzw. sich das Sühnebedürfnis verringert , und in welchem Maße sich dadurch der Zeitablauf strafmildernd auswirkt , obliegt der Wertung des Tatgerichts. Denn diese Wertung ist Teil der Strafzumessung und damit grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen (vgl. hierzu nur BGH, Urteil vom 4. August 2015 – 1 StR 624/14, NJW 2015, 3047). Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Dies gilt auch für die Gewichtung des Zeitablaufs (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 180/08, NStZRR 2008, 307).
19
6. Der Senat hält es nach diesen Maßgaben für rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls für die Bewertung der Abnahme des Strafbedürfnisses und der Minderung des Sühneanspruchs auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreift, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen sind. Der Ansicht des anfragenden Senats (zustimmend der 2. Strafsenat [Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15]), dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe, kann der Senat nicht teilen.
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a) Die entsprechende Anknüpfung an die Verjährungsvorschriften entspricht der bisherigen Rechtsprechung auch jenseits der Entscheidungen des Senats vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 und des anfragenden Senats vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99 zur Frage, wie sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auswirkt.
21
So findet sich der Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene Wertentscheidung bei der Gewichtung der Wirkung des Zeitablaufs schon in den oben unter III. 2. a) dargestellten Entscheidungen des OGH, auf die der Bundesgerichtshof ausdrücklich Bezug genommen hat. Aber auch in späteren Entscheidungen wurden die Wertungen der Verjährungsvorschriften vom Bundesgerichtshof entsprechend herangezogen. So ist ein Zeitraum zwischen Tat und Aburteilung, der fast an das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist heranreicht, als in der Regel wesentlicher Strafmilderungsgrund bewertet worden (BGH, Beschluss vom 22. Januar 1992 – 3 StR 440/91, NStZ 1992, 229). In einem Fall ist die tatrichterliche Gewichtung der Strafmilderung einer Zeitspanne zwischen Taten und Urteil deswegen für unzureichend erachtet worden, da der Zeitablauf an die absolute Verjährung heranreiche (BGH, Beschluss vom 26. Juli 1994 – 5 StR 113/94, StV 1995, 130). Hingegen ist dem Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung der Charakter eines bestimmenden Strafzumessungsgrundes in dem zu beurteilenden Fall aberkannt worden. Das wurde damit begründet, dass das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30-jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund trete (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603).
22
Die Sicht auf die Verknüpfung in dem dargelegten Sinne wird auch vom Bundesverfassungsgericht geteilt, wenn es ausführt, dass der Gesetzgeber durch die Vorschrift des § 78 Abs. 2 StGB klar gestellt habe, dass er bei dem Delikt des Mordes selbst lange, zwischen Tatbegehung und Verurteilung liegende Zeiträume nicht als schuldmindernd bewertet wissen wolle und diese Zeitspannen auch das staatliche Interesse an der Strafverfolgung nicht beeinträchtigen (BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750/06 u.a., NStZ 2006, 680, 682; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 21. Februar 2002 – 1 StR 538/01, StV 2002, 598). In einem Disziplinarverfahren hat es beanstandet, dass das Oberlandesgericht den Zeitablauf von sieben Jahren seit der letzten Disziplinarmaßnahme nicht zugleich mildernd in Rechnung gestellt habe, denn immerhin sei damit die Verjährungsfrist mittelschwerer Straftaten überschritten (BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 – 2 BvR 2646/13).
23
b) Die in der dargestellten Rechtsprechung zum Ausdruck gekommene Sicht auf die wertungsmäßig verwandte Gewichtung von nachlassendem Strafbedürfnis bzw. vermindertem Sühneanspruch als Strafzumessungsgesichtspunkt und als Ausgangspunkt für die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Länge der Verjährungsfrist, teilt der Senat. Zwar haben die Verjährungsvorschriften zum Teil eine andere Zielrichtung (vgl. hierzu im anfragenden Beschluss Rn. 8), letztlich aber kommt in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis gegenüber dem Täter infolge Zeitablaufs verneint (BGH, Urteil vom 17. Februar 1983 – 1 StR 813/82, MDR 1983, 590; zustimmend auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Hillenkamp, JR 1975, 133, 138; MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., § 78 Rn. 1; vgl. auch Frisch, aaO, S. 269, 300), mag man dies auch als Verfolgungsverzicht umschreiben (LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., Vor § 78 Rn. 9). Nur vor dem Hintergrund, dass in der Länge der gesetzlich geregelten Verjährungsfristen eine Wertung des Straf- bedürfnisses trotz Zeitablaufs zum Ausdruck kommt, erklärt sich die Staffelung nach der Schwere des Delikts.
24
c) Die Bewertung des Zeitablaufs als strafmildernder Umstand ist genauso wie die Verjährungsvorschriften an der Frage des Erfordernisses von Strafe trotz Zeitablaufs orientiert, mag dies auch – wie oben unter III. 2. dargestellt – mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten umschrieben werden. Da es mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten geht (MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., Vor § 78 Rn. 2), ist revisionsrechtlich nichts dagegen einzuwenden, wenn das Tatgericht, welches die strafmindernde Wirkung gewichten muss, die gesetzgeberische Wertung aus dem Bereich der Verjährungsvorschriften in Bedacht nimmt. Dabei wird es jedoch die Umstände des Einzelfalls, insbesondere spezialpräventiv wirksame Aspekte, angemessen zu berücksichtigen haben.
25
d) Soweit eingewandt wird, der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen bestehe nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15, NStZRR 2016, 241), kann dies den Senat nicht zu einer anderen Ansicht bewegen. Denn die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs ist nicht per se quantitativ festgelegt, was freilich auch wenig Überzeugungskraft für sich hätte. Sie ist stattdessen – wie in der Darstellung unter III. 2. gezeigt – auf eine an den Strafzwecken orientierte Begründung zurückzuführen. Diese Erklärungen für die strafmildernde Wirkung – ohne dass man sich hierzu auf einen Begründungsansatz festlegen müsste – belegen aber, dass der Zeitablauf – genauso wenig wie andere Strafzumessungsaspekte (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 350 f.) – nicht stets gleich, quasi schematisch als für alle Delikte und unabhängig von Einzelfallumständen zu bemessen sein wird. Der Zeitablauf als Strafzumessungsfaktor ist so wie andere strafzumes- sungserhebliche Umstände vom Tatgericht zu werten und zu gewichten. Daher wird durch dessen Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung kein Strafzumessungsgrund vermindert. Vielmehr wird der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308) vom Tatgericht ausgefüllt. Dass dies bei Taten, die in längeren Fristen verjähren als andere Taten, zu einer demgegenüber geringeren Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf führen mag (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603), hängt mit dem naturgemäß auf Wertungsprozessen beruhenden Strafzumessungsvorgang zusammen. Die Einbeziehung der verjährungsrechtlichen Regelungen in die strafmildernde Bewertung des Zeitablaufs führt deswegen nicht zu einer Verminderung feststehender, schematisch bestimmbarer Größen.
26
7. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht unter angemessener Berücksichtigung der Lage des Einzelfalls für die Bewertung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf orientieren darf, zählt auch die Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Gesetzgeber hat durch diese Vorschrift zu erkennen gegeben, dass er die dort aufgezählten Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Seine Wertung, bei Katalogtaten des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ruhe die Verjährung mittlerweile bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers, ist mit guten Gründen vielfach kritisiert worden (vgl. nur Fischer, StGB, 63. Aufl., § 78b Rn. 3d). Dennoch ist diese Wertung verfassungskonform (vgl. zu früheren Fassungen BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 – 2 BvR 104/00, NJW 2000, 1554 mwN) und mithin von den Gerichten zu akzeptieren. Deshalb ist die Einbeziehung dieses Gesichtspunkts durch das Tatgericht bei der ihm oblie- genden Gewichtung eines Strafzumessungsfaktors revisionsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstanden.
27
Dies erfährt Bestätigung durch die Gründe, die den Gesetzgeber zu der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben. So ist im Gesetzentwurf ausgeführt, dass die Taten häufig erst später bekannt werden, wenn diese bereits viele Jahre zurückliegen. Die Taten werden überwiegend von Familienangehörigen begangen und die kindlichen oder jugendlichen Opfer bzw. ihre Vertrauenspersonen werden häufig unter Druck gesetzt oder auf andere Weise dahin beeinflusst, die Übergriffe zu verschweigen (Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Damit ist aber eine Situation umschrieben, die für die Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf im Hinblick auf dessen Legitimation als Reaktion auf nachlassendes Strafbedürfnis und verminderten Sühneanspruch Relevanz entfalten kann. Denn die strukturell unterlegene, dabei für grundlegende Bedürfnisse auf den Täter angewiesene Position des Opfers kann dazu führen, dass der Zeitablauf die Wunden nicht in dem Maße heilt, wie bei anderen Taten (vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Dies kann dazu führen, dass Sühneanspruch und damit das Strafbedürfnis der Allgemeinheit durch Zeitablauf nicht in dem Maße gemindert werden (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR303/51, BGHSt 2, 20, 22), wie bei einer von der Ausnutzung der gegenüber dem kindlichen Opfer überlegenen Stellung im Familienverbund losgelösten Tat.
28
In dem dem Anfragebeschluss zugrundeliegenden Urteil ist die Verknüpfung mit den Verjährungsvorschriften – soweit ersichtlich – nicht pauschal herangezogen worden. Vielmehr ist dies anhand der Umstände des Einzelfalls be- gründet worden, dass nämlich die späte Anzeige durch die Begehung der Taten im familiären Umfeld mitbedingt gewesen sei. Dies findet seine Stütze in dem mitgeteilten Sachverhalt, wonach das Opfer durch das Inaussichtstellen eines vermeintlichen Übels davon abgehalten worden ist, von den Taten zu erzählen.
29
Der Senat erachtet es – anders als der anfragende Senat – für nicht aussagekräftig, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten nicht den ersichtlichen Willen kundgetan hat, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren. Die Bewertung des Zeitablaufs für die Strafzumessung in Ansehung der Verjährungsvorschriften war schon vor Änderung der Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Rechtsprechung angelegt. Dies beruht darauf, dass Verjährung und strafmildernde Berücksichtigung des Zeitablaufs Reaktionen auf dasselbe – lediglich unterschiedlich stark ausgeprägte – Phänomen darstellen. Der Rückgriff auf gesetzgeberische Wertungen wurzelt in dieser Parallelität und nicht in einem gesetzgeberischen Willensakt. Raum Cirener Radtke Mosbacher Bär

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Strafprozeßordnung - StPO | § 337 Revisionsgründe


(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. (2) Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

Strafgesetzbuch - StGB | § 78 Verjährungsfrist


(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt. (2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht. (3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjäh

Strafgesetzbuch - StGB | § 78b Ruhen


(1) Die Verjährung ruht 1. bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,2. solange nach dem Gesetz d

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Bundesgerichtshof Beschluss, 17. Jan. 2008 - GSSt 1/07

bei uns veröffentlicht am 17.01.2008

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS GSSt 1/07 vom 17. Januar 2008 in der Strafsache gegen Nachschlagewerk: ja BGHSt: ja Veröffentlichung: ja ___________________________________ MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtssta

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Bundesgerichtshof Urteil, 21. Feb. 2002 - 1 StR 538/01

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 538/01 vom 21. Februar 2002 in der Strafsache gegen wegen Mordes Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung am 19. Februar 2002 in der Sitzung vom 21. Februar 2002, an

Bundesgerichtshof Beschluss, 06. Apr. 2016 - 2 StR 219/15

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Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Juni 2011 - 4 StR 643/10

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Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Feb. 2006 - 1 StR 7/06

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 7/06 vom 8. Februar 2006 in der Strafsache gegen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Februar 2006 beschlossen: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil

Bundesverfassungsgericht Beschluss, 15. Dez. 2015 - 2 BvR 2735/14

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Tenor 1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, so

Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Sept. 2015 - 2 StR 128/15

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Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Juni 2017 - GSSt 2/17

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(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 7/06
vom
8. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Februar 2006 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 5. Oktober 2005 wird mit der Maßgabe verworfen, dass in sämtlichen Fällen die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen entfällt. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


1
1. Der Angeklagte hat sich 1990 wiederholt an seiner damals acht Jahre alten Stieftochter, der Nebenklägerin, sexuell vergangen, als er sie zu Bett brachte, während seine Ehefrau, die Mutter der Nebenklägerin, mit der Versorgung eines Säuglings befasst war. Er hat der Nebenklägerin z.B. Gegenstände in die Scheide eingeführt, ist mit einem oder mehreren Fingern - er versuchte es auch mit der ganzen Hand - oder seiner Zunge dort eingedrungen, führte ihre Hand an sein Geschlechtsteil oder rieb damit an ihren Schamlippen.
2
Die Nebenklägerin, die die Vorfälle erst 2005 zur Anzeige brachte, ist als Folge der Taten nach wie vor psychisch schwer belastet und therapiebedürftig. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung bei ihr entschuldigt; sie akzeptiert dies jedoch nicht und lehnt Kontakt mit ihm ab. Allerdings hat sie er- klärt, eine von ihm angekündigte - freilich noch nicht erbrachte - Schmerzensgeldzahlung von 15.000.- € zu akzeptieren.
3
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen insgesamt acht Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei die Einzelstrafen zweimal acht Monate , viermal ein Jahr und zweimal ein Jahr und drei Monate betrugen. Die Strafkammer war von besonders schweren Fällen i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB aF ausgegangen, hatte aber die Voraussetzungen des § 46a Nr. 2 StGB bejaht und von der danach eröffneten Möglichkeit zur Strafrahmenmilderung Gebrauch gemacht.
4
3. Die auf die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist zwar auf den Strafausspruch beschränkt, führt aber insoweit zu einer Abänderung des Schuldspruchs (§ 349 Abs. 4 StPO), als der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) verjährt ist (§ 78 StGB i.V.m. § 78b StGB aF).
5
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend im Einzelnen dargelegt hat, gilt § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nF (BGBl. I 2003, 3007), wonach die Verjährung jetzt auch bei Straftaten gemäß § 174 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, auch rückwirkend für vor Inkrafttreten dieser Bestimmung (1. April 2004) begangene Taten. Anderes gilt, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Verjährung eingetreten war (BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 4 StR 443/05; BGH NStZ 2005, 89, 90). So verhält es sich hier. Die Verjährungsfrist für Vergehen gemäß § 174 StGB beträgt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre, war also angesichts der erst 2005 erfolgten Anzeige bei der ersten zur Unterbrechung der Verjährung geeigneten Handlung abgelaufen. Der danach gebotenen Änderung des Schuldspruchs steht der Umstand, dass die Revision auf den Strafausspruch beschränkt ist, nicht entgegen (vgl. BGHSt 11, 393, 394; BGH bei Spiegel DAR 1978, 146, 160 ).
6
4. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
a) Die Änderung des Schuldspruchs gefährdet den Strafausspruch hier nicht. Abgesehen davon, dass auch verjährte Taten bei der Strafzumessung nicht unberücksichtigt bleiben müssen, kommt dem Umstand, dass der Angeklagte eine Vertrauensstellung missbraucht hat, unabhängig von der Anwendbarkeit des § 174 StGB straferschwerende Wirkung zu, da dieser Gesichtspunkt die Tatschuld erhöht (vgl. BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 321, 322 ; Renzikowski in MünchKomm, StGB § 176 Rdn. 66 jew. m. w. N.).
8
b) Die - wohl versehentliche - fehlerhafte Bezeichnung der angewendeten Fassung des § 176 StGB - die Strafkammer spricht von der Fassung des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes, statt richtig von der des zur Tatzeit geltenden 4. Strafrechtsreformgesetzes, dessen Strafrahmen sie aber zu Grunde gelegt hat - gefährdet, so auch im Ergebnis die Revision, den Strafausspruch nicht.
9
c) Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, dass die Strafkammer die abgeurteilten Delikte als Verbrechen bezeichnet hat. Dies trifft nicht zu, wie sich aus § 12 Abs. 3 StGB ohne weiteres ergibt. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen hat faktisch jedoch vor allem noch gesetzestechnische Bedeutung und ist vorwiegend formal zu verstehen (vgl. Radtke in MünchKomm, StGB § 12 Rdn. 6). Der sachliche Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen ist vor allem dort nicht hoch, wo, wie auch hier, der besonders schwere Fall eines Vergehens mit ebenso hoher Mindeststrafe bedroht ist wie ein Verbrechen (vgl. hierzu näher Radtke aaO Rdn. 9 m. w. N.). Daher lässt allein die hier vorliegende fehlerhafte Bezeichnung Taten - auch angesichts der konkreten Höhe der verhängten Strafen - eine rechtsfehlerhafte Strafzumessung nicht besorgen. Konkrete Umstände, die eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich.
10
d) Die Revision wendet sich gegen die Annahme besonders schwerer Fälle i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB (der genannten Fassung). Vor allem, so trägt sie vor, habe in diesem Zusammenhang der Umstand entscheidende Bedeutung , dass die Taten bereits länger zurückliegen.
11
Der Senat vermag dem nicht zu folgen. Dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu (wie etwa in den von der Revision genannten Entscheidungen BGHSt 40, 48, 58 und BGH, Beschluss vom 6. November 2001 - 4 StR 461/01, bei denen es nicht um Sexualdelikte z. N. von Kindern, sondern um Totschlag und schwere räuberische Erpressung ging). Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen, wie hier, ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (hier: Stief-)Vater missbraucht wird und (wie ebenfalls hier) erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige findet. Deshalb hat der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen (vgl. BGH NJW 2000, 748, 749; G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. Rdn. 437).
12
e) Auch die übrigen Erwägungen der Revision, die im Kern darauf hinauslaufen , die Strafkammer habe nicht rechtsfehlerfrei zwischen Strafrahmenbestimmung und Festsetzung der Einzelstrafen differenziert und dadurch im Ergebnis - von ihr nicht übersehene - strafmildernde Gesichtspunkte (z. B. das Geständnis, die sozialen Folgen der Strafe für den bisher nicht vorbestraften Angeklagten und der Versuch einer Entschuldigung) zu gering und strafschärfende Gesichtspunkte (z. B. die Folgen der Tat) zu schwer gewichtet, können hier schon angesichts der sehr maßvollen Einzelstrafen und der hieraus nach - so auch die Strafkammer selbst - straffem Zusammenzug gebildeten Gesamtstrafe durchgreifende Rechtsfehler nicht verdeutlichen.
13
Rechtlichen Bedenken gegen die von der Strafkammer bejahte Anwendbarkeit von § 46a StGB - der von der Strafkammer angewendete § 46a Nr. 2 StGB betrifft vorwiegend einen hier nicht vorliegenden materiellen Schaden des Opfers (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 46a Rdn. 11 m. w. N.), § 46a Nr. 1 StGB erfordert einen "kommunikativen Prozess" zwischen Täter und Opfer (vgl. aaO Rdn. 10a m. w. N.), für den hier wenig spricht - braucht der Senat dabei nicht näher nachzugehen, da der Angeklagte insoweit nur begünstigt sein kann.
14
5. Auf den Hinweis des Generalbundesanwalts, dass vor allem angesichts der schwerwiegenden und noch immer fortwirkenden psychischen Belastungen der Nebenklägerin die Strafe auch angemessen i. S. d. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO wäre, kommt es unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht mehr an. Wahl Kolz Hebenstreit Elf Graf

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
28
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
29
a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
43
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
56
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
59
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 1 2 8 / 1 5
vom
29. September 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Untreue
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 29. September 2015 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 28. April 2014, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, im Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Wirtschaftsstrafkammer zuständige andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Untreue in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen zu jeweils 30 € verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
Der Strafausspruch hat keinen Bestand, denn die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es bei der für die Bemessung der Strafen erforderlichen Gesamtwürdigung aller für die Wertung der Taten und des Täters in Betracht kommender Umstände wesentliche mildernde Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat.
3
Die Strafkammer hatte schon nicht im Blick, dass zwischen den abgeurteilten Taten und dem Urteil sieben bzw. neun Jahre vergangen sind und dass eine solch lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung einen wesentlichen Strafmilderungsgrund darstellt (vgl. Senat, Urteil vom 20. Dezember 1995 - 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1 mwN). Daneben hätte das Tatgericht hier strafmildernd zu bedenken gehabt, dass auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommt, wenn sie für den Angeklagten mit besonderen Belastungen verbunden ist (BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2009 - 3 StR 173/09, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 20; vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Ein großer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten stellen regelmäßig selbst dann gewichtige Milderungsgründe dar, wenn diese sachlich bedingt waren (BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651 mwN).
4
Das Schweigen der Urteilsgründe hierzu legt nahe, dass das Tatgericht diese bestimmenden Milderungsgründe im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in seiner Bedeutung verkannt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2011 - 5 StR 585/10, NStZ-RR 2011, 171).
5
Über den Strafausspruch ist daher neu zu befinden. Die ihm zugrunde liegenden Feststellungen sind rechtsfehlerfrei getroffen worden und können bestehen bleiben. Hierzu nicht in Widerspruch stehende ergänzende Feststellungen sind zulässig. Appl Eschelbach Ott Zeng Bartel

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert
worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter
näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil
der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof
Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Miebach,
Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Kolz und Becker am
17. Januar 2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.

Gründe:


I.

1
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
2
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Re- vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel beanstandet es die Revisionsführerin als sachlichrechtlichen Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche Mindestmaß unterschreitet.
3
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb abgeschlossenen Gebäude-, Inventar - und Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
4
Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober 2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006 ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt, dass ohne Berücksichtigung dieser Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei. Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
5
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen Strafabschläge hätte es eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten gebildet.
6
2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch aufzuheben.
7
a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden, dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des Landge- richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne Berücksichtigung der Verzögerung auf die Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
8
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die gebotene Kompensation für den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen , dass auf die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
9
b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3. Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3. Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu einer generellen Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran anknüpfenden Folge- regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er möchte daher dieses Modell generell anwenden und demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
10
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007, 3294).
11
3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats angeschlossen.

II.

12
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132 Abs. 4 GVG sind gegeben.
13
Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des 3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen ; die Gründe hierfür hat der Große Senat an dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die Kompensation von Verstößen gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs ergäbe.

III.

14
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des Vorlegungsbeschlusses.
15
Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer Kompensation dieses Verstoßes , die nicht nur mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem nationalen deutschen Straf- und Strafprozess- recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben. Deren Überschreitung könnte aus übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der Kompensation zur Verfügung stünde , die die Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB unberührt lässt. Eine solche liegt mit der Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
16
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge, die für die Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung belässt sie der unrechts- und schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion. Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
17
Im Einzelnen:
18
1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte. Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2. Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
19
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft) entlassen zu werden. Regelungen darüber , welche sonstigen Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben , auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
20
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit gewähre , reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen (BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w. N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur deren Einstellung gemäß § 153 StPO führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt 24, 239, 242 f.).
21
Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden und -schärfenden Aspekte selbständig , auch neben dem schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
22
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
23
a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./. Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm. Kühne) in zwei gegen die dortigen Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der Beschwerdeführer erachtet , dass diesen die Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine Überprüfung der Berücksichtigung der Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche, soweit dieses schließlich gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S. 382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen an die den Beschwerdeführern zu gewährende Kompensation zu stellen gewesen wären, um den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die Entscheidung nicht.
24
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens gerieten sie in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG - Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
25
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154, 154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der Frage der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert , aber auch ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967). Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe, erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003, 2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
26
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin präzisiert , dass es nicht genüge, die Verletzung des Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG - Kammer - NStZ 1997, 591).
27
c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und rechtsstaatliche Grundsätze durch die Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche Folgen (Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen oder wegen eines Verfahrenshindernisses ) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW 1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra 1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ 2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl. BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV 2002, 598).
28
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
29
a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen. So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nur in Betracht , wenn sich der Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239, 242). Ebenso ist ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§ 60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von der ge- setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
30
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
31
Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar mildesten Fall noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl. Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden muss, sei es in der Form eines „Härteausgleichs“ (s. für den Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt 31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275 f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.; StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von § 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
32
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK für den Ausgleich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
33
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7. August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei ist auch das Verständnis zu berücksichtigen , das sie in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
34
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm. Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes bewirken können.
35
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die Kompensation für eine konventionswidrige Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007, 254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159; Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254; Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f. m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese Umstände für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294 f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV 2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht schleppend geführten Zivilprozesses oder einem Bürger , der an einem verzögerten Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
36
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im Großteil der Fälle dazu führen, dass der gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen, die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben (s. oben a).
37
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an eine hinreichende Kompensation stellen.
38
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls sinngemäße Anerkennung des Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 - Ver-waltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005, 475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren ). Dies legt es nahe, dass aus der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende Feststellung selbst getroffen hätten.
39
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m. w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26. Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
40
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen Opportunitätsgrundsätzen) je nach den Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO: EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
41
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s. dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR 1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487, 494; Italien: s. näher Ress in Festschrift Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003, 2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des französischen Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März 2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht enthält demgegenüber keine Regelungen , die es den Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche Grundlage zu schaffen.
42
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206; s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60 StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im Erkenntnisverfahren vorzu- nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
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4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das Vollstreckungsmodell.
44
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die nach den Maßstäben des § 46 StGB zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion, die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt - wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe maßgeblich etwa für die Fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3 StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis 3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB) erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB), ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs. 1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§ 59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60 StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§ 79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung, die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen (§§ 53, 54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§ 149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
45
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) - ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229, 230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert ausgeglichen.
46
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S. 351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270, 271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH wistra 2004, 470).
47
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR (StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann, künftig den durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation - für die Gesamtstrafe.
48
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die Kompensation ausschließlich an die - für die Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
49
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und daher „grundsätzlich“ als Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen - bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl. dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts- und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders wäre es auch kaum erklärbar, dass das Bundesverfassungs- gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt, dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen seitens der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen sind, im Urteil dadurch Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot Genüge getan wie durch die bezifferte Reduzierung der Strafe.
50
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte - gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken (s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen ; denn durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des neuen Modells.
51
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö- gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
52
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt, ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen (§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
53
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit größerer Flexibilität für die Reststrafenaussetzung).

IV.

54
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen auszurichten:
55
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
56
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastun- gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken haben.
57
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen, welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.
58
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist - wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
59
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen, welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden (vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung berufene Gericht hat dann festzulegen , in welchem Umfang die neu auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe dürfen die für vollstreckt erklärten Teile der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben. Hirsch Rissing-vanSaan Basdorf Maatz Miebach Wahl Bode Kuckein Gerhardt Kolz Becker

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

5 StR 73/05

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 20. April 2005
in der Strafsache
gegen
wegen Beihilfe zum Totschlag u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. April 2005

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 11. November 2004 nach § 349 Abs. 4 StPO
a) im Schuldspruch dahin geändert, daß die Verurteilung wegen tateinheitlicher Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung entfällt,
b) im Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Totschlag in Tateinheit mit Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung (Tatzeit: Oktober 1992) zu drei Jahren und drei Monaten Jugendstrafe verurteilt und hat differenzierte Anordnungen zur Anrechnung in Syrien und im Libanon erlittener Freiheitsentziehung getroffen. Die Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Im übrigen ist das Rechtmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Schuldspruch wegen tateinheitlicher Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung (§ 223a [a. F.], § 2 Abs. 3 StGB) entfällt, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, wegen absoluter Verjährung (§ 78c Abs. 3 Satz 2, § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB).
Im übrigen ist der Schuldspruch rechtsfehlerfrei. Die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) unterliegt keinen rechtlichen Bedenken angesichts des Tatbildes des Kapitalverbrechens , das der Angeklagte unterstützt hat, und zwar ungeachtet des geringen Lebensalters des zur Tatzeit möglicherweise erst 14jährigen Angeklagten , seines spontanen Entschlusses zur Tatbeteiligung und seiner engen Beziehung zu dem Haupttäter, seinem älteren Bruder.
Die Höhe der Jugendstrafe hat indes keinen Bestand. Sie beruht, da die Jugendkammer dem Angeklagten die erheblichen Verletzungsfolgen des zweiten Tatopfers ausdrücklich besonders angelastet hat, auf dem rechtsfehlerhaft zu weit gefaßten Schuldspruch. Angesichts der durch den langen Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung begründeten besonderen Schwierigkeit der Bemessung einer angemessenen Jugendstrafe vermag der Senat weder festzustellen, daß eine geringere Strafhöhe keine angemessene Sanktion mehr wäre, noch erscheint es angezeigt, von einer Aufhebung der Jugendstrafe gemäß § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO abzusehen.
Bei dem bloßen Subsumtionsfehler bedarf es nicht der Aufhebung von Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht hat die Jugendstrafe auf der Grundlage des reduzierten Schuldspruchs und der umfassenden bislang fehlerfrei getroffenen Feststellungen zu bemessen, die allenfalls durch weitere ihnen nicht widersprechende Feststellungen ergänzt werden dürfen. Dabei wird es Wendungen zu vermeiden haben, die als bedenk- liche Relativierung des trotz der zeitlichen Fallbesonderheiten beachtlichen Erziehungsgedankens (§ 18 Abs. 2 JGG) aufgefaßt werden könnten. Zur Vermeidung von Mißverständnissen merkt der Senat an, daß die gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB nach allgemeinem Strafrecht gebotene Strafrahmenverschiebung zu beachten ist. Bei etwa andauerndem Vollzug der Untersuchungshaft wird namentlich unter Berücksichtigung der aufrechterhaltenen Anrechnungsentscheidung und angesichts der verstärkten Flexibilität möglicher Reststrafaussetzung im Jugendstrafrecht eine besonders beschleunigte Förderung des Verfahrens geboten sein.
Harms Häger Basdorf Gerhardt Raum

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

Tenor

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit er die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt; er wird in diesem Umfang aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. November 2014 - III - 3 Ausl 108/14 - gegenstandslos.

2. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Beschwerdeführers ergangenen Strafurteils erlassen wurde.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit rechtskräftigem Urteil der Corte di Appello von Florenz aus dem Jahr 1992 wurde er in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahr 2014 wurde er aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Italienischen Republik, das sich auf einen Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft bei der Corte di Appello von Florenz aus demselben Jahr stützt, in Deutschland festgenommen.

3

a) Mit dem Europäischen Haftbefehl wird die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe begehrt. Aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass dem Beschwerdeführer das zugrunde liegende Urteil aus dem Jahr 1992 nicht persönlich zugestellt wurde. Das Formblatt zum Europäischen Haftbefehl lautet insoweit:

d) Geben Sie an, ob die Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen ist:

1. Ja, die Person ist zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, persönlich erschienen.

2. Nein, die Person ist zu der Verhandlung, die zur Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen.

3. Bitte geben Sie zu der unter Nummer 2 angekreuzten Möglichkeit an, dass eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:

3.4 der Person wurde die Entscheidung nicht persönlich zugestellt, aber

- sie wird die Entscheidung unverzüglich nach der Übergabe zugestellt erhalten, und

- sie wird bei der Zustellung der Entscheidung ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann, und

- sie wird von der Frist in Kenntnis gesetzt werden, über die sie verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen, die … Tage beträgt.

4

Punkt 3.4 hatte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz angekreuzt. Punkt 2, wonach die ersuchende Behörde bestätigt, dass die auszuliefernde Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, ließ sie hingegen offen. Die Länge der in Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl genannten Antragsfrist gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz ebenfalls nicht an.

5

b) Buchstabe d, Punkt 3.4 des Formblatts zum Europäischen Haftbefehl geht auf Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl EU Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bzw. RbEuHb) zurück. Art. 4a Abs. 1 RbEuHb lautet:

Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist

(1) Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a) rechtzeitig

i) entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii) davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i) ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii) innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d) die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i) sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann

und

ii) von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

6

Italien hat eine nach Artikel 8 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI zulässige Erklärung abgegeben (ABl Nr. L 97 vom 16. April 2009, S. 26), infolge derer der Rahmenbeschluss spätestens ab dem 1. Januar 2014 Anwendung findet auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen italienischen Behörden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war.

7

c) Die für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls maßgeblichen nationalen Vorschriften finden sich im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG - (BGBl I 1982 S. 2071). In der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1721) lauteten § 73 und § 83:

§ 73 Grenze der Rechtshilfe

Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.

§ 83 Ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn

3. bei Ersuchen zur Vollstreckung das dem Ersuchen zugrunde liegende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist und der Verfolgte zu dem Termin nicht persönlich geladen oder nicht auf andere Weise von dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war, es sei denn, dass der Verfolgte in Kenntnis des gegen ihn gerichteten Verfahrens, an dem ein Verteidiger beteiligt war, eine persönliche Ladung durch Flucht verhindert hat oder ihm nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und auf Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung eingeräumt wird … .

8

d) Mit Beschluss vom 14. August 2014 entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, dass mit Blick auf das Vorliegen eines Abwesenheitsurteils die sich aus § 83 Nr. 3 IRG ergebenden Voraussetzungen derzeit nicht feststellbar seien.

9

Aus den Angaben der italienischen Behörden folge nicht mit der erforderlichen Sicherheit, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit habe, nachträglich eine umfassende gerichtliche Überprüfung der in seiner Abwesenheit erfolgten Verurteilung im Sinne einer neuen tatsächlichen Überprüfung der Feststellungen zum Schuldvorwurf und der erkannten Rechtsfolge zu erreichen. Dem Europäischen Haftbefehl lasse sich nicht entnehmen, dass der Beschwerdeführer dies durch einen einfachen Rechtsbehelf erreichen könne, der nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft sei und der ihm keine Beweislast auferlege. Die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß Art. 630 ff. CPP (Codice di procedura penale - italienische Strafprozessordnung) sei als außerordentlicher Rechtsbehelf ein Instrument mit Ausnahmecharakter und als solches an streng geregelte Wiederaufnahmegründe - insbesondere das Vorliegen neuer Beweise - gebunden. Das Oberlandesgericht forderte von den italienischen Behörden deshalb ergänzende Auskünfte zur tatsächlichen Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seiner anwaltlichen Vertretung sowie eine Zusicherung, dass ihm nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt werde, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werde.

10

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 teilte die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit, dass nach Art. 175 CPP der Verurteilte innerhalb von dreißig Tagen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist beantragen könne, welche im Fall der Auslieferung aus dem Ausland mit dem Datum der Überstellung beginne. Über diesen Antrag werde der Richter entscheiden, der bei Antragstellung tätig sei, im Falle einer Verurteilung der Richter, der für die Rechtsmitteleinlegung zuständig sei. Gegen die Anordnung, die den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückweise, könne Kassationsbeschwerde eingelegt werden. Ferner heißt es (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

Falls dem Antrag stattgegeben wird, muss erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, welcher erneut durch Anordnung geladen wird. Dem Verurteilten wird sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert.

11

Außerdem fügte die Generalstaatsanwaltschaft den Wortlaut des Art. 175 CPP in der Fassung des Gesetzes Nr. 60 vom 22. April 2005, also in der vor der Strafprozessreform aus dem Jahr 2014 geltenden Fassung, bei. Dieser lautet auszugsweise (zitiert nach der im Ausgangsverfahren in Auftrag gegebenen Übersetzung):

2. Falls ein Versäumnisurteil oder ein Strafbefehl erlassen wurde, wird der Verurteilte auf seinen Antrag in die Rechtmittelfristen oder Einspruchsfristen wiedereingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung war und freiwillig auf Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet hat. Zu diesem Zwecke wird die Justizbehörde jede erforderliche Prüfung vornehmen.

12

Über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und seine anwaltliche Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine näheren Auskünfte.

13

e) Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, er sei in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden. Ferner trug er unter Berufung auf deutschsprachige Literatur vor, die Wiedereinsetzung zur Einlegung eines Rechtsmittels stehe einem Recht auf das entzogene erstinstanzliche Verfahren nicht gleich. Die "verspätete" Berufung genüge wegen der beschränkten Prüfungskompetenz grundsätzlich nicht den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs. Im Regelfall finde in der Hauptverhandlung keine erneute Beweisaufnahme statt. Es handele sich um ein reines Aktenverfahren, in dem eine Beweisaufnahme nur in Ausnahmefällen möglich sei. Nach aktueller Gesetzeslage sei eine erneute Beweisaufnahme im Falle einer Abwesenheitsverurteilung nicht vorgesehen. Der Beschwerdeführer teilte dem Oberlandesgericht den Inhalt des einschlägigen Art. 603 CPP in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser ist in seinen Absätzen 1 bis 3 seit seinem Inkrafttreten 1988 unverändert und lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

1. Hat eine Partei in der Berufungsschrift oder in den gemäß Artikel 585 Absatz 4 hinterlegten Gründen die neuerliche Aufnahme von Beweisen, die bereits im Verfahren erster Instanz aufgenommen worden sind, oder die Aufnahme neuer Beweise beantragt, so ordnet das Gericht, wenn es der Ansicht ist, dass es auf Grund der Aktenlage nicht entscheiden kann, die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

2. Sind die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden oder aufgefunden worden, so ordnet das Gericht in den in Artikel 495 Absatz 1 vorgesehenen Grenzen die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an.

3. Die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung wird von Amts wegen angeordnet, wenn das Gericht sie für unumgänglich notwendig erachtet (604 Abs. 6).

14

Der Beschwerdeführer machte geltend, nach dem möglicherweise anwendbaren (mittlerweile allerdings durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafften) Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 werde eine neue Gerichtsverhandlung nur durchgeführt, wenn der Verurteilte nachweise, dass er von dem gegen ihn geführten Verfahren in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt Kenntnis gehabt und diesen Umstand auch nicht zu vertreten habe. Der Beschwerdeführer teilte auch den Inhalt von Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 in italienischer und deutscher Sprache mit. Dieser lautet (Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991):

4. Das Gericht ordnet außerdem die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung an, wenn der in erster Instanz säumige Angeklagte einen entsprechenden Antrag stellt und den Beweis erbringt, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis vom Ladungsdekret erhalten hatte, nicht erscheinen konnte, freilich vorausgesetzt, dass dieser Umstand im gegebenen Fall nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist oder dass er sich, wenn die Ladung zum Verfahren erster Instanz durch Aushändigung an den Verteidiger in den in Artikeln 159, 161, Absatz 4, und 169 vorgesehenen Fällen erfolgt ist, nicht willentlich der Kenntnisnahme von den Verfahrenshandlungen entzogen hat.

15

Die in Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 geregelte Beweis- und Darlegungslast sei identisch mit der Regelung in den früheren (vor 2005 geltenden) Fassungen des Art. 175 Abs. 2 CPP. Diese hätten dem Verurteilten die Beweis- und Darlegungslast hinsichtlich seiner Nichtkenntnis über das Verfahren auferlegt, was nach der einhelligen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Auslieferungshindernis begründet habe. Es liege nahe, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, weil nach einer Entscheidung der italienischenCorte di Cassazione vom 17. Juli 2014 (No. 36848) auf Abwesenheitsverfahren, die vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 durchgeführt worden seien, die alte Rechtslage Anwendung finde. Die Entscheidung der Corte di Cassazione teilte der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht im Wortlaut mit. Dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn anwendbar sei, werde auch dadurch belegt, dass die Generalstaatsanwaltschaft Florenz den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung von 2005 übersandt habe.

16

f) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 7. November 2014 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig. § 83 Nr. 3 IRG stehe ihr nicht entgegen. Nach den ergänzenden Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 gehe der Senat davon aus, dass der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren habe, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft werde und in dem ihm auch ein Recht auf Anwesenheit zustehe. Eine solche Überprüfung des Anklagevorwurfs sei durch den Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP in der dort mitgeteilten Fassung gewährleistet. Danach werde der Verurteilte "auf seinen Antrag in die Rechtsmittel- oder Einspruchsfristen wieder eingesetzt, es sei denn, dass dieser in Kenntnis des Verfahrens oder der Verfügung" gewesen sei "und freiwillig auf den Einspruch oder Rechtsmittel verzichtet" habe.

17

Es sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justizbehörden stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung stehe. Zugleich sei eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils gewährleistet. Offen bleiben könne, ob diese Prüfung im Rahmen einer Berufungshauptverhandlung oder in einem neuen erstinstanzlichen Verfahren stattfinde. Es sei schon fraglich, ob der Einwand des Beschwerdeführers, das Berufungsverfahren nach italienischem Recht biete keine umfassende Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG, überhaupt durchgreifen könne. Selbst wenn - wie vom Beschwerdeführer vorgetragen - im Rahmen des italienischen Berufungsverfahrens ("appello", Art. 593 ff. CPP) in der Hauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, so handele es sich doch um ein Rechtsmittel, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden (unter Verweis auf Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Daraus ergebe sich, dass in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, in deren Rahmen eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei.

18

Ein solches Verfahren genüge den Anforderungen des § 83 Nr. 3 IRG. Die Vorschrift gehe auf Art. 5 Nr. 1 RbEuHb (in der Fassung vom 13. Juni 2002, ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1) zurück. Bei dessen Umsetzung in deutsches Recht seien (zwar) die Voraussetzungen, unter denen ein Abwesenheitsurteil Grundlage der Auslieferung sein könne, an die von Rechtsprechung und Schrifttum zu § 73 IRG entwickelten Grundsätze angenähert worden. Aus den zu § 73 IRG entwickelten Grundsätzen ergebe sich indes kein Anspruch auf ein neues Gerichtsverfahren im Sinne einer vollständigen ersten Tatsachen- und Rechtsinstanz. Vielmehr reiche die Möglichkeit, sich nach Erlangung der Kenntnis von dem Urteil rechtliches Gehör verschaffen und wirksam verteidigen zu können. Dass mit der Einführung von § 83 Nr. 3 IRG eine Anhebung des zu § 73 IRG entwickelten Standards habe verbunden werden sollen, sei nicht ersichtlich.

19

Unabhängig von diesen allgemeinen Erwägungen ergebe sich für den vorliegenden Fall auch aus dem Antwortschreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 hinreichend deutlich, dass der Vorwurf gegen den Beschwerdeführer in einem neuen Gerichtsverfahren umfassend überprüft werde. Nach diesem Schreiben bestehe im Falle der Wiedereinsetzung ausdrücklich ein Anspruch auf eine neue Hauptverhandlung und eine erneute Ladung; auch werde dem Beschwerdeführer sein Verteidigungsrecht ohne Vorbehalt zugesichert. Auf die Frage, ob dieser gegebenenfalls einen Anspruch auf Nichtigkeitsfeststellung und/oder auf eine Wiederaufnahme gemäß Art. 603 Abs. 4 CPP habe, komme es nach alledem nicht mehr an. Die Einholung eines Rechtsgutachtens zur aktuellen Rechtslage in Italien sei nicht erforderlich gewesen.

20

2. a) Mit Gegenvorstellung vom 13. November 2014 machte der Beschwerdeführer geltend, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 CPP könne er nach italienischem Strafprozessrecht überhaupt nur erreichen, in die Rechtsmittelfrist einer Berufung eingesetzt zu werden. Das ergebe sich bereits aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft vortrage, es werde erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden, könne damit nur die Durchführung einer Berufungshauptverhandlung (Art. 593 ff. CPP) gemeint sein, da Art. 175 CPP lediglich die Wiedereinsetzung in eine Rechtsmittelfrist der Berufung ermögliche. Das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen oder die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten, hätte der Beschwerdeführer nach italienischem Strafprozessrecht nur ganz ausnahmsweise, da er die Beweislast dafür trage, dass er von dem damaligen Verfahren keine Kenntnis gehabt habe. Ob eine erneute Beweisaufnahme stattfinde oder nicht, stehe zudem im Ermessen des Richters.

21

b) Mit Beschluss vom 27. November 2014 wies das Oberlandesgericht die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. Der Senat halte an seiner Auffassung fest, dass dem Beschwerdeführer bereits mit der - effektiv gegebenen - Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist des italienischen Berufungsverfahrens die Möglichkeit einer umfassenden Überprüfung des gegen ihn gerichteten Vorwurfs im Sinne von § 83 Nr. 3 IRG zur Verfügung stehe, da auf diese Weise eine vollständige Überprüfung der Stichhaltigkeit des gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwurfs nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht gewährleistet sei. Dass die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 6 Abs. 3 EMRK im Rahmen der Berufungshauptverhandlung eingeschränkt wären, vermöge der Senat mit Blick auf die ergänzende Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nicht zu erkennen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestehe im Übrigen bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens; vielmehr solle eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht genügen.

22

Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahre 1985 die verspätete Berufung nach italienischem Recht als nicht ausreichende Überprüfungsmöglichkeit angesehen habe, führe vorliegend zu keiner anderen Beurteilung. Nach den damals maßgeblichen Vorschriften habe das Berufungsgericht über die Stichhaltigkeit der Anklage unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden dürfen, wenn es der Ansicht gewesen sei, dass ein Verstoß der zuständigen Behörden gegen die bei der Erklärung einer strafverfolgten Person für "latitante" (untergetaucht) oder gegen die bei der Zustellung von Verfahrensdokumenten zu beachtenden Bestimmungen vorgelegen habe; zudem habe der Angeklagte beweisen müssen, dass er sich der Gerechtigkeit nicht habe entziehen wollen.

23

Eine derartige Beschränkung des italienischen Berufungsgerichts vermöge der Senat jedoch auch unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Bedenken für das auf diesen nunmehr anwendbare Berufungsverfahren nicht zu erkennen. Die danach jedenfalls bestehende Möglichkeit einer erneuten Erhebung bereits in erster Instanz erhobener Beweise bei der Überprüfung des Abwesenheitsurteils genüge den vom Senat in seinem Beschluss vom 7. November 2014 bereits ausführlich dargelegten Anforderungen an eine umfassende Überprüfung des Anklagevorwurfs im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG. Die konkrete Ausgestaltung und Praxis des Berufungsverfahrens nach deutschem Recht könne im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union insoweit kein Maßstab sein.

II.

24

Auf den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 27. November 2014 entschieden, die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Italienischen Republik bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen auszusetzen. Mit Beschluss vom 13. Mai 2015 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats und mit Beschluss vom 3. November 2015 der Zweite Senat die einstweilige Anordnung vom 27. November 2014 für die Dauer von jeweils weiteren sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, wiederholt (§ 32 Abs. 6 Satz 2 BVerfGG).

III.

25

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG, seines Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 EMRK), eine Verletzung der nach Art. 25 GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards sowie einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK. Er habe zu keinem Zeitpunkt davon Kenntnis gehabt, dass in Italien ein Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren gegen ihn geführt worden sei. Zudem sei nicht gewährleistet, dass ihm nach seiner Auslieferung das Recht auf ein Gerichtsverfahren eingeräumt werde, in dem die Tatvorwürfe in seiner Anwesenheit erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft würden.

26

Eine ausreichende Zusicherung der italienischen Regierung liege insoweit nicht vor. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 komme nicht die notwendige völkerrechtliche Verbindlichkeit zu. Das Oberlandesgericht habe die fehlende ausdrückliche Zusicherung nicht durch eine eigenständige Würdigung des Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 ersetzen dürfen. Es hätte überprüfen müssen, ob dieser Zusicherung mit absoluter Sicherheit vertraut werden könne. Bestehende Aufklärungsmöglichkeiten, etwa die Einholung eines Sachverständigengutachtens des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, habe es nicht ausgeschöpft.

27

Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Florenz lasse sich auch nicht entnehmen, in welcher Weise und in welchem Rechtszug neu verhandelt würde. Da Art. 175 CPP nur die Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähre, sei nach italienischem Strafverfahrensrecht (Art. 593 ff. CPP) eine erneute Beweisaufnahme nicht garantiert. Das Berufungsverfahren sei ein reines "Aktenverfahren", bei dem es nur in Ausnahmefällen zu einer erneuten Beweisaufnahme komme. Dies hänge davon ab, ob dem Beschwerdeführer der Nachweis der Unkenntnis von dem in Abwesenheit gegen ihn geführten Verfahren gelinge. Ob eine neue Beweisaufnahme durchgeführt werde, stehe zudem im Ermessen des Richters. Dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft lasse sich nicht entnehmen, dass mit der neuen Verhandlung eine erstinstanzliche Hauptverhandlung gemeint sei.

IV.

28

Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Senat vorgelegen. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, alle Landesregierungen, der Generalbundesanwalt und die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf hatten Gelegenheit zur Äußerung. Von den Äußerungsberechtigten hat nur der Generalbundesanwalt Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

29

Die Rechtsanwendung durch das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Die fachgerichtliche Würdigung der Erklärungen der italienischen Strafverfolgungsbehörden sei jedenfalls vertretbar. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 habe das Oberlandesgericht als völkerrechtlich verbindliche Zusicherung eines neuen Verfahrens unter Wahrung der vollständigen Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers verstehen dürfen. Die Erklärung enthalte sowohl die Zusicherung eines Verfahrens, in welchem der Tatvorwurf in tatsächlicher Hinsicht geprüft werde, als auch der Wahrung der Verteidigungsrechte.

30

Das Oberlandesgericht sei verfassungsrechtlich nicht gehalten gewesen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Es sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vertraue. Italien sei ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, der bei der Anwendung seiner nationalen Rechtsnormen an die Vorgaben der Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union und die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden sei. Dass Italien die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzen würde, habe das Oberlandesgericht nicht unterstellen müssen, zumal dies dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderlaufe, der das Recht der Europäischen Union präge.

31

Der Einwand des Beschwerdeführers, das Oberlandesgericht habe die Regelungen des italienischen Strafverfahrensrechts unzureichend interpretiert, gehe fehl. Die Behauptung, aus der Rechtsprechung der italienischen Corte di Cassazione ergebe sich, dass auf Verurteilungen, die vor dem 28. April 2014 erfolgt seien, Art. 175 CPP in seiner früheren Fassung anzuwenden sei, greife nicht durch. Eine solche Lesart sei im Antragsvorbringen nicht belegt. Dass die italienische Corte di Cassazione - unter eklatantem Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und entgegen dem eindeutigen Willen des italienischen Gesetzgebers - zu der vor 2005 geltenden Rechtslage zurückgekehrt sei, erscheine derart fernliegend, dass es keiner weiteren Ausführungen hierzu bedurft habe. Zudem bezögen sich die Darlegungen des Beschwerdeführers primär auf die - offenbar im Jahr 2014 aufgehobene - Regelung zum Nichtigkeitsverfahren.

32

Der vom Beschwerdeführer behaupteten Umkehr der Beweislast zu seinen Lasten stehe jedenfalls die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 entgegen, die die Anwendbarkeit der Beweislastregeln in der seit 2005 geltenden Fassung von Art. 175 CPP bestätigt habe. Dieser Fassung sei eine Beweislast zum Nachteil des Angeklagten nicht zu entnehmen. Das Oberlandesgericht habe deshalb keinen Grund zu der Annahme gehabt, der Antragsteller müsse - im Wiederaufnahmeverfahren - seine fehlende Kenntnis von dem gegen ihn in Abwesenheit geführten Verfahren beweisen.

33

In Anbetracht der Zusicherung der italienischen Behörden habe das Oberlandesgericht auch nicht der Frage nachgehen müssen, ob dem Beschwerdeführer die neue Hauptverhandlung in einem erstinstanzlichen Verfahren oder - bei mangelndem Erfolg eines Antrags auf Feststellung der Nichtigkeit des Abwesenheitsurteils aus dem Jahre 1992 - in einem Berufungsverfahren eröffnet würde. Es habe entscheidend darauf abstellen dürfen, dass der gegen den Beschwerdeführer erhobene Tatvorwurf nach seiner Überstellung in einer Tatsacheninstanz unter Wahrung sämtlicher Verteidigungsrechte geprüft werde. Die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 sichere dies unter Buchstabe d zu. Im Übrigen genüge es den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und wirksame Verteidigung in einem Verfahren wahrnehmen könne. Die Einhaltung dieser Mindestvoraussetzungen habe das Oberlandesgericht angesichts der vorliegenden Zusicherung als gewährleistet betrachten dürfen.

B.

34

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die strengen Voraussetzungen für eine Identitätskontrolle (vgl. Rn. 49) sind erfüllt. Im Kern zutreffend setzt sich die Beschwerdeschrift mit den verfassungsrechtlichen Aspekten von in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteilen sowie mit den damit zusammenhängenden Aufklärungspflichten der Gerichte auseinander. Aus der Verfassungsbeschwerde ergibt sich nachvollziehbar die Möglichkeit, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung nach Italien kein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen wird, durch den das in seiner Abwesenheit ergangene Strafurteil in einer Weise angefochten werden kann, die seine nach dem Grundgesetz unabdingbaren und von der Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfassten Verteidigungsrechte gewährleistet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Wird die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das Bundesverfassungsgericht - ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht gerügt wurde (vgl. BVerfGE 73, 339 <378 ff.>; 102, 147 <161 ff.>) - einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>; dazu sogleich unter C.I.2.bis 5.).

C.

35

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.

I.

36

Hoheitsakte der Europäischen Union und - soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden - Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen (1.). Der Anwendungsvorrang findet seine Grenze jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung (2.). Dazu gehören namentlich die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips im Strafrecht (3.). Die Gewährleistung dieser Grundsätze ist auch bei der Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt im Einzelfall sicherzustellen (4.). Eine Verletzung dieses unabdingbaren Maßes an Grundrechtsschutz kann vor dem Bundesverfassungsgericht allerdings nur gerügt werden, wenn substantiiert dargelegt wird, dass die Würde des Menschen im konkreten Fall tatsächlich beeinträchtigt wird (5.).

37

1. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union mit. Für den Erfolg der Europäischen Union ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung (vgl. BVerfGE 73, 339 <368>; 123, 267 <399>; 126, 286 <301 f.>). Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, Slg. 1964, S. 1251 <1269 f.>). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>).

38

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 <100>) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 <301>).

39

Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen (vgl. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 247 ff.). Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen (vgl. BVerfGE 118, 79 <95>; 122, 1 <20>). Umgekehrt sind die bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums zur Ausfüllung erlassenen Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich (vgl. BVerfGE 122, 1 <20 f.>; 129, 78 <90 f.>).

40

2. Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen (vgl. BVerfGE 73, 339 <375 f.>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 ff.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <99>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <402>). Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich - jenseits des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten Ausgestaltung - aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes (a). Dies ist mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) vereinbar (b) und wird auch dadurch bestätigt, dass sich im Verfassungsrecht der meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbare Grenzen finden (c).

41

a) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird im Wesentlichen durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt (aa). Zu deren Sicherstellung dient die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (bb).

42

aa) Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 <296>; 123, 267 <348>; 134, 366 <384 Rn. 27>). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 <384 Rn. 27>).

43

bb) Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <344, 353 f.>; 126, 286 <302>; 129, 78 <100>; 134, 366 <384 f. Rn. 27>). Diese Prüfung kann - wie der Solange-Vorbehalt (vgl. BVerfGE 37, 271 <277 ff.>; 73, 339 <387>; 102, 147 <161 ff.>) oder die Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 58, 1 <30 f.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 123, 267 <353 ff.>; 126, 286 <302 ff.>; 134, 366 <382 ff. Rn. 23 ff.>) - im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>). Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>). Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354 f.>).

44

b) Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt (vgl. zur Berücksichtigung der nationalen Identität auch EuGH, Urteil vom 2. Juli 1996, Kommission/Luxemburg, C-473/93, SIg. 1996, I-3207, Rn. 35; Urteil vom 14. Oktober 2004, Omega, C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 31 ff.; Urteil vom 12. Juni 2014, Digibet und Albers, C-156/13, EU:C:2014:1756, Rn. 34) und entspricht insoweit auch den besonderen Gegebenheiten der Europäischen Union. Die Europäische Union ist ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund, der seine Grundlagen letztlich in völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten findet. Als Herren der Verträge entscheiden diese durch nationale Geltungsanordnungen darüber, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <190>; 123, 267 <348 f., 381 ff.>; 126, 286 <302 f.>; 134, 366 <384 Rn. 26>). Nicht entscheidend ist, ob die Geltungsanordnung - wie in Frankreich (Art. 55 FrzVerf.), Österreich (Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, BGBl für die Republik Österreich Nr. 744/1994) oder Spanien (Art. 96 Abs. 1 SpanVerf.) - im nationalen Verfassungsrecht oder - wie in Großbritannien - im Zustimmungsgesetz (European Communities Act 1972; vgl. Court of Appeal, Macarthys v. Smith, <1981> 1 All ER 111 <120>; Macarthys v. Smith, <1979> 3 All ER 325 <329>; House of Lords, Garland v. British Rail Engineering, <1982> 2 All ER 402 <415>) ausdrücklich niedergelegt ist, ob sie - wie in Deutschland - aufgrund einer systematischen, teleologischen und historischen Auslegung dem Zustimmungsgesetz entnommen oder ob die Nachrangigkeit des nationalen Rechts gegenüber dem Unionsrecht - wie in Italien - durch eine einzelfallbezogene Handhabung des nationalen Rechts erreicht wird (vgl. Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98).

45

Es bedeutet daher keinen Widerspruch zur Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Präambel, Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), wenn das Bundesverfassungsgericht unter eng begrenzten Voraussetzungen die Maßnahme eines Organs oder einer Stelle der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt (vgl. BVerfGE 37, 271 <280 ff.>; 73, 339 <374 ff.>; 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <174 f.>; 102, 147 <162 ff.>; 123, 267 <354, 401>).

46

Eine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ergibt sich daraus nicht. Zum einen wird gerade im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Grundsätze des Art. 1 GG eine Verletzung schon deshalb nur selten vorkommen, weil Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten (vgl. nur EuGH, Urteil vom 9. November 2010, Schecke und Eifert, C-92/09 und C-93/09, Slg. 2010, I-11063, Rn. 43 ff.; Urteil vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland und Seitlinger, C-293/12 und C-594/12, EU:C:2014:238, Rn. 23 ff.; Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C-131/12, EU:C:2014:317, Rn. 42 ff., 62 ff., 89 ff.; Urteil vom 6. Oktober 2015, Schrems, C-362/14, EU:C:2015:650, Rn. 91 ff.). Zum anderen sind die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (vgl. BVerfGE 126, 286 <303>). Soweit erforderlich, legt es seiner Prüfung dabei die Maßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den Gerichtshof der Europäischen Union gegeben wurde. Das gilt nicht nur im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle, sondern auch vor der Feststellung der Unanwendbarkeit einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union in Deutschland wegen einer Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG geschützten Verfassungsidentität (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>; 126, 286 <304>; 134, 366 <385 Rn. 27>).

47

c) Die Vereinbarkeit der verfassungsgerichtlichen Identitätskontrolle mit dem Unionsrecht wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sich, mit Modifikationen im Detail, auch im Verfassungsrecht zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorkehrungen zum Schutz der Verfassungsidentität und der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union finden (vgl. insoweit BVerfGE 134, 366 <387 Rn. 30>). Die weitaus überwiegende Zahl der Verfassungs- und Obergerichte der anderen Mitgliedstaaten teilt für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass der (Anwendungs-)Vorrang des Unionsrechts nicht unbegrenzt gilt, sondern dass ihm durch das nationale (Verfassungs-)Recht Grenzen gezogen werden (vgl. für das Königreich Dänemark: Højesteret, Urteil vom 6. April 1998 - I 361/1997 -, Abschn. 9.8; für die Republik Estland: Riigikohus, Urteil vom 12. Juli 2012 - 3-4-1-6-12 -, Abs.-Nr. 128, 223; für die Französische Republik: Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 2006-540 DC vom 27. Juli 2006, 19. Erwägungsgrund; Entscheidung Nr. 2011-631 DC vom 9. Juni 2011, 45. Erwägungsgrund; Conseil d'État, Urteil vom 8. Februar 2007, Nr. 287110 , Société Arcelor Atlantique et Lorraine, EuR 2008, S. 57 <60 f.>; für Irland: Supreme Court of Ireland, Crotty v. An Taoiseach, <1987>, I.R. 713 <783>; S.P.U.C. Ltd. v. Grogan, <1989>, I.R. 753 <765>; für die Italienische Republik: Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 98/1965, Acciaierie San Michele, EuR 1966, S. 146; Entscheidung Nr. 183/1973, Frontini, EuR 1974, S. 255; Entscheidung Nr. 170/1984, Granital, EuGRZ 1985, S. 98; Entscheidung Nr. 232/1989, Fragd; Entscheidung Nr. 168/1991; Entscheidung Nr. 117/1994, Zerini; für die Republik Lettland: Satversmes tiesa, Urteil vom 7. April 2009 - 2008-35-01 -, Abs.-Nr. 17; für die Republik Polen: Trybunal Konstytucyjny, Urteile vom 11. Mai 2005 - K 18/04 -, Rn. 4.1., 10.2.; vom 24. November 2010 - K 32/09 -, Rn. 2.1. ff.; vom 16. November 2011 - SK 45/09 -, Rn. 2.4., 2.5.; für das Königreich Spanien: Tribunal Constitucional, Erklärung vom 13. Dezember 2004, DTC 1/2004, Punkt 2 der Entscheidungsgründe, EuR 2005, S. 339 <343> und Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <477 f.>; für die Tschechische Republik: Ústavni Soud, Urteil vom 8. März 2006, Pl. ÚS 50/04, Abschn. VI.B.; Urteil vom 3. Mai 2006, Pl. ÚS 66/04, Rn. 53; Urteil vom 26. November 2008, Pl. ÚS 19/08, Rn. 97, 113, 196; Urteil vom 3. November 2009, Pl. ÚS 29/09, Rn. 110 ff.; Urteil vom 31. Januar 2012, Pl. ÚS 5/12, Abschn. VII.; für das Vereinigte Königreich: High Court, Urteil vom 18. Februar 2002, Thoburn v. Sunderland City Council, <2002> EWHC 195 , Abs.-Nr. 69; UK Supreme Court, Urteil vom 22. Januar 2014, R v. The Secretary of State for Transport, <2014> UKSC 3, Abs.-Nr. 79, 207; Urteil vom 25. März 2015, Pham v. Secretary of State for the Home Department, <2015> UKSC 19, Abs.-Nr. 54, 58, 72 bis 92).

48

3. Zu den Schutzgütern der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt sind, gehören die Grundsätze des Art. 1 GG, also die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>).

49

4. Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter dulden auch keine Relativierung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 113, 273 <295 ff.>; 123, 267 <344>; 126, 286 <302 f.>; 129, 78 <100>; 129, 124 <177 ff.>; 132, 195 <239 ff. Rn. 106 ff.>; 134, 366 <384 ff. Rn. 27 ff.>). Dies gilt insbesondere mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde stellt den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 30, 173 <193>; 32, 98 <108>; 117, 71 <89>). Ihre Achtung und ihr Schutz gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 131, 268 <286>; stRspr), denen auch der in der Präambel und in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Integrationsauftrag und die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>; 126, 286 <303>; 129, 124 <172>; 132, 287 <292 Rn. 11>) Rechnung tragen müssen. Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.

50

5. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. Es muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Artikel 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist.

II.

51

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts überschreitet die durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen. Der Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl betrifft das Schuldprinzip, das in der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelt und Teil der unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes ist (1.). Dies rechtfertigt und gebietet eine auf dieses Schutzgut beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist (2.). Zwar genügen die der Entscheidung zugrunde liegenden Vorgaben des Unionsrechts und das zu dessen Umsetzung ergangene deutsche Recht den Anforderungen des Art. 1 Abs. 1 GG, da sie die notwendigen Rechte des Verfolgten bei Auslieferungen zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangenen Strafurteilen gewährleisten und eine angemessene Sachverhaltsaufklärung der mit der Auslieferung befassten Gerichte nicht nur zulassen, sondern fordern (3.). Ihre Anwendung durch das Oberlandesgericht verletzt das Schuldprinzip und damit den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG, weil sie der Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde bei der Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nicht hinreichend Rechnung trägt (4.).

52

1. Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl kann Art. 1 Abs. 1 GG verletzt werden, weil bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils eine strafrechtliche Reaktion auf ein sozialethisches Fehlverhalten durchgesetzt wird, die ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar wäre (a). Auch in dem unionsrechtlich determinierten Verfahren der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls müssen daher die der Ermittlung des wahren Sachverhalts dienenden rechtsstaatlichen Mindestgarantien an Verfahrensrechten des Beschuldigten sichergestellt sein, die zur Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips erforderlich sind (b).

53

a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz (BVerfGE 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Dieser den gesamten Bereich staatlichen Strafens beherrschende Grundsatz ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (vgl. BVerfGE 45, 187 <259 f.>; 86, 288 <313>; 95, 96 <140>; 120, 224 <253 f.>; 130, 1 <26>; 133, 168 <197 Rn. 53>). Mit seiner Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>). Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden.

54

aa) Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 54>). Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 <140>) sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 80, 367 <378>; 90, 145 <173>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 f. Rn. 54>). Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 110, 1 <13>; 133, 168 <198 Rn. 54>). Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>). Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 133, 168 <198 Rn. 54>).

55

bb) Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 <130>). Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 <92>; 7, 194 <196>; 45, 187 <246>; 74, 129 <152>; 122, 248 <272>) und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein (vgl. BVerfGE 84, 90 <121>). Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird (BVerfGE 95, 96 <130 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>). Gemessen an der Idee der Gerechtigkeit müssen Straftatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 25, 269 <286>; 27, 18 <29>; 50, 205 <214 f.>; 120, 224 <241>; stRspr). Die Strafe muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 45, 187 <228>; 50, 5 <12>; 73, 206 <253>; 86, 288 <313>; 96, 245 <249>; 109, 133 <171>; 110, 1 <13>; 120, 224 <254>; 133, 168 <198 Rn. 55>). In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. BVerfGE 45, 187 <253 f.>; 109, 133 <173>; 120, 224 <253 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>).

56

b) Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist (aa). Die Zumessung einer angemessenen Strafe, die zugleich einen sittlich-ethischen Vorwurf darstellt, setzt die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und damit grundsätzlich dessen Anwesenheit voraus. Der Schuldgrundsatz macht daher Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess erforderlich, durch die gewährleistet wird, dass der Beschuldigte Umstände vorbringen und prüfen lassen kann, die zu seiner Entlastung führen oder für die Strafzumessung relevant sein können (bb). Diese Garantien müssen auch bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils gewahrt werden (cc).

57

aa) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dessen Aufgabe ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen (vgl. BVerfGE 122, 248 <270>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden (vgl. BVerfGE 9, 167 <169>; 74, 358 <371>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet (vgl. BVerfGE 35, 311 <320>; 74, 358 <371>; stRspr).

58

bb) Ziel und Aufgabe des Strafverfahrens ist es, die dem Täter und der Tat angemessene Strafe auszusprechen. Im deutschen Rechtskreis ist mit Strafe weit mehr als ein belastender Rechtseingriff oder ein Übel, das den Täter trifft, gemeint. Als Charakteristikum der Kriminalstrafe wird hier neben einem solchen Eingriff oder Übel mit dem Strafausspruch auch ein Tadel oder Vorwurf zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen sozial-ethischen Vorwurf oder um eine besondere sittliche Missbilligung. Mit Strafe im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Vorwurf irgendeiner Rechtsverletzung gemeint, sondern die Verletzung eines Teils des Rechts, das eine tiefere, nämlich eine sozial-ethische Fundierung besitzt (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>; 90, 145 <200 - abw. M.>; 95, 96 <140>; 96, 10 <25>; 96, 245 <249>; 109, 133 <167>; 109, 190 <217>; 120, 224 <240>; 123, 267 <408>; siehe im Vergleich hierzu die Bewertung von Geldbußen in BVerfGE 42, 261 <263>; aus der Literatur siehe nur Weigend, in: Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Aufl. 2007, Einleitung Rn. 1; Radtke, in: MüKo, StGB, 2. Aufl. 2012, Vorbem. zu §§ 38 ff., Rn. 14; ders., GA 2011, S. 636 <646>; Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 46, S. 89). Daraus folgt aber, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtigt, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein kann. Dies wiederum setzt grundsätzlich voraus, dass das Gericht in der öffentlichen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhält. Jedenfalls muss für den Angeklagten das Recht gewährleistet sein, insbesondere rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Umstände dem Gericht persönlich, im Gegenüber von Angeklagtem und Richter, darzulegen. Denn der Vorwurf eines sozial-ethischen Fehlverhaltens ist ein die Persönlichkeit des Verurteilten treffender Vorwurf (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>), der ihn in seinem Wert- und Achtungsanspruch, der in der Menschenwürde wurzelt, berührt.

59

cc) Die durch den Schuldgrundsatz gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess sind auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils zu beachten (1). Die deutschen Gerichte trifft insoweit eine "Gewährleistungsverantwortung" mit Blick auf den ersuchenden Staat (2).

60

(1) In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass bei der Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; BVerfGK 3, 27 <32>; 3, 314 <317>; 6, 13 <18>; 6, 334 <341 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. November 1986 - 2 BvR 1255/86 -, NJW 1987, S. 830 <830>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>) beziehungsweise der unverzichtbare Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung (BVerfGE 63, 332 <338>) zu beachten sind. Der Senat hat daher die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen ausländischen Strafurteils für unzulässig erklärt, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet war, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>; BVerfGK 3, 27 <32 f.>; 3, 314 <318>; 6, 13 <18>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

61

Soll der Verfolgte im ersuchenden Staat nicht zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden, muss er die Möglichkeit haben, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen.

62

(2) Die zuständigen Auslieferungsgerichte tragen insoweit auch für die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Verantwortung. Zwar endet die grundrechtliche Verantwortlichkeit der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich dort, wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden souveränen Staat nach dessen eigenem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird (vgl. BVerfGE 66, 39 <56 ff., 63 f.>). Gleichwohl darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 f.>; 60, 348 <355 ff.>; 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <19>; 108, 129 <136 f.>; 113, 154 <162 f.>).

63

Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft deshalb eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die ebenfalls dem Schutz von Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt (a). Dies gilt unbeschadet des den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens (b).

64

(a) Inhalt und Umfang der prozessualen Aufklärungspflicht im gerichtlichen Auslieferungsverfahren lassen sich nicht abstrakt-generell festlegen, sondern hängen von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab.

65

Zu dem von den deutschen Gerichten zu ermittelnden Sachverhalt gehört insbesondere die Behandlung, die der Verfolgte im ersuchenden Staat zu erwarten hat. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung haben sie grundsätzlich die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung einer behaupteten Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze von Amts wegen durchzuführen; den Betroffenen trifft insoweit keine Beweislast (vgl. BVerfGE 8, 81 <84 f.>; 52, 391 <406 f.>; 63, 215 <225>; 64, 46 <59>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1996 - 2 BvR 2407/96 -, juris, Rn. 6; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. September 2000 - 2 BvR 1560/00 -, NJW 2001, S. 3111 <3112>).

66

Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verfolgten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards. Als Beweismittel kommen dabei sämtliche Erkenntnismittel in Betracht, die nach den Grundsätzen der Logik, allgemeiner Erfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet sind oder geeignet sein können, die Überzeugung des Gerichts vom Vorhandensein entscheidungserheblicher Tatsachen und von der Richtigkeit einer Beurteilung oder Wertung von Tatsachen zu begründen (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 98 Rn. 3; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 30 Rn. 22). Auch bietet sich eine Anfrage beim ersuchenden Staat an (vgl. § 30 Abs. 1, § 78 Abs. 1 IRG). Gegebenenfalls kann es erforderlich werden, ein Gutachten oder eine amtliche Auskunft einzuholen.

67

(b) Dies bedeutet nicht, dass die Grundlagen eines Auslieferungsersuchens von deutschen Gerichten stets umfassend nachvollzogen werden müssten. Gerade im europäischen Auslieferungsverkehr gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieses Vertrauen kann jedoch erschüttert werden. Die Grundsätze, die den Auslieferungsverkehr auf völkerrechtlicher Grundlage beherrschen (aa), sind auf Auslieferungen im Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im hier in Rede stehenden Umfang übertragbar (bb).

68

(aa) Im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (vgl. BVerfGE 109, 13 <35 f.>; 109, 38 <61>). Ausnahmen sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 60, 348 <355 f.>; 63, 197 <206>; 109, 13 <33>; 109, 38 <59>).

69

Der Verfolgte hat - wie auch im asylrechtlichen Verfahren - eine Darlegungslast, mit der er den an der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beteiligten Stellen hinreichende Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen geben muss (vgl. BVerfGK 6, 334 <342>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz vereinbar sind, kann insbesondere bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337>; BVerfGK 3, 27 <31 f.>; 6, 13 <17>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 <1411>).

70

Eine entsprechende, im Auslieferungsverfahren erteilte, völkerrechtlich verbindliche Zusicherung ist grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfGK 2, 165 <172 f.>; 3, 159 <165>; 6, 13 <19>; 6, 334 <343>; 13, 128 <136>; 13, 557 <561>; 14, 372 <377>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 - 2 BvR 2386/08 -, juris, Rn. 16).

71

Die von einem Verfolgten behauptete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung steht einer Auslieferung nicht schon dann entgegen, wenn sie aufgrund eines bekanntgewordenen früheren Vorfalls nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Vielmehr müssen begründete Anhaltspunkte für die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung vorliegen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, juris, Rn. 4; vom 31. Mai 1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, S. 2883 <2884>; vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96 -, EuGRZ 1996, S. 324 <326>). Es müssen stichhaltige Gründe gegeben sein, nach denen gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass in dem ersuchenden Staat die völkerrechtlichen Mindeststandards nicht beachtet werden. Auf konkrete Anhaltspunkte kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht. Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen (vgl. BVerfGE 108, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2007 - 2 BvR 1680/07 -, NVwZ 2008, S. 71 <72>).

72

(bb) Dies gilt, soweit es um die Gewährleistung des Schuldprinzips geht, auch für Auslieferungen, die auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl stattfinden.

73

Zwar ist einem Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Die Europäische Union bekennt sich zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören (vgl. Art. 2 EUV). Ihre Mitgliedstaaten haben sich sämtlich der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstellt. Soweit sie Unionsrecht durchführen, sind sie überdies an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte gebunden (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh). Das Vertrauen in die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes umfasst namentlich die im Europäischen Haftbefehl getätigten Angaben des um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaats. Das für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständige Gericht ist daher grundsätzlich nicht verpflichtet, bestehende Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen oder positiv festzustellen, dass dem um Auslieferung ersuchenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung des Schuldprinzips vertraut werden kann.

74

Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wird jedoch dann erschüttert, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte für solche Ermittlungen dargelegt hat. Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung mit der Verfassungsidentität des Grundgesetzes vereinbar ist, besteht nicht allein deswegen, weil das Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Ein Mitgliedstaat, der um die Auslieferung zur Vollstreckung einer in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Entscheidung nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb ersucht, erklärt durch seine ordnungsgemäß getätigten Angaben im Formblatt, dass der Verfolgte entweder tatsächlich von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch in seiner Abwesenheit ergehen kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a RbEuHb), dass der Verfolgte in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe b RbEuHb) oder dass der Verfolgte berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann (vgl. Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb).

75

Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass der vom Grundgesetz geforderte Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

76

2. Die Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips rechtfertigt und gebietet eine auf diese verfahrensrechtlichen Mindestgarantien beschränkte Prüfung der Entscheidung des Oberlandesgerichts am Maßstab des Grundgesetzes, obwohl diese unionsrechtlich determiniert ist. Dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl kommt in der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich Anwendungsvorrang zu (a). Dieser enthält nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Bezug auf die Auslieferung bei Abwesenheitsurteilen eine abschließende Regelung (b). Das entbindet das Oberlandesgericht jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Schuldgrundsatzes sicherzustellen (c).

77

a) Am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nehmen auch Rahmenbeschlüsse teil. In diesem Zusammenhang verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel in Einklang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer, C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 115 f.; Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:517, Rn. 56).

78

In der Sache hat der Gerichtshof bereits mehrfach festgestellt, dass die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur in den im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehenen Fällen ablehnen können (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.). In der Rechtssache Melloni hat er betont, dass die Geltung des Rahmenbeschlusses nicht dadurch beeinträchtigt werden könne, dass ein Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und hätten sie auch Verfassungsrang, gegen diesen ins Feld führt (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59). Grenzen einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts hat er bislang nicht thematisiert, obwohl das spanische Tribunal Constitucional seine Vorlage damit begründet hatte, dass die Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen eine Verletzung des Wesensgehalts eines fairen Verfahrens im Sinne der spanischen Verfassung in einer Weise darstellen könne, die die Menschenwürde berühre (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 20; das spanische Tribunal Constitucional hat daraufhin allerdings betont, dass für den Fall, dass das Recht der Europäischen Union in seiner weiteren Entwicklung nicht mehr mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen wäre, die Wahrung der Souveränität des spanischen Volkes und der Vorherrschaft, mit der sich die Verfassung versehen hat, in letzter Instanz verlangen könnten, die Probleme über die einschlägigen verfassungsrechtlichen Verfahren anzugehen, so Entscheidung vom 13. Februar 2014, STC 26/2014, Punkt 3 der Entscheidungsgründe, HRLJ 2014, S. 475 <478>).

79

b) Art. 4a RbEuHb regelt die Bedingungen, von denen Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen abhängig gemacht werden können, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs abschließend.

80

Nach Art. 1 Abs. 2 RbEuHb vollstrecken die Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. Sie sind grundsätzlich verpflichtet, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, und dürfen seine Vollstreckung nur in den Fällen an Bedingungen knüpfen, die in den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind (vgl. EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 51; Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 36 m.w.N.).

81

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf - wie im 10. Erwägungsgrund der Präambel zum Rahmenbeschluss vorgesehen - nach Auffassung des Gerichtshofs daher nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 49). Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage seien, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten. Daher müssten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen worden sei, etwaige Rechtsschutzmöglichkeiten im Ausstellungsmitgliedstaat nutzen, um die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung dieser Strafe oder Maßregel geführt habe, in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Aguirre Zarraga, C-491/10 PPU, Slg. 2010, I-14247, Rn. 70 f.).

82

In der Rechtssache Melloni hat der Gerichtshof speziell mit Blick auf Art. 4a RbEuHb entschieden, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 46), wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 61). Überdies gestatte es auch Art. 53 GRCh den Mitgliedstaaten nicht, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden könne (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 64).

83

c) Diese Vorgaben entbinden deutsche Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG). Sie sind vielmehr gehalten, beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden, oder - wo dies nicht möglich ist - von einer Auslieferung abzusehen. Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. In diesem Umfang trifft das Gericht auch die beschriebene verfassungsrechtliche Ermittlungspflicht.

84

3. Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt. Insofern genügen die einschlägigen Vorgaben des Unionsrechts den durch das Grundgesetz zur Absicherung des integrationsfesten Schuldprinzips gebotenen Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten.

85

a) Die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, ist schon unionsrechtlich begrenzt (vgl. Vogel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 82 AEUV Rn. 37 ; Gaede, NJW 2013, S. 1279 <1280>). Das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, das ausweislich des 10. Erwägungsgrundes der Präambel des Rahmenbeschlusses Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist, kann erschüttert werden; erhebliche Grundrechtsverletzungen im Einzelfall sind selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich in der Lage sind, einen dem Grundgesetz gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten. Einem Europäischen Haftbefehl ist auch nach unionsrechtlichen Maßstäben nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genügt (aa) oder die Auslieferung mit einer Verletzung der unionalen Grundrechte einherginge (bb). Auch aus der Sicht des Unionsrechts gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens insoweit nicht unbegrenzt (cc), so dass die Verweigerung der Auslieferung wegen eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein kann (dd).

86

aa) Nach Art. 4a Abs. 1 RbEuHb kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

87

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a und b RbEuHb sieht eine Pflicht zur Auslieferung zwecks Vollstreckung von Entscheidungen vor, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, wenn diese Person tatsächlich offiziell von der Verhandlung und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch bei Abwesenheit ergehen kann, beziehungsweise diese Person in Kenntnis der Verhandlung von einem Rechtsbeistand vertreten wurde. Insofern handelt es sich um Fälle, in denen die Person auf ihr persönliches Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet hat.

88

Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb erfasst dagegen Konstellationen, in denen die betroffene Person berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann. Dem Angeklagten wird es in diesen Fällen also ermöglicht, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe durch ein Gericht auch in tatsächlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Das setzt voraus, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten anhört und prozessrechtlich dazu in der Lage ist, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen. Soweit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden "kann", wird dem mit der Sache befassten Gericht damit kein Ermessen eingeräumt. Das in Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb verwendete Verb "kann" dient vielmehr der Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und bedeutet so viel wie "in der Lage ist". Treffender ist in der englischen Fassung von einem "retrial, or an appeal, in which the person has the right to participate and which allows the merits of the case, including fresh evidence, to be re-examined", die Rede oder in der französischen Fassung von einer "nouvelle procédure de jugement ou (…) une procédure d'appel, à laquelle l'intéressé a le droit de participer et qui permet de réexaminer l'affaire sur le fond, en tenant compte des nouveaux éléments de preuve".

89

Dieses Verständnis von Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb entspricht auch dem Willen des europäischen Gesetzgebers. Die Regelung wurde durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. Nr. L 81 vom 27. März 2009, S. 24 - "Rahmenbeschluss über Abwesenheitsurteile") in den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingefügt. Ziel des Rahmenbeschlusses war es gemäß dessen Art. 1 Abs. 1, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. Erwägungsgrund 11 des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsurteile lautet:

Die gemeinsamen Lösungen in Bezug auf die Gründe für die Nichtanerkennung in den einschlägigen geltenden Rahmenbeschlüssen sollten den unterschiedlichen Gegebenheiten in Bezug auf das Recht der betroffenen Person auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren Rechnung tragen. Eine solche Wiederaufnahme des Verfahrens oder Berufung bezweckt die Wahrung der Verteidigungsrechte und ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet: Die betroffene Person hat das Recht, anwesend zu sein, der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft und das Verfahren kann zur Aufhebung der ursprünglich ergangenen Entscheidung führen.

Die Formulierung "der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, wird (erneut) geprüft" zeigt, dass der Rat ersichtlich nicht von einem Ermessen des mit dem Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren betrauten Richters, sondern davon ausging, dass die betroffene Person einen Anspruch darauf hat, dass die Beweismittel, die sie zu ihrer Entlastung vorbringt, erneut oder erstmals geprüft werden.

90

Teleologische Überlegungen erhärten diesen Befund. Könnte das Gericht von einer erneuten Prüfung des Sachverhalts gegen den Willen des in Abwesenheit Verurteilten absehen, könnte es eine erneute Prüfung der ihm zur Last gelegten Vorwürfe vereiteln. Der Verteidigung würde die Möglichkeit genommen, in einem Wiederaufnahmeverfahren die Zulassung neuer Beweise zu beantragen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Die prozessuale Möglichkeit, das Abwesenheitsurteil anzufechten, würde sich in diesem Fall als unwirksam erweisen (vgl. auch EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

91

bb) Auch die Bindung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an die Grundrechte (1), die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht (2) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte, die für die Bestimmung der sachlichen Tragweite des Art. 4a Abs. 1 RbEuHb beachtlich ist, sprechen für die dargelegte Auslegung des Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb (3).

92

(1) Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfen - ungeachtet des Art. 7 EUV - einander nicht die Hand zu Menschenrechtsverletzungen reichen (Art. 6 Abs. 1 EUV; vgl. OLG München, Beschluss vom 15. Mai 2013 - OLG Ausl 31 Ausl A 442/13 <119/13> -, StV 2013, S. 710 <711>). Bei der Durchführung des Unionsrechts müssen sie die Unionsgrundrechte beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Stauder, 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7; Urteil vom 13. Juli 1989, Wachauf, 5/88, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 19; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 f.). Diese sind daher auch für die Auslegung (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Dezember 1983, Kommission/Rat, C-218/82, Slg. 1983, S. 4063, Rn. 15; Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 ff.) und Rechtmäßigkeit (vgl. Art. 263, 267 Abs. 1 Buchstabe b AEUV; Art. 51 Abs. 1 GRCh; EuGH, Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C-303/05, Slg. 2007, I-3633, Rn. 45; Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 48 ff.) des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl maßgeblich.

93

In diesem Sinne heißt es in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ausdrücklich, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten. Nach dem 12. Erwägungsgrund achtet der Rahmenbeschluss die Grundrechte und wahrt die in Art. 6 EUV anerkannten Grundsätze, die in der Grundrechtecharta, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen (Satz 1). Konsequenterweise darf keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses in dem Sinne ausgelegt werden, dass eine Pflicht zur Übergabe einer Person besteht, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann (Satz 2). Gemäß dem 13. Erwägungsgrund soll zudem niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

94

Vor diesem Hintergrund ist ein Europäischer Haftbefehl dann nicht zu vollstrecken, wenn dem die gegenüber dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorrangige Grundrechtecharta entgegensteht (vgl. Kommissionsdokumente KOM <2006> 8 endgültig vom 24. Januar 2006, S. 7 und KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7; BTDrucks 15/1718, S. 14; BRDrucks 70/06, S. 31; Schlussanträge GA Bot zu EuGH, Wolzenburg, C-123/08, Slg. 2009, I-9621, Rn. 147 ff. und zu EuGH, Mantello, C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Rn. 87 f.; GA Cruz Villalón zu EuGH, I.B., C-306/09, Slg. 2010, I-10341, Rn. 43 f.; GA Mengozzi zu EuGH, Lopes da Silva Jorge, C-42/11, EU:C:2012:151, Rn. 28; GA Sharpston zu EuGH, Radu, C-396/11, EU:C:2012:648, Rn. 69 ff.).

95

Das wird durch die Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses bestätigt. Zwar konnte sich der Vorschlag, als weiteren Ablehnungsgrund vorzusehen, dass das Auslieferungsersuchen mit den Grundprinzipien des Vollstreckungsstaats oder der öffentlichen Ordnung unvereinbar ist, nicht durchsetzen. Dieser Vorschlag fand allerdings nur deshalb keinen Niederschlag im Text des Rahmenbeschlusses, weil sowohl in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als auch in den Erwägungsgründen 10, 12, 13 und 14 darauf verwiesen wird, dass für die strikte Wahrung der Grundrechte und individuellen Freiheiten, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben (Art. 6 Abs. 2 EUV), Sorge zu tragen ist (vgl. RatsDok 14867/01 vom 4. Dezember 2001, S. 3).

96

(2) Die Grundrechtecharta verlangt im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten hört und prozessrechtlich in der Lage ist, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

97

Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Johnston, C-222/84, Slg. 1986, S. 1651, Rn. 19; Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <29>). Dazu gehört - als Teilgewährleistung - auch der Anspruch auf rechtliches Gehör in einem gerichtlichen Verfahren nach Art. 47 GRCh (vgl. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, nach Art. 6 EUV Rn. 369 ). Dieser Anspruch gewährleistet, dass der Richter erst nach der Anhörung der Parteien und der Würdigung der Beweismittel über den Antrag entscheidet und seine Entscheidung begründet (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 1998, Schröder und Thamann/Kommission, C-221/97 P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 24).

98

(3) Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh haben die Rechte der Grundrechtecharta, soweit sie den durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Das Recht der Union kann zwar einen weitergehenden Schutz gewähren (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh); das Schutzniveau nach der Grundrechtecharta darf jedoch nicht unter jenes der Konvention sinken. Nach den Erläuterungen zur Grundrechtecharta entspricht Art. 47 Abs. 2 GRCh dem Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 48 GRCh dem Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK (vgl. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <30>). Vor diesem Hintergrund stellen die Garantien des Art. 6 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Mindestgarantien auch für den Rahmenbeschluss auf, hinter die dieser nicht zurückfallen darf.

99

Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Auslieferung unzulässig, wenn begründete Tatsachen ("substantial grounds") für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Falle ihrer Auslieferung einem realen Risiko ("real risk") der Folter, einer unmenschlichen oder herabwürdigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 91) oder eine eklatante Verweigerung eines fairen Verfahrens droht ("risks suffering a flagrant denial of a fair trial"; vgl. EGMR , Soering vs. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, § 113).

100

Insoweit verpflichtet Art. 6 EMRK jedes nationale Gericht zur Prüfung, ob der Verfolgte Kenntnis vom Verfahren erlangt hat (vgl. EGMR, Somogyi v. Italien, Urteil vom 18. Mai 2004, Nr. 67972/01, § 72). Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt zudem einen Anspruch auf rechtliches Gehör und in der Sache ein Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Jede Partei muss grundsätzlich die Möglichkeit haben, Beweise anzubieten, und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen äußern können, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33). Das Gericht hat die Pflicht, die Ausführungen und Beweisangebote der Parteien ernsthaft zu prüfen (vgl. EGMR, Van de Hurk v. Niederlande, Urteil vom 19. April 1994, Nr. 16034/90, § 59). In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung die Möglichkeit haben müssen, zu Vortrag und Beweismitteln der anderen Seite Stellung zu nehmen (vgl. EGMR, Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

101

Für ein faires Strafverfahren ist es von zentraler Bedeutung, dass der Angeklagte persönlich am Verfahren teilnimmt (vgl. EGMR, Poitrimol v. Frankreich, Urteil vom 23. November 1993, Nr. 14032/88, § 35). Das dient nicht nur allgemein seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern gibt dem Gericht auch die Möglichkeit, die Stichhaltigkeit seiner Aussagen zu prüfen und sie mit denen des Opfers und der Zeugen zu vergleichen (vgl. EGMR, a.a.O., § 35). Auch wenn dies nicht ausdrücklich in Art. 6 Abs. 1 EMRK angeführt wird, so folgt doch aus Sinn und Zweck dieses Rechts, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, an der Verhandlung teilzunehmen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 27). Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten können allerdings mit der Konvention vereinbar sein, wenn dieser auf sein Anwesenheits- und Verteidigungsrecht verzichtet hat oder ein Gericht die ihm zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft, nachdem es den Angeklagten gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29 f.; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55).

102

Die Anwesenheit der Strafverteidigung - sei es im Ausgangsverfahren oder bei nochmaliger Prüfung - gehört zu den wesentlichen Anforderungen von Art. 6 EMRK. Ist es der Verteidigung in einem Wiederaufnahmeverfahren gestattet, an der Verhandlung vor dem (Berufungs-)Gericht teilzunehmen und die Zulassung neuer Beweise zu beantragen, ist eine neue Bewertung des Schuldvorwurfs in faktischer und rechtlicher Hinsicht möglich. Das Verfahren kann dann in seiner Gesamtheit als fair angesehen werden (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 85). Umgekehrt führt die Weigerung des Gerichts, das Verfahren wiederzueröffnen, im Falle einer Abwesenheitsverurteilung - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - regelmäßig zu einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK und die ihm zugrunde gelegten Prinzipien (vgl. EGMR, Stoichkov v. Bulgarien, Urteil vom 24. März 2005, Nr. 9808/02, § 56).

103

Ein Rechtsmittel muss in dieser Hinsicht effektiv sein. Deshalb darf dem Angeklagten nicht der Nachweis dafür obliegen, dass er sich einer Verurteilung nicht entziehen wollte oder seine Abwesenheit auf höhere Gewalt zurückgeht (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30). Den nationalen Behörden bleibt es allerdings unbenommen zu prüfen, ob der Angeklagte gute Gründe für seine Abwesenheit hatte oder ob sich in seiner Prozessakte etwas findet, das eine unverschuldete Abwesenheit stützt (vgl. EGMR, Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 57; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 88).

104

Verzichtet eine Person aus freiem Willen ausdrücklich oder konkludent auf die Garantie eines fairen Verfahrens, stehen dem weder Wortlaut noch Geist von Art. 6 EMRK entgegen (vgl. EGMR, Kwiatkowska v. Italien, Entscheidung vom 30. November 2000, Nr. 52868/99; Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 86). Der Verzicht muss allerdings unmissverständlich ausgedrückt werden und gewissen Mindestanforderungen genügen (vgl. EGMR, Jones v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 9. September 2003, Nr. 30900/02). Dass ein Angeklagter, der nicht persönlich informiert wurde, auf mangelhafter faktischer Grundlage als flüchtig ("latitante") eingestuft wird, rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme eines freiwilligen Verzichts auf Anwesenheits- und Verteidigungsrechte (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 28; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 87).

105

cc) Dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens auch nach Unionsrecht nicht schrankenlos ist, bedeutet zugleich, dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten unionsrechtlich berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht (vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Vor § 78 Rn. 26, 35 ). Das Unionsrecht steht daher Ermittlungen hinsichtlich der Wahrung der in der Grundrechtecharta garantierten rechtsstaatlichen Anforderungen durch die nationalen Justizbehörden nicht nur nicht im Wege, es verlangt sie. Zu Recht entfällt nach Ansicht der Europäischen Kommission die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen führen würde (vgl. Kommissionsdokument KOM <2011> 175 endgültig vom 11. April 2011, S. 7). Entstehende Verzögerungen im Auslieferungsverkehr sind hinzunehmen, auch wenn dies dem Ziel des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl zuwiderläuft, die Auslieferung zu beschleunigen (vgl. Erwägungsgrund 1 und 5 Präambel RbEuHb). Dementsprechend sieht der Rahmenbeschluss auch keine starren Fristen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vor (vgl. Art. 17 Abs. 2<"sollte">, Abs. 3 <"sollte">, Abs. 4 <"Sonderfällen">, Abs. 7 <"bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände"> RbEuHb).

106

Ausweislich des 12. Erwägungsgrunds belässt der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten unter anderem die Freiheit zur Anwendung ihrer verfassungsmäßigen Regelungen über ein ordnungsgemäßes und faires Gerichtsverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 53). Außerdem müssen Entscheidungen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einer ausreichenden Kontrolle durch die Gerichte der Mitgliedstaaten unterliegen (8. Erwägungsgrund; vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013, F., C-168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46). Eine effektive gerichtliche Kontrolle im Sinne der Art. 47, 52 Abs. 3 GRCh, Art. 6, 13 EMRK setzt jedoch auch aus der Sicht des Unionsrechts voraus, dass das zuständige Gericht in der Lage ist, entsprechende Ermittlungen anzustellen, solange nur die praktische Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss errichteten Auslieferungssystems nicht in Frage gestellt wird (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 53; zum parallelen Problem im Asylrecht: EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S., C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905, Rn. 94).

107

dd) Damit bleiben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht hinter denjenigen zurück, die das Grundgesetz als von Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten enthält. Ob und inwieweit zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV zurückzugreifen ist, wonach die Europäische Union die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, und der Rahmenbeschluss daher unter Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtslage auszulegen ist (vgl. v. Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 4 EUV Rn. 13 ), kann deshalb offen bleiben.

108

b) Auch das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und seine in der Garantie der Menschenwürde verankerten Gewährleistungsinhalte insoweit keinen Bedenken. § 73 Satz 2 IRG sieht vor, dass bei Ersuchen nach dem Achten Teil ("Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union") die Leistung von Rechtshilfe unzulässig ist, wenn die Erledigung zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde. Wie immer diese Verweisung im Einzelnen zu verstehen sein mag, hindert sie Behörden und Gerichte jedenfalls nicht daran, bei der Auslegung der §§ 78 ff. IRG den norminternen Direktiven des Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen (vgl. allgemein BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 115, 320 <367>; stRspr).

109

4. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht. Zwar hat es zutreffend gesehen, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers nur zulässig ist, wenn ihm nach seiner Überstellung ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Es hat jedoch den Umfang der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und damit Bedeutung und Tragweite von Art. 1 Abs. 1 GG (a) verkannt. Der Beschwerdeführer hat substantiiert dargelegt, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit eröffne, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dem ist das Oberlandesgericht nicht in ausreichendem Maße nachgegangen. Es hat sich damit zufrieden gegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien "jedenfalls nicht ausgeschlossen sei". Dies verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 GG (b).

110

a) Beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen müssen die Gerichte im Einzelfall sicherstellen, dass die Rechte des Verfolgten zumindest insoweit gewahrt werden, als sie am Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG teilhaben. Mit Blick auf den in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Schuldgrundsatz gehört dazu, dass dem Verfolgten, der in Abwesenheit verurteilt wurde und nicht über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens unterrichtet war, zumindest die tatsächliche Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Kenntniserlangung wirksam zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können. Das über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheidende Gericht trifft eine Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen, wenn der Verfolgte hinreichende Anhaltspunkte für entsprechende Ermittlungen dargelegt hat. Inhalt und Umfang dieser Aufklärungspflicht bemessen sich nach den vom Verfolgten vorgebrachten Anhaltspunkten für eine Unterschreitung des durch die Menschenwürde garantierten Mindeststandards. Stellt sich nach Abschluss der Ermittlungen heraus, dass dieser Mindeststandard vom ersuchenden Mitgliedstaat nicht eingehalten wird, darf das zuständige Gericht die Auslieferung nicht für zulässig erklären.

111

b) Zwar ist der Italienischen Republik - wie allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - auch im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes entgegenzubringen. Im vorliegenden Fall haben sich jedoch Fragen ergeben, die eine weitere Aufklärung des Sachverhalts erforderlich gemacht hätten.

112

Die Generalstaatsanwaltschaft Florenz hat mit dem Europäischen Haftbefehl erklärt, dass dem Beschwerdeführer die Entscheidung, mit der die Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt worden ist, nicht persönlich zugestellt worden sei, er diese aber unverzüglich nach der Übergabe erhalten werde. Der Beschwerdeführer habe zudem ein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren, an dem er teilnehmen könne und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden könne. Sie hat damit konkludent erklärt, dass es dem Beschwerdeführer ermöglicht werde, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nach Anhörung durch ein Gericht in faktischer und rechtlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft Florenz mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 erklärt, dass der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Rechtsmittelfrist innerhalb von dreißig Tagen beantragen und sich ohne Vorbehalt verteidigen könne.

113

Das allein genügte im vorliegenden Fall jedoch nicht, um den von Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandard an Beschuldigtenrechten und damit die Subjektstellung des Beschwerdeführers in dem in Italien durchzuführenden Strafprozess sicherzustellen. Denn der Beschwerdeführer hat begründete Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass ihm trotz der Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft Florenz keine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet sei, sich zu verteidigen, insbesondere Umstände vorzubringen und prüfen zu lassen, die zu seiner Entlastung führen können (aa). Die Begründung des Oberlandesgerichts, es reiche aus, dass im Berufungsverfahren eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, ist nicht geeignet, die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Bedenken auszuräumen (bb). Auch mit Blick auf weitere Umstände hätte für das Oberlandesgericht Anlass bestanden, die Wahrung des dem Beschwerdeführer zustehenden Mindestbestands an prozessualen Verteidigungsmöglichkeiten eingehender zu prüfen (cc).

114

aa) Der Beschwerdeführer hat gegenüber dem Oberlandesgericht mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2014 erklärt, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei, ohne auf sein Anwesenheitsrecht aus freiem Willen und unmissverständlich verzichtet zu haben. Dabei hat er plausibel dargelegt, dass er mit der ihm nach italienischem Recht eröffneten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur erreichen könne, in die Rechtsmittelfrist für eine Berufung eingesetzt zu werden. Auch hat er unter Hinweis auf Fundstellen zum italienischen Strafprozessrecht in der deutschsprachigen Literatur vorgetragen, dass die nach italienischem Recht mögliche verspätete Berufung den Anforderungen an eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs wegen der beschränkten Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts nicht genüge, weil in der Berufungshauptverhandlung im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Um dies zu belegen, hat er dem Oberlandesgericht den Inhalt von Art. 603 CPP in der Fassung des Gesetzes vom 28. April 2014 wie auch nach der Gesetzeslage vor Inkrafttreten dieses Gesetzes in italienischer und deutscher Sprache mitgeteilt.

115

Aus dem Wortlaut des Art. 603 CPP scheint zu folgen, dass im Berufungsverfahren grundsätzlich keine Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung stattfindet. Nach dessen Absatz 3 wird die erneute Durchführung des Beweisverfahrens von Amts wegen nur angeordnet, wenn sie das Gericht für unbedingt erforderlich hält. Beantragt eine Partei die Erhebung von Beweisen, verfügt das Gericht die Beweisaufnahme, wenn es nicht in der Lage ist, aufgrund der Aktenlage zu entscheiden (Abs. 1), oder die neuen Beweise erst nach dem Verfahren erster Instanz entstanden sind oder entdeckt wurden (Abs. 2). Nach Art. 603 Abs. 4 CPP a.F. (1988), der nach Angaben des Beschwerdeführers erst durch Gesetz vom 28. April 2014 abgeschafft worden ist, verfügt der Richter die Erneuerung des Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung nur dann, wenn der in der ersten Instanz abwesende Beschuldigte dies beantragt und nachweist, dass er nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, und zwar aufgrund von Ereignissen zufälligen Charakters oder höherer Gewalt oder weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, sofern dies nicht durch seine Schuld geschehen ist, oder er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Der Beschwerdeführer hat plausibel dargelegt, dass Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 auf ihn Anwendung finden könnte. Zur Begründung hat er auch auf eine Entscheidung ("Sentenza") der italienischen Corte di Cassazione vom 17. Juli 2014 verwiesen, wonach für Rechtsmittel gegen Verurteilungen in Abwesenheit, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. April 2014 ergangen seien, die alte Rechtslage gelte. Diese Entscheidung hat er dem Oberlandesgericht im Wortlaut mitgeteilt. Dass im vorliegenden Fall tatsächlich die alte Rechtslage gelten könnte, erscheint auch deshalb nicht fernliegend, weil die Generalstaatsanwaltschaft Florenz in ihrem Schreiben vom 7. Oktober 2014 den Wortlaut des Art. 175 CPP in der vor der Strafprozessreform des Jahres 2014 geltenden Fassung übersandt hat. Auch hierauf hat der Beschwerdeführer das Oberlandesgericht hingewiesen.

116

Das Vorbringen des Beschwerdeführers lässt daher befürchten, dass ihm die Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken, nach italienischem Recht nicht sicher eröffnet ist. Findet Art. 603 Abs. 4 CPP 1988 Anwendung, müsste er den negativen Beweis erbringen, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis von der Ladungsschrift erhalten hat, nicht in der Lage war, vor Gericht zu erscheinen, vorausgesetzt, dass dies nicht durch seine Schuld geschehen ist oder - wenn die Ladungsschrift vom Gericht erster Instanz mittels Übergabe an den Verteidiger zugestellt wurde - er sich nicht aus freiem Willen der Kenntnisnahme des Verfahrens entzogen hat. Diese Formel entspricht jener des Art. 175 CPP in der bis 2005 geltenden Fassung. Hiernach konnte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung eines Rechtsmittels vom Angeklagten beantragt werden, wenn dieser nachwies, dass er von der Verfügung tatsächlich keine Kenntnis erlangt hatte, sofern der Umstand nicht auf eigenes Verschulden zurückzuführen war, oder er sich nicht bewusst der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen entzogen hatte, wenn das Säumnisurteil durch Aushändigung an den Verteidiger zugestellt worden war (vgl. Italienische Strafprozeßordnung, Zweisprachige Ausgabe, Bauer/König/Kreuzer/Riz/Zanon, 1991). Da ein Beweis von Negativtatsachen kaum zu führen ist, wurde die alte Fassung des Art. 175 CPP von den Oberlandesgerichten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 19. Dezember 1991 - Ausl A 413/91 -, StV 1993, S. 207; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Juli 1997 - Ausl. 9/97 -, StV 1997, S. 648 <649>; ThürOLG, Beschluss vom 2. Februar 1998 - Ausl 2/97 -, StV 1999, S. 265 <267 f.>; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. August 1998 - 4 Ausl (A) 201/98 - 259 - 250/98 III -, StV 1999, S. 270 <272>; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. August 1998 - 1 AK 14/98 -, StV 1999, S. 268 <270>; OLG Köln, Beschluss vom 15. Januar 2003 - Ausl 913/01 -, juris, Rn. 38; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 2004 - 1 AK 0/04 -, juris, Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. September 2004 - 1 AK 6/04 -, StV 2004, S. 547 <548>), vom Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 47, 120 <126>) sowie von der Ersten Sektion und der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Blick auf die hier in Rede stehenden Schutzgüter beanstandet (vgl. EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 10. November 2004, Nr. 56581/00, § 40; EGMR , Sejdovic v. Italien, Urteil vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 103 ff.). Schon 1985 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Colozza v. Italien die Wirksamkeit des Rechtsmittels der "scheinbar verspäteten Berufung" nach italienischem Recht gerügt, weil das Berufungsgericht unter tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nur entscheiden durfte, wenn die betreffende Person beweisen konnte, dass sie sich der Justiz nicht habe entziehen wollen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 31).

117

Selbst wenn Art. 603 CPP in seiner durch Gesetz vom 28. April 2014 geänderten Fassung Anwendung finden sollte, ist denkbar, dass dem Beschwerdeführer keine wirksame Möglichkeit eröffnet wird, sich zu verteidigen. Nach Art. 603 CPP findet eine Beweisaufnahme nämlich nur statt, wenn die Beweise erst nach dem Urteil erster Instanz entstanden oder entdeckt worden sind (Abs. 2), wenn der Richter nicht in der Lage ist, nach dem Stand der Akten zu entscheiden (Abs. 1) oder wenn er die Durchführung einer Beweisaufnahme für unbedingt erforderlich hält (Abs. 3). Der Wortlaut von Art. 603 CPP in der der Entscheidung des Oberlandesgerichts zugrunde gelegten Version legt nahe, dass dem Berufungsgericht ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über eine erneute Beweisaufnahme zukommt. Eine Pflicht des Berufungsgerichts, auf Antrag des Verfolgten überhaupt Beweis zu erheben, ergibt sich daraus nicht. Jedenfalls ist mit Blick auf den wenig bestimmten Wortlaut des Art. 603 Abs. 1 bis 3 CPP unklar, ob der Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit im Strafverfahren hinreichend Rechnung getragen wird.

118

Die vom Beschwerdeführer mit Blick auf das italienische Berufungsverfahren vorgetragenen Bedenken werden dadurch verstärkt, dass in der Vergangenheit mehrere Oberlandesgerichte die Auslieferung nach Italien aufgrund einer Abwesenheitsverurteilung mit der Begründung abgelehnt haben, dass nach italienischem Recht in der Berufungsinstanz eine erneute umfassende gerichtliche Überprüfung der Sachentscheidung nicht stattfinde (vgl. OLG Frankfurt, 2 Ausl. 54/82, 2. September 1983, Nr. U 75, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 285 <288 f.>; OLG München, OLG Ausl. 77/85, 26. Juni 1985, Nr. U 112, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 412 <416>; KG Berlin, (4) Ausl. A. 277/85 (143/85), 24. März 1986, Nr. U 123, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949-1992, 2. Aufl. 1993, S. 435 <438>; SchlHOLG, Beschluss vom 14. Januar 1994 - 1 Ausl 8/93 -, StV 1996, S. 102 <103>). Die damit verbundenen Bedenken werden auch in der Literatur geteilt (vgl. Schomburg/Hackner und Lagodny, jeweils in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 15 IRG Rn. 33e bzw. § 73 IRG Rn. 86).

119

bb) Den substantiierten und plausiblen Einwänden des Beschwerdeführers hätte das Oberlandesgericht nachgehen müssen. Seine Ermittlungen stellen sich als unzureichend dar.

120

Das Oberlandesgericht versucht, die Bedenken des Beschwerdeführers mit dem Argument auszuräumen, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung der Abwesenheitsverurteilung stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei. Damit ist jedoch nicht sichergestellt, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich eine Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Abwesenheitsverurteilung wirksam zu verteidigen, insbesondere entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls Berücksichtigung zu erreichen.

121

Der Einwand, dass es sich, selbst wenn im italienischen Berufungsverfahren im Regelfall keine erneute Beweisaufnahme stattfinde, doch um ein Rechtsmittel handele, mit dem sowohl die Tat- als auch die Rechtsfrage der erneuten Prüfung unterworfen würden, vermag ebenso wenig zu überzeugen. Wie eine umfassende Überprüfung der Tatfrage ohne Beweisaufnahme erfolgen soll, erschließt sich nicht. Darüber hinaus stützt sich das Oberlandesgericht für seine Ansicht lediglich auf eine einzige Quelle (Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 237). Eine genaue Darstellung des strafrechtlichen Berufungsverfahrens nach italienischem Recht lässt sich dieser Fundstelle nicht entnehmen. Vielmehr wird auch hier darauf hingewiesen, dass das Verfahren in zweiter Instanz grundsätzlich ein Aktenverfahren sei und keine erneute Beweisaufnahme stattfinde. Wie sich dieser Umstand mit einer erneuten Prüfung der Tatfrage vereinbaren lässt, wird nicht erläutert. Dass in der Sache eine umfassende tatsächliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde und die uneingeschränkte Möglichkeit einer erneuten Erhebung von bereits in erster Instanz erhobenen Beweisen bestehe, wie vom Oberlandesgericht angenommen, ergibt sich aus der zitierten Quelle nicht.

122

Der Hinweis des Oberlandesgerichts in seinem Beschluss vom 27. November 2014, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens bestehe, vielmehr eine Neuverhandlung vor einem Rechtsmittelgericht ausreiche, trägt seine Entscheidung ebenfalls nicht. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung auch der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; 111, 307 <317>; 120, 180 <200 f.>; 128, 326 <367 f.>), ist geklärt, dass das Gericht verpflichtet ist, die dem Verurteilten zur Last gelegten Vorwürfe erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, nachdem es diesen gehört hat (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 29; Einhorn v. Frankreich, Entscheidung vom 16. Oktober 2001, Nr. 71555/01, § 33). Zudem müssen sich die prozeduralen Möglichkeiten nach Recht und Praxis des Vertragsstaates als effektiv erweisen (vgl. EGMR, Colozza v. Italien, Urteil vom 12. Februar 1985, Nr. 9024/80, § 30; Medenica v. Schweiz, Urteil vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55). Zwar folgt aus der Entscheidung in der Sache Colozza v. Italien, wie das Oberlandesgericht zutreffend feststellt, dass bei einem in erster Instanz ergangenen Abwesenheitsurteil kein Anspruch auf Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens besteht. Der Entscheidung kann allerdings nicht entnommen werden, dass dem in Abwesenheit Verurteilten, der keine Kenntnis von dem erstinstanzlichen Verfahren hatte, von vornherein kein Recht auf Durchführung einer Beweisaufnahme zustünde. Vielmehr betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung das aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fließende Recht, Beweis anzubieten und sich zu allen erbrachten Beweisen oder Vorbringen, die darauf gerichtet sind, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen, äußern zu können (vgl. EGMR, Mantovanelli v. Frankreich, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 33; Lietzow v. Deutschland, Urteil vom 13. Februar 2001, Nr. 24479/94, § 44).

123

Die Auffassung des Oberlandesgerichts, es genüge, wenn im italienischen Berufungsverfahren in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfinde, im Rahmen derer eine erneute Beweisaufnahme "jedenfalls nicht ausgeschlossen" sei, greift insoweit zu kurz.

124

cc) Darüber hinaus ist mit Blick auf die Aufklärungspflicht des Oberlandesgerichts zu bedenken, dass die Rechtslage in Italien angesichts der in der Vergangenheit erfolgten Beanstandungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und der zahlreichen Änderungen des italienischen Codice Penale für einen deutschen Richter nicht ohne weiteres zu überblicken ist. Auch hat die Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft Florenz vom 7. Oktober 2014 nur wenig zur Aufklärung beigetragen. Die italienischen Justizbehörden wurden vom Oberlandesgericht gebeten, ergänzende Auskunft über die tatsächliche Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung beziehungsweise eine Zusicherung zu erteilen, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird. Ergänzende Auskunft über die Kenntnis des Beschwerdeführers vom Verhandlungstermin und dessen anwaltlicher Vertretung gab die Generalstaatsanwaltschaft Florenz nicht, obwohl sie im Europäischen Haftbefehl nicht angegeben hatte, ob der Beschwerdeführer zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, persönlich erschienen war oder nicht. Eine Zusicherung, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Überstellung vorbehaltlos das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren in seiner Anwesenheit eingeräumt wird, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend geprüft werden wird, erteilte sie ebenfalls nicht. Trotz des präzisen Ersuchens um Auskunft und Zusicherung durch das Oberlandesgericht wies sie lediglich abstrakt darauf hin, dass unter der Bedingung, dass "dem Antrag stattgegeben wird", erneut eine Hauptverhandlung gegen den Verurteilten stattfinden werde. Dem Verurteilten wurde sein Verteidigungsrecht zwar ohne Vorbehalt zugesichert; der Umfang dieses Verteidigungsrechts blieb jedoch unklar.

D.

125

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt ("acte clair", vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16 ff.). Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegen stand. Das gilt vor allem mit Blick auf die substantiierten Anhaltspunkte, die der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht dafür vorgetragen hat, dass ihm nach italienischem Prozessrecht keine Möglichkeit eröffnet sei, sich wirksam zu verteidigen.

E.

126

Da die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist, sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG vollständig zu erstatten.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 S t R 6 2 4 / 1 4
vom
4. August 2015
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der am 7. Juli 2015 begonnenen
Hauptverhandlung in der Sitzung vom 4. August 2015, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Raum,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Graf,
Prof. Dr. Radtke,
Prof. Dr. Mosbacher
und die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Fischer,
Richterin am Landgericht
- in der Verhandlung vom 7. Juli 2015 -,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
- in der Verhandlung vom 8. Juli 2015 - und
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
- in der Sitzung vom 4. August 2015 -
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
- in der Verhandlung vom 7. Juli 2015 -
als Verteidiger des Angeklagten L. ,
Rechtsanwältin
- in der Verhandlung vom 7. Juli 2015 -
als Verteidigerin der Angeklagten B. ,
Rechtsanwalt
- in der Verhandlung vom 7. Juli 2015 -
als Vertreter des Nebenklägers,
Justizangestellte
- in der Verhandlung vom 7. Juli 2015 -,
Justizobersekretärin
- in der Verhandlung vom 8. Juli 2015 - und
Justizangestellte
- in der Sitzung vom 4. August 2015 -
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 4. August 2014 werden mit der Maßgabe verworfen, dass die Angeklagten jeweils der „schweren“ Misshandlung eines Schutzbefohlenen schuldig sind.
2. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die mit Verfahrens- und Sachrügen begründeten Revisionen der Angeklagten haben keinen Erfolg.

I.

2
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
Die Angeklagte B. ist die Mutter des Nebenklägers. Dieser leidet seit frühester Kindheit an der Erbkrankheit Mukoviszidose. Es handelt sich dabei um eine nicht kausal therapierbare, progredient verlaufende chronische Erkrankung mit einer beschränkten Lebenserwartung. Weil durch die Krankheit die Sekrete exokriner Drüsen besonders zähflüssig werden, kommt es zu Funktionsstörungen der jeweiligen Organe, insbesondere der Lunge.
4
Der Nebenkläger benötigt krankheitsbedingt eine permanente medikamentöse , krankengymnastische und ärztliche Behandlung, die sich sehr aufwändig gestaltet: Mehrfach täglich muss er inhalieren, täglich eine autogene Drainage (besondere Atemtechnik für lungenkranke Patienten zum Abhusten von Bronchialsekret) durchführen, zudem ist eine ständige antibiotische Behandlung mit einem Antibiotikum notwendig. Um ausreichend Nahrungsfette verdauen zu können, muss der Nebenkläger zu jeder Mahlzeit Pankreasenzympräparate (Kreon) einnehmen. Generell benötigt er aufgrund unzureichender Verdauung und drohender Untergewichtigkeit eine hyperkalorische Ernährung durch hohen Kalorienreichtum und Anreicherung der Nahrung. Die Verbesserung der körperlichen Fitness erfordert eine hohe sportliche Aktivität, auch sind drei- bis viermal jährlich Blut- und Sputumuntersuchungen notwendig , um die konkret notwendige Therapie stets anpassen zu können. Selbst bei optimaler Behandlung nimmt die Lungenfunktion jährlich ab, im statistischen Mittel zwischen 3 und 4 %. Je länger durch entsprechende Zugabe von Kreon und die Zuführung hochkalorischer Nahrung ein normales, altersentsprechendes Gewicht gehalten wird, umso günstiger wirkt sich dies auf die Lungenfunktion aus.
5
Die Angeklagte B. kümmerte sich bis zum Sommer 1999 stets und ausdauernd um die adäquate Behandlung des im Januar 1987 geborenen Nebenklägers ; sie wusste über die Krankheit und die Behandlungsnotwendigkeit Bescheid. Der Nebenkläger wurde bis zu diesem Zeitpunkt mit den erforderlichen Medikamenten versorgt und inhalierte täglich.
6
Nachdem die Angeklagte B. Anfang Juli 1999 den Angeklagten L. kennengelernt hatte, zog sie Anfang November 1999 mit ihren drei Kindern (einschließlich des Nebenklägers) bei ihm ein. Der Angeklagte L. , der sich seit vielen Jahren für spirituelle, esoterische, theosophische und religiöse Themen interessiert, lebte zu diesem Zeitpunkt in einer Wohngemeinschaft in einem Haus in Lo. , Ortsteil A. . Beide Angeklagte sahen nach dem Zusammenzug im spirituellen Bereich ihren Lebensmittelpunkt. Hierzu gehörten regelmäßige Meditationen, bei denen auch Interessierte von außen hinzukamen. Die Angeklagten pflegten eine einfache, natürliche Lebensweise mit vegetarischer Ernährung, vorwiegend mit Gemüse aus dem eigenen Garten. Schulmedizin lehnten sie nicht grundsätzlich ab, bevorzugten aber alternative Heil- methoden und natürliche Medikamente. Dass der auch als „Guru von A. “ oder „Guru von Lo. “ bezeichnete Angeklagte L. Mitglied oder Anführer einer Sekte war oder die Angeklagten der „Neuen Gruppe der Weltdiener“ zugehören, wie in den Medien verbreitet wurde, hat das Landge- richt nicht festgestellt.
7
Nach dem Einzug der Angeklagten B. in die Wohngemeinschaft des Angeklagten L. in Lo. /A. übernahm der Angeklagte L. neben der allein sorgeberechtigten Angeklagten B. die Fürsorge für den Nebenkläger und seine Geschwister. Er stand der auf Dauer angelegten Wohngemeinschaft vor, fühlte sich für das Wohl und Wehe des Nebenklägers mitverantwortlich, übernahm in Absprache mit der Angeklagten B. Erziehungsaufgaben und behandelte deren Kinder wie seine eigenen. Insgesamt war er das bestimmende Familienoberhaupt, das sich in jeden Bereich des täglichen Zusammenlebens und der gesamten Lebensgestaltung der Kinder ein- mischte und als zweiter „Erziehungsberechtigter“ die Zeugnisse unterschrieb. Über die Erkrankung des Nebenklägers wurde der Angeklagte L. im Sommer 1999 umfassend aufgeklärt, er wusste seitdem von der dringenden und andauernden Behandlungsbedürftigkeit und der Art und Weise, wie die Krankheit zu behandeln ist.
8
Nachdem der zu diesem Zeitpunkt 12-jährige Nebenkläger mit der Angeklagten B. und zwei Geschwistern in A. eingezogen war, wurde ihm kein für Inhalationen geeignetes Gerät mehr zur Verfügung gestellt. Neue Medikamente wurden nicht besorgt, die letztmals im Juli 1999 verschriebenen waren Ende 1999 aufgebraucht. Einem Arzt wurde der Nebenkläger nicht mehr vorgestellt, es wurde vielmehr ihm überlassen, ob er Medikamente einnimmt und zum Arzt geht. Weder wurde das Gewicht des Nebenklägers kontrolliert noch, ob er täglich die notwendige autogene Drainage durchführt. Auf eine hochkalorische Nahrung wirkten die Angeklagten nicht hin, der Nebenkläger musste sich weitgehend vegetarisch ernähren. Der Angeklagte L. stellte dem Nebenkläger in Aussicht, dass die Mukoviszidose-Krankheit bis spätestens zu seinem 18. Geburtstag geheilt werde, wenn er mit ihm mehrmals täglich meditiere; der Nebenkläger glaubte dies.
9
Der Nebenkläger, der an einer Spritzenphobie leidet, war froh, ohne die lästigen Prozeduren leben zu können und keine Ärzte oder Krankenhäuser mehr besuchen zu müssen. Er verlangte deshalb aus eigenem Antrieb nicht die Behandlung seiner Erkrankung gegenüber den Angeklagten. Vielmehr kam er dem Verlangen des Angeklagten L. nach täglicher Meditation nach, zumal ihm dieser bei unzureichender Mitwirkung mit einem Krankenhausbesuch drohte , der auch Spritzen umfassen würde. Aufgrund seines Alters konnte der Nebenkläger die negativen Konsequenzen des Behandlungsabbruchs für seine Gesundheit nicht überblicken und bewerten, auch weil diese schleichend und über einen relativ langen Zeitraum eintraten; vielmehr vertraute er darauf, durch Meditationen geheilt zu werden.
10
Der Kontakt des Nebenklägers zu seinem leiblichen Vater wurde konse- quent unterbunden, der Vater als „Teufel“ dargestellt, der das Böse verkörpere. Von der AOK erhielt die Angeklagte B. für den Nebenkläger bis Ende September 2001 Pflegegeld der Stufe 2. Weil sie keine Überprüfungsnachweise über die Behandlung beibrachte, wurde die Zahlung von Pflegegeld schließlich eingestellt. Noch im März 2000 hatte die Angeklagte bei der Überprüfung der Pflegevoraussetzungen falsche Angaben gemacht. Ende 2001 kündigte die Angeklagte B. im Einvernehmen mit dem Angeklagten L. ihre Krankenversicherung. Beide gingen davon aus, dass der Nebenkläger nunmehr auch nicht mehr krankenversichert sei, und überließen ihm die Entscheidung, eine Krankenversicherung abzuschließen.
11
Der Zustand des Nebenklägers verschlechterte sich nach seinem Einzug in A. durch die Unterbrechung der Behandlung – wie bei dieser Krankheit üblich – nicht rapide, sondern fortdauernd über die Jahre 2000, 2001 und 2002 hinweg. Im Sport in der Schule war er nach anfänglich guten Leistungen im Jahr 1998/99 bald nur noch „befriedigend“. Im Mai 2000 fuhr er letztmals auf einen Ausflug ins Schullandheim mit und konnte noch eine sechs Kilometer lange Wanderung absolvieren. Ab dem Schuljahr 2000/2001 musste er dann krankheitsbedingt vom Sportunterricht befreit werden. In diesem Schuljahr kam er oft abgeschlagen und müde zum Unterricht oder fehlte ganz, weil sein Gesundheitszustand auffällig schlechter war als zuvor. Ab spätestens Mitte 2001 traten wegen der nicht mehr behandelten Mukoviszidose Beschwerden (Atemnot ) und Schmerzen (Kopfschmerzen) auf. Im Dezember 2002 hatte der Nebenkläger bei den geringsten körperlichen Anstrengungen erhebliche Atembeschwerden ; aufgrund seiner Atemnot litt er zudem ständig unter heftigen Kopfschmerzen. Im gesamten Zeitraum von Ende 1999 bis Ende 2002 legte er nicht an Gewicht zu. Die fortlaufende Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Nebenklägers erkannten beide Angeklagte; dennoch änderten sie ihr Verhalten nicht.
12
Als der dann 15-jährige Nebenkläger Ende 2002 die Wohngemeinschaft in A. verließ und nach gerichtlicher Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf seinen Vater zu diesem zog, waren mangels Behandlung seine Bronchien stark verschleimt, die Lungenfunktion stark eingeschränkt und die Sauerstoffsättigung im Blut nicht mehr ausreichend. Er litt bei geringster körperlicher Betätigung unter Atemnot, unter permanenten Kopfschmerzen und blauen Fingerkuppen (Zyanose). Atemnot und Kopfschmerzen waren spätestens seit Mitte 2001 aufgetreten und nahmen dann kontinuierlich zu. Die Möglichkeit damit verbundener länger anhaltender Schmerzen erkannten die Angeklagten und nahmen dies billigend in Kauf; gleichwohl änderten sie ihr Verhalten nicht.
13
Der Nebenkläger war Ende 2002 massiv unterernährt und wog bei einer Größe von 159 cm nur noch 30,5 kg. Sein Zustand war insgesamt extrem besorgniserregend und potentiell lebensbedrohlich; bei weiterer Nichtbehandlung hätte die fortschreitende Verschleimung seiner Organe binnen weniger Wochen zum Tode geführt. Es bestand deshalb die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung und einer erheblichen Schädigung seiner körperlichen Entwicklung. Der Verlust seiner Lungenfunktion ist überdurchschnittlich und irreversibel.
14
Obwohl die Angeklagten den fortschreitenden körperlichen Abbau bei dem Nebenkläger bemerkten, unterließen sie es, ihm die notwendige medikamentöse , therapeutische und ärztliche Behandlung zukommen zu lassen und die Medikamenteneinnahme sowie den Gesundheitszustand engmaschig zu kontrollieren, obwohl ihnen all dies, wie sie wussten, möglich und zumutbar war. Hätten die Angeklagten dem Nebenkläger die notwendige Behandlung zuteil werden lassen, hätte sich sein Gesundheitszustand stabilisiert und die Krankheit wäre nicht so rasant fortgeschritten.
15
2. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten in rechtlicher Hinsicht als Quälen eines Schutzbefohlenen durch Unterlassen nach § 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.V.m. § 13 StGB bewertet und ist zudem vom Vorliegen einer Qualifikation nach § 225 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 und Nr. 2 Alt. 1 StGB ausgegangen, weil der Nebenkläger durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung und einer erheblichen Schädigung der körperlichen Entwicklung ge- bracht worden sei. Das Merkmal des „Quälens“ hat das Landgericht dadurch als verwirklicht angesehen, dass dem Nebenkläger durch das Unterlassen der gebotenen und möglichen Behandlung über einen Zeitraum von knapp drei Jahren unnötige erhebliche Schmerzen und Leiden zugefügt worden seien. Spätestens ab Mitte 2001 bis Ende 2002 sei es zu einer zunehmenden Verschleimung der Bronchien mit immer weiter abnehmender Sauerstoffsättigung gekommen, wodurch permanente Kopfschmerzen und schließlich am Ende blaue Fingerkuppen aufgetreten seien. Insgesamt habe die Leistungsfähigkeit immer mehr abgenommen, sodass dem Nebenkläger am Ende jede körperliche Anstrengung erhebliche Schmerzen bereitet habe. In Kenntnis aller Umstände hätten die Angeklagten die geschilderten Schmerzen und Leiden billigend in Kauf genommen, ebenso den Eintritt der konkreten Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung und einer erheblichen Schädigung der körperlichen Entwicklung.
16
Den Einwand der Angeklagten, sie hätten gegen den Willen des Nebenklägers eine ärztliche Behandlung oder Medikamenteneinnahme ebenso wenig durchsetzen können wie Kontrollen, ob er täglich inhaliert, Medikamente eingenommen oder eine autogene Drainage gemacht habe, hat das Landgericht entgegengesetzt, dass die Angeklagten den minderjährigen Nebenkläger not- falls gegen seinen Willen, ggfs. unter Einschaltung der zuständigen Behörden, zur notwendigen Behandlung hätten zwingen müssen.
17
3. Im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung hat das Landgericht ausgeführt , die Angeklagten propagierten und lebten auf der Grundlage theosophischer und buddhistischer Theorien zwar eine eigenwillige Weltanschauung mit einer einfachen, natürlichen Lebensweise und dem Glauben an das Gesetz des Karma und an Reinkarnation. Dass beide dem knapp 13-jährigen Nebenkläger die Verantwortung für seine Weiterbehandlung übertragen und sich nicht weiter darum gekümmert hätten, fuße aber nicht auf einer weltanschaulichen Wahnvorstellung der Angeklagten, sondern sei als bloßes Scheuen weiterer unangenehmer Auseinandersetzungen mit dem pubertär-schwierigen Nebenkläger zu werten. Ein direkter Zusammenhang zwischen der Weltanschauung der Angeklagten und der Verweigerung einer schulmedizinischen Behandlung für den Nebenkläger, wie dies in den Medien propagiert werde, könne nach den Feststellungen nicht tragfähig belegt werden.
18
4. Bei der Strafzumessung hat das Gericht aufgrund des langen Tatzeitraums und der bleibenden Folgen für den Nebenkläger keinen Anlass gesehen, einen minder schweren Fall der schweren Misshandlung Schutzbefohlener anzunehmen. Eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 13, 49 Abs. 1 StGB hat die Strafkammer aus den gleichen Gründen abgelehnt. Bei der Strafzumessung im Einzelnen hat das Landgericht zugunsten der Angeklagten u.a. gewürdigt, dass die bislang unbestraften und teilgeständigen Angeklagten mit bedingtem Vorsatz und durch Unterlassen gehandelt haben. Zudem seien sie durch eine Fernsehreportage mit erheblichem Medienecho in der Öffentlichkeit vorverurteilt und stigmatisiert und durch Einträge in sozialen Medien sowie durch Mahnwachen vor ihrem Haus öffentlich geächtet worden. Zu Lasten der Angeklagten wurde jeweils der lange Tatzeitraum mit der Leidenszeit des Nebenklä- gers spätestens ab Mitte 2001 gewertet, wobei sich der Gesundheitszustand kontinuierlich verschlechtert habe und sich dadurch die Schmerzen kontinuierlich gesteigert hätten.

II.

19
Die Revisionen der Angeklagten haben keinen Erfolg.
20
1. Die Verfahrensrügen sind unzulässig, weil es – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift im Einzelnen ausgeführt hat – jeweils entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an der Mitteilung in Bezug genommener Schriftstücke fehlt, deren Kenntnis für die Rügeprüfung notwendig wäre.
21
2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der von den Angeklagten jeweils näher ausgeführten Sachrüge ergibt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten:
22
a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.
23
Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, der sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden hat (§ 261 StPO). Die tatsächlichen Schlussfolgerungen des Tatgerichts müssen nicht zwingend sein; es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist (vgl. Senat, Urteil vom 1. Oktober 2013 – 1 StR 403/13, NStZ 2014, 475 mwN). Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich soweit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (st. Rspr.; vgl.
Senat aaO mwN). Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts gerecht. Die vom Landgericht gezogenen Schlüsse sind tragfähig begründet und nachvollziehbar.
24
aa) Dies gilt insbesondere auch für den Schluss der Kammer auf einen bedingten Vorsatz beider Angeklagter. Die Kammer hat sich (zwar unter teil- weise abweichender Formulierung, vgl. UA S. 16, 37: „konnten … erkennen“) davon überzeugt, dass die Angeklagten genau alle Umstände gekannt haben, die zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes und damit zu Schmerzen und unnötigen Leiden führen mussten (UA S. 50), dass sie die fortlaufende Verschlechterung des Gesundheitszustandes erkannten (UA S. 15) und den fortschreitenden körperlichen Abbau bemerkten (UA S. 18) sowie dass sie auch alle für die eingetretene konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung und der erheblichen Schädigung der körperlichen Entwicklung des Nebenklägers kannten (UA S. 50). Diese Schlussfolgerung liegt angesichts des festgestellten Krankheitsverlaufs auch überaus nahe, war der Nebenkläger Ende 2002 doch schon durch massive Unterernährung, blaue Fingerkuppen und gravierende Lungenfunktionseinschränkung gleichsam vom nahenden Tod gezeichnet. Zudem haben – worauf das Landgericht zutreffend abstellt – sämtliche Zeugen (Geschwister, Lehrer) den kontinuierlichen und besorgniserregenden körperlichen Leistungsabbau ab Mitte 2001 bei dem Nebenkläger bemerkt, so dass nichts dafür spricht, dass lediglich die Angeklagten insoweit ahnungslos gewesen sind. All dies rechtfertigt im Zusammenhang mit den übrigen Feststellungen auch den Schluss der Kammer, die Angeklagten hätten – weil sie weitere unangenehme Auseinandersetzungen mit dem pubertär-schwierigen Jungen scheuten – die durch die Verschlechterung des Gesundheitszustandes entstandenen Schmerzen und Leiden des Nebenklägers ebenso billigend in Kauf genommen wie die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädi- gung und einer erheblichen Schädigung der körperlichen Entwicklung und deshalb jeweils mit Eventualvorsatz gehandelt.
25
bb) Anders als die Revision der Angeklagten B. meint, sind auch die Feststellungen zum Fehlen von Medikamenten und einem Inhalationsgerät tragfähig mit den Angaben des Apothekers und der Geschwister des Nebenklägers belegt, zumal die Angeklagte B. ohnehin eingeräumt hat, seit Ende Juli 1999 mit dem Nebenkläger nicht mehr bei einem Arzt gewesen zu sein, so dass auch keine neuen Medikamente mehr verschrieben werden konnten.
26
cc) Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Nebenklägers sowie zu den Auswirkungen des Unterlassens jeder gebotenen Behandlung hat das Landgericht rechtsfehlerfrei auf die ausführlichen Angaben zweier Sachverständiger – eines Rechtsmediziners und eines Spezialisten für die Behandlung von Mukoviszidose – gestützt.
27
b) Die rechtsfehlerfreien Feststellungen tragen den Schuldspruch.
28
aa) Der minderjährige Nebenkläger befand sich nach seinem Einzug in A. im Sinne von § 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fürsorge und der Obhut der sorgeberechtigten Angeklagten B. als seiner Mutter und des Angeklagten L. , der im Einvernehmen mit der Angeklagten B. tatsächlich die Erziehung und Sorge für den in seinem Haushalt lebenden Nebenkläger übernommen hatte (vgl. auch BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 – 2 StR 109/93).
29
bb) Die Angeklagten haben den Nebenkläger durch Unterlassen der gebotenen medizinischen und therapeutischen Behandlung im Sinne von § 225 Abs. 1 StGB „gequält“.
30
Quälen bedeutet das Verursachen länger andauernder oder sich wiederholender (erheblicher) Schmerzen oder Leiden (st. Rspr.; vgl. nur RG, Urteil vom 23. Mai 1938 - 5 D 271/38, JW 1938, 1879; BGH, Urteile vom 12. September 1961 – 5 StR 329/61; vom 30. März 1995 – 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 115; vom 6. Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197; vom 3. Juli 2003 – 4 StR 190/03, NStZ 2004, 94; vom 17. Juli 2007 – 5 StR 92/07, NStZ-RR 2007, 304, 306; Beschlüsse vom 20. März 2012 – 4 StR 561/11, NStZ 2013, 466; vom 24. Februar 2015 – 4 StR 11/15; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 225 Rn. 8a; Hirsch in LK, 11. Aufl., § 225 Rn. 12; Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, 29. Aufl., § 225 Rn. 11; Hardtung in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 11; Momsen/Momsen-Pflanz in SSW-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 13; Eschelbach in v. Heintschel-Heinegg, StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 16). Erfasst hiervon sind auch seelische Leiden, denn neben der körperlichen Unversehrtheit wird von § 225 Abs. 1 StGB auch die psychische Integrität einer unter besonderen Schutzverhältnissen stehenden Person geschützt (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 2 StR 608/13; Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 5 StR 411/10; Hirsch aaO Rn. 1; Fischer aaO Rn. 2; Hardtung aaO Rn. 1).
31
Das Merkmal „quälen“ erfordert über den Vorsatz hinaus keine besonde- re subjektive Beziehung des Täters zur Tat im Sinne eines Handelns aus Lust an der Schmerzzufügung, aus niedriger Gesinnung oder aus Böswilligkeit; es reicht eine Tatbegehung aus Gleichgültigkeit oder Schwäche (vgl. BGH, Urteil vom 12. September 1961 – 5 StR 329/61; Senat, Urteil vom 1. April 1969 – 1StR 561/68; BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 – 4 StR 560/90, NStZ 1991, 234; BGH, Urteil vom 6. Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197). Der Bundesgerichtshof lässt – wie die herrschende Auffassung in der Literatur – für die Tathandlung „quälen“ ausreichen, dass der Täter dem Schutzbefohlenen vorsätzlich länger andauernde oder sich wiederholende (erhebliche) Schmerzen oder Leiden zufügt (s.o.). Demgegenüber verlangt eine andere Auffassung in der Literatur für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „quälen“, dass die Tat aus einer gefühllos-unbarmherzigen Gesinnung begangen wird (Paeffgen in NK-StGB, 4. Aufl., § 225 Rn. 13; Wolters in SK-StGB, § 225 Rn. 10). Zur Begründung verweist diese Auffassung auf historisch-genetische Argumente (insb. Paeffgen aaO) und den innertatbestandlichen Vergleich mit den zwei weiteren Begehungsweisen des § 225 Abs. 1 StGB (insb. Wolters aaO). Beides überzeugt nicht:
32
Die Tatbestandsfassung des heutigen § 225 Abs. 1 StGB geht zurück auf das Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933 (RGBl. I 295). Mit diesem Gesetz wurde § 223b RStGB als Vorgängervorschrift des heutigen § 225 StGB neu in das RStGB eingeführt; die Beschreibung der drei verschiedenen Begehungsweisen ist bis heute unverändert geblieben. § 223b RStGB ersetzte § 223a Abs. 2 RStGB, der durch Gesetz vom 19. Juni 1912 (RGBl. 395) eingeführt wurde und erstmals eine besondere Strafbarkeit für die Misshandlung Schutzbefohlener im RStGB vorsah. Strafbar war nach § 223a Abs. 2 RStGB aF (1912) die Begehung von Körperverletzungen gegen- über Schutzbefohlenen „mittels grausamer oder boshafter Behandlung“ (zur Gesetzesentstehung ausführlich Korn, Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB, Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933, 2003, S. 253 ff.). Während der Reformdiskussion, die der Änderung 1912 voranging, war erwogen worden, als Tathandlung das „boshafte Quälen“ einzuführen (vgl. Korn aaO S. 263); durchgesetzt hatte sich dieser Vorschlag damals nicht.
33
Wenige Monate nach Inkrafttreten des § 223b RStGB wurde das Tierschutzgesetz vom 24. November 1933 (RGBl. I 987) verkündet. Gemäß § 9 Abs. 1 Tierschutzgesetz 1933 wurde bestraft, wer ein Tier unnötig quält oder roh misshandelt. Eine Legaldefinition des „Quälens“ enthielt § 1 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 Tierschutzgesetz 1933: „Ein Tier quält, wer ihm länger dauernde oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden verursacht.“ In diesem Sinn legte auch das Reichsgericht den Begriff des Quälens aus, näm- lich als „die Verursachung länger fortdauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden“ (RG, Urteil vom 23. Mai 1938 – 5 D 271/38, JW 1938, 1879). Demgegenüber definierte § 1 Abs. 2 Satz 2 Tierschutzgesetz 1933 den Begriff der rohen Misshandlung als Verursachung erheblicher Schmerzen aus roher Gesinnung (vgl. hierzu auch RG aaO). Diese Unterscheidung liegt auch noch der heutigen Strafvorschrift in § 17 Nr. 2 TierSchG zugrunde; an der bis dahin geltenden Strafbarkeit wollte der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 17 TierSchG, der § 9 Abs. 1 Tierschutzgesetz 1933 ablöste , offensichtlich nichts ändern (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. VI/2558 S. 12 f.); lediglich gesetzestechnisch wurde anstelle des Begriffs „Quä- len“ der Inhalt der Legaldefinition in § 1 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 Tierschutzge- setz 1933 zum Tatbestandsmerkmal in § 17 Nr. 2 Buchstabe b TierSchG gemacht (vgl. auch BGH, Urteil vom 18. Februar 1987 – 2 StR 159/86, NStZ 1987, 511).
34
Die historische Auslegung ergibt damit, dass der Gesetzgeber den Be- griff „quälen“ als Verursachung länger andauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden versteht, darüber hinaus eine besondere subjektive Einstellung des Täters – anders als bei der rohen Misshandlung oder der böswilligen Vernachlässigung – aber gerade nicht verlangt.
35
Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die unterschiedliche Formulierung der drei Tathandlungsvarianten in § 225 Abs. 1 StGB: Gerade weil der Gesetzgeber bei der Formulierung ausdrücklich zwischen Begehungsweisen mit besonderer subjektiver Beziehung zur Tat („rohe Misshandlung“, „böswillige Vernachlässigung“) und solchen ohne derartigen Zusatz unterscheidet, ergibt sich im Umkehrschluss, dass bei der Variante des „Quälens“ keine weiteren subjektiven Voraussetzungen vorliegen müssen (vgl. Hardtung in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 26). Wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, standen dem Gesetzgeber Formulierungen zur Verfügung, mit denen er eine weitere subjektive Voraussetzung auch bei der Tatvariante des „Quälens“ hätte formulieren können („boshaftes Quälen“); solche Formulierungen hat er aber nicht gewählt. Gegenüber den zwei anderen Varianten des § 225 Abs. 1 StGB zeichnet sich die Tatvariante des „Quälens“ durch besondere Anforderungen an den Körper- verletzungserfolg aus; dies rechtfertigt es, insoweit keine weiteren einschränkenden subjektiven Elemente zu verlangen (vgl. Hardtung in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 26). Mit dem Wortlaut ist diese Auslegung, die auf das Verursachen körperlicher und seelischer Qualen bei dem Opfer abstellt, ohne weiteres vereinbar (vgl. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, 3. Aufl., Band 7, Stichwort „quälen“).
36
All dies gilt auch für das Quälen durch Unterlassen (vgl. insb. BGH, Urteil vom 12. September 1961 – 5 StR 329/61). Quälen kann nach heute nahezu allgemeiner Meinung auch durch Unterlassen begangen werden (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 1. April 1969 – 1 StR 561/68; BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 – 4 StR 560/90, NStZ 1991, 234; BGH, Urteile vom 30. März1995 – 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 117; vom 6. Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197; vom 3. Juli 2003 – 4 StR 190/03, NStZ 2004, 94; vom 5. März 2008 – 2 StR 626/07, BGHSt 52, 153, 156; BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 5 StR 411/10; vgl. auch BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 – 3 StR 64/02 für die Variante des rohen Misshandelns; ebenso Fischer, 62. Aufl., § 225 Rn. 8; Hirsch in LK, 12. Aufl., § 225 Rn. 17; Stree/SternbergLieben in Schönke/Schröder, 29. Aufl., § 225 Rn. 11; Hardtung in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 2, 15; Momsen/Momsen-Pflanz in SSW-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 12; Eschelbach in BeckOK-StGB, § 225 Rn. 16; Paeffgen in NK-StGB, 4. Aufl., § 225 Rn. 18). Insbesondere wer es unterlässt, für sein Kind leidensvermindernde ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, kann dieses durch Unterlassen quälen (vgl. Senat, Urteil vom 1. April 1969 – 1 StR 561/68; BGH, Urteile vom 6. Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197; vom 5. März 2008 – 2StR 626/07, BGHSt 52, 153, 159; OLG Düsseldorf, NStZ 1989, 269). Für die Unterlassungstäterschaft im Rahmen des § 225 StGB reicht – wie auch sonst – bedingter Vorsatz aus (BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 – 4 StR 190/03).
37
Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts hat das Unterlassen der gebotenen medikamentösen, therapeutischen und ärztlichen Behandlung beim Nebenkläger zu fortschreitendem Leistungsabbau, erheblicher Abnahme der Lungenfunktion, massiver Mangelernährung, anhaltenden Kopfschmerzen und schließlich sogar blauen Fingerkuppen infolge Sauerstoffmangels geführt, wobei Beschwerden und Schmerzen spätestens ab Mitte 2001 auftraten und sich kontinuierlich steigerten. Die zunehmende Verschleimung der Bronchien mit immer weiter abnehmender Sauerstoffsättigung, die massive Mangelernährung und der hierdurch bewirkte Abbau seiner Leistungsfähigkeit stellten ein erhebliches Leiden für den Nebenkläger dar. Zudem litt er aufgrund der unzureichenden Sauerstoffsättigung permanent an Kopfschmerzen , hatte also erhebliche Schmerzen im Sinne der oben genannten Definition; zuletzt bereitete ihm nach den Feststellungen des Landgerichts zudem jede körperliche Anstrengung erhebliche Schmerzen.
38
Im Rahmen der rechtlichen Würdigung und Strafzumessung hat das Landgericht zutreffend darauf abgestellt, dass der Tatzeitraum des Unterlassens gebotener medizinischer Behandlung und Therapie knapp drei Jahre umfasst (UA S. 48, 49, 51), sich die Verschlechterung des Gesundheitszustandes und dadurch bedingte Schmerzen des Nebenklägers während dieses Tatzeitraums kontinuierlich aufbauten und steigerten und der Taterfolg – die Leidenszeit des Nebenklägers – spätestens ab Mitte 2001 eintrat (UA S. 48, 54).
39
cc) Das Unterlassen der Angeklagten entspricht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB auch der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun. Voraussetzung hierfür ist, dass das Unterlassen im konkreten Fall dem Unrechtsgehalt aktiver Tatbestandsverwirklichung so nahe kommt, dass es sich dem Unrechtstypus des Tatbestands einfügt (sog. Modalitätenäquivalenz, vgl. Fischer aaO, § 13 Rn. 83 f. mwN). Eine Gleichstellung des Unterlassens mit der Verwirklichung des Handelns durch aktives Tun kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn dem Unterlassen der Erfolgsunwert fehlt (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Februar 1979 – 1 StR 648/78, BGHSt 28, 300, 307) oder es an begehungstäterbezogenen Qualifikationsmerkmalen mangelt (ausführlich hierzu Roxin, Strafrecht AT II, § 32 Rn. 239 ff. mwN). Bei reinen Erfolgsdelikten wie etwa § 212 StGB kommt der Entsprechensklausel dagegen keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. Fischer aaO Rn. 86 mwN; Weigend in LK, 12. Aufl., § 13 Rn. 77; ausführlich hierzu Roxin aaO, § 32 Rn. 218 ff. mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 6. November 2002 – 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77, 96).
40
Bei § 225 Abs. 1 StGB handelt es sich in der Variante des „Quälens“ um ein reines Erfolgsdelikt in Form eines Verletzungsdelikts (vgl. Hardtung in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 225 Rn. 2). Der Taterfolg besteht in der Verursachung von Schmerzen und Leiden des Tatopfers, den Qualen. Anders als bei der Va- riante der „rohen Misshandlung“ (vgl. hierzu im Kontext von § 13 StGB auch Weigend aaO § 13 Rn. 77) oder der „böswilligen Vernachlässigung“ ist eine besondere Begehungsweise nicht vorausgesetzt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1995 – 2 StR 465/95, NStZ-RR 1996, 197).
41
Vorliegend entsprach deshalb das Unterlassen der gebotenen Behandlung einer Tatbegehung durch aktives Tun. Auf die Frage, ob die vom Angeklagten L. angesichts seines Wissens um das Krankheitsbild naheliegend mit Eventualvorsatz begangene Täuschung des Nebenklägers über die Wirksamkeit täglicher Meditation als Therapieersatz eher als eine Tatbegehung durch aktives Tun einzuordnen ist, kommt es deshalb nicht an.
42
dd) Durch die objektiv gebotenen Handlungen der Angeklagten – Fortführen der notwendigen ständigen Behandlung durch Zurverfügungstellung der notwendigen Medikamente und Hilfsmittel, ärztliche und therapeutische Betreuung und Kontrolle, Angebot hochkalorischer Nahrung, notfalls Erzwingen der Behandlung – wären nach den durch Sachverständigenangaben belegten tragfähigen Feststellungen der Strafkammer die gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustandes und die damit einhergehenden erheblichen Leiden und Schmerzen des Nebenklägers vermieden worden (hypothetische Kausalität ). Dies folgt auch daraus, dass der Nebenkläger bereits kurz nach Wiederaufnahme der medizinischen und therapeutischen Behandlung im Dezember 2002 wieder bessere Werte bei Sauerstoffsättigung, Lungenfunktion und Gewicht aufwies und die durch die Sauerstoffunterversorgung hervorgerufenen Folgen (Kopfweh, Zyanose) verschwanden.
43
ee) Die Vornahme der rechtlich gebotenen Handlungen war den Angeklagten auch möglich und zumutbar.
44
Die Angeklagten konnten dem Nebenkläger ohne weiteres eine regelmäßige ärztliche und therapeutische Behandlung und Kontrolle organisieren und den Nebenkläger zur Mitwirkung motivieren – die Angeklagte B. im Rahmen ihrer elterlichen Sorge, der Angeklagte L. als faktischer „Haus- haltsvorstand“, der die tatsächliche Fürsorge für den ihm schutzbefohlenen Ne- benkläger übernommen hatte. Hierfür erhielt die Angeklagte B. sogar bis Ende September 2001 von der AOK Pflegegeld der Stufe 2.
45
Nach den Feststellungen des Landgerichts deutet nichts darauf hin, dass sich der Nebenkläger bei gebotener Einwirkung der Angeklagten der Fortführung seiner Therapie nach dem Einzug in A. verschlossen hätte. Denn er hat bis dahin stets vollumfänglich bei der aufwändigen Therapie mitgewirkt, sämtliche notwendigen Medikamente genommen, inhaliert, die autogene Drainage durchgeführt und sich regelmäßig ärztlich untersuchen und therapeutisch behandeln lassen. Zudem hat er nach dem Auszug aus der Wohngemeinschaft Ende 2002 sofort mit der notwendigen Medikation und Therapie wieder begonnen , was eine spürbare und erhebliche Verbesserung seines Gesundheitszustandes und das Ende seiner Schmerzen und Leiden zur Folge hatte. Dass auch der Angeklagte L. über entsprechenden Einfluss auf das Verhalten des Nebenklägers verfügte, ergibt sich schon daraus, dass sich der Nebenkläger anderen Anweisungen des Angeklagten L. , etwa hinsichtlich der Meditation , gefügt hat.
46
Selbst wenn sich der Nebenkläger – was nach den Feststellungen des Landgerichts ohnehin nicht der Fall war – geweigert hätte, sich weiterbehandeln zu lassen, hätten die Angeklagten die notwendige Behandlung des minderjährigen Nebenklägers auch gegen seinen Willen erzwingen müssen:
47
Die Angeklagte B. konnte sich ihrer elterlichen Sorge für die Person des Nebenklägers nicht dadurch entledigen, dass sie diesem die Verantwortung für die Behandlung seiner schweren Erkrankung übertrug. Nach § 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB haben die Eltern das Recht und die Pflicht, für ein minderjähriges Kind zu sorgen. Dies umfasst insbesondere auch die Sorge um das körperliche und seelische Wohl des Kindes (Personensorge, § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB). Gemäß § 1626 Abs. 2 Satz 1 BGB berücksichtigen die Sorgeberechtigten zwar die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen deshalb mit dem Kind, soweit dies nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an (§ 1626 Abs. 2 Satz 2 BGB). Dies alles findet seine Grenze aber im Schutz des Minderjährigen vor konkreten Gefahren für Leib und Leben, wie auch § 1666 BGB zeigt. Das „Kindeswohl“ ist Schutzgegenstand des § 1666 BGB, weil das Kind nach der gesetzlichen Konzeption zu einer Selbstbestimmung seiner Interessen rechtlich nicht in der Lage ist und deshalb sein objektiv bestimmtes „wohlverstandenes Interesse“ in den Vordergrund tritt; bei der Bestimmung dieses „Wohls“ ist allerdings der subjektive Wille des Kindes, gerade auch bei Jugend- lichen, beachtlich (vgl. hierzu ausführlich Coester, in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 1666 Rn. 74 ff. mwN). In Fällen notwendiger Heilbehandlung gegen den Willen eines älteren Kindes oder Jugendlichen kommt es auf die Schwere und Bedeutung des Eingriffs in die körperliche Integrität des Kindes, die objektive (medizinische) Notwendigkeit und die Gründe für die Haltung des Kindes an (vgl. Coester aaO Rn. 154; vgl. auch Olzen in MüKo-BGB, 6. Aufl., § 1666 Rn. 77 ff. mwN). Nach diesen Maßstäben unterliegt es keinem Zweifel, dass die Angeklagte B. einem etwaigen Nichtbehandlungswunsch des Nebenklägers (hätte er überhaupt vorgelegen) keine durchgreifende Relevanz hätte zukommen lassen dürfen, denn die schwerwiegenden, irreversiblen und potentiell tödlichen Folgen einer Nichtweiterbehandlung der Mukoviszidose standen in keinem Verhältnis zu den notwendigen ärztlichen und therapeutischen Maßnahmen. Zudem ist es bei diesem Krankheitsbild naheliegend (was auch das Landgericht betreffend den Nebenkläger festgestellt hat), dass ein Minderjähriger die schweren Folgen der sich über Jahre hinziehenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nicht hinreichend überblicken und deshalb insoweit keine eigenverantwortliche Entscheidung über einen Behandlungsabbruch treffen kann.
48
Die Angeklagte B. hätte als sorgeberechtigte Mutter des Nebenklägers notfalls einen Antrag bei dem Familiengericht nach § 1631b BGB auf Genehmigung einer mit Freiheitsentzug verbundenen Unterbringung des Nebenklägers stellen müssen, wenn nur durch eine solche Unterbringung in einer Klinik die Durch- und Weiterführung einer dringend notwendigen Behandlung des Kindes mit Medikamenten sichergestellt und eine erhebliche Selbstgefährdung hätte verhindert werden können (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 8. November 2012 – 26 UF 158/12). Zuvor hätte die Angeklagte B. – ebenso wie der Angeklagte L. – aber alle Möglichkeiten der Einwirkung auf den minderjährigen Nebenkläger, auch unter Einschaltung des Jugendamts, nutzen müssen, um den Nebenkläger zur Fortführung der Medikation und Therapie zu bewegen.
49
Der Angeklagte L. hätte als Fürsorgepflichtiger notfalls auch gegen den Willen der allein sorgeberechtigten Angeklagten B. die Gerichte bzw.
Behörden einschalten müssen, die – wie es letztlich auch geschehen ist – bei Kenntnis von den Umständen der unzureichenden Betreuung des Nebenklägers zur Erhaltung von dessen Gesundheit tätig geworden wären. Wird das körperliche Wohl eines Kindes gefährdet, etwa durch Nichtbehandlung einer behandlungsbedürftigen schweren Krankheit, und sind die Erziehungsberechtigten nicht gewillt oder in der Lage, diese Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden , trifft gemäß § 1666 Abs. 1 BGB das Familiengericht die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr. Das Verfahren wird von Amts wegen eingeleitet; insoweit muss das Familiengericht auch plausiblen Anzeigen Dritter nachgehen (Coester in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 1666 Rn. 261 mwN). Auch ein Hinweis des Angeklagten L. an das zuständige Jugendamt hätte entweder zur Herausnahme des Nebenklägers aus der Wohngemeinschaft durch das Jugendamt direkt oder zum Eingreifen des Jugendgerichts auf Antrag des Jugendamts geführt (vgl. § 8a Abs. 2 SGB VIII; vgl. auch Olzen, in MüKo-BGB, 6. Aufl., § 1666 Rn. 213). Zu den möglichen gerichtlichen Maßnahmen des Jugendgerichts gehören etwa das Gebot, öffentliche Hilfen der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen, oder die – vorliegend auch erfolgte – Entziehung des Sorgerechts (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1, 6 BGB). Die Einschaltung von Gerichten oder Behörden war auch erfolgversprechend, wie der weitere Verlauf des vorliegenden Falls zeigt. Allein schon die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater des Nebenklägers und das Verlassen der Wohngemeinschaft in A. haben Ende 2002 die Wiederaufnahme der notwendigen Therapie und die Beseitigung der Leiden und Schmerzen des Nebenklägers zur Folge gehabt.
50
Nach den Feststellungen des Landgerichts haben die Angeklagten indes das Gegenteil des rechtlich Gebotenen getan: Sie haben dem Nebenkläger weder Medikamente noch ein Inhalationsgerät zur Verfügung gestellt, noch ihn Ärzten oder Therapeuten zugeführt noch auf ihn eingewirkt, zu solchen zu gehen ; zudem haben sie jeden Kontakt des Nebenklägers zu seinem Vater unterbunden. Schließlich hat der Angeklagte L. dem minderjährigen Nebenkläger , der dies glaubte, vorgespiegelt, er könne seine Krankheit durch Meditation besiegen.
51
c) Die Strafzumessung ist revisionsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
52
Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 525/11, BGHSt 57, 123, 127 mwN). Das gilt auch, soweit die tatrichter- liche Annahme oder Verneinung eines minder schweren Falles zur revisionsgerichtlichen Prüfung steht (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 26. Juli 2006 – 1 StR 150/06, NStZ-RR 2006, 339, 340; BGH, Urteil vom 16. April 2015 – 3 StR 638/14).
53
Die Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB hat das Landgericht tragfähig mit der Länge des Tatzeitraums, dem Alter des Nebenklägers und der Schwere seines körperlichen Leidens am Ende des Tatzeitraums begründet und aus den gleichen Gründen einen minder schweren Fall der schweren Misshandlung Schutzbefohlener abgelehnt. In einer derartigen Konstellation erweist es sich nicht als rechtsfehlerhaft, dass sich das Landgericht bei der Prüfung des minder schweren Falls nicht ausdrücklich mit dem Vorliegen des vertypten, aber konkret nicht zur Strafrahmenverschiebung führenden Milderungsgrundes auseinandergesetzt hat, zumal es die „Nichtbehandlung“ der Krankheit des Nebenklägers auch an dieser Stelle in den Vordergrund gestellt hat.
54
Nicht aus dem Blick geraten ist der Strafkammer bei der Strafzumessung im Einzelnen zudem, dass die Leidenszeit (Taterfolg) nicht sogleich, sondern ab spätestens Mitte 2001 eintrat, die Tat lange zurückliegt und die Angeklagten durch eine Vorverurteilung und Stigmatisierung in Medienberichten sowie die öffentliche Ächtung in sozialen Medien und durch Mahnwachen vor ihrem Haus erheblich beeinträchtigt wurden.

III.


55
Der Tenor war im Schuldspruch zu berichtigen, weil die Verbrechensqualifikation nach § 225 Abs. 3 StGB als „schwerer“ Fall der Misshandlung von Schutzbefohlenen in der Urteilsformel kenntlich zu machen ist (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 2 StR 608/13). Dass nur die Angeklagten Revision eingelegt haben, hindert daran nicht, denn das Verschlechterungsverbot gemäß § 358 Abs. 2 StPO gilt schon seinem Wortlaut nach nur für den Rechtsfolgenausspruch.
Raum Graf Radtke Mosbacher Fischer

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe.

(2) Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 219/15
vom
6. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter sexueller Nötigung u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:060416B2STR219.15.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. April 2016 beschlossen:
1. Das Revisionsverfahren wird im Hinblick auf das Anfrageverfahren 3 StR 342/15 unterbrochen. 2. Termin zur Fortsetzung wird von Amts wegen bestimmt.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision.
2
Der Senat kann über das Rechtsmittel nicht abschließend entscheiden.
3
Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der Angeklagte in der Zeit von Sommer 1995 bis Anfang 2010 die Enkelinnen seiner Lebensgefährtin. Eingegrenzt wurden eine Tat zum Nachteil von M. , die zwischen dem 21. August 1995 und dem 1. Dezember 1996 begangen wurde, ferner Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, die zwischen dem 17. Januar 1997 und Sommer 1999 (Fall II.2. der Urteilsgründe), zwischen Sommer 2003 und Sommer 2005 (Fall II.3. der Urteilsgründe), im Zeitraum vom 28. September 2000 bis zum 28. Mai 2009 (Fall II.4. der Urteilsgründe) und im Zeitraum zwischen dem 17. Januar 2007 und dem 16. Januar 2010 (Fall II.5. der Urteilsgründe) begangen wurden.
4
Das Landgericht hat bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Taten lange zurückliegen. Allerdings komme „dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil“ bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht die gleich hohe Bedeutung zu wie in anderen Fällen (vgl. BGH NStZ 2006, 393).
5
Der Senat neigt zu der Auffassung, dass dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung auch bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Ansatz die gleiche Bedeutung zukommt, wie bei anderen Straftaten.
6
Dies entspricht der Auffassung des 3. Strafsenats, der deshalb durch Beschluss vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15 (NStZ 2016, 227 f.) bei dem ersten Strafsenat angefragt hat, ob dieser an seiner abweichenden Rechtsauffassung festhält, wie sie im Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 (NStZ 2006, 393) erläutert wurde. Die Fragestellung ist im vorliegenden Fall ebenso von Bedeutung wie in dem Anfrageverfahren. Daher ist eine Unterbrechung der Revisionshauptverhandlung angezeigt, um das Ergebnis des Anfrageverfahrens berücksichtigen zu können.
7
Der Senat ist, ebenso wie der 3. Strafsenat, der Auffassung, dass die Strafe eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein soll. Ihre Bemessung erfordert eine am Einzelfall orientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Der lange Ablauf von Zeit seit der Begehung der Tat mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei frühe- rer Ahndung der Fall gewesen wäre (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Das Strafbedürfnis nimmt mit langem Zeitablauf seit der Begehung der Tat ab (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Das gilt prinzipiell auch für Missbrauchsdelikte (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Mai 2015 – 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40).
8
Verjährungsvorschriften regeln dagegen, wie lange eine für strafbar erklärte Tat verfolgt werden soll. Die Verjährung macht eine Tat nicht ungeschehen. Sie lässt das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters unberührt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 – 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 294). Die Verjährung der Strafverfolgung soll vielmehr dem Rechtsfrieden dienen und einer Untätigkeit der Behörden vorbeugen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht hingegen nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen.
9
Dies gilt erst recht für die Regelungen über das Ruhen des Fristablaufs in den Fällen von Missbrauchsdelikten an Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mit der Sonderregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 179, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers ruht, soll vielmehr der besonderen Situation von Tatopfern Rechnung getragen werden, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene aufgrund familiärer Bindungen oder besonderer Abhängigkeitsverhältnisse gehemmt sind, Übergriffe anzuzeigen. Der Gesetzgeber hat damit nicht bezweckt, Strafzumessungsgesichtspunkte abweichend von den allgemeinen Grundsätzen zu regeln.
Fischer Krehl Eschelbach RinBGH Dr. Ott ist RiBGH Zeng ist an der Unterschrift an der Unterschrift gehindert. gehindert. Fischer Fischer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 7/06
vom
8. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Februar 2006 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 5. Oktober 2005 wird mit der Maßgabe verworfen, dass in sämtlichen Fällen die tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen entfällt. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


1
1. Der Angeklagte hat sich 1990 wiederholt an seiner damals acht Jahre alten Stieftochter, der Nebenklägerin, sexuell vergangen, als er sie zu Bett brachte, während seine Ehefrau, die Mutter der Nebenklägerin, mit der Versorgung eines Säuglings befasst war. Er hat der Nebenklägerin z.B. Gegenstände in die Scheide eingeführt, ist mit einem oder mehreren Fingern - er versuchte es auch mit der ganzen Hand - oder seiner Zunge dort eingedrungen, führte ihre Hand an sein Geschlechtsteil oder rieb damit an ihren Schamlippen.
2
Die Nebenklägerin, die die Vorfälle erst 2005 zur Anzeige brachte, ist als Folge der Taten nach wie vor psychisch schwer belastet und therapiebedürftig. Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung bei ihr entschuldigt; sie akzeptiert dies jedoch nicht und lehnt Kontakt mit ihm ab. Allerdings hat sie er- klärt, eine von ihm angekündigte - freilich noch nicht erbrachte - Schmerzensgeldzahlung von 15.000.- € zu akzeptieren.
3
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen insgesamt acht Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wobei die Einzelstrafen zweimal acht Monate , viermal ein Jahr und zweimal ein Jahr und drei Monate betrugen. Die Strafkammer war von besonders schweren Fällen i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB aF ausgegangen, hatte aber die Voraussetzungen des § 46a Nr. 2 StGB bejaht und von der danach eröffneten Möglichkeit zur Strafrahmenmilderung Gebrauch gemacht.
4
3. Die auf die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist zwar auf den Strafausspruch beschränkt, führt aber insoweit zu einer Abänderung des Schuldspruchs (§ 349 Abs. 4 StPO), als der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) verjährt ist (§ 78 StGB i.V.m. § 78b StGB aF).
5
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend im Einzelnen dargelegt hat, gilt § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nF (BGBl. I 2003, 3007), wonach die Verjährung jetzt auch bei Straftaten gemäß § 174 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, auch rückwirkend für vor Inkrafttreten dieser Bestimmung (1. April 2004) begangene Taten. Anderes gilt, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Verjährung eingetreten war (BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 4 StR 443/05; BGH NStZ 2005, 89, 90). So verhält es sich hier. Die Verjährungsfrist für Vergehen gemäß § 174 StGB beträgt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre, war also angesichts der erst 2005 erfolgten Anzeige bei der ersten zur Unterbrechung der Verjährung geeigneten Handlung abgelaufen. Der danach gebotenen Änderung des Schuldspruchs steht der Umstand, dass die Revision auf den Strafausspruch beschränkt ist, nicht entgegen (vgl. BGHSt 11, 393, 394; BGH bei Spiegel DAR 1978, 146, 160 ).
6
4. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
7
a) Die Änderung des Schuldspruchs gefährdet den Strafausspruch hier nicht. Abgesehen davon, dass auch verjährte Taten bei der Strafzumessung nicht unberücksichtigt bleiben müssen, kommt dem Umstand, dass der Angeklagte eine Vertrauensstellung missbraucht hat, unabhängig von der Anwendbarkeit des § 174 StGB straferschwerende Wirkung zu, da dieser Gesichtspunkt die Tatschuld erhöht (vgl. BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 321, 322 ; Renzikowski in MünchKomm, StGB § 176 Rdn. 66 jew. m. w. N.).
8
b) Die - wohl versehentliche - fehlerhafte Bezeichnung der angewendeten Fassung des § 176 StGB - die Strafkammer spricht von der Fassung des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes, statt richtig von der des zur Tatzeit geltenden 4. Strafrechtsreformgesetzes, dessen Strafrahmen sie aber zu Grunde gelegt hat - gefährdet, so auch im Ergebnis die Revision, den Strafausspruch nicht.
9
c) Zu Recht weist die Revision allerdings darauf hin, dass die Strafkammer die abgeurteilten Delikte als Verbrechen bezeichnet hat. Dies trifft nicht zu, wie sich aus § 12 Abs. 3 StGB ohne weiteres ergibt. Der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen hat faktisch jedoch vor allem noch gesetzestechnische Bedeutung und ist vorwiegend formal zu verstehen (vgl. Radtke in MünchKomm, StGB § 12 Rdn. 6). Der sachliche Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen ist vor allem dort nicht hoch, wo, wie auch hier, der besonders schwere Fall eines Vergehens mit ebenso hoher Mindeststrafe bedroht ist wie ein Verbrechen (vgl. hierzu näher Radtke aaO Rdn. 9 m. w. N.). Daher lässt allein die hier vorliegende fehlerhafte Bezeichnung Taten - auch angesichts der konkreten Höhe der verhängten Strafen - eine rechtsfehlerhafte Strafzumessung nicht besorgen. Konkrete Umstände, die eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich.
10
d) Die Revision wendet sich gegen die Annahme besonders schwerer Fälle i. S. d. § 176 Abs. 3 StGB (der genannten Fassung). Vor allem, so trägt sie vor, habe in diesem Zusammenhang der Umstand entscheidende Bedeutung , dass die Taten bereits länger zurückliegen.
11
Der Senat vermag dem nicht zu folgen. Dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu (wie etwa in den von der Revision genannten Entscheidungen BGHSt 40, 48, 58 und BGH, Beschluss vom 6. November 2001 - 4 StR 461/01, bei denen es nicht um Sexualdelikte z. N. von Kindern, sondern um Totschlag und schwere räuberische Erpressung ging). Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen, wie hier, ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (hier: Stief-)Vater missbraucht wird und (wie ebenfalls hier) erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige findet. Deshalb hat der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen (vgl. BGH NJW 2000, 748, 749; G. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. Rdn. 437).
12
e) Auch die übrigen Erwägungen der Revision, die im Kern darauf hinauslaufen , die Strafkammer habe nicht rechtsfehlerfrei zwischen Strafrahmenbestimmung und Festsetzung der Einzelstrafen differenziert und dadurch im Ergebnis - von ihr nicht übersehene - strafmildernde Gesichtspunkte (z. B. das Geständnis, die sozialen Folgen der Strafe für den bisher nicht vorbestraften Angeklagten und der Versuch einer Entschuldigung) zu gering und strafschärfende Gesichtspunkte (z. B. die Folgen der Tat) zu schwer gewichtet, können hier schon angesichts der sehr maßvollen Einzelstrafen und der hieraus nach - so auch die Strafkammer selbst - straffem Zusammenzug gebildeten Gesamtstrafe durchgreifende Rechtsfehler nicht verdeutlichen.
13
Rechtlichen Bedenken gegen die von der Strafkammer bejahte Anwendbarkeit von § 46a StGB - der von der Strafkammer angewendete § 46a Nr. 2 StGB betrifft vorwiegend einen hier nicht vorliegenden materiellen Schaden des Opfers (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 46a Rdn. 11 m. w. N.), § 46a Nr. 1 StGB erfordert einen "kommunikativen Prozess" zwischen Täter und Opfer (vgl. aaO Rdn. 10a m. w. N.), für den hier wenig spricht - braucht der Senat dabei nicht näher nachzugehen, da der Angeklagte insoweit nur begünstigt sein kann.
14
5. Auf den Hinweis des Generalbundesanwalts, dass vor allem angesichts der schwerwiegenden und noch immer fortwirkenden psychischen Belastungen der Nebenklägerin die Strafe auch angemessen i. S. d. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO wäre, kommt es unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht mehr an. Wahl Kolz Hebenstreit Elf Graf

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 643/10
vom
7. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. Juni 2011 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. April 2002 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 5. April 2002 wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
2
Im Rahmen seiner Revision hat der Angeklagte mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass er vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt worden sei.
3
Nach einer ersten Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet durch Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2003 – 5 StR 475/02 – und der Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 19. September 2006 (2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision mit Beschluss vom 25. September 2007 (veröffentlicht in BGHSt 52, 48) erneut verworfen, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
4
Auf die gegen diese Entscheidung wiederum erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 8. Juli 2010 (2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207) auch die zweite Revisionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs zurückverwiesen.
5
Danach hat nunmehr der Senat über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.

II.

6
Diese Entscheidung kann im Beschlusswege ergehen. Nach Aufhebung auch des zweiten die Revision des Angeklagten verwerfenden Beschlusses des 5. Strafsenats ist das Verfahren erneut in den Stand zurückversetzt worden, den es vor der ersten Revisionsentscheidung vom 29. Januar 2003 hatte. Die allein noch inmitten stehende Rechtsfrage nach den Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist durch die Vorgaben nunmehr zweier bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen klar umgrenzt; der Generalbundesanwalt und der Verteidiger des Angeklagten haben zu ihr nochmals ausführlich schriftlich Stellung genommen.
7
Die Rechtsfrage ist nach Auffassung des Senats auch zweifelsfrei zu beantworten. Die Durchführung der Hauptverhandlung lässt keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober2000 – 5StR 414/99, BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6; zur Bedeutung der Revisionshauptverhandlung vgl. Wohlers JZ 2011, 78, 80).

III.

8
Die Revision erzielt lediglich wegen einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
9
1. Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK geltend gemacht wird.
10
a) Der Senat sieht mit Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) davon ab, die Rüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. November 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten Bl. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.
11
b) Die Rüge ist unbegründet. Allerdings liegt eine Gesetzesverletzung darin, dass der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK über seine Rechte belehrt worden ist (vgl. jetzt auch § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO).
12
aa) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beigetreten sind, steht in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das deutsche Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, zur Parallele bei der MRK). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben deutsche Gerichte dabei auch die Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a., Rn. 89 ff.). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502).
13
bb) Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK obliegt die Belehrungspflicht den zuständigen Behörden des Empfangsstaates und damit auch den festnehmenden Polizeibeamten, sofern sie Kenntnis von der ausländischen Staatsangehörigkeit erlangen oder Anhaltspunkte für eine solche bestehen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, unter Bezugnahme auf IGH, Avena and other Mexican Nationals , Mexico v. United States of America, Judgement of 31 March 2004, ICJ Re- ports 2004, p. 12, No. 88: „there is […] a duty upon the arresting authorities to give that information to an arrested person as soon as it is realized that the per- son is a foreign national, or once there are grounds to think that the person is probably a foreign national“).
14
c) Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen hat. Der 1. Strafsenat hat allerdings mit Beschluss vom 11. September 2007 (1 StR 273/07, BGHSt 52, 38) die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelte „Wider- spruchslösung“ auch auf den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK angewandt und generell verlangt, dass die den Prüfungsumfang für das Tatgericht begrenzende Begründung des Widerspruchs erkennen lässt, dass die Angriffsrichtung des Widerspruchs gerade auf eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK abzielt.
15
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem jener Entscheidung zugrunde liegenden jedoch dadurch, dass hier eine Belehrung auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfolgt ist. Nach den maßgeblich zu beachtenden Grundsätzen des Internationalen Gerichtshofs im LaGrand-Urteil muss eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein (IGH, LaGrand, Germany v. United States of America, Judgement of 27 June 2001, ICJ Reports 2001, p. 466, No. 128 [nichtamtliche deutsche Übersetzung in EuGRZ 2001, 287]: „review and reconsideration of the conviction and sentence by ta- king account of the violation of the rights set forth in that Convention”). Diese Überprüfung darf nicht unter Berufung auf das Fehlen nach nationalem Pro- zessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90, zur US-amerikanischen „procedural default rule“), weshalb nach dem Internationalen Gerichtshof ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 2 WÜK jedenfalls dann vorliegt, wenn die Belehrung über die Rechte nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK – wie hier – solange nicht erfolgte, wie die Einwände nach nationalem Prozessrecht hätten erhoben werden müssen (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90 f.; IGH, „Avena“, aaO, No. 112 f., 134).
16
d) Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK führt im vorliegenden Fall nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Angeklagten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.
17
aa) Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht von vornherein ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 209 f.; anders – gegen die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes – noch BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3StR 318/07, BGHSt 52, 110, 114; offen gelassen in BGH, Beschluss vom 11. September 2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 41): Nach der Rechtspre- chung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil ent- standen ist („actual prejudice“, IGH, „Avena“, aaO, No. 121 ff.). Dieser Recht- sprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, und vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210) – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom Bundesgerichtshof für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden , wobei auf den Schutzzweck der verletzten Norm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210; vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2010 – 1 StR 251/10; s. auch Gless/Peters StV 2011, 369, 376; Paulus/Müller StV 2009, 495, 498 ff.).
18
bb) Die hieran ausgerichtete Abwägung führt im Ergebnis nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. November 2001.
19
(1) Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502 f. unter Bezugnahme auf IGH, „LaGrand“ aaO und „Avena“ aaO). Im Zentrum der konsularischen Unterstützung steht die Vermittlung anwaltlichen Beistandes (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503: Überschneidung der Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers mit der Funktion der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK, mit Hilfe des Konsulats einen Rechtsbeistand für den Beschuldigten zu beauftragen; Kreß GA 2007, 296, 305; Esser JR 2008, 271, 274; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 573/09, zum Inhalt der Hilfe für im Ausland inhaftierte deutsche Staatsangehörige durch deutsche Konsularbeamte nach § 7 KonsG). Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht vorgesehen ist, dass der Konsular- beamte selbst anwaltliche Aktivitäten entfaltet (IGH, „Avena“, aaO, No. 85: „It is not envisaged, either in Article 36, paragraph 1, or elsewhere in the Conven- tion, that consular functions entail a consular officer himself or herself acting as the legal representative or more directly engaging in the criminal justice process“ ; anders offenbar Gless/Peters aaO S. 372). Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten (ebenso Kreß aaO, S. 304), sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung (so auch Esser aaO, S. 275); dies ergibt sich schon daraus, dass nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht verlangt, dass die Belehrung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in jedem Fall vorausgehen muss (IGH, „Av- ena“, aaO, No. 87: „The court considers that the provision in Article 36, paragraph 1 (b), that the receiving State authorities „shall inform the person concerned without delay of his rights“ cannot be interpreted to signify that the pro- vision of such information must necessarily precede any interrogation, so that the commencement of interrogation before the information is given would be a breach of Article 36”; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503).
20
(2) Vor dem Hintergrund dieses Schutzzwecks ist zunächst in die Abwägung einzustellen, dass der Angeklagte – was ihn freilich nicht vom persönlichen Schutzbereich des Art. 36 Abs. 1 WÜK ausnimmt (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503; BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110) – in Deutschland geboren wurde und aufwuchs und nach den Feststellungen im Urteil keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und keine Sozialisationsdefizite hatte, sondern insgesamt integriert in Deutschland lebte. Eine wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit des Angeklagten ist danach nicht erkennbar (vgl. dazu auch Esser aaO).
21
(3) Der – anlässlich seiner Festnahme sowohl von den Ermittlungsbeamten als auch dem Haftrichter mehrfach über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrte – Angeklagte war über seine Verteidigungsmöglichkeiten orientiert. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er auch ohne die Belehrung über die Möglichkeit konsularischen Beistands in der Lage war, seine prozessualen Rechte – insbesondere sein Recht zu schweigen – wahrzunehmen. So hat er vor dem Ermittlungsrichter eine Aussage unter Hinweis darauf verweigert , zunächst einen Rechtsanwalt sprechen zu wollen, um dessen Beauftragung er im Folgenden seine Familie gebeten hat. Seine Einlassung in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 erfolgte, nachdem er ausführlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt worden war.
22
(4) Am 20. November 2001, als der Angeklagte zwar noch immer nicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt, wohl aber verteidigt war,also – wenngleich mit einiger Verzögerung – der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 WÜK ist, hat der Angeklagte die Angaben aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung bestätigt (vgl. auch Esser aaO; Kreß aaO S. 305). Die Verteidigervollmacht für Rechtsanwalt T. hatte der Angeklagte bereits am 2. November 2001 in der JVA Hannover unterzeichnet.
23
(5) Die Polizeibeamten unterließen weder bei der Festnahme noch im Vorfeld der Vernehmung vom 1. November 2000 die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK unter bewusster Umgehung dieser Vorschrift (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112; Beschlüsse vom 18. Oktober 2005 – 1 StR 114/05, NStZ 2006, 236, und vom 19. Oktober 2005 – 1 StR 117/05, NStZ-RR 2006, 181); nach damaliger in Deutschland verbreiteter Rechtsauffassung (vgl. BGH, Beschluss vom 7. No- vember 2001 – 5 StR 116/01, BGHR WÜK Art. 36 Unterrichtung 1) war nicht die Polizei, sondern der in §§ 115, 115 a, 128 StPO genannte Richter die für die Belehrung „zuständige Behörde“ im Sinne des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK. Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK durch den Ermittlungsrichter hat der Angeklagte in der Revisionsbegründung schon nicht behauptet. Solches ist auch nicht erkennbar: Die ermittlungsrichterliche Vernehmung musste ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts Lörrach vom 21. Oktober 2001 abgebrochen werden, da der Angeklagte „wegen eines heftigen Gefühlsausbruchs (krampfartiges Weinen) nicht in der Lage war, den Termin fortzusetzen.“
24
(6) Schließlich kommt dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung angesichts der Schwere der hier inmitten stehenden Straftat – eines Kapitalverbrechens – besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 248).
25
e) Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK beruht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 m.w.N.), kann der Senat aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausschließen. Für ein Beruhen ist nichts ersichtlich, und die Revision trägt hierzu auch nichts vor.
26
2. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind sechs Monate für vollstreckt zu erklären.
27
a) Allerdings kommt eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nach der sog. „Vollstre- ckungslösung“ (vgl. BGH – Großer Senat fürStrafsachen –, Beschluss vom 17. Januar 2008, BGHSt 52, 124) nicht in Betracht.
28
Die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007, für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK eine Kompensation zu gewähren , bindet den Senat nicht; das Bundesverfassungsgericht hat diese Revisionsentscheidung in vollem Umfang aufgehoben (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 211), also keine Teilrechtskraft herbeigeführt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 StR 344/10). Der Senat neigt der Auffassung des 3. Strafsenats aus dem Urteil vom 20. Dezember 2007 (3 StR 318/07, BGHSt 52, 110, 118; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 – 2 StR 489/08) zu, dass eine solche Kompensation generell ausscheidet. Dies braucht der Senat aber nicht zu entscheiden. Für eine Kompensation fehlt vorliegend bereits deshalb ein Anknüpfungspunkt, weil die Abwägung zur Frage nach einem Beweisverwertungsverbot und die Prüfung zum Beruhen im Übrigen ergeben haben, dass dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht entstanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210 m.w.N.).
29
b) Eine Kompensation nach der „Vollstreckungslösung“ ist jedoch für eine – von Amts wegen zu beachtende (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 9c m.w.N.) – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren.
30
aa) Eine solche sieht der Senat für den Zeitraum ab der zweiten Revisionsentscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007 als gegeben an. Dabei kann der Senat offen lassen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des – vorliegend ohne offensichtliche Verzögerung durchgeführten (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208) – Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines Verfassungsbeschwerdever- fahrens bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind (zum Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfahrensverzögerung daraus, dass trotz der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. September 2006 dargelegten Anforderungen bei der Prüfung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK der Bundesgerichtshof die Reichweite des Gebotes zur Beachtung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs erneut in einer die Grundrechte des Angeklagten beeinträchtigenden Weise unbeachtet gelassen hat. Diesen Umstand hat auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 hervorgehoben. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche Verfassungsbeschwerdeverfahren und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem Senat erstreckt, begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 MRK (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 4 StR 537/08, StV 2009, 241, zur überlangen Verfahrensdauer bei zweimaliger Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den Bundesgerichtshof).
31
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08, StV 2008, 633 m.w.N.). Danach ist vorliegend eine Kompensation von sechs Monaten insbesondere angesichts einer Verzögerung von etwa vier Jahren , die der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Haft am 10. Juni 2008 weitgehend in Freiheit verbracht hat, sowie angesichts der bei der Beurteilung der Verfahrensverzögerung zu berücksichtigenden besonderen Rolle des Bundesverfassungsgerichts im innerstaatlichen Rechtssystem (EGMR, Urteile vom 22. Januar 2009 – 45749/06 und 51115/06, StV 2009, 561, 562, und vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211) an sich deutlich überhöht. An einer Kompensation in geringerem Umfang sieht sich der Senat jedoch durch das Verbot der reformatio in peius gehindert. Zwar gilt das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO für den Fall der Aufhebung einer Revisionsentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar; § 79 Abs. 1 BVerfGG sieht jedoch die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen ein rechtskräftiges Urteil vor, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens verweist § 79 Abs. 1 BVerfGG auf die Vorschriften der StPO, mithin auch auf das Schlechterstellungsverbot des § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO. Wenn dieses Verbot aber schon dort gilt, wo das Bundesverfassungsgericht die dem Strafurteil die Grundlage entziehende Entscheidung in einem anderen Verfahren trifft, so muss es erst recht zum Tragen kommen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Entscheidung unmittelbar aufhebt.
32
Das Verbot der reformatio in peius hindert den Senat nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.
33
c) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist vorliegend nicht geboten.
34
aa) Allerdings hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, StV 2009, 638) in einem Fall, in dem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von etwa drei Jahren im Revisionsverfahren durch Verlust der Akten aufgetreten war, die Sache nicht nur wegen einer vom Tatrichter vorzunehmenden Kompensation zurückverwiesen, sondern auch im – für sich genommen nicht rechtsfehlerhaften – Strafausspruch aufgehoben, weil der lange Zeitraum zwischen Tat und Urteil wegen der konkreten Belastungen für den Angeklagten bereits im Rahmen der Straffindung zu berücksichtigen sei. Mit Beschlüssen vom 15. März 2011 – 1 StR 260/09 und 1 StR 429/09 – hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben.
35
bb) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser – im Hinblick auf § 337 StPO nicht unbedenklichen – Auffassung folgt. Der vorliegend inmitten stehende Sachverhalt weicht von den den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Fallgestaltungen in wesentlichen Punkten erheblich ab. Zum einen betreffen jene Entscheidungen Fälle, in denen die Verzögerung im Rahmen des Revisionsverfahrens auftraten, während vorliegend die beiden – besonders zu beurteilenden (vgl. oben III. 2. b) bb)) – Verfassungsbeschwerdeverfahren etwa zwei Drittel der Verfahrensdauer ausmachen. In diesen Zeiträumen schwebte das Verfahren jeweils zunächst nicht mehr, sondern war rechtskräftig abgeschlossen, was u.a. im Hinblick auf die Haftsituation des insoweit nicht den Beschränkungen der Untersuchungshaft unterworfenen Ange- klagten von Belang ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die – von der Strafzumessung im engeren Sinne zu unterscheidende, aber mit ihr verschränkte (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, aaO) – Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu hoch bemessen ist. Nach Auffassung des Senats tritt daher das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund. Keinesfalls handelt es sich bei der hier gegebenen besonderen Sachlage um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund.
36
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Angesichts des nur geringen Teilerfolges der Revision erscheint es nicht unbillig, den Angeklagten mit den vollen Kosten des Revisionsverfahrens zu belasten.
Ernemann Roggenbuck Cierniak Mutzbauer Bender

(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.

(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.

(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist

1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.

(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 538/01
vom
21. Februar 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung am
19. Februar 2002 in der Sitzung vom 21. Februar 2002, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Wahl,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 30. Mai 2001 wird verworfen. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat den nunmehr 90 Jahre alten Angeklagten wegen Mordes und wegen versuchten Mordes – die Taten verübte er 1943 und 1944 als etwa 30jähriger Aufseher des Gestapo-Gefängnisses bei Theresienstadt – unter Freispruch im übrigen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

I.

Der Angeklagte war von 1940 bis 1945 Aufseher in dem in der Nähe von Leitmeritz befindlichen Gestapo-Gefängnis “Kleine Festung” bei Theresienstadt (damaliges Protektorat Böhmen und Mähren). In diesem Zeitraum waren dort über 30.000 Häftlinge – Menschen jüdischer Abstammung, Angehörige von Widerstandsgruppen und Kriegsgefangene – unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht, von denen nachweislich 2.500, wahrscheinlich aber we-
sentlich mehr, ums Leben kamen. Insbesondere gegen Kriegsende entwickelte sich das Gestapo-Gefängnis zu einem Vernichtungslager. 1. Unter dem Lagerkommandanten J. mißhandelte der überwiegende Teil der Aufseher aus Rassenhaß die Häftlinge; die Tötung der Häftlinge “gehörte zum Alltag der Kleinen Festung”; erwähnt seien nur drei vom Landgericht festgestellte Vorfälle: Im Jahre 1943 wurde in einer “jüdischen Zelle” ein provisorischer Galgen aufgebaut. Mehrere Häftlinge mußten sich unter dem Galgen mit einer Schlinge um den Hals auf eine Bank stellen, unter ihnen ein Häftling namens A. . Dessen Sohn wurde sodann befohlen, die Bank wegzustoßen und so seinen Vater zu erhängen. Nachdem der Sohn sich weigerte, mußte er sich selbst mit der Schlinge um den Hals auf die Bank stellen. Die Aufseher zwangen den Vater, die Bank wegzustoßen, so daß sein Sohn erhängt wurde. Im März 1945 wurden zwei Häftlinge, deren Flucht gescheitert war, über mehrere Tage grausam gefoltert. Aufseher banden sie auf leiterähnliche Gestelle und zerschlugen ihnen mit Stöcken die Gliedmaßen. Die um den Gnadentod flehenden Häftlinge blieben mehrere Tage auf den Gestellen hängen. Die Aufseher befahlen sodann anderen Häftlingen, die Mißhandelten zu steinigen. Um die Qualen zu verlängern, sollten mit den Steinen zunächst nur die Beine zertrümmert werden. Schließlich “erbarmte” sich ein Häftling und zertrümmerte mit einem Stein die Schädel der Opfer. An einem kalten Januartag im Jahre 1945 befahl der Lagerkommandant J. zwei jüdischen Häftlingen, sich im Hof nackt auszuziehen. Ein dritter Häftling mußte die beiden nackten Häftlinge unter dem Gejohle der herbeigerufenen Aufseher ± unter denen sich auch der Angeklagte befand ± mit einem
Schlauch so lange mit Wasser bespritzen, bis die um ihr Leben flehenden Opfer schlieûlich zusammenbrachen und an Unterkühlung starben. Insoweit wurde der Angeklagte, dem der Befehl zur Tötung der Häftlinge angelastet worden war, freigesprochen. Das Landgericht konnte ihm weder eine Täterschaft durch aktives Tun oder durch Unterlassen noch eine Beihilfe nachweisen. 2. Der Angeklagte ± er war zur Tatzeit Wachhabender, dem die Wachstube unterstand ± hatte die Ideologie des Rassenhasses verinnerlicht und lieû sich hiervon im Umgang mit den Häftlingen leiten. Er galt unter den Aufsehern als einer der gefürchtetsten und grausamsten, gerierte sich als Herrscher über Leben und Tod und nahm nichtige Anlässe zum Vorwand für Quälereien und Tötungen. Zwei Vorfälle sind Gegenstand seiner Verurteilung.
a) Im September 1943 waren jüdische Häftlinge als Erntearbeiter auf dem Feld zur Blumenkohlernte eingesetzt. Der Angeklagte ± der die Aufsicht führte ± bemerkte, wie ein namentlich nicht bekannter Häftling einen Blumenkohlkopf unter seinem Hemd versteckte. Er schlug mit einem Stock auf den Kopf des Häftlings ein und schoû mindestens zweimal mit (bedingtem) Tötungsvorsatz aus kurzer Entfernung auf den Brust- und Bauchbereich des Gefangenen. Er lieû den Häftling, im Bewuûtsein, ihn getötet zu haben, liegen und entfernte sich. Das weitere Schicksal des Häftlings, dem niemand half, ist nicht bekannt. Diese Tat hat das Landgericht als versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine Freiheitsstrafe von elf Jahren verhängt.
b) Im September 1944 meldete sich der jüdische Ingenieur H. vom Arbeitseinsatz im sog. ªUrnenkommandoº ± dieses muûte Asche von im Krematorium Bohuvice verbrannten Leichen von Häftlingen in die Eger kippen ± versehentlich nicht bei der Wachstube zurück. Der Angeklagte veranlaûte , daû der Häftling vor die Wachstube gebracht wurde. Er lieû sich einen
Schlagstock aus Haselnuûholz bringen und schlug mehrmals mit voller Wucht auf den Kopf und die Schultern des Häftlings, der reaktionslos kopfüber nach vorne stürzte. Dann trat er mit (bedingtem) Tötungsvorsatz mit seinen Stiefeln dem Gefangenen mehrmals wuchtig gegen dessen Kopf, Hals und Brustkorb. Er befahl anderen Häftlingen, den Miûhandelten in die ªTotenkammerº zu bringen , wo dieser verstarb. Diese Tat hat das Landgericht als Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt.

II.

Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg; der Erörterung bedarf nur folgendes: 1. Die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten in der Tatsacheninstanz hat das von drei Sachverständigen beratene Landgericht im Wege des Freibeweises festgestellt: Der geistige Zustand des Angeklagten ist altersgemäû; eine psychische Störung liegt nicht vor. Allerdings leidet er an körperlichen Gebrechen. Er hat Durchblutungsstörungen, ein Prostatakarzinom, dessen Behandlung eine Osteoporose hervorgerufen hat, und muû infolge von Schluckstörungen pürierte Kost und Flüssignahrung zu sich nehmen. Diesem Zustand hat das Landgericht ± ärztlicher Empfehlung folgend ± dadurch Rechnung getragen , daû die Hauptverhandlung auf zwei Stunden pro Tag mit einer längeren Pause beschränkt wurde. Die ± gleichfalls freibeweisliche ± Überprüfung durch den Senat ergibt, daû der Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig war. Da das Landgericht die Verhandlungsfähigkeit sorgfältig geprüft , daran keinen Zweifel hatte, und da hierbei keine Rechtsfehler erkennbar sind, kann auch das Revisionsgericht ohne Bedenken von der Verhandlungs-
fähigkeit ausgehen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Verhandlungsfähigkeit 1; BGH, Urteil vom 22. Oktober 1992 ± 1 StR 575/92; BGH, Beschlüsse vom 9. November 1993 ± 1 StR 697/93 ±, vom 17. Januar 1995 ± 1 StR 804/94 ± und vom 22. November 2000 ± 1 StR 375/00 ±). Auch die ± anders zu beurteilende ± Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten für das Revisionsverfahren (vgl. BGHSt 41, 16) ist gegeben. Der Angeklagte hatte, aus denselben Umständen, die seine Verhandlungsfähigkeit vor dem Landgericht begründeten, die Fähigkeit, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden. Zudem ist nicht zweifelhaft, daû der Angeklagte während der Dauer des Revisionsverfahrens wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage war. Das entnimmt der Senat den vom Landgericht getroffenen Feststellungen und zudem der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der JVA München-Stadelheim vom 2. Januar 2002, die unter anderem durch den Anstaltsarzt Dr. F. , der das Landgericht bei der Frage der Verhandlungsfähigkeit in der Tatsacheninstanz beraten hat, verfaût wurde. Danach hat sich der Zustand des Angeklagten seit seiner Inhaftierung nicht verschlechtert. 2. Die Rüge, das Landgericht habe das Protokoll der kommissarischen Vernehmung des Zeugen L. vor dem österreichischen Bezirksgericht Josefstadt ± an dieser Vernehmung durfte der Verteidiger Dr. W. nicht teilnehmen ± zu Unrecht verwertet, ist schon nicht zulässig erhoben. So wird insbesondere nicht mitgeteilt, ob der Verteidiger der Verwertung (rechtzeitig) widersprochen hat (BGHR StPO § 168c Anwesenheitsrecht 1; BGH, Beschluû vom 20. November 2001 ± 1 StR 470/01). Die Rüge ist jedenfalls unbegründet, da das Landgericht sich ausschlieûlich auf die Bekundungen dieses Zeugen in der
Hauptverhandlung gestützt hat. Zwar wurde dem Zeugen auch das Protokoll seiner kommissarischen Vernehmung vorgehalten, weil er dort mehrere in der Hauptverhandlung bekundete Einzelheiten nicht erwähnt hatte. Für diese Aussageerweiterung in der Hauptverhandlung hat das Landgericht aber eine plausible Erklärung gefunden und sich deshalb allein auf die Aussage in der Hauptverhandlung gestützt. Damit beruht das Urteil nicht auf der kommissarischen Vernehmung. 3. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand. Das gilt auch für die Überzeugung des Landgerichts von der Zuverlässigkeit der Angaben der Belastungszeugen. Zu beiden Taten hat das Landgericht jeweils einen Augenzeugen der Tat gehört und bei beiden Zeugen sowohl einen Irrtum als auch eine bewuûte Falschaussage rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zudem wurden deren Angaben durch weitere Beweismittel zumindest mittelbar bestätigt.
a) Die erste Tat hat der damals etwa 17jährige Zeuge K. ± er war damals Gast der Familie, die das Feld bewirtschaftete ± bekundet. Er war von seinem Freund und anderen Dorfbewohnern auf den als besonders brutal bekannten Angeklagten aufmerksam gemacht worden. Auf einer kleinen Anhöhe stehend, hat er aus einer Entfernung von 35 bis 45 Metern plötzlich Geschrei wahrgenommen, dabei die Tat des Angeklagten gesehen, und gehört, wie der Angeklagte ªjüdische Schweine, Schweine, Sauhaufenº brüllte. Er hat den Angeklagten in der Hauptverhandlung wiedererkannt. Dieser Vorfall hatte sich auch im Gestapo-Gefängnis herumgesprochen und der ehemalige Häftling M. hat bekundet, daû davon die Rede war, der Angeklagte habe einen Häftling wegen eines ªblöden Blumenkohlsº erschossen.

b) Die zweite Tat hat der damals etwa 23jährige Häftling M. bekundet , der über ein nahezu fotografisches Gedächtnis verfügt und deshalb präzise Angaben bis hin zu kleinsten Details machen konnte. Dem Zeugen war befohlen worden, auf dem Hof vor der Wachstube ªStrafe zu stehenº, indem er mit ausgestreckten Armen mit dem Gesicht zur Wand Ziegelsteine halten muûte. Dabei konnte er aus einer Entfernung von 15 Metern die Tat beobachten und exakt wiedergeben. Der Zeuge schilderte zudem ein Gespräch zwischen dem Hofkommandanten und den Mitgliedern des ªUrnenkommandosº vom folgenden Tag, aus dem sich der Name des Getöteten ergibt (ªH. hin, H. her, ihr seit jetzt zu fünftº.) Ferner erfuhr der Zeuge nach Kriegsende von einem Mithäftling, dieser habe gesehen, wie der Leichnam des Opfers des Angeklagten in der Leichenverbrennungshalle verbrannt worden sei. 4. Auch die Strafzumessung ist rechtsfehlerfrei. Die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe für den vollendeten Mord war rechtlich geboten. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die als eigenständiger Strafmilderungsgrund zu einer exakt zu bestimmenden Herabsetzung der Strafe führen muû, liegt nicht vor. Auch die lange Verfahrensdauer , der auûergewöhnlich lange Abstand zwischen Tat und Urteil von 56 Jahren und sonstige Milderungsgründe können nicht zu einer auûergewöhnlichen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB führen.
a) Soweit es den Zeitaspekt betrifft, ist zu differenzieren zwischen Verfahrensverlängerungen , die durch rechtsstaatswidrige Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, der Gesamtdauer des Verfahrens und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13; BVerfG ± Kammer ±, Beschluû vom 5. Juni 2000 ± 2 BvR 814/00;).
Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes garantiert dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Dieses Prozeûgrundrecht fordert eine angemessene Beschleunigung des Verfahrens (BVerfG ± Kammer ± NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591). Auch Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK garantiert das Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist. Die ªangemessene Fristº beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluû des Verfahrens. Für die Angemessenheit ist dabei auf die gesamte Dauer von Beginn bis zum Ende der Frist abzustellen und es sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen neben dem eigenen Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaû der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Beschuldigten zu berücksichtigen (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9 unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1992, 2472; vgl. auch BGH StV 1994, 652; StV 1992, 452). Schon im Hinblick auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung müssen aus einem durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Konventionsverstoû Folgen gezogen werden; dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 1, 7; BGH wistra 1992, 66). Diese Folgen bestehen darin, daû die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich
festzustellen und das Maû dieses eigenständigen Strafmilderungsgrundes rechnerisch exakt zu bestimmen ist (BVerfG ± Kammer ± NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591). Unabhängig von dem Strafmilderungsgrund eines Konventionsverstoûes durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kommt auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zu, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Dieser Strafmilderungsgrund kann auch dann gegeben sein, wenn die auûergewöhnlich lange Verfahrensdauer sachliche Gründe hatte und von den Strafverfolgungsorganen nicht zu vertreten ist (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13). Schlieûlich ist auch eine lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung neben der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der langen Verfahrensdauer ein wesentlicher Strafmilderungsgrund, ohne daû es dabei auf die Dauer des Strafverfahrens ankommt (BGH StV 1992, 452; StV 1994, 652; StV 1998, 377; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6, 13; BGH, Beschlüsse vom 3. März 1993 ± 5 StR 67/93; vom 15. September 1993 ± 5 StR 523/93; und vom 6. November 2001 ± 4 StR 461/01). Die Strafe ist selbst dann zu mildern, wenn die Tat aus tatsächlichen Gründen lange Jahre unbekannt geblieben ist (BGH NStZ 1998, 133). Danach gilt hier: aa) Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung liegt nicht vor. Die Staatsanwaltschaft Dortmund ± Zentralstelle in Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen ± ermittelte schon seit 1970 gegen den Angeklagten wegen der in Theresienstadt verübten Ver-
brechen. Zwar waren die hier abgeurteilten Taten noch nicht bekannt, sie standen jedoch im Zusammenhang mit der Aufsehertätigkeit des Angeklagten und gehörten somit zum selben Ermittlungskomplex. Schon der Umstand, daû zwischen 1979 und April 1999 die Ermittlungen fünfmal eingestellt und ± ersichtlich wegen jeweils neu bekannt gewordener Tatsachen ± wieder aufgenommen worden sind, verdeutlicht, daû die Ermittlungsbehörden bemüht waren, den Sachverhalt mit dem gebotenen Nachdruck aufzuklären. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die hier abgeurteilten Taten wurden erstmals durch die Aussage des Zeugen K. vor der Staatsanwaltschaft in Prag am 8. Oktober 1999 bekannt. Drei Monate später, am 4. Januar 2000, leitete die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren ein. Nicht ganz ein weiteres Jahr darauf, am 12. Dezember 2000, erhob sie Anklage und schon am 30. Januar 2001 eröffnete das Landgericht das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann drei Monate später, am 23. April 2001, und am 30. Mai 2001 erging das Urteil. Bei diesem Sachverhalt scheidet eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht nur aus; das Verfahren wurde ± im Gegenteil ± seit Bekanntwerden der Taten vielmehr zügig betrieben. bb) Allerdings liegt ± beginnend ab 1970 ± eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer des Gesamtkomplexes vor, auch wenn diese sachliche Gründe hatte. Zu den mit diesem Verfahrenskomplex verbundenen Belastungen ± insbesondere den mehrfachen Einstellungen und Wiederaufnahmen der Ermittlungen ± kommen Strafverfahren durch ausländische Behörden hinzu. Der Angeklagte wurde 1948 vom auûerordentlichen Volksgericht in Litomerice in Abwesenheit zum Tode verurteilt; dieses Urteil wurde erst 1969 vom Kreisgericht in Usti Nad Labem in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Graz wurde 1963 wegen un-
bekannten Aufenthalts eingestellt. Diese Umstände hätten sich bei einer zeitigen Freiheitsstrafe mildernd auswirken müssen. cc) Bei einer zeitigen Freiheitsstrafe wäre die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung von fast 60 Jahren gleichfalls ein bestimmender Strafmilderungsgrund gewesen.
b) Die lange Verfahrensdauer, die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung und die Milderungsgründe aufgrund der Lebensumstände des Angeklagten (Gesundheitszustand, Alter und bisherige Straffreiheit) können bei Taten der vorliegenden Art jedoch nicht dazu führen, auûergewöhnliche Umstände anzunehmen, die das Ausmaû der Täterschuld so erheblich mindern, daû anstelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten müûte. aa) Das Bundesverfassungsgericht hat am 21. Juni 1977 (BVerfGE 45, 187) entschieden, daû die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offenbleibt, bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer Strafe zu kommen, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäûigkeit vereinbar ist. Den konkreten Fall ± ein Polizeibeamter , der mit Rauschgift handelte, hatte den ihn erpressenden Abnehmer heimtückisch und um eine andere Straftat zu verdecken erschossen ± bewertete das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht als so auûergewöhnlich , daû die verwirkte lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäûig gewesen wäre. Die Entscheidung betraf ªinsbesondereº die Mordmerkmale ªheimtükkischº und ªum eine andere Straftat zu verdeckenº. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesgerichtshof die Aufgabe übertragen, eine Lösung zu finden , die diesen Vorgaben gerecht wird.
bb) Mit Beschluû vom 19. Mai 1981 hat der Groûe Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGHSt 30, 105) mit Hilfe des Kriteriums der ªauûergewöhnlichen Umstände, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäûig erscheintº, eine Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen vorgenommen. In Heimtückefällen ± dieses Mordmerkmal war Gegenstand des Vorlageverfahrens ± tritt auf der Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn auûergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaû der Täterschuld erheblich mindern. Im konkret entschiedenen Fall hatte der Angeklagte, dessen Ehefrau von seinem Onkel vergewaltigt worden war, den Onkel, der sich auch noch der Tat berühmt hatte, heimtückisch erschossen. Zu der Frage, in welchen Fällen solche auûergewöhnlichen Umstände anzunehmen sind, hat der Groûe Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs ausgeführt: ªEine abschlieûende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden auûergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in groûer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus ‚gerechtem Zorn’ auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben.º cc) In solchen Fallgestaltungen hat der Bundesgerichtshof dann in der Folgezeit eine Strafrahmenverschiebung gebilligt bzw. als rechtlich geboten angenommen (NStZ 1990, 490: Heimtückemord durch die Ehefrau, die vom
Ehemann schwer miûhandelt worden war, und die sich in einer ausweglos erscheinenden Situation befand; NStZ 1995, 231: Heimtückemord am gewalttätigen und körperlich überlegenen Erpresser). Hingegen hat der Bundesgerichtshof bei einem Habgiermord (BGHSt 42, 301: ein Arzt hatte eine vermögende Rentnerin getötet) eine Strafrahmenverschiebung abgelehnt: ªIn den Fällen des Mordes wegen Tötung aus Habgier kann die lebenslange Freiheitsstrafe nicht wegen auûergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 durch eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bei den Mordmerkmalen der Heimtücke und der Verdeckung einer Straftat eine Kollision mit dem Verhältnismäûigkeitsgrundsatz für möglich gehalten ...º. In einem Fall, bei dem ein Grenzsoldat der DDR einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der vom Westen aus die Grenze überschritten hatte, erschoû, hat der Bundesgerichtshof (NStZ-RR 2001, 296) das Mordmerkmal der Heimtücke verneint und auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils selbst auf Totschlag erkannt. Ob die 25 Jahre zurückliegende Tat durch auûergewöhnliche Umstände geprägt war, die eine Strafrahmenverschiebung geboten hätten, bedurfte deshalb ± so der Bundesgerichtshof ± keiner Entscheidung. Beim Heimtücke-Mord am Bülow-Platz im Jahre 1931 (BGHSt 41, 72, 93: Freiheitsstrafe von sechs Jahren) hat der Bundesgerichtshof die Strafmaûrevision der Staatsanwaltschaft verworfen. Er hat dabei offen gelassen, ob an der seitherigen Rechtsprechung, die für die Strafrahmenverschiebung ausschlieûlich auf tatbezogene Umstände abgestellt hat, auch für Ausnahmefälle festzuhalten sei, in denen ± wie im entschiedenen Fall ± zwischen Tat und Urteil mehr als 60 Jahre liegen. Da zweifelhaft war, ob der Angeklagte für eine
erneute Verhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig sein würde, hätte eine Zurückverweisung der Sache mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Einstellung des Verfahrens geführt. Bei einer solchen Sachlage habe die Rechtskraft Vorrang.
c) Hier kann offen bleiben, ob bei dem täterbezogenen Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe überhaupt eine Strafrahmenverschiebung in Betracht kommen kann. aa) Der Zeitaspekt der langen Verfahrensdauer und der lange zurückliegenden Tatzeit ist in Fällen der vorliegenden Art kein auûergewöhnlicher Umstand , auf Grund dessen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäûig wäre. Derartige Taten sind durch schwierige Ermittlungen gekennzeichnet, die zu einer langen Verfahrensdauer führen können. Gerade deshalb können die Taten oft erst nach vielen Jahren aufgeklärt werden. Auch aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber zunächst die Verjährungsfristen für die Verfolgung solcher Taten mehrfach verlängert (Berechnungsgesetz vom 14. April 1965 ± BGBl. I S. 315; 9. StrÄndG vom 4. August 1969 ± BGBl. I S. 1065) und schlieûlich die Verjährung von Taten der vorliegenden Art gänzlich beseitigt (16. StrÄndG vom 16. Juli 1979 ± BGBl. I S. 1046). Dem ist zu entnehmen, daû der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Umstände ± und auch der typischen Lebensumstände der voraussehbar hochbetagten Angeklagten ± nicht nur eine unverjährbare Verfolgbarkeit , sondern auch keine Milderung der absolut angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord gewollt hat. Dieser gesetzgeberische Wille zeigt sich besonders deutlich daran, daû das 16. StrÄndG zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977 (BVerfGE 49,
187) beschlossen wurde, ohne daû der Gesetzgeber einen Anlaû sah, die absolute Strafdrohung für Mord zu ändern. bb) Zudem verbietet sich eine Vergleichbarkeit des vorliegenden Falles mit den Fallgestaltungen, bei denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen erheblich geminderter Schuld ± von Verfassungs wegen ± unverhältnismäûig wäre. Schäfer Nack Wahl Schluckebier Kolz

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 219/15
vom
6. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter sexueller Nötigung u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:060416B2STR219.15.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. April 2016 beschlossen:
1. Das Revisionsverfahren wird im Hinblick auf das Anfrageverfahren 3 StR 342/15 unterbrochen. 2. Termin zur Fortsetzung wird von Amts wegen bestimmt.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen versuchter sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision.
2
Der Senat kann über das Rechtsmittel nicht abschließend entscheiden.
3
Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der Angeklagte in der Zeit von Sommer 1995 bis Anfang 2010 die Enkelinnen seiner Lebensgefährtin. Eingegrenzt wurden eine Tat zum Nachteil von M. , die zwischen dem 21. August 1995 und dem 1. Dezember 1996 begangen wurde, ferner Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, die zwischen dem 17. Januar 1997 und Sommer 1999 (Fall II.2. der Urteilsgründe), zwischen Sommer 2003 und Sommer 2005 (Fall II.3. der Urteilsgründe), im Zeitraum vom 28. September 2000 bis zum 28. Mai 2009 (Fall II.4. der Urteilsgründe) und im Zeitraum zwischen dem 17. Januar 2007 und dem 16. Januar 2010 (Fall II.5. der Urteilsgründe) begangen wurden.
4
Das Landgericht hat bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Taten lange zurückliegen. Allerdings komme „dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil“ bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht die gleich hohe Bedeutung zu wie in anderen Fällen (vgl. BGH NStZ 2006, 393).
5
Der Senat neigt zu der Auffassung, dass dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung auch bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Ansatz die gleiche Bedeutung zukommt, wie bei anderen Straftaten.
6
Dies entspricht der Auffassung des 3. Strafsenats, der deshalb durch Beschluss vom 29. Oktober 2015 – 3 StR 342/15 (NStZ 2016, 227 f.) bei dem ersten Strafsenat angefragt hat, ob dieser an seiner abweichenden Rechtsauffassung festhält, wie sie im Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 (NStZ 2006, 393) erläutert wurde. Die Fragestellung ist im vorliegenden Fall ebenso von Bedeutung wie in dem Anfrageverfahren. Daher ist eine Unterbrechung der Revisionshauptverhandlung angezeigt, um das Ergebnis des Anfrageverfahrens berücksichtigen zu können.
7
Der Senat ist, ebenso wie der 3. Strafsenat, der Auffassung, dass die Strafe eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein soll. Ihre Bemessung erfordert eine am Einzelfall orientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Der lange Ablauf von Zeit seit der Begehung der Tat mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei frühe- rer Ahndung der Fall gewesen wäre (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Das Strafbedürfnis nimmt mit langem Zeitablauf seit der Begehung der Tat ab (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Das gilt prinzipiell auch für Missbrauchsdelikte (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Mai 2015 – 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40).
8
Verjährungsvorschriften regeln dagegen, wie lange eine für strafbar erklärte Tat verfolgt werden soll. Die Verjährung macht eine Tat nicht ungeschehen. Sie lässt das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters unberührt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 – 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 294). Die Verjährung der Strafverfolgung soll vielmehr dem Rechtsfrieden dienen und einer Untätigkeit der Behörden vorbeugen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht hingegen nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen.
9
Dies gilt erst recht für die Regelungen über das Ruhen des Fristablaufs in den Fällen von Missbrauchsdelikten an Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mit der Sonderregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 179, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers ruht, soll vielmehr der besonderen Situation von Tatopfern Rechnung getragen werden, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene aufgrund familiärer Bindungen oder besonderer Abhängigkeitsverhältnisse gehemmt sind, Übergriffe anzuzeigen. Der Gesetzgeber hat damit nicht bezweckt, Strafzumessungsgesichtspunkte abweichend von den allgemeinen Grundsätzen zu regeln.
Fischer Krehl Eschelbach RinBGH Dr. Ott ist RiBGH Zeng ist an der Unterschrift an der Unterschrift gehindert. gehindert. Fischer Fischer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 643/10
vom
7. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. Juni 2011 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 5. April 2002 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 5. April 2002 wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt.
2
Im Rahmen seiner Revision hat der Angeklagte mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass er vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt worden sei.
3
Nach einer ersten Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet durch Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 29. Januar 2003 – 5 StR 475/02 – und der Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 19. September 2006 (2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision mit Beschluss vom 25. September 2007 (veröffentlicht in BGHSt 52, 48) erneut verworfen, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
4
Auf die gegen diese Entscheidung wiederum erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat das Bundesverfassungsgericht mit Kammerbeschluss vom 8. Juli 2010 (2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207) auch die zweite Revisionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs zurückverwiesen.
5
Danach hat nunmehr der Senat über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.

II.

6
Diese Entscheidung kann im Beschlusswege ergehen. Nach Aufhebung auch des zweiten die Revision des Angeklagten verwerfenden Beschlusses des 5. Strafsenats ist das Verfahren erneut in den Stand zurückversetzt worden, den es vor der ersten Revisionsentscheidung vom 29. Januar 2003 hatte. Die allein noch inmitten stehende Rechtsfrage nach den Auswirkungen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist durch die Vorgaben nunmehr zweier bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen klar umgrenzt; der Generalbundesanwalt und der Verteidiger des Angeklagten haben zu ihr nochmals ausführlich schriftlich Stellung genommen.
7
Die Rechtsfrage ist nach Auffassung des Senats auch zweifelsfrei zu beantworten. Die Durchführung der Hauptverhandlung lässt keine neuen Erkenntnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art erwarten, die das gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober2000 – 5StR 414/99, BGHR StPO § 349 Abs. 2 Verwerfung 6; zur Bedeutung der Revisionshauptverhandlung vgl. Wohlers JZ 2011, 78, 80).

III.

8
Die Revision erzielt lediglich wegen einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Verfahrensverzögerung einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
9
1. Die vom Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen sowie die Sachrüge dringen nicht durch. Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK geltend gemacht wird.
10
a) Der Senat sieht mit Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) davon ab, die Rüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. November 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten Bl. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.
11
b) Die Rüge ist unbegründet. Allerdings liegt eine Gesetzesverletzung darin, dass der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK über seine Rechte belehrt worden ist (vgl. jetzt auch § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO).
12
aa) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei beigetreten sind, steht in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes, das deutsche Behörden und Gerichte wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09, NStZ 2010, 567, zur Parallele bei der MRK). Nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes haben deutsche Gerichte dabei auch die Judikate der für Deutschland zuständigen internationalen Gerichte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 501; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a., Rn. 89 ff.). Sie haben – ungeachtet ihrer auf den Einzelfall beschränkten Bindungswirkung – normative Leitfunktion (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502).
13
bb) Nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK obliegt die Belehrungspflicht den zuständigen Behörden des Empfangsstaates und damit auch den festnehmenden Polizeibeamten, sofern sie Kenntnis von der ausländischen Staatsangehörigkeit erlangen oder Anhaltspunkte für eine solche bestehen (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, unter Bezugnahme auf IGH, Avena and other Mexican Nationals , Mexico v. United States of America, Judgement of 31 March 2004, ICJ Re- ports 2004, p. 12, No. 88: „there is […] a duty upon the arresting authorities to give that information to an arrested person as soon as it is realized that the per- son is a foreign national, or once there are grounds to think that the person is probably a foreign national“).
14
c) Der Geltendmachung des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK steht nicht entgegen, dass der Angeklagte keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die nicht durchgreifende Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen hat. Der 1. Strafsenat hat allerdings mit Beschluss vom 11. September 2007 (1 StR 273/07, BGHSt 52, 38) die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelte „Wider- spruchslösung“ auch auf den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK angewandt und generell verlangt, dass die den Prüfungsumfang für das Tatgericht begrenzende Begründung des Widerspruchs erkennen lässt, dass die Angriffsrichtung des Widerspruchs gerade auf eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK abzielt.
15
Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem jener Entscheidung zugrunde liegenden jedoch dadurch, dass hier eine Belehrung auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfolgt ist. Nach den maßgeblich zu beachtenden Grundsätzen des Internationalen Gerichtshofs im LaGrand-Urteil muss eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein (IGH, LaGrand, Germany v. United States of America, Judgement of 27 June 2001, ICJ Reports 2001, p. 466, No. 128 [nichtamtliche deutsche Übersetzung in EuGRZ 2001, 287]: „review and reconsideration of the conviction and sentence by ta- king account of the violation of the rights set forth in that Convention”). Diese Überprüfung darf nicht unter Berufung auf das Fehlen nach nationalem Pro- zessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90, zur US-amerikanischen „procedural default rule“), weshalb nach dem Internationalen Gerichtshof ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 2 WÜK jedenfalls dann vorliegt, wenn die Belehrung über die Rechte nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK – wie hier – solange nicht erfolgte, wie die Einwände nach nationalem Prozessrecht hätten erhoben werden müssen (IGH, „LaGrand“, aaO, No. 90 f.; IGH, „Avena“, aaO, No. 112 f., 134).
16
d) Das Fehlen der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK führt im vorliegenden Fall nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Angeklagten hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen ist.
17
aa) Allerdings ist die Entstehung eines Beweisverwertungsverbotes aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht von vornherein ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 209 f.; anders – gegen die Möglichkeit eines Verwertungsverbotes – noch BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3StR 318/07, BGHSt 52, 110, 114; offen gelassen in BGH, Beschluss vom 11. September 2007 – 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 41): Nach der Rechtspre- chung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen aus dem Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil ent- standen ist („actual prejudice“, IGH, „Avena“, aaO, No. 121 ff.). Dieser Recht- sprechung ist – was im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung möglich ist (BVerfG, Beschlüsse vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503, und vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210) – dadurch Rechnung zu tragen, dass die vom Bundesgerichtshof für nicht speziell geregelte Beweisverwertungsverbote entwickelte Abwägungslehre zur Anwendung gebracht wird. Es hat eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden , wobei auf den Schutzzweck der verletzten Norm ebenso abzustellen ist wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210; vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2010 – 1 StR 251/10; s. auch Gless/Peters StV 2011, 369, 376; Paulus/Müller StV 2009, 495, 498 ff.).
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bb) Die hieran ausgerichtete Abwägung führt im Ergebnis nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. November 2001.
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(1) Zweck der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK ist die Verwirklichung des Rechts des Betroffenen auf konsularische Unterstützung bei der effektiven Wahrnehmung der eigenen Verteidigungsrechte (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 502 f. unter Bezugnahme auf IGH, „LaGrand“ aaO und „Avena“ aaO). Im Zentrum der konsularischen Unterstützung steht die Vermittlung anwaltlichen Beistandes (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503: Überschneidung der Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers mit der Funktion der Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK, mit Hilfe des Konsulats einen Rechtsbeistand für den Beschuldigten zu beauftragen; Kreß GA 2007, 296, 305; Esser JR 2008, 271, 274; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 573/09, zum Inhalt der Hilfe für im Ausland inhaftierte deutsche Staatsangehörige durch deutsche Konsularbeamte nach § 7 KonsG). Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht vorgesehen ist, dass der Konsular- beamte selbst anwaltliche Aktivitäten entfaltet (IGH, „Avena“, aaO, No. 85: „It is not envisaged, either in Article 36, paragraph 1, or elsewhere in the Conven- tion, that consular functions entail a consular officer himself or herself acting as the legal representative or more directly engaging in the criminal justice process“ ; anders offenbar Gless/Peters aaO S. 372). Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK schützt dabei nicht speziell die Aussagefreiheit des Beschuldigten (ebenso Kreß aaO, S. 304), sondern allgemein das Recht auf effektive Verteidigung (so auch Esser aaO, S. 275); dies ergibt sich schon daraus, dass nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall „Avena“ Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nicht verlangt, dass die Belehrung der ersten Vernehmung des Beschuldigten in jedem Fall vorausgehen muss (IGH, „Av- ena“, aaO, No. 87: „The court considers that the provision in Article 36, paragraph 1 (b), that the receiving State authorities „shall inform the person concerned without delay of his rights“ cannot be interpreted to signify that the pro- vision of such information must necessarily precede any interrogation, so that the commencement of interrogation before the information is given would be a breach of Article 36”; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503).
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(2) Vor dem Hintergrund dieses Schutzzwecks ist zunächst in die Abwägung einzustellen, dass der Angeklagte – was ihn freilich nicht vom persönlichen Schutzbereich des Art. 36 Abs. 1 WÜK ausnimmt (BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01 u.a., NJW 2007, 499, 503; BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110) – in Deutschland geboren wurde und aufwuchs und nach den Feststellungen im Urteil keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten und keine Sozialisationsdefizite hatte, sondern insgesamt integriert in Deutschland lebte. Eine wegen ausländerspezifischer Verteidigungsdefizite konkret erhöhte Schutzbedürftigkeit des Angeklagten ist danach nicht erkennbar (vgl. dazu auch Esser aaO).
21
(3) Der – anlässlich seiner Festnahme sowohl von den Ermittlungsbeamten als auch dem Haftrichter mehrfach über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrte – Angeklagte war über seine Verteidigungsmöglichkeiten orientiert. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er auch ohne die Belehrung über die Möglichkeit konsularischen Beistands in der Lage war, seine prozessualen Rechte – insbesondere sein Recht zu schweigen – wahrzunehmen. So hat er vor dem Ermittlungsrichter eine Aussage unter Hinweis darauf verweigert , zunächst einen Rechtsanwalt sprechen zu wollen, um dessen Beauftragung er im Folgenden seine Familie gebeten hat. Seine Einlassung in der Beschuldigtenvernehmung vom 1. November 2001 erfolgte, nachdem er ausführlich über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt worden war.
22
(4) Am 20. November 2001, als der Angeklagte zwar noch immer nicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK belehrt, wohl aber verteidigt war,also – wenngleich mit einiger Verzögerung – der Zustand hergestellt war, den sicherzustellen Hauptzweck des Art. 36 Abs. 1 WÜK ist, hat der Angeklagte die Angaben aus seiner ersten polizeilichen Vernehmung bestätigt (vgl. auch Esser aaO; Kreß aaO S. 305). Die Verteidigervollmacht für Rechtsanwalt T. hatte der Angeklagte bereits am 2. November 2001 in der JVA Hannover unterzeichnet.
23
(5) Die Polizeibeamten unterließen weder bei der Festnahme noch im Vorfeld der Vernehmung vom 1. November 2000 die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK unter bewusster Umgehung dieser Vorschrift (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 4 StR 455/08, BGHSt 53, 112; Beschlüsse vom 18. Oktober 2005 – 1 StR 114/05, NStZ 2006, 236, und vom 19. Oktober 2005 – 1 StR 117/05, NStZ-RR 2006, 181); nach damaliger in Deutschland verbreiteter Rechtsauffassung (vgl. BGH, Beschluss vom 7. No- vember 2001 – 5 StR 116/01, BGHR WÜK Art. 36 Unterrichtung 1) war nicht die Polizei, sondern der in §§ 115, 115 a, 128 StPO genannte Richter die für die Belehrung „zuständige Behörde“ im Sinne des Art. 36 Abs. 1 lit. b WÜK. Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK durch den Ermittlungsrichter hat der Angeklagte in der Revisionsbegründung schon nicht behauptet. Solches ist auch nicht erkennbar: Die ermittlungsrichterliche Vernehmung musste ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts Lörrach vom 21. Oktober 2001 abgebrochen werden, da der Angeklagte „wegen eines heftigen Gefühlsausbruchs (krampfartiges Weinen) nicht in der Lage war, den Termin fortzusetzen.“
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(6) Schließlich kommt dem öffentlichen Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung angesichts der Schwere der hier inmitten stehenden Straftat – eines Kapitalverbrechens – besondere Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 – 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 248).
25
e) Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK beruht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 20. Dezember 2007 – 3 StR 318/07, BGHSt 52, 110 m.w.N.), kann der Senat aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausschließen. Für ein Beruhen ist nichts ersichtlich, und die Revision trägt hierzu auch nichts vor.
26
2. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind sechs Monate für vollstreckt zu erklären.
27
a) Allerdings kommt eine Kompensation des Verstoßes gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nach der sog. „Vollstre- ckungslösung“ (vgl. BGH – Großer Senat fürStrafsachen –, Beschluss vom 17. Januar 2008, BGHSt 52, 124) nicht in Betracht.
28
Die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007, für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK eine Kompensation zu gewähren , bindet den Senat nicht; das Bundesverfassungsgericht hat diese Revisionsentscheidung in vollem Umfang aufgehoben (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 211), also keine Teilrechtskraft herbeigeführt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 StR 344/10). Der Senat neigt der Auffassung des 3. Strafsenats aus dem Urteil vom 20. Dezember 2007 (3 StR 318/07, BGHSt 52, 110, 118; vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 – 2 StR 489/08) zu, dass eine solche Kompensation generell ausscheidet. Dies braucht der Senat aber nicht zu entscheiden. Für eine Kompensation fehlt vorliegend bereits deshalb ein Anknüpfungspunkt, weil die Abwägung zur Frage nach einem Beweisverwertungsverbot und die Prüfung zum Beruhen im Übrigen ergeben haben, dass dem Angeklagten im konkreten Fall ein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht entstanden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 210 m.w.N.).
29
b) Eine Kompensation nach der „Vollstreckungslösung“ ist jedoch für eine – von Amts wegen zu beachtende (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 9c m.w.N.) – der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung nach Erlass des tatrichterlichen Urteils zu gewähren.
30
aa) Eine solche sieht der Senat für den Zeitraum ab der zweiten Revisionsentscheidung des 5. Strafsenats vom 25. September 2007 als gegeben an. Dabei kann der Senat offen lassen, ob und inwieweit grundsätzlich die Dauer des – vorliegend ohne offensichtliche Verzögerung durchgeführten (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208) – Rechtsmittelverfahrens sowie die Dauer eines Verfassungsbeschwerdever- fahrens bei der Bestimmung der für die Beurteilung einer Verzögerung maßgeblichen Verfahrensdauer mit einzubeziehen sind (zum Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2010 – 2 BvR2485/07 u.a., NJW 2011, 207, 208 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfahrensverzögerung daraus, dass trotz der vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. September 2006 dargelegten Anforderungen bei der Prüfung der Folgen eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK der Bundesgerichtshof die Reichweite des Gebotes zur Beachtung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs erneut in einer die Grundrechte des Angeklagten beeinträchtigenden Weise unbeachtet gelassen hat. Diesen Umstand hat auch der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 hervorgehoben. Die dadurch eingetretene Verzögerung des Verfahrens, die sich über das neuerliche Verfassungsbeschwerdeverfahren und das nach Aufhebung und Zurückverweisung erforderliche weitere Revisionsverfahren vor dem Senat erstreckt, begründet daher einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 MRK (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 4 StR 537/08, StV 2009, 241, zur überlangen Verfahrensdauer bei zweimaliger Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den Bundesgerichtshof).
31
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Kompensation nicht mit dem Umfang der Verzögerung gleichzusetzen, sondern hat nach den Umständen des Einzelfalles grundsätzlich einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu betragen (vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08, StV 2008, 633 m.w.N.). Danach ist vorliegend eine Kompensation von sechs Monaten insbesondere angesichts einer Verzögerung von etwa vier Jahren , die der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Haft am 10. Juni 2008 weitgehend in Freiheit verbracht hat, sowie angesichts der bei der Beurteilung der Verfahrensverzögerung zu berücksichtigenden besonderen Rolle des Bundesverfassungsgerichts im innerstaatlichen Rechtssystem (EGMR, Urteile vom 22. Januar 2009 – 45749/06 und 51115/06, StV 2009, 561, 562, und vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211) an sich deutlich überhöht. An einer Kompensation in geringerem Umfang sieht sich der Senat jedoch durch das Verbot der reformatio in peius gehindert. Zwar gilt das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO für den Fall der Aufhebung einer Revisionsentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar; § 79 Abs. 1 BVerfGG sieht jedoch die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen ein rechtskräftiges Urteil vor, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens verweist § 79 Abs. 1 BVerfGG auf die Vorschriften der StPO, mithin auch auf das Schlechterstellungsverbot des § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO. Wenn dieses Verbot aber schon dort gilt, wo das Bundesverfassungsgericht die dem Strafurteil die Grundlage entziehende Entscheidung in einem anderen Verfahren trifft, so muss es erst recht zum Tragen kommen, wenn das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Entscheidung unmittelbar aufhebt.
32
Das Verbot der reformatio in peius hindert den Senat nicht, eine Kompensation für den Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK nunmehr zu versagen. Es verhindert lediglich eine dem Angeklagten nachteilige Änderung in Art und Höhe der Rechtsfolgen, nicht jedoch eine Änderung der diesen zugrunde liegenden rechtlichen Beurteilung.
33
c) Eine neben die Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung tretende Berücksichtigung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit bei der Strafzumessung und infolge dessen die Aufhebung des Strafausspruchs ist vorliegend nicht geboten.
34
aa) Allerdings hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, StV 2009, 638) in einem Fall, in dem eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von etwa drei Jahren im Revisionsverfahren durch Verlust der Akten aufgetreten war, die Sache nicht nur wegen einer vom Tatrichter vorzunehmenden Kompensation zurückverwiesen, sondern auch im – für sich genommen nicht rechtsfehlerhaften – Strafausspruch aufgehoben, weil der lange Zeitraum zwischen Tat und Urteil wegen der konkreten Belastungen für den Angeklagten bereits im Rahmen der Straffindung zu berücksichtigen sei. Mit Beschlüssen vom 15. März 2011 – 1 StR 260/09 und 1 StR 429/09 – hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in der durch ein Anfrage- und Vorlageverfahren nach § 132 GVG bestimmten, nicht rechtsstaatswidrig verzögerten Dauer des Revisionsverfahrens einen bestimmenden Strafzumessungsgrund erblickt und die vom Tatrichter rechtsfehlerfrei bemessenen Einzelstrafen wie auch die Gesamtstrafe aufgehoben.
35
bb) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob er dieser – im Hinblick auf § 337 StPO nicht unbedenklichen – Auffassung folgt. Der vorliegend inmitten stehende Sachverhalt weicht von den den genannten Entscheidungen zugrunde liegenden Fallgestaltungen in wesentlichen Punkten erheblich ab. Zum einen betreffen jene Entscheidungen Fälle, in denen die Verzögerung im Rahmen des Revisionsverfahrens auftraten, während vorliegend die beiden – besonders zu beurteilenden (vgl. oben III. 2. b) bb)) – Verfassungsbeschwerdeverfahren etwa zwei Drittel der Verfahrensdauer ausmachen. In diesen Zeiträumen schwebte das Verfahren jeweils zunächst nicht mehr, sondern war rechtskräftig abgeschlossen, was u.a. im Hinblick auf die Haftsituation des insoweit nicht den Beschränkungen der Untersuchungshaft unterworfenen Ange- klagten von Belang ist. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die – von der Strafzumessung im engeren Sinne zu unterscheidende, aber mit ihr verschränkte (so auch BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, aaO) – Kompensation für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu hoch bemessen ist. Nach Auffassung des Senats tritt daher das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund. Keinesfalls handelt es sich bei der hier gegebenen besonderen Sachlage um einen bestimmenden Strafzumessungsgrund.
36
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Angesichts des nur geringen Teilerfolges der Revision erscheint es nicht unbillig, den Angeklagten mit den vollen Kosten des Revisionsverfahrens zu belasten.
Ernemann Roggenbuck Cierniak Mutzbauer Bender

(1) Die Verjährung ruht

1.
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 182, 184b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, auch in Verbindung mit Absatz 2, §§ 225, 226a und 237,
2.
solange nach dem Gesetz die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann; dies gilt nicht, wenn die Tat nur deshalb nicht verfolgt werden kann, weil Antrag, Ermächtigung oder Strafverlangen fehlen.

(2) Steht der Verfolgung entgegen, daß der Täter Mitglied des Bundestages oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes ist, so beginnt die Verjährung erst mit Ablauf des Tages zu ruhen, an dem

1.
die Staatsanwaltschaft oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes von der Tat und der Person des Täters Kenntnis erlangt oder
2.
eine Strafanzeige oder ein Strafantrag gegen den Täter angebracht wird (§ 158 der Strafprozeßordnung).

(3) Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein Urteil des ersten Rechtszuges ergangen, so läuft die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt ab, in dem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

(4) Droht das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren an und ist das Hauptverfahren vor dem Landgericht eröffnet worden, so ruht die Verjährung in den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren; Absatz 3 bleibt unberührt.

(5) Hält sich der Täter in einem ausländischen Staat auf und stellt die zuständige Behörde ein förmliches Auslieferungsersuchen an diesen Staat, ruht die Verjährung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat

1.
bis zur Übergabe des Täters an die deutschen Behörden,
2.
bis der Täter das Hoheitsgebiet des ersuchten Staates auf andere Weise verlassen hat,
3.
bis zum Eingang der Ablehnung dieses Ersuchens durch den ausländischen Staat bei den deutschen Behörden oder
4.
bis zur Rücknahme dieses Ersuchens.
Lässt sich das Datum des Zugangs des Ersuchens beim ausländischen Staat nicht ermitteln, gilt das Ersuchen nach Ablauf von einem Monat seit der Absendung oder Übergabe an den ausländischen Staat als zugegangen, sofern nicht die ersuchende Behörde Kenntnis davon erlangt, dass das Ersuchen dem ausländischen Staat tatsächlich nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Satz 1 gilt nicht für ein Auslieferungsersuchen, für das im ersuchten Staat auf Grund des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 S. 1) oder auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarung eine § 83c des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vergleichbare Fristenregelung besteht.

(6) In den Fällen des § 78 Absatz 3 Nummer 1 bis 3 ruht die Verjährung ab der Übergabe der Person an den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat bis zu ihrer Rückgabe an die deutschen Behörden oder bis zu ihrer Freilassung durch den Internationalen Strafgerichtshof oder den Vollstreckungsstaat.