Bundesfinanzhof Beschluss, 20. Juni 2016 - VI B 115/15

published on 20.06.2016 00:00
Bundesfinanzhof Beschluss, 20. Juni 2016 - VI B 115/15
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Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 12. Oktober 2015  11 K 1575/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht München zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist zulässig und nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --FG-- (§ 116 Abs. 6 FGO).

2

1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs. 2 FGO) und stellt eine Rechtsverletzung i.S. von § 119 Nr. 3 und Nr. 4 FGO dar. Das FG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil die Kläger nicht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Einzelrichterin erklärt hatten (§ 90 Abs. 2 FGO).

3

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein Verfahrensmangel i.S. der vorgenannten Vorschrift u.a. dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen für eine Entscheidung des FG ohne mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 1 und Abs. 2 FGO nicht gegeben sind (vgl. BFH-Urteile vom 4. November 1992 X R 7/92, BFH/NV 1993, 372; vom 5. Juli 1995 X R 39/93, BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842, und vom 31. August 2010 VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126; jeweils m.w.N.). Das Fehlen dieser Voraussetzungen haben die Kläger im Streitfall zu Recht geltend gemacht.

4

b) Das FG konnte im Zeitpunkt seiner Entscheidung auf der Grundlage der Erklärung vom 31. Juli 2015 nicht von einem Verzicht der Kläger auf mündliche Verhandlung ausgehen. Die Kläger hatten unstreitig schriftlich den Verzicht auf mündliche Verhandlung für den Fall ausgeschlossen, dass der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung überträgt. Dennoch hat das FG mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 den Rechtsstreit auf die Einzelrichterin übertragen und am 12. Oktober 2015 ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden.

5

Ein Beteiligter kann sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung grundsätzlich gegenständlich beschränken, z.B. indem er den Verzicht auf mündliche Verhandlung auf eine Entscheidung durch den Vorsitzenden bzw. den Berichterstatter anstelle des Senats oder aber allein auf eine Entscheidung durch den Senat beschränkt (vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90 FGO Rz 46, 72). Nach Auffassung des erkennenden Senats bezieht sich jedoch selbst ein vor der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter vorbehaltlos erklärtes Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur auf die Entscheidung durch den Senat, es sei denn, das Einverständnis ist ausdrücklich auch für den Fall der Entscheidung durch den Einzelrichter erklärt worden (Senatsurteil vom 9. August 1996 VI R 37/96, BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77).

6

Diese einschränkende Auslegung der Verzichtserklärung und die Beschränkung ihrer Wirkung bis zur nächsten eine Sachentscheidung vorbereitenden Entscheidung des FG ist aufgrund der besonderen Interessenlage der Beteiligten geboten (vgl. BFH-Urteile in BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77, und in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126). Denn der Verzicht hat für die Beteiligten weitreichende Folgen, weil er als Prozesshandlung nicht wegen Irrtums anfechtbar und auch nicht frei widerrufbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 20. Juni 1967 II 73/63, BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794; vom 26. November 1970 IV R 131/69, BFHE 101, 61, BStBl II 1971, 241; vom 4. April 1974 V R 161/72, BFHE 112, 316, BStBl II 1974, 532; BFH-Beschluss vom 7. Februar 1990 III R 101/87, BFH/NV 1991, 402; für eine Zulässigkeit des Widerrufs bei wesentlicher Änderung der Prozesslage: BFH-Urteil vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744).

7

Ist eine Verzichtserklärung nach den vorstehenden Maßstäben wirkungslos (geworden), ist eine gleichwohl ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung zugleich wegen eines Mangels der Vertretung verfahrensfehlerhaft i.S. des § 119 Nr. 4 FGO (BFH-Urteil in BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, m.w.N.; Senatsbeschluss vom 10. März 2011 VI B 147/10, BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556).

8

2. Aufgrund der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) und des gleichzeitig vorliegenden Mangels der Vertretung ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Der Verfahrensfehler ist ein absoluter Revisionsgrund, bei dem gemäß § 119 Nr. 3, Nr. 4 FGO davon auszugehen ist, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Eine Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat verwehrt (s. Senatsbeschlüsse vom 14. April 2015 VI B 15/15, nicht veröffentlicht, und in BFHE 232, 322, BStBl II 2011, 556, m.w.N.).

9

3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

10

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge

(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat. (2) Die Revision ist nu

Annotations

(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Der Bundesfinanzhof ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde angefochten werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder Abschrift des Urteils, gegen das Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht im Falle der elektronischen Beschwerdeeinlegung.

(3) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesfinanzhof einzureichen. In der Begründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 dargelegt werden. Die Begründungsfrist kann von dem Vorsitzenden auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag um einen weiteren Monat verlängert werden.

(4) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Der Bundesfinanzhof entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch den Bundesfinanzhof wird das Urteil rechtskräftig.

(6) Liegen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann der Bundesfinanzhof in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(7) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt, wenn nicht der Bundesfinanzhof das angefochtene Urteil nach Absatz 6 aufhebt; der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt für den Beschwerdeführer die Revisionsbegründungsfrist, für die übrigen Beteiligten die Revisions- und die Revisionsbegründungsfrist. Auf Satz 1 und 2 ist in dem Beschluss hinzuweisen.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; die §§ 158, 160, 162 der Abgabenordnung gelten sinngemäß. Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn

1.
das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2.
bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,
3.
einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,
4.
ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozeßführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat,
5.
das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder
6.
die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn

1.
das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2.
bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,
3.
einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,
4.
ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozeßführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat,
5.
das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder
6.
die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; die §§ 158, 160, 162 der Abgabenordnung gelten sinngemäß. Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn

1.
das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2.
bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,
3.
einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war,
4.
ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozeßführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat,
5.
das Urteil auf eine mündliche Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind, oder
6.
die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

(1) Das Gericht hat im Urteil oder, wenn das Verfahren in anderer Weise beendet worden ist, durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden.

(2) Wird eine Sache vom Bundesfinanzhof an das Finanzgericht zurückverwiesen, so kann diesem die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen werden.