Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 22. März 2017 - L 2 SB 86/15

bei uns veröffentlicht am22.03.2017

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.04.2015 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger 1/5 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von über 70 bereits ab Antragstellung hat.

Der 1928 geborene Kläger stellte am 08.04.2013 Erstantrag auf Feststellung eines GdB von 100 sowie auf Zuerkennung der Merkzeichen (bzw. Nachteilsausgleiche i.S.v. § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX) G, B und aG. Als Gesundheitsstörungen nannte der Kläger im Antrag ein Altersemphysem, dynamische Hyperinflation, Hypertonie, koronare Zweigefäßerkrankung, einen ventrikulären Bigeminus (sogenannter Zwillingspuls, eine Herzrhythmusstörung), eine Aortenstenose II. Grades, eine progrediente Belastungsdyspnoe, eine Mitralinsuffizienz, eine Carotissklerose, einen Diabetes mellitus Typ II, Polyneuropathie, einen Kopftremor, einen linksbetonten Intentionstremor der Hände, eine Prostatahyperplasie, eine Leberzyste, eine Stoffwechselstörung, Hypercholesterinämie, Hyperurikämie und eine Rippenfellschwarte.

Der Beklagte holte einen Befundbericht des behandelnden Internisten Dr. P./Dr. C. ein. Auf die beigezogenen Unterlagen des Internisten und Kardiologen Dr. E., des Internisten, Kardiologen und Pneumologen Dr. G., des Urologen Dr. S., des Pneumologen Dr. H., die Unterlagen zur Herzkatheter-Untersuchung des Klinikums G. vom 17.04.2012 und die Arztbriefe der A. Fachklinik A-Stadt vom 20.03.2013 und 06.05.2013 wird verwiesen.

Im Arztbrief der A.-Klinik vom 20.03.2013 wurde der Befund eines Computertomogramms (CT) des Thorax vom 18.03.2013 erwähnt, mit denkbarem Tumor an der rechten Niere, allerdings ohne Kontrastmittel. Im Arztbrief der A.-Klinik vom 06.05.2013 wurde eine Niereninsuffizienz im Stadium der kompensierten Retention genannt, der bei Voruntersuchung erhöhte Kreatinin-Wert von 1,5 mg/dl habe bei Kontrolle wieder normalisiert bei 1,2 mg/dl gelegen. Mit CT der Lunge unter Einsatz von Kontrastmittel vom 25.04.2013 wurde der Verdacht auf eine Lungenembolie ausgeschlossen. Nebenbefundlich zeigten sich zystische Strukturen in der Leber und an der rechten Niere ein kleinerer Bezirk verminderter Dichte (hypodens). Dort sei die Beurteilung aufgrund der früheren Bolusphase etwas schwieriger, Messungen ergaben jedoch niedrige Dichtewerte eher im zystischen Bereich, wohl mit winziger Verkalkung. Insgesamt wurde der Befund als altersentsprechend beurteilt.

Der Internist und Sozialmediziner Dr. E. bewertete den GdB in seiner versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 04.06.2013 mit 30. Der Kläger leide seit Februar 2010 unter zunehmender Belastungsdyspnoe. Die zahlreichen Untersuchungen von Herz und Lunge hätten alle gering pathologische Werte und unter Berücksichtigung des Alters eigentlich erstaunlich gute Befunde bezeigt, wie die Belastbarkeit bis 100 Watt über 2 Min. im April 2013. Ein gewisses Lungenemphysem (Altersemphysem) und eine gewisse Koronarsklerose mit leichter Klappeninsuffizienz in diesem Alter seien völlig normal.

Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 11.6.2013 einen GdB von 30 für folgende Behinderungen fest:

1. Durchblutungsstörungen des Herzens, Herzklappenfehler, Bluthochdruck (Einzel-GdB 20)

2. Lungenfunktionseinschränkung, Lungenblähung (Einzel-GdB 20).

Der Kläger legte am 24.06.2013 Widerspruch ein. Es hätten sich weitere Behinderungen herausgestellt; Untersuchungen würden noch laufen. Nach Abschluss werde er seinen Widerspruch weiter begründen.

Der Beklagte forderte einen Befundbericht von Dr. G. und Dr. E. an. Dr. E. wies auf eine mäßiggradige Einschränkung der Belastbarkeit bei altersentsprechender unterdurchschnittlicher Belastbarkeit bis 100 Watt und leistungslimitierender mittelgradiger Aortenklappenstenose hin.

Nach Akteneinsicht beanstandete der Kläger in seiner Widerspruchsbegründung vom 27.12.2013 die fehlende Berücksichtigung des Tremors, der Herzrhythmusstörungen, der Verkalkung, der Zuckerkrankheit mit Polyneuropathie, der starken Blutungen, der Nierenzyste mit Funktionseinschränkung der Nieren sowie die zunehmende Schwäche der Beine mit Durchblutungsstörungen. Er müsse schon nach einem Treppenabsatz „einhalten“ und könne nur mit Festhalten am Geländer Treppen steigen.

Auf die beigefügten Arztbriefe des Internisten und Hämatoonkologen Dr. C. vom 09.09.2013, des Neurologen Prof. Dr. Dr. B. vom 13.11.2013 und des Angiologen und Phlebologen Prof. Dr. T. vom 21.11.2013 wird verwiesen. Prof. Dr. C. berichtete über eine vorübergehende Thrombopenie mit Nasenbluten bei Blutdruck von über 220 mmHg. Diese idiopathische thrombozytopenische Purpura sei durch Therapie gebessert. Prof. Dr. Dr. B. diagnostizierte eine Claudicatio spinalis bei lumbaler Spinalkanalstenose mit Spondylolisthese L4/5 und eine im Elektromyogramm (EMG) gering ausgeprägte diabetische Polyneuropathie mit endgradiger Fußheberparese und Areflexie an den Beinen. Der Kläger hatte zunehmende Kraftlosigkeit der Beine beim Stehen und Gehen geschildert. Er müsse sich setzen, um weitergehen zu können. Treppensteigen gelinge aufwärts deutlich besser als abwärts. Prof. Dr. T. führte aus, dass die Beschwerden beim Gehen und Stehen nicht auf die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) beidseits Stadium I zurückzuführen seien, angesichts der ausreichend kompensierten Durchblutungssituation.

Die Internistin und Sozialmedizinerin Dr. W. bewertete den GdB daraufhin in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.01.2014 mit 70 unter Berücksichtigung deutlicher degenerativer Lendenwirbelsäulen (LWS)-Veränderungen sowie einer Polyneuropathie und sprach sich für das Merkzeichen G aus. Ein nennenswerter Tremor werde in den Unterlagen nicht berichtet, eine nennenswerte Nierenfunktionseinschränkung liege nicht vor, erhöhte Werte für Harnsäure und Blutfette bzw. eine Arteriosklerose allein seien noch keine Behinderung. Die Blutungsneigung liege nach Behandlung nicht mehr vor. Der Diabetes bedinge keinen GdB von mindestens 10, da er nicht mit Hypoglykämie erzeugender Medikation behandelt werde.

Daraufhin stellte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2014 ab Antragstellung einen GdB von 70 und die Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest, auf Grundlage folgender Behinderungen:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Spinalkanalstenose, Wirbelgleiten, Polyneuropathie (Einzel-GdB 50)

2. Durchblutungsstörung des Herzens, Herzklappenfehler, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 30)

3. Lungenfunktionseinschränkung, Lungenblähung (Einzel-GdB 20).

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G wurden zuerkannt. Weitere Gesundheitsstörungen könnten derzeit nicht anerkannt werden, da sie nicht auf Dauer einen Mindest-GdB von wenigstens 10 erreichen würden.

Der Kläger hat am 11.2.2014 Klage beim Sozialgericht München (SG) erhoben und zunächst beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung und Neuentscheidung an den Beklagten zurückzuweisen. Der Beklagte sei der Pflicht zur Sachaufklärung nur unzureichend nachgekommen. Das SG solle vorerst keine Beweisaufnahme betreiben, sondern den Beklagten um Prüfung bitten.

Daneben hat der Kläger mit E-Mail vom 16.02.2014 beim Beklagten Antrag auf Überprüfung gestellt mit gleichzeitiger Dienstaufsichtsbeschwerde. Aufgrund der Beschwerde wurde eine versorgungsmedizinische Stellungnahme von Dr. L. vom 21.02.2014 eingeholt, die unter ausführliche Begründung an der Bewertung festgehalten hat.

Mit Schreiben vom 06.04.2014 hat der Kläger beim Beklagten einen GdB 100 sowie die Merkzeichen aG und B geltend gemacht. Er könne ohne Hilfe oder Handlauf keine drei Schritte mehr gehen. Wegen eines bösartigen Tumors sei am 20.03.2014 im Klinikum G. ein Teil der rechten Niere (partielle Nephrektomie) entfernt worden. Der Tumor sei bereits im Thorax-CT vom 18.03.2013 sichtbar gewesen. Bevor der Befund als Tumor erkannt worden sei, hätten die Ärzte von einer Nierenzyste gesprochen, so Prof. Dr. B. am 06.05.2013, Dr. G. am 16.09.2013 und Dr. S. am 17.12.2013. Der Beklagte habe die Funktionseinschränkung der Nieren mit immer wieder erhöhten Kreatininwerten nicht berücksichtigt, die sich durch die partielle Nephrektomie nun verstärken dürfte. Die guten Ergometrie-Werte vom 03.03.2014 und vom 22.04.2013 seien auf seine außergewöhnliche Anstrengung zurückzuführen. Seither habe sich seine Herzleistungsminderung erheblich verstärkt. In der OP-Vorbereitung sei die Belastbarkeit des Herz-Kreislauf-Systems sehr vorsichtig beurteilt worden. Die Gefäßsklerose gehe weit über die Carotissklerose hinaus und sei mit körperlicher Funktionseinbuße verbunden. Das Blutungsrisiko bei immer wieder auftretendem „nahezu unstillbarem“ Nasenbluten sei nicht einbezogen worden. Zwar sei die Zuckerstoffwechselstörung in der Regel gut eingestellt, beeinträchtige aber den Allgemeinzustand. Es bestünden negative Wechselwirkungen der Medikation bzw. Kontrast- und Narkosemittel und der Nierenerkrankung. Auf Ausführungen im Arztbrief der S-Klinik vom 07.12.2012 zum Tremor von Kopf und Händen hat der Kläger verwiesen.

Auf die Arztbriefe der Neurologischen Klinik der S-Klinik A-Stadt vom 07.12.2012, der Urologischen Klinik der LMU-Kliniken (LMU) vom 26.03.2014 sowie den histologischen Befund vom 26.03.2014 wird Bezug genommen. Im Bericht der S-Klinik vom 07.12.2012 wird ein Nein-Sage-Tremor des Kopfes beschrieben, der bei Maximaldrehung nach rechts oder links sistierte, sowie ein diskreter linksbetonter Haltetremor der Hände. Im Entlassungsbrief der LMU vom 26.03.2014 über die stationäre Behandlung vom 18. bis 26.03.2014 wurde über eine partielle Nephrektomie rechts am 20.03.2014 berichtet bei kleinzelligem Nierenzellkarzinom rechts von ca. 1,4 cm, beschränkt auf die Niere, im Stadium pT1a pNX L0 V0 Pn0, Graduierung G 2, Residualstatus R 0, UICC-Stadium I.

Daraufhin hat der Beklagte mit Schreiben vom 06.05.2014 ein Vergleichsangebot unterbreitet mit Feststellung eines GdB von 100 ab 20.03.2014, gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. L. vom 05.05.2014. Diese hat ausgeführt, dass für das nicht organüberschreitende Nierenzellkarzinom ohne Lymphknotenbefall oder Fernmetastasierungen, das durch Nierenteilentfernung vollständig im Gesunden habe entfernt werden können, wie nach vollständiger Nierenentfernung ein Einzel-GdB von nicht niedriger als 60 über 5 Jahre anzusetzen sei. Dieser Einzel-GdB sei erst ab Nachweis der Malignität, also ab März 2014, anzusetzen, weil erst ab der Diagnose einer potentiell lebensbedrohlichen, zu Rezidiven neigenden schweren Erkrankung die besonderen Umstände gegeben seien, die eine weit über die tatsächlichen Organschäden hinausgehende GdB-Bewertung rechtfertigen könnten. Auf die Niederschrift über eine Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (SVB) beim BMGS vom 13.11.2002 hat Dr. L. verwiesen. Angesichts der gemessenen Kreatininwerte von April 2012 bis März 2014, die im Bereich des oberen Grenzwertes schwankten, wirke sich die grenzwertige Nierenfunktionsbeeinträchtigung nicht GdB-erhöhend aus. Der im Bericht vom 07.12.2012 erwähnte Tremor und die beschriebene Gangunsicherheit seien bei neurologischer Untersuchung im November 2013 nicht erwähnt worden; hierfür könne ein Einzel-GdB von 10 bis 20 angesetzt werden, der den Gesamt-GdB von 70 nicht weiter erhöhe.

Dr. L. hat folgende Fassung der Behinderungen ab März 2014 vorgeschlagen:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Spinalkanalstenose, Wirbelgleiten, Polyneuropathie (Einzel-GdB 50)

2. Nierenerkrankung rechts in Heilungsbewährung, Teilverlust der rechten Niere (Einzel-GdB 60)

3. Durchblutungsstörung des Herzens, Herzklappenfehler, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 30)

4. Lungenfunktionseinschränkung, Lungenblähung (Einzel-GdB 20)

5. Tremor (Einzel-GdB 10-20).

Dieses Vergleichsangebot des Beklagten hat der Kläger mit Schreiben vom 24.05.2014 und vom 15.07.2014 abgelehnt. Die Gesundheitsstörungen und Behinderungen seit Antragstellung seien nicht ausreichend bewertet. Auf die Funktionseinschränkung der Nieren bzw. Wechselwirkungen mit Medikamenten gegen Diabetes werde nicht eingegangen. Nicht überzeugend sei die Berücksichtigung des Tumorleidens erst ab Nachweis der Malignität durch Operation (OP) und Histologiebefund, zumal die OP keine Schädigung sei, sondern der Heilung diene. Die Tumorerkrankung habe schon vor der OP vorgelegen. Schon am 18.03.2013 sei eine Raumforderung an der Stelle sichtbar gewesen, wo später der Tumor entfernt worden sei. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe also mit hoher Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer lebensbedrohlichen, zu Rezidiven neigenden schweren Erkrankung vorgelegen, die laufend durch Ultraschall beobachtet worden sei. Nach CT vom 10.02.2014 sei eingehende Besprechung der Befunde mit Dr. S. und daraufhin die Operation erfolgt. An einer schweren lebensbedrohlichen Gesundheitsstörung hätten seit März 2013 nie Zweifel bestanden. Seit dieser Operation seien ganz erhebliche Bewegungs- und Belastungseinschränkungen aufgetreten.

Den Überprüfungsantrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat der Beklagte mit Bescheid vom 02.06.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2014 abgelehnt, weil angesichts des anhängigen Klageverfahrens ein solcher Überprüfungsantrag unzulässig sei. Im Rahmen des anschließenden Widerspruchsverfahrens hat der Kläger auf Verschlechterungen seiner Belastbarkeit und Bewegungsfähigkeit seit der Nierenoperation hingewiesen, mit seitdem aufgetretener Beschwerden im Bereich LWS und Hüfte. Auf die Arztbriefe des Krankenhauses der B. B-Stadt vom 18.06.2014 und vom 03.07.2014 wird verwiesen, u.a. auf die Labordaten, die Befunde des EMG vom 10.06.2014, die Duplexsonographie der Beinvenen vom 13.06.2014, die Pleura-Sonographie vom 17.05.2014, das MRT des Beckens vom 10.06.2014, das MRT der LWS vom 11.06.2014 und vom 12.06.2014 sowie die Röntgenbilder von Becken und Hüfte vom 12.06.2014. Nach CT-gesteuerter Wurzelblockade der L3-Wurzel rechts am 16.06.2014 erfolgte am 30.06.2014 Operation mit knöcherner Dekompression der neuroforaminalen Enge, Sequestrektomie und Nukleotomie des Bandscheibenvorfalls L3/4 rechts. Im Rahmen der Behandlung vom 10. bis 18.06.2014 hatte sich die Nierenfunktion auf Diclofenac deutlich verschlechtert; nach Absetzen des Medikaments hatten sich die Werte aber wieder rasch gebessert und lagen im Normbereich. Eine deutliche rechtsbetonte Coxarthrose beidseits ist festgestellt worden. Auf den Rehabilitationsbericht der Klinik P. Bad G. über den Aufenthalt des Klägers vom 5. bis 26.08.2014 wird verwiesen. Geschildert werden Schmerzen aufgrund der Coxarthrose rechts. Bei Entlassung hat der Kläger ohne Hilfsmittel selbstständig und ohne externe Unterstützung ca. 80 m gehen und mit Handlauf Treppen steigen können.

Das SG hat ein Gutachten des Allgemeinarztes Dr. W. vom 28.10.2014 eingeholt. Dr. W. hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 09.10.2014 folgende Behinderungen des Klägers bis einschließlich Februar 2017 festgehalten:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Spinalkanalstenose, Wirbelgleiten, Polyneuropathie (Einzel-GdB 50)

2. Durchblutungsstörung des Herzens, Herzklappenfehler, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 30)

3. Lungenfunktionseinschränkung, Lungenblähung (Einzel-GdB 20)

4. Tremor (Einzel-GdB 10)

5. Eingepflanzte Kunstlinsen an beiden Augen (Einzel-GdB 10)

6. Zuckerkrankheit (Einzel-GdB 10)

Für die Zeit ab März 2014 hat der Sachverständige folgende weitere Behinderungen und einen Gesamt-GdB von 100 genannt:

1. Nierenerkrankung rechts in Heilungsbewährung, Teilverlust der rechten Niere (Einzel-GdB 60)

2. Nierenminderleistung (Einzel-GdB 20)

3. Verschleißveränderungen des rechten Hüftgelenks (Einzel-GdB 20 v.H.)

4. Tremor, depressive Störung (Einzel-GdB 10 v.H.)

Die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG seien nicht erfüllt, aber für den Nachteilsausgleich B.

Zur Bewertung im Einzelnen hat Dr. W. u.a. dargelegt, dass sich das Wirbelsäulenleiden seit der Operation zwar gebessert habe, was angesichts der Bewegungsmaßstäbe mit einem Einzel-GdB von 30 bzw. unter Berücksichtigung der Polyneuropathie (hierfür Teil-GdB von 20) mit einen Einzel-GdB von 40 zu bewerten sei; bei wohlwollender Beurteilung sei aber die Beibehaltung des Einzel-GdB von 50 zu rechtfertigen. Für die Hüftgelenksarthrose hat Dr. W. angesichts der Bewegungseinschränkung einen GdB von 20 vorgeschlagen, entsprechend einer einseitigen Beugebegrenzung auf 90°. Da ein exakter Beschwerdebeginn nicht feststellbar sei, werde Aufnahme der Behinderung ab Klagedatum empfohlen.

Die kardiologischen und pulmologischen Erkrankungen seien mit den bisherigen Einzel-GdB-Werten adäquat berücksichtigt. Der Einzel-GdB von 20 für die Lungenerkrankung entspreche einer geringgradigen Einschränkung und könne wohlwollend mit Blick auf die Vorbefunde beibehalten werden, trotz aktuell nur geringer Hinweise auf Lungenblähung, normalem Auskultationsbefund und Normalbefund der Spirometrie.

Der geringgradige und nicht permanent vorhandene Kopftremor sowie der mittelgradige feinschlägige Intentionstremor der linken Hand ohne Ruhetremor rechtfertige nur einen Einzel-GdB von 10. Die Aufnahme einer leichten depressiven Störung ab März 2014 werde bei berichteter Antriebsschwäche empfohlen; eine Höherbewertung des Einzel-GdB ergebe sich nicht angesichts fehlender Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit.

Für die 2009 und 2011 erfolgte Kunstlinsenimplantation der Augen bei grauem Star hat Dr. W. angesichts des laut Augenarztbefund korrigierten Visus von 1,0 einen Einzel-GdB von 10 angesetzt.

Er hat ferner die Aufnahme des Diabetes mellitus empfohlen bei Einzel-GdB von 10. Die Blutzuckereinstellung liege angesichts des HbA1c-Wertes von 6,4% im gut akzeptablen Bereich, ohne Eintritt von Entgleisungen; eindeutige Folgeerkrankungen an den Organen (z.B. diabetische Retionopathie) seien nicht dokumentiert. Die Nierenfunktionsbeeinträchtigung resultiere vorrangig aus arteriosklerotischen Gefäßveränderungen. Mit Umstellung der Therapie im April 2014 würden Medikamente verwendet, die die Gefahr von Hypoglykämien beinhalteten.

Zur Nierenfunktionseinschränkung hat Dr. W. dargelegt, dass nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) eine Nierenfunktionseinschränkung leichten Grade bei Serumkreatininwerten unter 2,0 mg% erst bei Filtrationsrate von 35 bis 50 ml/Min. einen GdB von 20 v.H. bedinge. Die vor Diagnose des malignen Nierentumors gemessenen Kreatininwerte hätten beim Kläger aber zwischen 1,0 bis 1,3 mg% gelegen, was noch keinen GdB auslöse. Erst ab Mai 2014 seien Kreatininwerte von 1,45 mg% dokumentiert, die einer Filtrationsrate unterhalb 50 ml/Min. entsprächen. Die Bewertung des Einzel-GdB nach Entfernung des Nierentumors mit einem Einzel-GdB von 60 beruhe auf den Regeln zur Heilungsbewährung für fünf Jahre nach Entfernung eines Nierenzellkarzinoms. Dieser Einzel-GdB könne erst nach definitivem Nachweis der Malignität anerkannt werden, also ab März 2014. Der Sachverständige hat sich insoweit der Beurteilung von Dr. L. angeschlossen.

Auf die beigefügten ärztlichen Unterlagen wird verwiesen, insbesondere das CT der rechten Hüfte vom 26.09.2014, den MRT-Befund beider Oberschenkel vom 26.09.2014, den MRT-Befund der LWS vom 15.01.2014, den CT-Befund von Nieren und Becken vom 10.02.2014 und den Arztbrief des R-Klinikums A-Stadt vom 02.05.2014. Im MRT-Befund der LWS vom 13.01.2014 wird ein irreguläres Nierenparenchym nahe dem oberen Pol der rechten Niere beschrieben mit Vorwölbung von ca. 2,5 cm. Der CT-Befund vom 10.02.2014 spricht von einer inhomogenen unklaren Läsion der rechten Niere von 2,3 cm x 2 cm mit punktförmiger Verkalkung und empfiehlt eine histologische Klärung.

Dr. S. beschreibt im Arztbrief vom 17.12.2013 eine kleinste Zyste an den Nieren bei unauffälligem urologischem Befund und spricht im Arztbrief vom 23.02.2014 von einem hochgradigen Verdacht auf Nierentumor.

Der Beklagte hat dem Sachverständigen widersprochen, soweit dieser die Voraussetzungen für den Nachteilausgleich B bejaht hat, gestützt auf die versorgungsmedizinische Stellungnahme von Dr. P. vom 02.12.2014. Der Beginn der sogenannten Heilungsbewährung sei in der VersMedV unter Ziffer B 1 c) S. 6 verbindlich geregelt.

Der Kläger hat daran festgehalten, dass der höhere GdB ab Antragstellung vorliege angesichts der dokumentierten Raumforderung der rechten Niere in vorangegangenen CT- und MRT-Befunden. Die zitierte Tagung des SVB habe keine verallgemeinerungsfähige Fragestellung betroffen, sondern die spezielle Situation der rentenrechtlichen Stichtagsregelung vom 16.11.2000. Nach den dortigen Feststellungen des SVB sei es nicht gerechtfertigt, einen höheren GdB wegen Malignoms bereits zum Stichtag anzunehmen, wenn die bösartige Erkrankung erst nach dem Stichtag diagnostiziert worden sei, selbst wenn ein Organschaden zum Zeitpunkt des Stichtags glaubhaft sei, denn der höhere GdB drücke die besondere soziale Situation aus, z.B. den Versuch der aktiven Bewältigung der Diagnose „Krebs“, die in den oben genannten Fällen wegen Unkenntnis der Tumoreigenschaft nicht vorliege. Der Kläger hat geltend gemacht, dass es bei ihm angesichts des anerkannten GdB von 70 nicht um rückwirkende Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gehe und dass die Raumforderung, hinter der sich der Tumor verborgen habe, schon bei Antragstellung vorgelegen habe. Bereits mit der Raumforderung im März 2013 sei eine bösartige lebensbedrohliche, zu Rezidiven neigende schwere Erkrankung sehr wahrscheinlich gewesen, weil 80% aller Nierentumore bösartige Veränderungen seien. Dementsprechend sei Beobachtung durch Ultraschalluntersuchungen erfolgt, ohne dass einschlägige Befunde hervorgetreten seien. Schließlich sei nach MRT vom 13.01.2014 und CT vom 10.02.2014 Teilresektion der rechten Niere veranlasst worden. Ferner habe der Sachverständige nicht die Einschränkungen durch Einhalten der strengen Diät wegen Diabetes und die Probleme beim Einsatz von Schmerzmitteln wegen Nierenfunktionseinschränkung berücksichtigt.

Dr. W. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.01.2015 an seiner Einschätzung zum Nachteilsausgleich B festgehalten.

In der mündlichen Verhandlung am 15.04.2015 haben die Beteiligten folgenden Teilvergleich geschlossen:

I. Der Beklagte erklärt sich bereit, ab 20.03.2014 einen GdB von 100 sowie das Merkzeichen „B“ zuzuerkennen, das Merkzeichen „G“ bleibt zuerkannt.

II. Der Kläger nimmt das Teil-Vergleichsangebot an.

Auf den Ausführungsbescheid des Beklagten vom 04.05.2015 wird verwiesen.

Der Kläger hat die Klage hinsichtlich des Merkzeichen aG zurückgenommen. Er hat beantragt, den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 100 bereits ab 08.04.2013 zu verurteilen.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 15.04.2015, dem Kläger zugestellt am 24.04.2015, abgewiesen. Die Kammer hat sich dem Gutachten von Dr. W. angeschlossen. Ein Teil-GdB von 60 für die Nierenerkrankung in Heilungsbewährung und ein Gesamt-GdB von 100 könnten erst ab der Nieren-Operation zuerkannt werden. Allein die Möglichkeit, dass es sich bei der im CT von 3/2013 festgestellten Raumforderung im Bereich des rechten oberen Nierenpols um einen bösartigen Tumor und keine Zyste handele, sei für die Feststellung des GdB bereits ab Antragstellung nicht ausreichend, da der volle Nachweis einer Behinderung erforderlich sei. Selbst wenn man von einer Nierenfunktionsstörung leichten Grades bereits bei Antragstellung mit Einzel-GdB von 20 ausgehen würde, würde dies nicht zu einer Erhöhung des GdB auf über 70 führen.

Mit der am 02.05.2015 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegten Berufung hat der Kläger weiter einen GdB von 100 bzw. von mindestens 80 bereits ab Antragstellung geltend gemacht.

Auf die gerichtlichen Hinweisschreiben vom 24.06.2015 und 28.10.2016 wird verwiesen.

Mit Fax vom 20.03.2017 hat der Kläger um Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2017 gebeten. Angesichts des geänderten Aktenzeichens sei er nicht sicher, worauf er sich vorzubereiten habe und sehe sich angesichts dieser Situation auch gesundheitlich nicht in der Lage, nach München zur Verhandlung zu kommen. Mit Fax vom 21.03.2017 ist der Kläger vom LSG nochmals auf den mit Schreiben vom 03.01.2017 mitgeteilten Zuständigkeitswechsel des Senats für seinen Rechtsstreit hingewiesen worden und ihm ist mitgeteilt worden, dass der Rechtsstreit nicht vertagt wird. Das persönliche Erscheinen sei nicht angeordnet worden und das Vorliegen von Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit sei nicht belegt.

Der Kläger hat in seinen Schriftsätzen, zuletzt mit Fax vom 21.03.2017, im Wesentlichen seine bisherige Argumentation bekräftigt und betont, dass es sich bei der im März 2013 festgestellten Raumforderung mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. mit Sicherheit um den später entfernten bösartigen Nierentumor gehandelt habe. Nach Aussage des Operateurs Prof. Dr. S. seien 80% der Nierentumore bösartig. Daher stelle schon die Kenntnis von der Raumforderung und die Ungewissheit über den weiteren Krankheitsverlauf, die trotz weiterer Untersuchungen fortbestanden habe, eine Behinderung dar. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe die besondere soziale Situation bestanden, die laut Niederschrift des SVB bei Krebserkrankungen den höheren GdB rechtfertige. Ferner seien nicht alle von Dr. W. genannten Behinderungen berücksichtigt worden, insbesondere die Funktionseinschränkung der Nieren, der Diabetes, die Nervenschäden im Sinne einer Polyneuropathie, der Tremor, die depressive Störung und die Sehminderung. Der Kläger hat den Operateur Prof. Dr. S. und den Radiologen Dr. K. als sachverständige Zeugen benannt.

Auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 22.03.2017 wird verwiesen.

Der Kläger beantragte sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 15.04.2015 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 11.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2014 zu verurteilen, bereits ab Antrag vom 08.04.2013 einen GdB von 100, mindestens aber von 80 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten, des SG und des LSG hingewiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Gründe

A. Die zulässige Berufung erweist sich als unbegründet. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70 für die Zeit vor dem 20.03.2014.

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 22.03.2017 entscheiden. Denn der Kläger ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 03.02.2017 ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden mit dem Hinweis, dass auch im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden kann. Eine Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit oder auch nur eine Erkrankung sind nicht belegt worden. Auf das Fax des Senats vom 21.04.2017 wird verwiesen.

Streitgegenstand im Berufungsverfahren ist nur noch die Höhe des GdB im Zeitraum vom 08.04.2013 (Antragstellung) bis zum 19.03.2014. Denn für den Zeitraum ab 20.03.2014 hatten die Beteiligten bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem SG einen Teilvergleich mit Anerkennung eines GdB von 100 geschlossen, so dass entsprechende Feststellungen und der den Teilvergleich ausführende Bescheid vom 04.05.2015 nicht Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahren sind. Der Senat weist ferner klarstellend darauf hin, dass auch der Bescheid der Beklagten vom 02.06.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.07.2014, mit dem der Beklagte eine Überprüfung des streitgegenständlichen Bescheides abgelehnt hatte, nicht gemäß § 96 SGG Streitgegenstand des Klageverfahrens geworden (vgl. BSG Beschluss vom 30.09.2009 - B 9 SB 19/09 B - Juris RdNr. 9).

Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 100 bzw. von mehr als 70 für den Zeitraum vom 08.04.2013 bis 19.03.2014. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung und des GdB ist § 69 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit den seit 01.01.2009 maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (Anlage VersMedV vom 10.12.2008 - BGBl. I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I 2122; vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX i.V.m. § 70 Abs. 2 SGB IX, § 30 Abs. 1 und Abs. 16 BVG vgl. BSG vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/14 R - Juris RdNr. 11).

Die VG haben die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) abgelöst, die für die Zeit vor 01.01.2009 weiterhin als antizipierte Sachverständigengutachten beachtlich sind (vgl. BSG Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R und Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 10/06 R; BVerfG Beschluss vom 06.03.1995 - 1 BvR 60/95, alle veröffentlicht in Juris). Die AHP und nunmehr die VG sind ein auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhendes Regelwerk, das die möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet bezweckt und dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung dient. Dabei werden GdS und GdB nach den gleichen Grundsätzen bemessen (vgl. A 2 a) Anlage VersMedV).

Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 SGB IX).

Nach durchgeführter Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger vor dem 20.03.2014 keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70 hat. Der Senat folgt im Wesentlichen den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. W.

1. Ausweislich der vorliegenden Unterlagen lässt sich ein höherer Einzel-GdB als 50 für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Spinalkanalstenose und Wirbelgleiten selbst unter Einbeziehung der sich ebenfalls auf Stand- und Gangvermögen auswirkende Polyneuropathie des Klägers für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht begründen.

Die VG sehen unter Punkt B 18.9 Anlage VersMedV folgende GdB-Werte für Wirbelsäulenschäden vor:

Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) 20 mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) 30 mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten 30-40 mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) 50-70 bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit 80-100 Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen - oder auch intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose - sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (z.B. Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen.

Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z.B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdS / GdB über 30 in Betracht kommen. Das neurogene Hinken ist etwas günstiger als vergleichbare Einschränkungen des Gehvermögens bei arteriellen Verschlusskrankheiten zu bewerten.

Bei den Polyneuropathien ergeben sich nach B 3.11 Anlage VersMedV die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund motorischer Ausfälle (mit Muskelatrophien), sensibler Störungen oder Kombinationen von beiden. Der GdS bzw. GdB motorischer Ausfälle ist in Analogie zu den peripheren Nervenschäden einzuschätzen. Bei sensiblen Störungen und Schmerzen ist zu berücksichtigen, dass schon leichte Störungen zu Beeinträchtigungen - z.B. bei Feinbewegungen - führen können. Auf die Bewertung vollständiger Nervenausfälle im Bereich der unteren Extremitäten unter B 18.14 Anlage VersMedV wird verwiesen.

Aus den vorliegenden Unterlagen, insbesondere dem Arztbrief von Prof. Dr. Dr. B. vom November 2013, dem MRT-Befund der LWS vom 13.01.2014 und dem Arztbrief des Krankenhauses der B. B-Stadt vom 18.06.2014, lässt sich entnehmen, dass sich seit ca. 2011 eine zunehmende Kraftlosigkeit der Beine des Klägers entwickelt hatte. Bei neurologischer Untersuchung im November 2013 schilderte der Kläger die Notwendigkeit, sich nach kurzer Zeit Stehen oder Gehen hinzusetzen. Bei paravertebralem Hartspann wurden aktuelle oder auch frühere Rückenschmerzen verneint, der Romberg Stehversuch war sicher, es bestanden eine endgradige Fußheberparese und keine sichere sensible Störung. Nach durchgeführter Messung mittels EMG diagnostizierte der Neurologe eine nur gering ausgeprägte diabetische Neuropathie bei chronisch-neurogener Schädigung im Sinne einer Spinalkanalstenose bei Spondylolisthesis L 5. Die neurogenen Veränderungen betrafen hauptsächlich die von der L 5/S. 1-Wurzel versorgte Muskulatur mit chronisch-neurogenem Umbau des Musculus tibialis anterior. Der Peronäusnerv war rechts motorisch unauffällig bei nicht erhältlichem sensiblen Potential; die Messwerte des Nervus tibialis links lagen im unteren Normbereich. Auch bei Untersuchung durch Dr. W. im Oktober 2014 waren die Auswirkungen der Polyneuropathie als gering anzusetzen; im Wesentlichen beschränkte sich dies auf Gangunsicherheiten beim Blindgang. Trophische Störungen im Bereich der Muskulatur der Füße waren aber nicht festzustellen. Das Vibrationsempfinden an den Fußknöcheln war aufgehoben, allerdings bestand normales Berührungsempfinden an den Füßen, so dass z.B. Steine im Schuh wahrgenommen wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich bei getrennter Bewertung für die Polyneuropathie in Übereinstimmung mit der Beurteilung von Dr. W. kein höherer Teil-GdB als 20 begründen.

Der MRT-Befund der LWS vom 13.01.2014 ergab bei Hyperlordose mit Lordosewinkel von 50° leicht verschmälerte Zwischenwirbelräume von Th 7 / L1 und L 1/2, Chondrose mit Signalverlust der Bandscheibe in den Segmenten L 3/4 und L 4/5 mit Facettenarthrosen, gering- bis mäßiggradige foraminale Engen im Bereich L 3 und L 4 beidseits mit geringer Einengung des Spinalkanals im Segment L 3/4, eine Retrospondylolisthesis L5 gegenüber S. 1 um 5 mm, eine zirkuläre bis foraminal reichende Pseudoprotrusion der Bandscheibe sowie eine hochgradige, auch knöchern bedingte Foramenstenose für L 5 beidseits bei freien S1-Wurzeln.

Nach Angaben des Klägers bei Behandlung vom 10. bis 18. Juni 2014 im Krankenhaus der B. B-Stadt hatten sich ca. eine Woche nach der Nieren-Operation am 20.03.2014 progrediente Schmerzen im rechten Bein mit daraus folgender Schwäche und Bewegungsstörung entwickelt, ohne direkte Rückenschmerzen. Beschrieben wurde im dortigen Befund ein Taubheitsgefühl beider Fußsohlen, eine größtenteils erhaltene Propriozeption, ein unauffälliger Stand, ein Schonhinken rechts und Einschränkungen der erschwerten Gangproben sowie anhand des EMG vom 10.06.2014 ein ablaufender neurogener Umbau ohne höhergradigen Ausfall motorischer Einheiten. Nun wurde ein Wurzelkompressionssyndrom L 3 rechts bei Bandscheibenprotrusion diagnostiziert, weshalb im Juni 2014 Operation der LWS erfolgte.

Wesentliche Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit sind für die Zeit vor dem 20.03.2014 in den ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert und finden sich auch nicht bei der Untersuchung durch Dr. W. am 09.10.2014. Danach war die Wirbelsäule schmerzfrei beweglich, ohne Muskelhartspann und die gemessenen Werte für die Beweglichkeit zeigten allenfalls geringe Einschränkungen, im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) mit Seitneigung bis 20° (Normwerte - NW -30-40°), Rotation bis 60° (NW 60-80°) und gute Vor- und Rückwärtsneigung (Kinn-Brustbein-Abstand minimal 2 cm, maximal bis 18 cm möglich), im Bereich des Rumpfes - BWS und LWS - mit Seitneigung von 30° (NW 30-40°) bei nur gering verminderter Entfaltung, Drehen um 30° (NW 30-50°), Vorwärtsneigung bis 60° und Rückwärtsneigung bis 20° (NW 30°). Die Beurteilung des Finger-Boden-Abstandes war wegen limitierender rechtsseitiger Hüftbeschwerden bei verspannter ischiocruraler Muskulatur nicht möglich. Der gemessene Wert für das Zeichen nach Ott von 35 - 30 - 29 cm spricht ebenfalls für eine gute BWS-Beweglichkeit (NW 30: 32 cm).

Damit beschränkten sich die wesentlichen Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule bis zum 20.03.2014 auf ein im Laufe der Jahre zunehmendes Schwächegefühl im rechten Bein bzw. gewisse Einschränkungen des Gehvermögens aufgrund Spinalkanalstenose im Bereich der LWS bei zugleich bestehender geringgradiger diabetischer Polyneuropathie. Aus Sicht des Senats hat der Beklagte diesen Einschränkungen mit einem Einzel-GdB von 50 für das Wirbelsäulenleiden einschließlich Polyneuropathie angesichts des oben dargelegten Maßstabes durchaus großzügig Rechnung getragen. Ein höherer Einzel-GdB kommt für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht in Betracht, zumal im Wesentlichen ein Wirbelsäulenabschnitt - nämlich die LWS - von degenerativen Veränderungen betroffen war, Rückenschmerzen nach eigenen Angaben des Klägers in diesem Zeitraum nicht aufgetreten waren, der Kläger sicher stehen konnte und sein Gehvermögen zwar eingeschränkt war, aber zum damaligen Zeitpunkt nach kurzen Sitzpausen durchaus ein Weitergehen möglich war und auch gänzlich selbstständig erfolgte, ohne Gebrauch von Hilfsmitteln.

2. Einschränkungen aufgrund von Hüftbeschwerden bzw. Coxarthrose werden in den ärztlichen Unterlagen erstmals im April 2014 - im Rahmen der Rehamaßnahme des R-Klinikums A-Stadt - bzw. ab Juni 2014 dokumentiert. Daher kann der von Dr. W. vorgeschlagene Einzel-GdB von 20 für die Hüfterkrankung für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht angesetzt werden.

3. Dr. W. hat ferner die Bewertung der Durchblutungsstörung des Herzens, der Herzklappenfehler, des Bluthochdrucks und der Herzrhythmusstörungen mit einem Einzel-GdB von 30 bestätigt. Der Sachverständige hat überzeugend dargelegt, dass der Bluthochdruck angesichts der übermittelten Messwerte medikamentös ausreichend gut reguliert ist und dass es sich angesichts der nachgewiesenen Verdickung der linken Herzkammermuskulatur um eine mittelschwere Form des Bluthochdrucks handelt, wofür ein Teil-GdB von 20 anzusetzen ist (vgl. B 9.1.1 Hypertonie - mittelschwere Form mit Organbeteiligung leichten bis mittleren Grades, z.B. Augenhintergrundveränderungen - Fundus hypertonicus I - II - und/oder Linkshypertrophie des Herzens und/oder Proteinurie), diastolischer Blutdruck mehrfach über 100 mm Hg trotz Behandlung, je nach Leistungsbeeinträchtigung GdB 20 - 40). Die Herzrhythmusstörungen - u.a. der erwähnte Bigeminus - wirken sich nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. W. angesichts ausreichender medikamentöser Einstellung und seltenen Auftretens nicht wesentlich dauerhaft auf die Herzmuskelleistung aus. Angesichts der Situation der Herzkranzgefäße mit längerstreckigen Einengungen an zwei Gefäßen und Begrenzung der Herzmuskelleistung durch Einengung der Aortenklappe bei mittlerer Belastung besteht nach Einschätzung von Dr. W. eine gering- bis mittelgradige Einschränkung der Klappenöffnungsfläche, so dass insgesamt für die Behinderungen im Bereich Herz und Kreislauf ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt ist.

Der Senat schließt sich dieser Bewertung an, zumal nach den vorliegenden Unterlagen im Zeitraum bis März bzw. Mai 2014 eine Belastbarkeit des Klägers bis 100 Watt möglich war. Ein Einzel-GdB zwischen 20 und 40 für Krankheiten des Herzens setzt nach B 9.11 aber eine Leistungsbeeinträchtigung des Herzens bei mittelschwerer Belastung (z.B. forsches Gehen [5 - 6 km/h], mittelschwere körperliche Arbeit), Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt (wenigstens 2 Minuten) voraus. Im Übrigen hatte bereits Dr. L. in ihrer Stellungnahme vom 21.02.2014 dargelegt, dass das Herz des Klägers bei nur leichter Vergrößerung des linken Vorhofs und hypertrophierter Muskulatur des linken Ventrikels eine unverminderte systolische Pumpfunktion und trotz diastolischer Relaxationsstörung keine pulmonale Druckerhöhung gezeigt hat, dass allenfalls eine grenzwertig hämodynamisch relevante Aortenklappenstenosierung ersichtlich war und dass die Häufigkeit der Herzrhythmusstörungen mit zeitweiligem Bigeminus unter Belastung zurückgegangen war. Auch unter Berücksichtigung der keineswegs höhergradigen oder interventionsbedürftigen arteriosklerotischen Gefäßveränderungen im Koronarbereich hat auch Dr. L. aus den vorliegenden Befunden keine Beeinträchtigung schon bei alltäglichen Belastungen ableiten können, bestätigt durch die ergometrische Belastbarkeit bis 100 Watt.

Im Übrigen hat Dr. L. in ihrer Stellungnahme vom Februar 2014 überzeugend dargelegt, dass die arteriosklerotischen Gefäßveränderungen im Bereich von Becken- und Beinarterien sowie der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße nicht hämodynamisch relevant waren und damit keine klinische Beeinträchtigung bzw. zu berücksichtigende Funktionseinschränkung zur Folge hatten. Diese Einschätzung wird im Übrigen von Prof. Dr. T. im Arztbrief vom November 2013 bestätigt, soweit er hinsichtlich der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit Stadium I beidseits von einer ausreichend kompensierten Durchblutungssituation gesprochen hat.

4. Der Senat stimmt zudem mit der Bewertung von Dr. W. überein, dass der angesetzte Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung und Lungenblähung als durchaus wohlwollend anzusehen ist. Denn wie Dr. W. herausgearbeitet hat, war die Lunge im März 2013 bei normaler Lungenfunktion lediglich etwas überbläht und im Thorax-CT vom April 2013 konnten Lungenembolien ausgeschlossen werden. Bereits

Dr. L. hatte mit Stellungnahme vom Februar 2014 ausgeführt, dass die Prüfung der Lungenfunktion im März 2013 trotz Pleuraveränderung allenfalls eine beginnende restriktive und peripher-obstruktive Komponente gezeigt habe bei normalem Atemwegswiderstand mit maximaler Vitalkapazität mit 83%, 1-Sek-Wert von 91% und mittlerer exspiratorischer Flussrate von 61% des Sollwerts. Zu Recht hatte Dr. L. zudem darauf hingewiesen, dass die in Ruhe mit 97% grenzwertig erniedrigte Sauerstoffsättigung unter Belastung nicht gefallen, sondern sogar auf 99% angestiegen war. Bei Untersuchung durch Dr. W. im Oktober 2014 zeigten sich nur geringe Hinweise auf Lungenblähung bei normalem Auskultationsbefund, normaler Atembreite und Normalbefund in der Spirometrie, nun ohne Hinweise auf obstruktive oder restriktive Lungenfunktionseinschränkungen. Damit ist eine Einschränkung der Lungenfunktion selbst geringen Grades, die nach Punkt 8.3 Anlage VersMedV einen Einzel-GdB von 20 bis 40 eröffnet, eigentlich nicht nachgewiesen. Denn eine solche Einschränkung setzt um bis zu 1/3 erniedrigte Messwerte gegenüber den Sollwerten voraus.

5. Für die Kunstlinsen beidseits ist angesichts des korrigierten Visus von 1,0 in Übereinstimmung mit B 4.2 Anlage VersMedV ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen, weil der sich aus der Sehschärfe selbst ergebende GdB angesichts des Visus von 1,0 zwar mit 0 anzusetzen ist, aber bei Linsenverlust beider Augen um 10 zu erhöhen ist.

6. Der Diabetes mellitus des Klägers vermag nach Überzeugung des Senats entgegen den Ausführungen von Dr. W. im streitgegenständlichen Zeitraum bis 20.03.2014 allerdings noch keinen Einzel-GdB von wenigstens 10 zu begründen. Denn wie Dr. W. selbst dargelegt hat, war das bis April 2014 eingesetzte Metformin ein Präparat, dessen Einnahme regelhaft nicht mit der Gefahr von Unterzuckerungszuständen - sogenannten Hypoglykämien - verbunden ist. Blutzuckerkontrollen erfolgten ausschließlich durch den Hausarzt, Entgleisungen sind nicht aufgetreten und eine diabetische Retinopathie lag beim Kläger nach Auskunft des Augenarztes nicht vor. Nach B 15.1 Anlage VersMedV erleiden an Diabetes erkrankte Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und deren Lebensführung somit kaum beeinträchtigt ist, auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdB rechtfertigt. Insbesondere vermag das Einhalten von Ernährungsvorschriften keinen GdB zu begründen. Der GdB beträgt daher bis zum 20.03.2014 0. Da im Zeitraum bis 20.03.2014, bis zur Umstellung der Medikation von Metformin auf Januvia und Novonorm, noch kein Einzel-GdB von 10 erreicht wird, kommt für diesen Zeitraum entgegen den Ausführungen von Dr. W. auch eine Aufnahme der Behinderung in den Bescheid nicht in Betracht.

7. Für den Tremor ist im Zeitraum bis 20.03.2014 nur ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Dieser Tremor in Form eines Nein-Sage-Tremor des Kopfes und eines diskreten Haltetremor der Hände mit Intentionstremor links ist mit nur geringen Einschränkungen beim Essen verbunden, während feinmotorische Tätigkeiten in Form des Knöpfens nach Beurteilung von Dr. W. nicht beeinträchtigt waren. Auch im Bericht der Neurologischen Abteilung der Klinik der B. B-Stadt über die Behandlungen von Juni 2014 wird nur ein leichtgradiger Kopftremor beschrieben. Angesichts der begrenzten aus dem Tremor resultierenden Beeinträchtigungen hat der Senat keine Bedenken, sich dieser Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. W. anzuschließen.

8. Eine depressive Störung im Sinne einer mäßig depressiven Symptomatik bzw. einer von den Angehörigen beobachteten Antriebshemmung wird erstmals im Rehabiliationsbericht der Klinik P. von August 2014 erwähnt. Im Übrigen hat Dr. W. überzeugend dargelegt, dass angesichts der Schilderungen des Klägers selbst und der Befunde bei gutachterlicher Untersuchung kein höherer GdB als 10 anzusetzen ist. Wesentliche Einschränkungen der Gestaltungsfähigkeit liegen nicht vor.

9. Dr. W. hat ferner schlüssig begründet, dass angesichts der vorliegenden Werte für Funktionseinschränkungen der Nieren erst ab Mai 2014 ein Einzel-GdB von 20 angesetzt werden kann. Denn nach B 12.1.3 Anlage VersMedV bedingt bei Nierenschäden mit Einschränkung der Nierenfunktion eine geringfügige Einschränkung der Kreatininclearance auf 50 - 80 ml/min bei im Normbereich liegenden Serumkreatininwerten keinen messbaren GdB. Eine Nierenfunktionseinschränkung leichten Grades, die einen GdB von 20 - 30 rechtfertigen kann, setzt bei Serumkreatininwerte unter 2 mg/dl eine Kreatininclearance von ca. 35 - 50 ml/Min. voraus. Dr. W. hat aber unter Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen herausgearbeitet, dass eine entsprechende Einschränkung der Kreatininwerte von 1,45 mg%, die einer Filtrationsrate im Bereich von 35 - 50 ml/Min. entspricht, erst ab Mai 2014 nachgewiesen ist. Soweit in einer Laboruntersuchung der A.Klinik im März 2013 einmalig ein Kreatininwert von 1,5 mg/dl gemessen worden war, ist darauf hinzuweisen, dass bereits bei Kontrollmessung im April in dieser Klinik der Kreatininwert wieder im Normbereich 1,2 mg/dl lag (vgl. Bericht vom 06.05.2013) und auch zuvor am 09.03.2013 der Kreatininwert bei 1,2 mg/ dl gelegen hatte. Eine dauerhafte Einschränkung der Nierenfunktion mit daraus folgendem Einzel-GdB von 20 lässt sich daher für die Zeit vor dem 20.03.2014 nicht belegen.

Wie die Ausführungen unter Punkt B 12.1 Anlage VersMedV zeigen, vermag ein Nierenschaden ohne nachgewiesene Beschwerden oder nachgewiesene Nierenfunktionseinschränkungen zumindest leichten Grades keinen Einzel-GdB von 20 oder mehr zu begründen. Die Beurteilung des GdB bei Schäden der Harnorgane richtet sich nach dem Ausmaß der Störungen der inkretorischen und exkretorischen Nierenfunktion und / oder des Harntransportes, das durch spezielle Untersuchungen zu erfassen ist.

Für eine Nierenfehlbildung (z.B. Zystennieren, Nierenzysten) ohne wesentliche Beschwerden und ohne Funktionseinschränkungen sieht die Anlage VersMedV einen GdB von 0 bis 10 vor. Für Nierenschäden ohne Einschränkung der Nierenfunktion (z.B. Glomerulopathien, tubulointerstitielle Nephropathien, vaskuläre Nephropathien), ohne Beschwerden, mit krankhaftem Harnbefund (Eiweiß- und / oder Erythrozyten- bzw. Leukozytenausscheidung) ist ferner ein GdB von 0 bis 10 vorgesehen. Aus den vorliegenden Unterlagen lassen sich im Zeitraum vor dem 20.03.2014 aber keine Beschwerden, Funktionseinschränkungen oder auffällige Harnbefunde entnehmen.

Aus diesem Grund kann für die Veränderungen im Bereich der rechten Niere bis 20.03.2014 kein Einzel-GdB von 10 oder mehr angesetzt werden. Selbst wenn unterstellt wird, dass die seit März 2013 dokumentierte Raumforderung im Bereich der rechten Niere schon den später diagnostizierten bösartigen Tumor umfasst hatte und dieser Tumor bereits bei Antragstellung am 08.04.2013 vorgelegen hatte, kann für diesen Nierenschaden mangels funktioneller Einschränkungen im Bereich der Nierenfunktion kein Einzel-GdB angesetzt werden. Der Senat kann daher offenlassen, ob der am 20.03.2014 entfernte bösartige Tumor mit den seit März 2013 in CT-Aufnahmen bzw. Sonographien sichtbaren Veränderungen in der rechten Niere identisch war oder nicht. Schon deswegen erübrigen sich weitergehende Ermittlungen hierzu wie die vom Kläger angeregte Befragung bzw. Einvernahme der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen oder als Sachverständige.

Der GdB von 60 für die Nierenerkrankung des Klägers kann nicht auf Beschwerden oder funktionelle Einschränkungen der Niere zurückgeführt werden, sondern wird allein auf die besondere Regelung zur Heilungsbewährung unter Punkt B 12.1.4 Anlage VersMedV gestützt. Dort heißt es: „Nach Entfernung eines malignen Nierentumors oder Nierenbeckentumors ist eine Heilungsbewährung abzuwarten. … GdB während einer Heilungsbewährung von fünf Jahren nach Entfernung eines Nierenzellkarzinoms (Hypernephrom) im Stadium (T1 [Grading ab G2], T2) N0 M0 60“.

Zur Heilungsbewährung führt die Anlage zur VersMedV unter Punkt A 2 h) aus, dass Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, beim GdS bzw. GdB nicht zu berücksichtigen sind. Die Notwendigkeit des Abwartens einer Heilungsbewährung stellt eine andere Situation dar; während der Zeit dieser Heilungsbewährung ist ein höherer GdS bzw. GdB gerechtfertigt, als er sich aus dem festgestellten Schaden ergibt.

Unter Punkt B 1c) Anlage VersMedV heißt es:

"Eine Heilungsbewährung ist abzuwarten nach Transplantationen innerer Organe und nach der Behandlung von Krankheiten, bei denen dies in der Tabelle vorgegeben ist. Dazu gehören vor allem bösartige Geschwulstkrankheiten.

Für die häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten sind im Folgenden Anhaltswerte für den GdS angegeben. Sie sind auf den Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen. Der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre; kürzere Zeiträume werden in der Tabelle vermerkt. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Der aufgeführte GdS bezieht den regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein. Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - z.B. lang dauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind zu berücksichtigen. Bei den im Folgenden nicht genannten malignen Geschwulstkrankheiten ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach der Geschwulstbeseitigung - ist in den Fällen, in denen der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden für sich allein keinen GdS von wenigstens 50 bedingt, im Allgemeinen nach Geschwulstbeseitigung im Frühstadium ein GdS von 50 und nach Geschwulstbeseitigung in höheren Stadien ein GdS von 80 angemessen."

Wie bereits in den vorangegangen gerichtlichen Hinweisschreiben dargelegt, trägt der Verordnungsgeber damit der Sondersituation bei bösartigen Geschwulsterkrankungen Rechnung, weil die mit einer solchen Erkrankung verbundenen funktionellen Einschränkungen regelmäßig nur einen niedrigeren GdB zulassen. Mit Blick auf die diversen Auswirkungen potentiell lebensbedrohlicher Geschwulsterkrankungen, u.a. in Form psychischer Belastungen oder umfangreicher belastender Therapiemaßnahmen, hat sich der Verordnungsgeber entschlossen, solchen Personen den Schwerbehindertenstatus und die damit einhergehenden Vergünstigungen zuzuordnen.

So hat das BSG im Urteil vom 09.08.1995 (9 RVs 14/94 - Juris RdNr. 12 f.) hinsichtlich einer Nierenentfernung wegen Krebserkrankung auf den weitgehend labilen postoperativen Zustand mit unbestimmter Zahl körperlicher und seelischer Störungen hingewiesen, der nach der medizinischen Erfahrung für fünf Jahre bestanden hat und für diese Zeit zu einer Höherbewertung des GdB geführt hatte. Durch die Höherstufung des GdB für die Zeit der Heilungsbewährung nach operativer Behandlung des Krebsleidens wird nicht nur die Redizivgefahr und die damit in der Regel verbundene Angst u.a. vor erneuter Erkrankung berücksichtigt. Vielmehr umfasst die sogenannte Heilungsbewährung daneben die vielfältigen Auswirkungen, die regelmäßig mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es laut BSG nach der sozialmedizinischen Erfahrung, bei Krebserkrankungen nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern unter Berücksichtigung der Krebserkrankung als solcher einen GdB von mindestens 50 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren aufgrund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind (vgl. BSG a.a.O. Juris RdNr. 13).

Da die operative Entfernung des bösartigen Tumors regelmäßig auch von ihm ausgehende funktionelle Einschränkungen beseitigt oder zumindest deutlich mindert, würde nämlich ohne die Sonderregelung der Heilungsbewährung im Zeitraum nach der operativen Entfernung des bösartigen Tumors in einer Vielzahl der Fälle der Schwerbehindertenstatus entfallen, weil verbliebene Funktionsstörungen allein einen entsprechenden GdB von mindestens 50 nicht mehr zu begründen vermögen.

Angesichts der eindeutigen Regelung zum maßgeblichen Beginn der Heilungsbewährung in Punkt B 1c) Anlage VersMedV - die Beseitigung der Geschwulst - kommt eine Anwendung der Heilungsbewährungsregelung unter Ziffer 12.1.4 für die Zeit vor der Operation am 20.03.2014 nicht in Betracht. Eine entsprechende bzw. analoge Anwendung dieser Sonderregelung ist auch nicht angezeigt, weil sich für die Zeit vor der Operation die Höhe des Einzel-GdB nach den nachgewiesenen funktionellen Einschränkungen durch die Geschwulsterkrankung richtet.

Wie bereits dargelegt, vermögen die organisch bedingten funktionellen Einschränkungen im Bereich der Niere aber vor Mai 2014 keinen Einzel-GdB zu begründen.

Ebensowenig sind psychische Gesundheitsstörungen des Klägers für die Zeit vor der Operation, z.B. eine ausgeprägte Angsterkrankung mit Blick auf die Raumforderung der rechten Niere, nachweisbar. Soweit der Kläger mittlerweile sinngemäß geltend macht, er habe bereits bei erstmaliger Feststellung der Raumforderung als Nebenbefund eines Thorax-CT vom 18.03.2013 von einer bösartigen Nierenerkrankung ausgehen müssen und sei wegen der Ungewissheit bzw. wegen der hohen Wahrscheinlichkeit einer bösartigen Erkrankung stärkeren psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen als nach der gelungenen Operation, genügt dies nach Überzeugung des Senats nicht. Zum einen sind die behandelnden Ärzte zunächst in ihren Berichten von einer bloßen Nierenzyste ausgegangen und haben erst nach weiteren Befunden im Januar 2014 und Februar 2014 eine operative Abklärung hinsichtlich einer bösartigen Erkrankung für notwendig gehalten. Diese Situation eines zunächst als harmlos eingestuften Befundes - nämlich einer Nierenzyste, der sicherheitshalber der Beobachtung bedarf - erscheint aus Sicht des Senats nicht annähernd vergleichbar mit derjenigen nach definitiver Gewissheit über eine bösartige Tumorerkrankung. Zum anderen sprechen die Äußerungen des Klägers selbst im Verwaltungsverfahren dagegen, dass er sich bereits ab Antragstellung aufgrund seiner Kenntnis von der Raumforderung der Niere psychisch belastet gefühlt hat. So hat der Kläger im Antragsformular mannigfaltige Gesundheitsstörungen einschließlich der Leberzyste erwähnt, aber keine Nierenzyste oder Nierenfunktionsstörung genannt. Die dort vermerkte „Stoffwechselstörung“ ist gänzlich unspezifisch und kann sich ebenso gut auf den Diabetes mellitus beziehen. In seiner Widerspruchsbegründung vom 27.12.2013 weist der Kläger zwar auf die Nierenzyste und Einschränkungen seiner Nierenfunktion hin; er erwähnt aber keine notwendigen Kontrollen und äußert auch keine Bedenken gegen deren Gutartigkeit. Nach den eigenen Schilderungen des Klägers waren alle behandelnden Ärzte zumindest bis Ende 2013 von einer bloßen Nierenzyste ausgegangen, so Prof. Dr. B. am 06.05.2013, Dr. G. am 16.09.2013 und Dr. S. am 17.12.2013.

Dr. S. erwähnt zwar im Arztbrief vom 17.12.2013 eine kleinste Nierenzyste zwar, spricht aber von einem insgesamt unauffälligen urologischen Befund. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat keinen Einzel-GdB für die Nierenerkrankung oder für psychische Gesundheitsstörungen im Zeitraum vor dem 20.03.2014 festzustellen. Es fehlt schon an objektiven Anhaltspunkte für psychische Störungen in diesem Zeitraum; insbesondere sind ärztliche (therapeutische oder medikamentöse) Behandlungen psychischer Beschwerden in diesem Zeitraum weder vorgetragen noch ersichtlich.

Angesichts der vor dem 20.03.2014 nachgewiesenen Behinderungen des Klägers und der daraus resultierenden Einzel-GdB-Werte vermag der Senat in Übereinstimmung mit Dr. W. und dem Beklagten keinen höheren Gesamt-GdB als 70 festzustellen.

Gemäß A 3 der Anlage VersMedV dürfen bei Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen die einzelnen Werte nicht addiert werden. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Zu beachten ist, dass die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander unterschiedlich sein können:

aa) Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen.

bb) Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken. Dies ist vor allem der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen oder Organen - also z.B. an beiden Armen oder beiden Beinen oder beiden Nieren oder beiden Augen - vorliegen.

cc) Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden.

dd) Die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung werden durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt.

ee) Von Ausnahmefällen (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdS bzw. GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS bzw. GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Wie bereits dargelegt, ist der Einzel-GdB von 50 für die Behinderungen im Bereich der Wirbelsäule sowie Polyneuropathie und der Einzel-GdB von 20 für die Lungenfunktionseinschränkung und Lungenblähung angesichts der daraus resultierenden Beeinträchtigungen als durchaus wohlwollend anzusehen. Zudem überschneiden sich Einschränkungen der allgemeinen Belastbarkeit aufgrund der Behinderungen des Herz-Kreislaufsystems, bewertet mit einem Einzel-GdB von 30, mit den Einschränkungen der pulmonalen Belastbarkeit wegen Lungenfunktionseinschränkung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Höherstufung des höchsten Einzel-GdB-Wertes 50 im Bereich Wirbelsäule unter Berücksichtigung der zusätzlich beeinträchtigenden Polyneuropathie aufgrund der Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Einzel-GdB von 30 auf insgesamt 70 als großzügig angesetzt, selbst unter Berücksichtigung der Lungenerkrankung. Keinesfalls können die Behinderungen im Bereich des Auges bei korrigiertem Visus von 1,0 und die Behinderungen durch Kopf- und Hand-Tremor, jeweils bewertet mit einem Einzel-GdB von 10, einen noch höheren Gesamt-GdB begründen. Eine Ausnahmesituation, vergleichbar dem Zusammentreffen hochgradiger Schwerhörigkeit mit schwerer beidseitiger Einschränkung des Sehvermögens, liegt eindeutig nicht vor. Die leichten Einschränkungen im Bereich Feinmotorik und Kopftremor wirken sich auf den Gesamtzustand des Klägers nicht wesentlich aus. Einschränkungen im Alltag aufgrund der Kunstlinsen sind angesichts des hervorragenden korrigierten Visus weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Berufung erweist sich damit als unbegründet.

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das Berufungsgericht hat gemäß § 193 SGG eine Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten insgesamt zu treffen. Dabei gilt hinsichtlich der Kostenentscheidung das Verbot einer reformatio in peius nicht (vgl. BSGE 62, 131, 136; BSGE 97, 153, 157; BSGE 98, 267, 277). Der Senat berücksichtigt bei der Kostenentscheidung insbesondere, dass der Kläger im Klageverfahren einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen B und aG geltend gemacht hatte bei bereits anerkanntem GdB von 70 und Merkzeichen G, dass der Beklagte umgehend nach Kenntnis von dem Tumorstadium nach Nieren-Operation ein Vergleichsangebot hinsichtlich des GdB von 100 unterbreitet hatte, dass der Beklagte mit Teil-Vergleich in der mündlichen Verhandlung vor dem SG rückwirkend ab 20.03.2014 das Merkzeichen B anerkannt hatte und dass der Kläger die Klage hinsichtlich des Merkzeichens aG in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint dem Senat eine Erstattung außergerichtlicher Kosten des Klägers angesichts des Teilerfolgs in der ersten Instanz bei vollumfänglichen Unterliegen in der Berufungsinstanz von 1/5 für beide Instanzen ausreichend und angemessen. Daher hat der Senat die entsprechende Kostengrundentscheidung des SG abgeändert (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage, zu § 193 SGG RdNr. 16).

C. Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor. Angesichts u.a. der klaren Regelung in der VersMedV zum Beginn der Heilungsbewährung ist auch insoweit entgegen des von Seiten des Klägers gestellten Antrags vom 21.03.2017 keine Zulassung der Revision geboten.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 22. März 2017 - L 2 SB 86/15

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 22. März 2017 - L 2 SB 86/15 zitiert 15 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 44 Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes


(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbrach

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 96


(1) Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. (2) Eine Abschrift des neuen Ver

Bundesversorgungsgesetz - BVG | § 30


(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereich

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 69 Kontinuität der Bemessungsgrundlage


Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnun

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung#F1_771649als deren Bestandteil festgelegt.

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 159 Mehrfachanrechnung


(1) Die Bundesagentur für Arbeit kann die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, besonders eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 155 Absatz 1 auf mehr als einen Pflichtarbeitsplatz, höchstens drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehind

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 70 Anpassung der Entgeltersatzleistungen


(1) Die Berechnungsgrundlage, die dem Krankengeld, dem Versorgungskrankengeld, dem Verletztengeld und dem Übergangsgeld zugrunde liegt, wird jeweils nach Ablauf eines Jahres ab dem Ende des Bemessungszeitraums an die Entwicklung der Bruttoarbeitsentg

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 22. März 2017 - L 2 SB 86/15 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 22. März 2017 - L 2 SB 86/15 zitiert 1 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundessozialgericht Urteil, 11. Aug. 2015 - B 9 SB 2/14 R

bei uns veröffentlicht am 11.08.2015

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2014 aufgehoben.

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Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

(1) Nach Klageerhebung wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt.

(2) Eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts ist dem Gericht mitzuteilen, bei dem das Verfahren anhängig ist.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

(1) Die Bundesagentur für Arbeit kann die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, besonders eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 155 Absatz 1 auf mehr als einen Pflichtarbeitsplatz, höchstens drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn dessen Teilhabe am Arbeitsleben auf besondere Schwierigkeiten stößt. Satz 1 gilt auch für schwerbehinderte Menschen im Anschluss an eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen und für teilzeitbeschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 158 Absatz 2.

(2) Ein schwerbehinderter Mensch, der beruflich ausgebildet wird, wird auf zwei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen angerechnet. Satz 1 gilt auch während der Zeit einer Ausbildung im Sinne des § 51 Absatz 2, die in einem Betrieb oder einer Dienststelle durchgeführt wird. Die Bundesagentur für Arbeit kann die Anrechnung auf drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen zulassen, wenn die Vermittlung in eine berufliche Ausbildungsstelle wegen Art oder Schwere der Behinderung auf besondere Schwierigkeiten stößt. Bei Übernahme in ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis durch den ausbildenden oder einen anderen Arbeitgeber im Anschluss an eine abgeschlossene Ausbildung wird der schwerbehinderte Mensch im ersten Jahr der Beschäftigung auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet; Absatz 1 bleibt unberührt.

(3) Bescheide über die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen auf mehr als drei Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen, die vor dem 1. August 1986 erlassen worden sind, gelten fort.

(1) Die Berechnungsgrundlage, die dem Krankengeld, dem Versorgungskrankengeld, dem Verletztengeld und dem Übergangsgeld zugrunde liegt, wird jeweils nach Ablauf eines Jahres ab dem Ende des Bemessungszeitraums an die Entwicklung der Bruttoarbeitsentgelte angepasst und zwar entsprechend der Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 Satz 1 des Sechsten Buches) vom vorvergangenen zum vergangenen Kalenderjahr.

(2) Der Anpassungsfaktor wird errechnet, indem die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer für das vergangene Kalenderjahr durch die entsprechenden Bruttolöhne und -gehälter für das vorvergangene Kalenderjahr geteilt werden; § 68 Absatz 7 und § 121 Absatz 1 des Sechsten Buches gelten entsprechend.

(3) Eine Anpassung nach Absatz 1 erfolgt, wenn der nach Absatz 2 berechnete Anpassungsfaktor den Wert 1,0000 überschreitet.

(4) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gibt jeweils zum 30. Juni eines Kalenderjahres den Anpassungsfaktor, der für die folgenden zwölf Monate maßgebend ist, im Bundesanzeiger bekannt.

(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.

(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn

1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann,
2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder
3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.

(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.

(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.

(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.

(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.

(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen

1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert,
2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
gemindert wird. Im übrigen gelten 50 vom Hundert des Vergleichseinkommens als dessen Nettobetrag.

(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem

1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird,
2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres,
3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und
4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
In den Fällen des Absatzes 11 tritt an die Stelle des Nettoeinkommens im Sinne des Satzes 1 der nach Absatz 7 ermittelte Nettobetrag des Durchschnittseinkommens.

(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.

(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.

(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.

(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.

(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.

(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:

a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist,
b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist,
c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte,
d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden,
e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.

(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.

(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist.

2

Bei dem 1959 geborenen Kläger sind seit 1997 eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung von 80) sowie eine "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (Merkzeichen "G") festgestellt. Beim Kläger liegt ein wechselndes Beschwerdebild am Oberschenkelstumpf vor, das dem Kläger die Benutzung seiner Prothese lediglich an knapp über 10 vH der Tage ermöglicht. Das Versorgungsamt des beklagten Freistaates anerkannte auf Antrag vom Januar 2011 beim Kläger einen GdB von 90 unter Berücksichtigung von Funktionsbeeinträchtigungen infolge eines Verlustes des Beines im rechten Oberschenkel mit einem Einzel-GdB von 80 sowie von Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20, verneinte aber das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 2.1.2012, Urteil des SG vom 8.11.2013; Urteil des LSG vom 20.5.2014). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, beim Kläger liege keine so weitgehende Einschränkung der Gehfähigkeit vor, wie sie für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" erforderlich sei. Eine Gleichstellung mit behinderten Menschen, die ein Regelbeispiel erfüllen, komme nicht in Betracht, weil hierdurch eine zeitliche Reduzierung der Dauerhaftigkeit der Einschränkung der Fortbewegungsfähigkeit unter Umgehung der Annahme eines Regelbeispiels nicht erreicht werden könne.

3

Mit seiner Revision rügt der Kläger, er sei "dauernd außerstande" eine Prothese zu tragen und mit der Gruppe der außergewöhnlich Gehbehinderten in Ziff 129 f Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) zu § 46 StVO gleichzustellen.

4

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2014 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 8. November 2013 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Januar 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen.

5

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs 2 S 2 SGG) begründet. Der Kläger begehrt die Verpflichtung des beklagten Freistaates Bayern, unter Abänderung des Bescheids vom 25.7.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.1.2012 (§ 95 SGG), mit Wirkung ab 8.1.2011 (Antragstellung) bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen. Seine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 SGG; siehe zur statthaften Klageart zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 24 mwN) ist zulässig. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG lassen jedoch keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob die Klage auch begründet und der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" führendes Regelbeispiel vor (dazu 1.). Ob der Kläger behinderten Menschen, bei denen dies der Fall ist, im Hinblick auf seinen Gesamtzustand gleichzustellen ist, kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilt werden (dazu 2.). Über das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "B" ist nicht mehr zu entscheiden, da der Kläger diesen Anspruch bereits vor dem SG nicht weiterverfolgt hat.

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1. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" führendes Regelbeispiel vor.

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a) Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ist § 69 Abs 4 SGB IX idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606). Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind (siehe zur Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale: BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81 - Juris RdNr 22 ff). Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG idF vom 3.2.2009 (BGBl I 150) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen iS von § 46 Abs 1 S 1 Nr 1 StVO nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" (die Kennzeichnung dieser Parkplätze erfolgt in der Regel durch die Zeichen 314 oder 315 mit den Zusatzzeichen "Rollstuhlfahrersymbol") und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen(zB vom eingeschränkten Haltverbot für die Dauer von drei Stunden; siehe zu weiteren Vergünstigungen BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R - Juris RdNr 12 und Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 15).

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Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO in der ab dem 1.9.2009 gültigen Fassung vom 17.7.2009 (BAnz 2009, Beilage Nr 110a vom 29.7.2009), die in der ab dem 18.11.2014 gültigen Fassung vom 17.11.2014 (www.bundesanzeiger.de.BAnz AT 17.11.2014 B 5) eine erneute Erweiterung insbesondere unter Nr 3 erfahren hat (siehe zu den Erweiterungen in RdNr 136 bis 139 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO auch Dau, jurisPR-SozR 21/2011 Anm 5). Die VwV-StVO selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Art 84 Abs 2 GG wirksam erlassen worden (vgl BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 S 3). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen

(1.)   

Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind - sog Regelbeispiele -, sowie

(2.)   

andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind - (vgl dazu BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R - Juris RdNr 13 mwN) - sog Gleichstellungsfälle (zu deren Voraussetzung unter 2.).

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Nach § 69 Abs 4 iVm § 69 Abs 1 S 5 SGB IX in der bis zum 14.1.2015 gültigen alten Fassung (aF) ist seit dem 21.12.2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs 17 (bzw Abs 16) BVG erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung) Bezug genommen, sodass seit dem 1.1.2009 die VersMedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl I 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - Juris RdNr 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7.1.2015 (BGBl II 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15.1.2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl § 159 Abs 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).

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Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV (AnlVersMedV) näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs 1 S 5 SGB IX aF(hierzu Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1.1.2009 in Kraft getretene AnlVersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (stRspr, zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R - RdNr 10 mwN; ebenso Loytved, jurisPR-SozR 12/2015 Anm 3). Im Übrigen übernimmt die AnlVersMedV in Teil D Nr 3 Buchst b) vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr 3 Buchst a) insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich ist in der AnlVersMedV unter Teil D Nr 3 Buchst c) folgende Ergänzung erfolgt:

        

"Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."

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b) Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ihrem Zweck entsprechend schon immer eng ausgelegt. Grundlage für die Einrichtung dieses Merkzeichens war und ist der Umstand, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150 S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG; siehe auch umfassende Darstellung in BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87). Das Merkzeichen "aG" soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 18 S 58). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 17; BSGE 82, 37, 39 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23 S 91). Dies gilt erst recht, weil nach Abschnitt I Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO noch weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zB die Ausnahme vom eingeschränkten Haltverbot, gewährt werden und sich der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen "aG" hinaus zunehmend auf andere Personengruppen erweitert(siehe unter Abschnitt II Nr 2 und 3 Buchst a) bis f); zB BR-Drucks vom 29.8.2008, 636/08 zu A und B).

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c) Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) liegen bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten Regelbeispiele in Abschnitt II Nr 1 S 2 Halbs 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO nicht vor. Dem Kläger ist eine Benutzung seiner Beinprothese noch an "knapp über 10 v.H. der Tage" möglich. Er gehört damit nicht zu den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die "dauernd" außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen und sich deshalb wegen der Schwere ihres Leidens "dauernd" nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.

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Unter Abschnitt II Nr 1 S 2 Halbs 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO sind bestimmte Regelbeispiele abschließend aufgeführt. Bei deren Vorliegen wird vermutet, dass sich die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kommt es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an (vgl zB BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23; BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R - Juris RdNr 14), selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen Allgemeinzustands und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler prothetischer Versorgung eine gute Gehfähigkeit besteht (vgl Bayerisches LSG Urteil vom 28.2.2013 - L 15 SB 113/11 - Juris RdNr 46 f).

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Der Grundsatz erfährt eine Ausnahme für die einseitig Oberschenkelamputierten, denen der Nachteilsausgleich "aG" nur zuerkannt werden kann, wenn sie nicht prothetisch versorgt werden können (vgl BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87). Anders als bei den übrigen Regelbeispielen gehören die einseitig Oberschenkelamputierten nur dann zu dem eng begrenzten Kreis der schwerbehinderten Menschen iS von Abschnitt II Nr 1 S 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO, wenn sie "dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen". Im Umkehrschluss gilt bei den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die noch ein Kunstbein tragen können, nicht die Vermutung von Satz 1, dass sie zu den Personen gehören, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Diese Behindertengruppe unterliegt bereits bei der Prüfung des Vorliegens eines Regelbeispiels einer pauschalen Gleichstellungsprüfung mit den anderen Gruppen, die sich durch Doppelamputationen oder weitergehende erhebliche körperliche Einschränkungen abgrenzen. Dabei gilt für die Dauerhaftigkeit des außerstande seins ein Kunstbein zu tragen ein anderer Maßstab als für den geforderten Dauerzustand nach Satz 1. Dem liegt allerdings ebenfalls kein individueller zeitlicher Maßstab zugrunde.

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"Dauernd außerstande" sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutet in diesem Zusammenhang prothetisch nicht versorgbar zu sein (vgl BSG aaO). Es darf keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene behinderte Mensch muss ständig bzw immer außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen. Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nach den Feststellungen des LSG noch nicht; er ist prothetisch versorgt, kann grundsätzlich eine Prothese tragen und ist nicht auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen.

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2. Die Feststellungen des LSG lassen keine abschließende Beurteilung zu, ob die Schwere der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigung dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichgestellt werden kann.

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Eine Gleichstellung setzt gemäß Abschnitt II Nr 1 S 2 Halbs 2 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO voraus, dass der betroffene Schwerbehinderte sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt II Nr 1 S 2 Halbs 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO genannten Personen, in deren Person ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können (BSGE 82, 37, 38 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 23 = Behindertenrecht 1998, 141, 142).

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Zwar bereitet der Vergleichsmaßstab naturgemäß Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im 1. Halbs aufgezählten Behindertengruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen - bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 S 3). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten zu vergleichenden Behindertengruppen kommt es jedoch nicht an (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22; BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23), zumal solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "aG" bezweckten Nachteilsausgleichs nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren, dh an Satz 1 Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO bzw § 6 Abs 1 Nr 14 StVG(BSGE 90, 180, 183 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 S 4).

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Auf der anderen Seite ist für die Gleichstellung am individuellen Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Hierzu zählen auch die einseitig Oberschenkelamputierten, die - wie der Kläger - grundsätzlich prothetisch versorgt werden können. Diese Personengruppe ist nicht von Halbs 2 ausgenommen, nur weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von Halbs 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben ist. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der Gleichstellungsprüfung nach Halbs 2 durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 18) oder prozentuale Zeitwerte - wie vom LSG errechnet - geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann ua Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl insgesamt BSG, aaO, RdNr 18 f). Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann zB erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern, diese darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann (BSG, aaO, RdNr 24; BSGE 90, 180, 184 f = SozR 3-3250 § 69 Nr 1).

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Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen dauerhaft vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in Art 3 Abs 1 GG in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (vgl BSG Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R - Juris RdNr 17).

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Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 21 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 11 S 45 = Breithaupt 1995, 623). An dieser oben dargestellten Rechtslage für die Zuerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" hat sich auch durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006; in Kraft getreten am 26.3.2009, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419; Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812) nichts geändert (vgl dazu Wendtland, Finale Betrachtungsweise bei Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" in Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Forum C Diskussionsbeitrag Nr 9/2011 vom 29.11.2011). Allerdings kann die UN-BRK als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden (vgl dazu allgemein BVerfG Beschluss vom 23.3.2011 - 2 BvR 882/09 - BVerfGE 128, 282, 306; BSGE 111, 79 = SozR 4-3520 § 7 Nr 1, RdNr 36). Insoweit ist entsprechend Art 1 der UN-BRK, wie bereits in § 2 Abs 1 SGB IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des behinderten Menschen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen(siehe hierzu insgesamt auch: Kroworsch, Einfluss internationaler Menschenrechtsübereinkommen auf die deutsche Sozialrechtspraxis, NDV 2015, 337 bis 343).

24

Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich nur, dass eine Gleichstellung in den Zeiten nicht gegeben sei, in denen der Kläger die Prothese zumutbar benutzen könne. Trotz mehrerer Narben liege am Stumpf ein Geschwürsleiden nicht vor und sei dieses ausreichend weichteilgedeckt. Auch aus der Hepatitiserkrankung folgten keine wesentlichen Einschränkungen, sodass sich der Kläger ohne fremde Hilfe und ohne große Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Für die Zeiten der Unbenutzbarkeit der Prothese wegen Stumpfbeschwerden hat das LSG jedoch lediglich das Vorliegen eines Regelbeispiels nach Halbs 1 geprüft und nach dessen Verneinung keine Gleichstellungsprüfung nach Halbs 2 mehr durchgeführt. Damit fehlt es insgesamt an der Feststellung und Gesamtwürdigung durch das LSG, ob sich der Kläger iS von Satz 1 wegen der Schwere seines Leidens (insgesamt) dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu fehlen Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Stumpfbeschwerden, den hieraus resultierenden Folgen (zB ausschließliche Benutzbarkeit von Gehhilfen, Gangunsicherheiten, Schmerzen oder Pausen) sowie eine Gesamtwürdigung aufgrund versorgungsärztlicher Feststellung iS von Halbs 2. Dies ist nunmehr nachzuholen. Das LSG hat nach Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung des orthopädischen Befundberichtes des Dr. Schneidehahn vom 11.2.2014 eine Verschlechterung im Bereich des Stumpfes angenommen mit der Folge, dass eine Benutzung der Prothese auf Dauer lediglich noch an "knapp über 10 vom Hundert der Tage möglich" sei. Diese selbst errechnete zeitliche Komponente unter Berücksichtigung des bis zum 20.5.2014 abgelaufenen Teils des Jahres 2014 entspricht jedoch keinem der oben genannten Bewertungsmaßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Das LSG hätte im Falle einer angenommenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes beim Kläger im Jahre 2014 eine ergänzende versorgungsärztliche Stellungnahme hierzu entsprechend den Vorgaben in Abschnitt II Nr 1 S 2 Halbs 2 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einholen müssen. Insoweit ist nunmehr auch nach der AnlVersMedV in Teil D Nr 3 Buchst c) bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist.

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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.