Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 05. Juli 2016 - L 15 BL 17/12

bei uns veröffentlicht am05.07.2016

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I.

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28. November 2012 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der Kläger ist 2004 geboren. Mit Bescheid vom 08.07.2009 wurden vom Beklagten ein GdB von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „aG“, „B“, „H“ und „RF“ festgestellt.

Am 06.03.2009 stellte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, Antrag auf Blindengeld beim Beklagten. Im Verwaltungsverfahren wertete der Beklagte die vorgelegten Unterlagen aus, wie den Bescheid der M. Pflegekasse vom 13.06.2008 bezüglich der Feststellung der Pflegestufe III und eine Reihe von medizinischen Berichten.

* Im Bericht der Klinik für Neuropädiatrie und neurologische Rehabilitation, Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche, Behandlungszentrum V., vom 25.08.2008 wurde darauf hingewiesen, dass die Grunderkrankung des Klägers nicht geklärt sei, es wurden vorsichtige Modifikationen der derzeitigen antiepileptischen Therapie empfohlen. Der Kläger wurde dort wegen fortschreitender geistiger Entwicklungsretadierung mit sprachlichem Schwerpunkt, fortschreitender Ataxie, Hypotonie und orofacialer Hypotonie sowie symptomatischer Epilepsie behandelt. Im Bericht wurde eine augenärztliche Untersuchung vom 08.07.2008 erwähnt, die ergeben hatte, dass eine Fixation beidseits nur auf große Objekte und Licht möglich sei; die Motilität sei frei, es seien kein Drift der Augen gesehen worden und auch kein Nystagmus, „keine Blickparese nach unten, weiterhin Visusminderung beidseits.“ Im Bericht wurden weiter objektive Refraktionswerte angegeben und die Empfehlung, zu versuchen, eine Brille zu tragen, ausgesprochen. * In der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde des UKR vom 21.08.2008 wurde der Verdacht auf Visusminderung im Rahmen eines Symptomkomplexes bisher unklarer Äthiologie als Diagnose festgestellt. Im Rahmen der Befunderhebung wurde festgestellt, dass keine Fixation aufgenommen worden sei, der Kläger habe jedoch zum Teil nach Gegenständen gegriffen. * Im Bericht der F-Klinik (Kinder- und Jugendmedizin) vom 08.04.2009 wurden die Diagnosen lokalisationsbezogene fokale partielle symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit komplexen fokalen Anfällen, schwere psychomotorische Retadierung bei unklarer Grunderkrankung und langzeitige Abhängigkeit vom Rollstuhl und Stuhlinkontinenz gestellt. Die Krampfanfälle seien eher unverändert geblieben, „jedoch gebesserte Motorik und Verhalten“, so dass nach früheren Rückschritten jetzt wieder eine Verbesserung eingetreten sei. Im Rahmen des Aufnahmebefundes wurde u. a. festhalten, dass mit dem Kläger wenig Kontaktaufnahme möglich sei.

Sodann fertigte die Augenärztin L. am 26.05.2009 im Auftrag des Beklagten ein Gutachten an. Die Ärztin stellte fest, dass beim Kläger eine Epilepsie und eine Entwicklungsstörung vorliegen würden. Nach Angaben der Mutter sei der Kläger als gesundes Kind geboren worden und habe auch erste Worte sprechen können, als die Anfälle begonnen hätten und damit ein Rückschritt im Entwicklungsstand des Klägers eingesetzt habe. Im Rahmen der Befunderhebung schilderte die Ärztin, dass der Kläger keinerlei Folgebewegungen (mit den Augen) gemacht habe, es sei zu keinem Zeitpunkt der Versuch einer Fixationsaufnahme erfolgt. Es lasse sich keine Reaktion erkennen auf Abdunkeln und plötzliches Erleuchten des Raumes, helles Licht im dunklen Raum, auf bewegte Personen, auf bewegte bunte oder schwarze Gegenstände oder auf schnelle angreifende Handbewegungen auf das Gesicht zu. Ausschließlich das bei der direkten und indirekten Fundusuntersuchung extrem helle Licht löse Abwehr in Form von Kneifen aus, sei aber auch hier nicht stark ausgeprägt. Soweit feststellbar, scheine das Abwehrverhalten bei Blendung des linken Auges etwas stärker als rechts, hier drehe der Kläger den Kopf etwas zur Seite. Als Diagnose stellte die Augenärztin eine generalisierte Störung der Hirnfunktion mit Störung aller Sinnesmodalitäten. Es lasse sich keine stärkere Beeinträchtigung des visuellen Systems im Vergleich zu den anderen Sinnesqualitäten feststellen. Damit sei Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht nachgewiesen. Vielmehr sei neben dem gleichermaßen ausgeprägten Fehlen adäquater Reaktionen auf visuelle, akustische oder taktile Reize auch ein Fehlen einiger Reflexe feststellbar sowie eine anormale Pupillen- und Bulbusmotilität, was auf eine Hirnstammbeteiligung schließen lasse.

Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 24.06.2009 den Blindengeldantrag ab. Nach dem o.g. augenärztlichen Gutachten und dem Bericht der F-Klinik liege beim Kläger eine schwere psychomotorische Retardierung bei unklarer Grunderkrankung vor, wobei sich eine generalisierte Störung der Hirnfunktion mit Störung aller Sinnesmodalitäten gezeigt habe. Das visuelle System sei im Vergleich zu den anderen Sinnesqualitäten nicht stärker beeinträchtigt. Morphologisch fänden sich an den Augen keine Befunde, die Blindheit beweisen oder nahelegen würden. Blindheit im Sinne des BayBlindG sei daher nicht nachgewiesen.

Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, am 11.07.2009 Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren wurden eine Reihe von weiteren ärztlichen Berichten ausgewertet. Im Arztbrief des Behandlungszentrums V. vom 25.04.2008 wurde u. a. der Normalbefund einer MRT vom August 2006 und eines cCT vom November 2007 festgehalten. Im craniellen MRT von Februar und April 2008 fanden sich im Wesentlichen unauffällige Befunde, lediglich die Weite der Liquorräume war betont. Im Rahmen der Messung visuell evozierter Potentiale (VEP) wurde auf eine schlechte Morphologie und schlechte Reproduzierbarkeit hingewiesen sowie auf verzögerte Reizleitungen. Es habe sich der Hinweis auf eine beidseitige Funktionsstörung der Sehbahn, links mehr als rechts, ergeben. Eine augenärztliche Untersuchung, so der Bericht, habe zunächst einen unauffälligen Befund ergeben. Für eine Woche habe der Kläger fast ausschließlich nach oben geblickt und die Augen nur selten in die Mittellinie bringen können.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.09.2009 wurde von der Ärztin Dr. P. festgestellt, dass (faktische) Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht nachgewiesen sei. Eine spezifische Sehstörung liege nicht vor. Der morphologische Befund an den Augen sei weitgehend unauffällig gewesen; Fixationsaufnahmen oder Folgebewegungen hätten nicht ausgelöst werden können etc. Das Kind reagiere jedoch ebenso wenig auf andere Reize. U. a. hat die Ärztin darauf hingewiesen, dass sich in der Bildgebung (MRT) weder umschriebene Veränderungen ischämischer, raumfordernder oder entzündlicher Natur gefunden hätten noch Allgemeinveränderungen der Hirnrinde (lediglich Weite der Liquorräume betont). Eine umschriebene oder abgrenzbare Schädigung im Bereich von Sehbahn bzw. Sehrinde sei somit nicht belegt.

Daraufhin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2009 den Widerspruch als unbegründet zurück. Beim Kläger, so die Begründung, liege eine generalisierte, fortschreitende psychomotorische Retardierung, verbunden mit einem hirnorganischen Anfallsleiden, vor. Ob neben der zerebralen Schädigung auch Blindheit oder eine andere Blindheit gleichzuachtende Sehstörung vorliege, habe nicht festgestellt werden können. Mitwirkungsabhängige Untersuchungen des Visus und des Gesichtsfeldes seien aufgrund des Gesundheitszustands des Klägers bei der augenärztlichen Untersuchung am 26.05.2009 nicht durchführbar gewesen. Morphologisch habe sich an den Augen kein Befund gefunden, der Blindheit beweisen oder nahelegen könne, so dass sich der objektive Nachweis von Blindheit im Sinne des Gesetzes nicht erbringen lasse. Nachdem beim Kläger klinisch nicht nur eine Störung des Sehens, sondern generell ein schwerer Entwicklungsrückstand vorliege, sei zu prüfen, ob faktische Blindheit als Folge einer Hirnschädigung in Kombination mit einer Schädigung der Augen bestehe. Beim Kläger sei die Wahrnehmung aber nicht nur im visuell/optischen Bereich herabgesetzt, das fehlende Sehvermögen sei vielmehr eingebettet in eine umfassende Wahrnehmungsstörung und könne nicht von der schwerstgradigen seelischgeistigen und körperlichen Behinderung abgegrenzt werden.

Hiergegen hat der Kläger, vertreten durch seine Eltern, am 12.10.2009 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Zur Begründung hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass nach der gegebenen Tatsachenlage eine der Blindheit gleich zu achtende Sehstörung gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG zum Antragszeitpunkt aufgrund der schwerwiegenden zerebralen Schädigungen vorgelegen habe und dass die auf anderen Feldern der Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten nicht so weit herabgesetzt seien, dass der Leistungsunterschied zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre. Er hat u. a. hervorgehoben, dass der Kläger keinerlei Folgebewegungen gemacht habe und dass zu keinem Zeitpunkt der Versuch einer Fixationsaufnahme erfolgt sei. Somit müsse davon ausgegangen werden, dass die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit so stark herabgesetzt sei, dass nicht einmal eine Lichtscheinwahrnehmung vorhanden sei. Die Feststellung, dass die übrigen Sinneswahrnehmungen ebenso stark reduziert seien, sei unzutreffend.

Mit Schreiben vom 26.05.2011 hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass nach den Gesamtumständen beim Kläger Blindheit im Sinne des Gesetzes vorliege; er hat ein augenärztliches Attest von Frau Dr. C. vom 12.04.2011 vorgelegt. Die Augenärztin hat in dem Attest ebenfalls berichtet, dass keine Fixation aufgenommen werde und der Kläger keinerlei Reaktion auf Lichtreize gezeigt habe. Morphologisch sei, soweit beurteilbar, ein regelrechter Befund gegeben.

Im Folgenden hat das SG zahlreiche medizinische Unterlagen eingeholt bzw. ausgewertet. In einem Attest des Kinderarztes Dr. L. vom 20.07.2011 ist bestätigt worden, dass es sich um eine bisher unklare Grunderkrankung handele. Im Entlassungsbericht des Klinikums C. vom 27.12.2006 ist im Rahmen der Anamneseerhebung festgehalten worden, dass der Kläger im September in Erlangen gewesen sei, wo seine Brille korrigiert worden sei; seitdem hätte sich eine deutliche Besserung in der Motorik ergeben. Im Bericht des Sozialpädiatrischen Zentrums C. vom 04.08.2006 sind als Diagnosen u. a. Hyperopie, Schielfehlsichtigkeit, Brillenversorgung, Abkleben gestellt worden. Seit einem Jahr sei der Kläger wegen Schielens mit einer Brille versorgt. In der zusammenfassenden Beurteilung ist u. a. hervorgehoben worden, dass die „deutliche visuelle Beeinträchtigung“ die Entwicklung des Klägers sicher verlangsamt bzw. eingeschränkt habe. Im Bericht vom 02.09.2008 ist der Verdacht auf eine zentrale Hör- und Sehminderung geäußert worden. Der Kläger reagiere im Rahmen der dortigen Untersuchung nur sicher auf intensive Farben; Blickkontakt sei dem Kläger immer nur kurz möglich. Ein Verfolgen sei ihm nur ansatzweise möglich. Im Bericht vom 11.11.2008 sind als Diagnose u. a. allgemeine einschließlich kognitive Entwicklungsstörung mit Hinweis auf einen neurodegenerativen Verlauf sowie Verdacht auf epileptische Encephalopathie mit beginnender Hirnatrophie festgehalten worden. Der Kläger zeige im Verlauf Entwicklungsrückschritte. Im Befundbericht der Augenärztin Dr. C. vom 20.09.2011 sind Strabismus convergens, Hyperopie, Astigmatismus und Verdacht auf kortikale Blindheit festgestellt worden. Seit Juli 2007 sei eine Verschlechterung des Allgemeinzustands eingetreten; damals sei noch eingeschränkte Kooperation möglich gewesen, derzeit erfolge keinerlei Reaktion.

Sodann hat das Gericht Prof. Dr. G. mit der Erstellung eines ophthalmologischen Sachverständigengutachtens beauftragt (§ 106 Sozialgerichtsgesetz - SGG). In seinem Gutachten vom 11.07.2012 hat Prof. Dr. G. geschildert, dass der Kläger während der gesamten Untersuchung im Rollstuhl gesessen sei und keinerlei Blickkontakt aufgenommen habe. Während der Untersuchung sei die Angabe der Eltern bestätigt worden, dass der Kläger auf Geräusche reagiere. Sobald der Kläger am Kopf berührt werde, z. B. im Rahmen einer Untersuchung, werde der Kopf gezielt nach unten im Sinne einer Abwehrreaktion geneigt. Die Stimme der Eltern und insbesondere der durch Streicheln entstehende Körperkontakt wirkten beruhigend auf den Kläger.

Der Gutachter hat für beide Augen folgenden Befund erhoben: „Die Lider sind in Form, Stellung und Beweglichkeit regelrecht. Die Bindehaut ist reizfrei. Die Hornhaut ist glatt, klar, spiegelnd. Die Vorderkammer ist mittelschief, optisch leer. Die Regenbogenhaut ist reizfrei, regelrecht gefügt. Die Pupille ist rund, mittelweit, nur angedeutete und unvollständige Reaktion auf kräftigen Lichtreiz, bei indirektem Lichtreiz (durch Beleuchtung des linken Auges) ebenfalls angedeutete konsensuelle Reaktion. Die Linse ist am Ort, klar, keine Verdichtung oder Trübung.“

Den Augenhintergrund hat der Gutachter wie folgt beurteilt: Der Sehnervenkopf sei regelrecht gefärbt mit kleiner zentraler Aushöhlung, im Netzhautniveau scharf begrenzt. Die Stelle des schärfsten Sehens zeige einen regelrechten Reflex. Die Gefäße seien in Verlauf und Kaliber regelrecht. Die Netzhaut liege, soweit einsehbar, überall an.

Eine Sehschärfeprüfung hat der Sachverständige nicht durchführen können. Weder im hellen noch im abgedunkelten Raum sei eine eindeutige Reaktion auf Licht erfolgt. Auch starkes Beleuchten mit der Bonnoskoplampe direkt auf das Auge, selbst bei schneller Annäherung der Lichtquelle, löse keinerlei Reaktion aus. Phasenweise scheine ein Lidschluss auslösbar. Fixationsaufnahme, Blickkontakt oder Auslösen von Folgebewegungen seien nicht möglich gewesen. Soweit beurteilbar, bestehe bei der Augenbeweglichkeit keine grobe Einschränkung. Die Pupillen seien beide mittelweit und reagierten nur angedeutet auf direkte Beleuchtung. Eine Gesichtsfeldprüfung hat der Sachverständige nicht durchgeführt.

Im Rahmen der Beurteilung hat Prof. Dr. G. festgestellt, dass der Kläger das Augenlicht somit nicht vollständig verloren habe. Die Reaktion des Klägers auf visuelle Reize hänge nicht ausschließlich vom Befund des Sehnervs, der Sehbahn und dem dargebotenen visuellen Reiz ab, sondern von höheren Zentren, die das, was der Kläger mit den Augen aufnehme, weiter verarbeiteten. Diese Zentren seien ohne Zweifel durch seine Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen. Summa summarum würde man, so der Sachverständige, eine hochgradige Beeinträchtigung des Sehvermögens vermuten. Der Gutachter hat aber nicht feststellen können, ob das Sehvermögen des Klägers einem Visus von 1/50 oder weniger entspricht. Eine visuelle Agnosie in ihrer typischen Form oder eine andere gnostische Störung in isolierter Form lägen nicht vor. Vielmehr scheine die Wahrnehmung auf allen Gebieten herabgesetzt bzw. massiv beeinträchtigt zu sein, wobei das visuelle System stärker betroffen sei als beispielsweise das taktile oder akustische, ohne dass dies in Zahlen ausgedrückt werden könne.

Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts hat der Sachverständige weiter festgestellt, dass zur Beantwortung der Beweisfragen ausschließlich die klinische Untersuchung eingesetzt worden sei. Messmethoden wie ein VECP seien beim Kläger nicht anwendbar. Die klinische Untersuchung könne dahingehend verifiziert werden, dass sie von anderen Untersuchern wiederholt werde. Er, der Gutachter, persönlich gewichte die Sehstörung, die beim Kläger vorliege, als so komplex und ausgeprägt, dass er sie mit einer faktischen Erblindung vergleichen würde.

Mit Schriftsatz vom 30.07.2012 hat der Bevollmächtigte seine Einschätzung wiedergegeben, dass beim Kläger offenkundig ein Grenzfall vorliege, bei dem sich selbst die Experten äußerst schwer täten, zu einem gesicherten wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen. Aufgrund der gutachterlichen Einschätzung teile die Klägerseite die mittlerweile geäußerte Auffassung des SG nicht, wonach der Vollbeweis der Erblindung nicht zu führen sei. Er, der Bevollmächtigte, komme zu dem Ergebnis, dass für die Experten mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer faktischen Erblindung auszugehen sei. Auch wenn dies wörtlich nicht so formuliert werde, müsse dieses Ergebnis im Wege der Auslegung der gutachterlichen Ausführungen angenommen werden.

Mit Gerichtsbescheid vom 28.11.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach Überzeugung des Gerichts der Blindheitsnachweis nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen nicht geführt werden könne. Eine hinreichende Beeinträchtigung der Sehschärfe sei nach dem Gutachten von Prof. Dr. G. im Hinblick auf die Feststellung von Restfunktionen des Sehvermögens nicht gegeben. Nicht zu folgen vermöge das SG der Äußerung des Gutachters, dass die Sehstörung einer faktischen Erblindung entspreche. Eine spezifische Sehstörung sei vorliegend nicht gegeben, ein Ermessen dem SG nicht eröffnet.

Hiergegen hat der Bevollmächtigte des Klägers am 27.12.2012 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) erhoben. Zur Begründung der Berufung hat der Bevollmächtigte im Wesentlichen darauf verwiesen, dass sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. G. nach klägerischer Auffassung Blindheit im Sinne des BayBlindG ergebe. Es handle sich um eine „andere Störung des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG, so dass diese Beeinträchtigung einer Sehschärfe gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 BayBlindG von 1/50 gleichzuachten sei. So sei das Gutachten von Prof. Dr. G. zu verstehen. Eine faktische Blindheit werde dort bejaht, dies werde durch die Verwendung des Wortes „würde“ nicht in Zweifel gezogen. Weiter hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass eine der Blindheit gleichzusetzende Sehbeeinträchtigung nicht nur in den vom SG aufgeführten Fällen, sondern auch dann vorliege, wenn diese Kriterien nicht nachweisbar seien. In jedem Einzelfall sei zu prüfen, ob die Sehstörung nach ihrem Schweregrad als gleichschwere Beeinträchtigung zu bewerten sei. Bei der Blindheitsbeurteilung dürften nämlich nicht nur Sehschärfe und Gesichtsfeld herangezogen werden, sondern es müssten alle Störungen des Sehvermögens Berücksichtigung finden. Weiter hat der Bevollmächtigte auf das Urteil des BSG vom 20.07.2005 (Az.: B 9a BL 1/05 R) hingewiesen.

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 25.04.2013 ist vom Beklagten vor allem darauf hingewiesen worden, dass in der Funktionsfähigkeit der verschiedenen Sinnesmodalitäten keine deutlichen Unterschiede bestehen würden. Weitere Untersuchungen, so die Ärztin Dr. P., seien im Hinblick auf die bisherigen aussagekräftigen Unterlagen nicht erforderlich und würden wohl auch keine neuen Erkenntnisse ergeben. (Faktische) Blindheit sei weiterhin nicht nachgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 09.04.2014 hat der Bevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Feststellung von Frau Dr. L. in krassem Widerspruch zu den Feststellungen von Prof. Dr. G. stehe; die Augenärztin habe zu dem Kläger keinen Zugang gefunden. Die gutachterliche Stellungnahme der Ärztin könne aufgrund der mangelhaft durchgeführten Untersuchung im Prozess nicht verwendet werden. Seit Sommer 2013 gehe es dem Kläger wieder zunehmend besser; so könne er mit einer geringfügigen Unterstützung jetzt wieder sitzen und versuche wieder, sich lautierend mitzuteilen. U. a. ist zudem darauf hingewiesen worden, dass eine Lehrkraft des Klägers bestätigen könne, dass bei diesem eine Wahrnehmungsfähigkeit deutlich vorhanden sei.

Im Folgenden ist das Berufungsverfahren wegen des Parallelverfahrens des Senats Aktenzeichen L 15 BL 5/11 und des sich beim Bundessozialgericht (BSG) anschließenden Revisionsverfahrens (Az.: B 9 BL 1/14 R) nicht weitergeführt worden. Auf gerichtliche Aufforderung hin hat sich der Beklagte dann mit Schriftsatz vom 29.02.2016 zum Verfahren mit Blick auf das zwischenzeitlich ergangene Revisionsurteil des BSG vom 11.08.2015 (Az.: B 9 BL 1/14 R) wie folgt geäußert: Entsprechend den Unterlagen des Behandlungszentrums V. und der Kinderklinik des Klinikums C. aus 2008 leide der heute elfjährige Kläger an einem Symptomenkomplex bisher unklarer Äthiologie mit fortschreitender geistiger Entwicklungsretardierung. Schwerpunkte seien sprachliche, fortschreitende Ataxie und Hypotonie sowie symptomatische Epilepsie. Alle Untersuchungen - einschließlich Stoffwechseldiagnostik und Bildgebung des Schädels - würden, so Dr. P., unauffällige Befunde zeigen. Bei dieser Befundlage könne nach Auffassung des Beklagten eine Sehstörung, die einer Erblindung gleichgesetzt werden könnte, nicht nachgewiesen werden. Die seit etwa dem zweiten Lebensjahr einsetzende Entwicklungsverzögerung mit Verschlechterung sowohl der motorischen als auch der kognitiven Funktionen habe in erster Linie das Sprachvermögen, den Gleichgewichtssinn und den Musekltonus betroffen, die Verarbeitung externer, vor allem taktiler, akustischer und visueller Reize sei erst im fortgeschrittenen Stadium bei Schädigung der höheren Hirnfunktionen zunehmend beeinträchtigt. Um das Ausmaß einer Sehbehinderung bestimmen zu können, müssten das Sehvermögen und die visuelle Wahrnehmung untersuchbar sein, was voraussetze, dass eine reproduzierbare Kommunikation möglich sei, z. B. in Form einer Ja-Nein-Kommunikation. Wenn jemand aufgrund schwerer Bewusstseinsstörungen nicht untersuchbar sei, könne die Frage, ob Blindheit vorliege, nicht beantwortet werden. Die Differenzierung zwischen Erkennen und Benennen sei im Urteil des BSG vom 11.08.2015 (a. a. O.) für obsolet erklärt worden. Für die Feststellung von Blindheit würden dagegen unverändert die Vorgaben der VG gelten, wonach der morphologische Befund die Sehstörung erklären oder zumindest in vernünftiger Weise sehr wahrscheinlich machen müsse. Zudem müsse eine Erkrankung vorliegen, die Blindheit verursachen könne. Beide Kriterien seien im Fall des Klägers nicht gegeben. Das BSG habe weiter den Grundsatz der objektiven Beweislast und das Fehlen von Beweiserleichterungen beim Blindheitsnachweis bekräftigt. Zusammenfassend sei festzustellen, dass vorliegend keine Blindheit gegeben sei.

Am 14.04.2016 hat der Bevollmächtigte erklärt, dass die Berufung nicht zurückgenommen werde. Alle entsprechenden Stellungnahmen (insbesondere der Ärztin L. sowie die versorgungsärztlichen Stellungnahmen) würden das Vorliegen einer Blindheit mit Verweis auf die nicht vorhandene besondere Betroffenheit des Sehsinns negieren. Gleichzeitig würden aber als Grundlage dieser Stellungnahmen Untersuchungsergebnisse herangezogen, die lediglich basale Reaktionen im Bereich des Sehens beschreiben würden. Zudem hat der Bevollmächtigte erneut auf die Einschätzung des Gutachters Prof. Dr. G. verwiesen. Blindheit sei damit spätestens ab dem Zeitpunkt der Gutachtenserstellung durch den genannten Sachverständigen nachgewiesen.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 28.11.2012 sowie den Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab März 2009 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten sowie der Gerichtsakten des Berufungs- und des erstinstanzlichen Verfahrens, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i. V. m. §§ 143, 151 SGG), jedoch nicht begründet. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Recht verneint. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 24.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 24.07.2013 (GVBl. S. 464) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG, an die sich der Senat gebunden fühlt, die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R).

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind.

Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):

aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben,

ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist,

ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt,

gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Zwar steht die Tatsache, dass bei ihm zerebrale Schäden vorliegen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Auch steht dem nicht im Wege, dass eine spezifische Störung des Sehvermögens im Hinblick auf andere Sinnesmodalitäten fraglich ist. Doch sind die vorstehend genannten Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen.

1. Beim Kläger liegt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R, und 11.08.2015, Az.: B 9 BL 1/14 R) stehen auch zerebrale Schäden, die - für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans - zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Diese Festlegung wird in der Literatur begrüßt (vgl. Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2015, S. 81, 82), wenngleich auch - zu Recht - auf sich hierdurch ergebende gravierende Schwierigkeiten in der Praxis bzgl. des Blindheitsnachweises aufmerksam gemacht wird (a. a. O.).

2. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens besteht beim Kläger eine hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen (vgl. das o.g. Gutachten von Prof. Dr. G.). Unklar bleibt, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten. Hierauf kommt es jedoch nicht (mehr) an. Soweit das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hatte, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hat es im Urteil vom 11.08.2015 (a. a. O.) hieran nicht mehr festgehalten. Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung hat sich das BSG aufgrund von Erkenntnisschwierigkeiten sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst gesehen (vgl. näher a. a. O.). Ebenfalls aufgegeben in der genannten Entscheidung hat das BSG die in der früheren Rechtsprechung getroffene Unterscheidung zwischen dem „Erkennen“ und dem „Benennen“ als so verstandene Teilaspekte bzw. Teilphasen des Sehvorgangs, da die Differenzierung gerade bei zerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen, d. h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist für den Anspruch auf Blindengeld vielmehr allein entscheidend, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch blind ist“.

Der Senat fühlt sich an diese (neue) Rechtsprechung des BSG gebunden.

Die bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer spezifischen Sehstörung hindert vorliegend die Annahme eines Blindengeldanspruchs also nicht.

3. Beim Kläger ist Blindheit jedoch nicht nachgewiesen.

Es liegt weder Lichtlosigkeit gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG vor noch sind die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 2 BayBlindG erfüllt. Es ist nicht zur Gewissheit des Senats dargelegt, dass der Kläger das Augenlicht vollständig verloren hätte oder dass die Sehschärfe des Klägers entsprechend der gesetzlichen Vorgabe auf 1/50 (0,02) oder weniger herabgesunken wäre (Nr. 1 der genannten Vorschrift). Gleiches gilt für eine der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachtende Sehstörung (Nr. 2).

Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteil vom 20.01.2015, Az.: L 15 BL 16/12) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).

Wie der Beklagte zutreffend annimmt, hat sich durch die neue Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten des Betroffenen (nun: optische Reizaufnahme und Verarbeitung etc.) unterhalb der vom BayBlindG vorgegebenen Blindheitsschwelle liegen, nichts geändert. Nach der Rechtsprechung des Senats kam es schon bisher in den Fällen umfangreicher zerebraler Schäden auf das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht (mehr) an, wenn bereits Zweifel am Vorliegen von Blindheit bestanden (Urteil vom 27.11.2013, Az.: L 15 BL 4/11). Der Blindheitsnachweis muss somit auch weiterhin erbracht werden (vgl. Braun, Neue Regeln für den Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, in: MedSach 2016, S. 134, 135: keine allgemeine „Entwarnung“).

a) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann der Kläger den Nachweis nicht führen, dass sein Sehvermögen unterhalb der gesetzlichen Blindheitsschwelle liegt. Dies ergibt sich bereits ohne Weiteres aus dem - mit Ausnahme der vom Sachverständigen getroffenen „persönlichen Einschätzung“ plausiblen - Gutachten vom Prof. Dr. G. vom 11.07.2012. Der Senat macht sich die getroffenen sachverständigen Feststellungen (mit der genannten Ausnahme) zu eigen. Entsprechend den nachvollziehbaren Darlegungen von Prof. Dr. G. hat der Kläger das Augenlicht nicht vollständig verloren, was sich bereits aus Untersuchungen mit dem Bonnoskop ergeben hat. Nach den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob die Beeinträchtigungen des Klägers so groß sind, dass sie selektiv das Sehvermögen so weit herabsetzen, dass dieses einem Visus von 1/50 oder weniger entspricht. Wie Prof. Dr. G. im Einzelnen dargelegt hat, ist die Angabe einer Sehschärfe des Klägers - auch eines Näherungswertes - und somit eine Einschätzung des Sehvermögens nicht sicher möglich. Die eingeschränkte Pupillenmotorik des Klägers legt eine hochgradige Sehbeeinträchtigung nahe; allerdings ist entsprechend den Feststellungen des Gutachters der Sehnerv auf beiden Augen vital und zeigt keinerlei Zeichen einer Atrophie. Eine direkte Läsion des Sehnervs oder eine solche der hinteren Sehbahn als alleinige Ursache für eine Visusherabsetzung ist sehr unwahrscheinlich, weil eine Läsion dort, wie Prof. Dr. G. plausibel dargestellt hat, durch eine sogenannte transsynaptische Degeneration zu einer Aufhellung des Sehnervs führen würde, die beim Kläger aber nicht zu erkennen ist. Wegen der aufgehobenen bzw. stark beeinträchtigten Kooperationsbereitschaft des Klägers ist eine Klärung des Sehvermögens durch den Einsatz von Messverfahren nicht möglich. Somit beruht die Einschätzung des Sehvermögens ausschließlich auf Reaktionen des Klägers auf angegebene Optotypen oder Lichtreize. Dies ist jedoch nicht ausreichend, um mit Sicherheit sagen zu können, ob das Sehvermögen 1/50 oder weniger oder vielleicht auch ein 1/20 oder weniger beträgt, wie der Sachverständige ausdrücklich klargestellt hat. Somit kann der Blindheitsnachweis nicht geführt werden, da eine Quantifizierung und Qualifizierung des Sehvermögens an den allgemeinen Beeinträchtigungen des Klägers und auch an den weiteren vorliegenden medizinischen Besonderheiten scheitert.

Hinzu kommt, dass, wie aufgrund des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme feststeht, kein objektiver Strukturbefund gegeben ist, der die massive Sehstörung bzw. eine mögliche Blindheit des Klägers erklären könnte. Wie der Beklagte zudem zutreffend darauf hingewiesen hat, gilt Entsprechendes auch für eine plausible Grunderkrankung, die zu einer Aufhebung des Sehvermögens führen würde.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Kläger gezeigten Sehleistungen. Der Klägerseite ist durchaus zuzugestehen, dass vorliegend lediglich Untersuchungsergebnisse gegeben sind, die im Wesentlichen nur basale Reaktionen im Bereich des Sehens beschreiben. Der Rückschluss der Klägerseite hieraus, der Kläger könne auch nur noch diese basalen Reaktionen zeigen, weil er zu weiteren visuellen Leistungen nicht (mehr) in der Lage sei, ist jedoch unzulässig. Denn, worauf auch der Beklagte zu Recht hingewiesen hat, „eine fehlende oder nicht adäquate Reaktion auf optische Reize“ kann „nur dann als Beleg für Blindheit gewertet werden, wenn bei erhaltener - teilweiser - Untersuchbarkeit eine zuverlässige reproduzierbare Kommunikation mit dem sehbehinderten Menschen möglich ist“ (vgl. Braun, a. a. O., S. 134). Für den Senat bleibt letztlich nicht aufklärbar, auf welchen Ursachen die sehr eingeschränkten Reaktionen im Bereich des Sehens beruhen; auf den fehlenden morphologischen Befund ist bereits hingewiesen worden.

Der Blindheitsnachweis ist im Übrigen auch keineswegs durch die abschließende Äußerung des Sachverständigen in seinem Gutachten geführt, er persönlich gewichte die Sehstörung des Klägers als so komplex und ausgeprägt, dass er sie mit einer faktischen Erblindung vergleichen würde. Diese „persönliche Einschätzung“, die bereits per se unzulässig ist, beruht nämlich auf der falschen, ausdrücklich geäußerten Annahme, die Frage nach einer Erblindung sei eine „reine Ermessensfrage“. Auch wenn dies sicherlich nicht im juristischen Sinn gemeint gewesen sein dürfte, so geht sie doch von der falschen Grundannahme aus, dass das Herabsinken des Sehvermögens unter die gesetzlich normierte Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG auch anhand sonstiger, nicht genau definierter Kriterien bestimmt bzw. angenommen werden könne. Dies ist unzutreffend.

Zwar hat der Senat in seinem Urteil vom 31.01.2013 (Az.: L 15 BL 6/07) im Einzelnen dargelegt, dass in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit auch außerhalb der normierten Fallgruppen der VG (bzw. der Richtlinien der DOG) nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Damit bedarf es in speziellen, seltenen Ausnahmefällen durchaus einer gewissen Wertung des medizinischen Sachverständigen, ob trotz der noch besseren Sehschärfe- und Gesichtsfeldwerte wegen zusätzlicher Einschränkungen der Sehleistung - also wegen der (nahezu) zwingenden Vergleichbarkeit des gemäß den gesetzlichen Vorgaben weitgehend eingeschränkten Visus/Gesichtsfelds einerseits mit der Situation von geringeren Einschränkungen (die jedoch immer noch erheblich sind) zuzüglich weiterer massiver Einschränkungen andererseits - der Fall des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Ziff. 2 BayBlindG gegeben ist.

Ein solcher Fall liegt hier aber gerade nicht vor. Denn die Voraussetzungen für die Annahme von Blindheit ausnahmsweise außerhalb der normierten Fallgruppen der VG bzw. DOG sind vorliegend nicht gegeben. Sie bestehen nämlich vor allem darin, dass die (Nicht-)Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 BayBlindG geklärt ist, dass also feststeht, ob das Sehvermögen unter die normierten Werte herabgesunken ist bzw. welche Werte im Einzelnen erreicht werden. So liegt es vorliegend jedoch gerade nicht, da, wie oben im Näheren dargelegt, nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, welches Sehvermögen der Kläger überhaupt hat. Es genügt jedoch nicht, dass nur feststeht, dass der Kläger ein sehr schlechtes Sehvermögen hat. Dies würde den vom bayerischen Gesetzgeber gemachten und von den VG bzw. den sachverständigen Festlegungen der DOG konkretisierten Vorgaben (s.o.) widersprechen. Der Gesetzgeber hat gerade keine hochgradige Sehbehinderung mit Werten unterhalb der hier maßgeblichen Grenze ausreichen lassen (kein Blindengeld für „beinahe blinde Menschen“). Die Wertung des Sachverständigen betrifft vorliegend also gar nicht die zusätzliche Berücksichtigung spezieller, weiterer Sehbeeinträchtigungen, sondern die Visus- und Gesichtsfeldwerte selbst. Dies ist nach der o.g. Rechtsprechung des Senats aber nicht zulässig.

Im Übrigen widerspricht die persönliche Gewichtung von Prof. Dr. G. - unabhängig von den eben aufgezeigten Aspekten bezüglich der Senatsrechtsprechung vom 31.01.2013 (a. a. O.) - seiner eigenen unmissverständlichen Feststellung, dass das Ausmaß der Sehbeeinträchtigung des Klägers eben nicht genau festgestellt werden kann.

b. Auch eine visuelle Verarbeitungsstörung ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.08.2015, a. a. O.) ist jedenfalls in den Fällen zerebraler Schäden ferner auch zu prüfen, ob die Fähigkeit zur „Verarbeitung im Bewusstsein“ des sehbehinderten Menschen beeinträchtigt bzw. aufgehoben ist. Ein solcher Nachweis kann vorliegend ebenfalls nicht geführt werden. Auch insoweit fehlt das morphologische Korrelat. Zudem ergibt auch das klinische Bild des Klägers vorliegend keine Belege und vor allem keinen sicheren Nachweis dafür, dass das Vermögen des nicht bewusstlosen Klägers, visuelle Reize zu verarbeiten, aufgehoben wäre. Insbesondere kann nicht sicher geklärt werden, weshalb der Kläger nur auf Lichtreize (schwach) reagiert. Neben einer visuellen Verarbeitungsstörung können auch sonstige Ursachen hierfür maßgeblich sein. Für den Senat liegen insoweit eine mangelnde Kooperationsbereitschaft (Motivationsstörung), worauf der Sachverständige hingewiesen hat, bzw. Defizite in den kognitiven Bereichen der Aufmerksamkeit (Wachsamkeit und Konzentration) und Gedächtnis als Ursachen sehr nahe (vgl. Braun/Zihl, a. a. O.).

Somit sind keine sicheren Anhaltspunkte für eine Verarbeitungsstörung gegeben, was im Hinblick auf die (weitgehend) unklare Grundproblematik der schweren Gesundheitsstörungen des Klägers nicht überrascht.

Aus Sicht des Senats ist es zwar nicht auszuschließen, dass der Kläger die Blindheitsschwelle des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG unterschritten hat. Dafür fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt - wie oben bereits erwähnt - der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z. B. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 11. Aufl., § 103, Rdnr. 19a, mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rspr.). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine (große) Ungewissheit bezüglich der für ihn - rechtlich, d. h. für den geltend gemachten Anspruch - günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen der Voraussetzungen der Blindheit gemäß Art. 1 Abs. 2 BayBlindG trägt der sehbehinderte Mensch die objektive Beweislast. Beweiserleichterungen gelten vorliegend nicht (vgl. Urteil des BSG vom 11.08.2015, a. a. O.; ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. auch Braun, a. a. O.).

Der Senat hat alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Gesichtspunkte, die zu weiteren Ermittlungen hätten veranlassen müssen, sind nicht erkennbar. Auch die Klägerseite hat die Auffassung vertreten, dass offenkundig keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten bestehen (Schriftsatz vom 20.07.2012).

Diesem vorliegend gefundenen Ergebnis steht auch nicht die frühere Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 27.11.1997, Az.: L 15 BL 10/96) entgegen. Damals hat der Senat einem Kleinkind, bei dem naturgemäß eine genaue Untersuchung nicht möglich war und das später eine Sehschärfe von 0,3 erreicht hat, Blindengeld zugesprochen. Er hat in der Begründung ausgeführt, dass die fehlenden Möglichkeiten apparativer Untersuchung einen gerichtlichen Sachverständigen nicht daran hindern können, seine ärztliche Erfahrung in die Beurteilung einzubringen und in Verbindung mit den vorliegenden Befunden daraus zu schließen, dass die Anspruchsvoraussetzungen für einen gewissen Zeitraum gegeben sind. Daraus ist abgeleitet worden, dass die Funktionsbestimmung gerade im Kindes- und Kleinkindalter unsicher sein könne und dass am besten entsprechende Nachuntersuchungen erfolgen sollten (z. B. Rohrschneider, Augenärztliche Begutachtung im sozialen Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit, in: MedSach, 1/2012, S. 9). Bereits hieraus wird aber deutlich, dass die Sachlagen nicht vergleichbar sind. Zwar ist auch vorliegend eine genauere Untersuchung nicht möglich. Der Senat hat jedoch in der damaligen Entscheidung auf eine rückschauende Beurteilung und die später gewonnenen Erkenntnisse, d. h. die später erhobenen genaueren Befunde abgestellt. Solche liegen im streitgegenständlichen Fall aber gerade nicht vor.

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

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Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayer. Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der Kläger ist 2005 geboren. Die Mutter des Klägers stellte beim Beklagten am 27.10.2006 Antrag auf Blindengeld. Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht der behandelnden Augenärzte ein, in dem ausgeführt wurde, dass es sich an beiden Augen des Klägers um eine vollständige Erblindung infolge einer fortgeschrittenen Opticus-atrophie und eine generelle Schädigung höher gelegener Sehzentren, die in Zusammenhang mit einer schweren allgemeinen cerebralen Schädigung stünden, handle. Zudem wertete der Beklagte den radiologischen Bericht bezüglich einer am 28.07.2005 angefertigten Magnetresonanztomographie (MRT) aus, der ausgedehnte überwiegend subcorticale Substanzdefekte bihemisphäreriell im Sinne einer multizystischen Enzephalomalazie beschrieb. Der im Auftrag des Beklagten tätige Neurologe und Psychiater Dr. B. stellte daraufhin fest, dass eine isolierte oder eindeutig bevorzugte Schädigung einzelner Rindenareale, wie z. B. zentraler Sehstrukturen, nicht festzustellen sei. Auf cerebrale Blindheit könne aus dem MRT-Befund nicht geschlossen werden. Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.07.2007 den Blindengeldantrag ab. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des BSG zur cerebralen Blindheit und auf die getroffenen o.g. Feststellungen lasse sich Blindheit im Sinne des BayBlindG nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen. Zusammenfassend könne bei schwerster Hirnschädigung des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass das Sehvermögen wesentlich stärker beeinträchtigt sei als die übrigen Sinnesmodalitäten.

Gegen den Ablehnungsbescheid erhob der Kläger am 29.08.2007 Widerspruch. Begründet wurde dieser damit, dass die Erblindung des Klägers auf eine Schädigung der Augen selbst zurückzuführen sei. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies die zuständige Ärztin des Beklagten darauf hin, dass die vorgelegten Befundberichte eine Schädigung der Augen nicht bestätigen würden. Ergänzend wies sie auf ein orthoptisches Beobachtungsprotokoll vom April 2006 hin, wonach der Kläger im abgedunkelten Raum kurze Fixation und ansatzweise Folgebewegungen aufgenommen habe. Auch diese Beobachtung belege, dass der Kläger nicht vollständig blind sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Das Vorliegen von Blindheit sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen.

Am 04.01.2008 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Diese ist damit begründet worden, dass die beim Kläger vorliegende Störung des Sehens bereits auf der Ebene des Erkennens liege, nicht erst auf der Ebene des Benennens. Die Schwere der Sehstörung sei so gravierend, dass sie einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleichzuachten sei. Die am 19.03.2009 stattgefundene (erste) mündliche Verhandlung ist zur weiteren Sachverhaltsaufklärung vertagt worden. In der Folge hat die Klägerseite zahlreiche medizinische Unterlagen eingereicht. In einem Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung Würzburg vom März 2009 ist u. a. hervorgehoben worden, dass der Kläger sehr spezielle Bedingungen und Angebote brauche, um seine basalen visuellen Fähigkeiten überhaupt einsetzen zu können. Im Attest der Kinderärztin Dr. L. (Univ. Klinikum Erlangen) vom 10.06.2009 ist ausgeführt worden, dass klinisch und aufgrund vorliegender Diagnosen von einer extremen Seheinschränkung bzw. Blindheit des Klägers auszugehen sei. Zu den vorgelegten Befundunterlagen hat sich der Beklagte dahingehend geäußert, dass sich der Kläger im vorgegebenen Rahmen weiter entwickelt habe, wobei die Aussage der Mutter, wonach die gute Entwicklung nicht das Sehvermögen betreffe, nach den Untersuchungsbefunden nicht bestätigt werden könne. Aus den dargestellten Beobachtungen etc. sei ersichtlich, dass der Kläger in allen Bereichen Entwicklungsfortschritte gemacht habe - und zwar auch im visuellen Bereich. Die beschriebenen Reaktionen auf akustische Reize würden nicht belegen, dass das Hören deutlich besser ausgeprägt sei als das Sehen; eine sinngebende Kommunikation sei offensichtlich auch über die Sprache nicht möglich. Die Hinwendungsreaktion zu akustischen Reizen dürfe, so die zuständige Ärztin des Beklagten, in etwa der Aufmerksamkeitsreaktion auf optische Reize entsprechen. Faktische Blindheit im Sinne der BSG-Rechtsprechung sei somit nicht belegt. Nach der zehnten Sitzung der beim Beklagten eingerichteten Kommission zur Beratung schwieriger Begutachtungsfälle nach dem BayBlindG am 28.06.2006 könne eine spezifische Störung des Sehvermögens nur dann bejaht werden, wenn bei ausreichender Kognition (d. h. bei ausreichend vorhandener Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisleistung) die Wahrnehmung in einer anderen Sinnesmodalität als der visuellen nachweislich besser sei mit der Möglichkeit einer reproduzierbaren Kontaktaufnahme.

Sodann hat das SG ein Sachverständigengutachten eingeholt. In seinem (nur vierseitigen) Gutachten vom 15.12.2009 hat der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Dr. H., Sozialpädiatrisches Zentrum des Frühdiagnosezentrums B-Stadt, festgestellt, dass der bei der Befunderhebung vier Jahre und sieben Monate alte Kläger keinerlei Fixieren gezeigt habe; die Augenbewegungen seien unkoordiniert gewesen. Im Rahmen der Beurteilung hat Dr. H. festgestellt, dass der Kläger elementare visuelle Reaktionen (z. B. Fixieren, Blickfolgebewegungen), die von gesunden Säuglingen im Alter von sechs bis acht Wochen mühelos bewältigt würden, allenfalls in Ansätzen zeige. Seine motorischen Reaktionen seien durch die Bewegungsstörung (spastische Tetraparese) stark eingeschränkt. Im Bereich der akustischen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen einschließlich deren Verarbeitung sowie der Stimm- und Lautproduktion zeige der Kläger Verhaltensweisen, die einem vier bis sechs Monate alten Säugling entsprächen. Insofern gehe er, Dr. H., von einer spezifischen Sehstörung („Störung des Erkennens“) aus.

Aus versorgungsärztlicher Sicht sei, so die Stellungnahme des Beklagten hierzu, die gegebene Begründung nicht ausreichend, um faktische Blindheit nachzuweisen. Insbesondere sei nicht geprüft worden, ob eine sinngebende Kommunikation über das Hören möglich sei. Im Fall des Klägers seien die Fähigkeiten der übrigen Sinneswahrnehmungen ebenfalls erheblich herabgesetzt, so dass trotz der zweifellos bestehenden Diskrepanzen der Leistungsunterschied nicht so ausgeprägt sei, dass von einer faktischen Blindheit ausgegangen werden könne. Beachtlich sei ein Leistungsunterschied dann, wenn über andere Sinneswahrnehmungen eine Kommunikation möglich wäre. Dafür gebe es hier jedoch keinen Beleg.

Im Auftrag des Gerichts hat der Sachverständige Dr. H. sodann am 22.03.2010 ergänzend Stellung genommen. Er hat dargelegt, dass eine Diskrepanz zwischen visuellen und nichtvisuellen Leistungen hinsichtlich der Entwicklung von zwei bis vier Monaten signifikant sei, da die frühkindliche Entwicklung sehr rasch verlaufe. Ob dieser Leistungsunterschied beachtlich sei, müsse auch aus der Perspektive des Kindes beurteilt werden. Weiter hat er hervorgehoben, dass „Kommunikation“ nicht unbedingt das Sprechen oder Verstehen von Sprache voraussetze, sondern auch in einem nonverbalen oder - bei Kleinkindern - auch in einem vorsprachlichen Bereich ablaufen könne.

Zu der ergänzenden Stellungnahme hat sich im Auftrag des Beklagten am 17.06.2010 die Diplompsychologin R.-T. geäußert. Diese hat sowohl das methodische Vorgehen als auch die Bewertung der angenommenen Diskrepanz zwischen visuellen und nichtvisuellen Leistungen durch Dr. H. kritisiert. So habe der Sachverständige hinsichtlich der nichtvisuellen Wahrnehmung lediglich Daten der Frühförderungsberichte sowie anamnestische Angaben verwendet, jedoch nicht selbst Erhebungen durchgeführt. Frau R.-T. hat auf gängige entwicklungsdiagnostische Verfahren wie die Griffith-Entwicklungsskalen (GES) verwiesen. Diese seien nötig, um zu einem beweiskräftigen Ergebnis zu kommen. Die Einschätzung des Entwicklungsalters geschehe anhand von standardisierten Entwicklungsskalen, die alle auf ähnlichen Konstruktionsprinzipien basierten. Die Diplompsychologin hat hervorgehoben, dass sich z. B. die Variationsbreite für die Aufgabe im Bereich Hören und Sprechen „spricht lallend mit freundlichen Personen“ auf einen Zeitraum von drei bis acht Monaten erstrecke, dass also einige wenige Kinder schon mit drei Monaten, manche erst mit acht Monaten dieses Verhalten zeigen würden. Es gebe also für ein und dasselbe Verhalten eine Entwicklungsspanne von fünf Monaten, die als normal anzusehen sei. Der von Dr. H. genannte Entwicklungsunterschied von zwei bis vier Monaten erlaube somit nicht den Rückschluss, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten.

Auch hierzu hat Dr. H. im Auftrag des SG Stellung genommen. In seiner Äußerung vom 06.07.2010 hat er hervorgehoben, dass das Verfahren an einem Bevölkerungsquerschnitt erprobt und normiert worden sei. „Schwierig werde es“ dann, wenn in einzelnen Funktionsbereichen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen starke Ausfälle vorlägen; bei mehrfach behinderten Kindern seien diese Verfahren nicht anwendbar. Näheres hat der Sachverständige nicht dargelegt. Man müsse daher mit deskreptiven Methoden auskommen, was aus einer wissenschaftlichen Sicht heraus sicher nicht befriedigend sei, zumal die Angaben zum Entwicklungsalter in der dieser Methode zugrundeliegenden Literatur nicht ganz einheitlich seien. Etwas Besseres gebe es seines, Dr. H., Wissens nicht. Wenn die Diplompsychologin kritisiere, dass er in seinem Gutachten zu wenig eigene Befunde beschrieben habe, müsse auf die Situation schwer und mehrfach behinderter Kinder bei Begutachtungen verwiesen werden. Die Möglichkeiten für den Gutachter seien hier sehr begrenzt. Im Folgenden hat Dr. H. noch eine „grundsätzliche Bemerkung zu der Begutachtungsproblematik“ getroffen. Gerade bei schwerstbehinderten Kindern komme man (vor allem im Hinblick auf die rechtliche Situation) in einen Beweisnotstand, da diese unter Umständen kein Blindengeld erhalten könnten, obwohl wissenschaftlich unumstritten sei, dass gerade diese Kinder häufig Sehstörungen bis hin zur Blindheit hätten. Dies sei „eine starke Herausforderung des Gerechtigkeitsempfindens“. Vor diesem Hintergrund halte er es für sinnvoll, den Ermessensspielraum zugunsten der Kläger zu nutzen, den das Urteil des BSG lasse, indem es nicht genau definiere, was „deutlich stärker betroffen“ bedeute.

Auf die mündliche Verhandlung vom 15.12.2010 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte verurteilt, dem Kläger ab 01.10.2006 Blindengeld zu gewähren. In den knappen Entscheidungsgründen des Urteils hat das Gericht ausgeführt, dass der Kläger nach gerichtlicher Überzeugung faktisch blind sei. Es gehe davon aus, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Dabei ist auf das Gutachten von Dr. H. verwiesen worden. Nach Überzeugung des Gerichts sei der besagte Entwicklungsunterschied mit Blick auf die rasch verlaufende frühkindliche Entwicklung als wesentlich einzuschätzen.

Gegen das Urteil hat der Beklagte am 07.03.2011 Berufung eingelegt. Die visuelle Wahrnehmung des Klägers, so der Beklagte, sei nicht deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Beim Kläger liege eine schwere Mehrfachbehinderung vor, die sich z. B. im Bereich der Mobilität und Kommunikation auswirke. Des Weiteren habe Dr. H. im Rahmen seiner Untersuchung aufgrund eigener Wahrnehmung gerade keinen Unterschied zwischen den Sinnesmodalitäten Sehen und Hören festgestellt bzw. keine ausführliche Verhaltensbeobachtung dargelegt, sondern darauf verwiesen, dass man anamnestische Angaben und Fremdbefunde verwerten müsse. Insoweit weise das Gutachten nach Auffassung des Beklagten einen schweren Mangel auf, da festgestellte Schwankungen in der Wahrnehmung in nichtvisuellen Modalitäten allein zugunsten des Klägers gewertet worden seien, obwohl z. B. im Entwicklungsbericht der Frühförderung vom März 2009 gerade auch im Bereich der visuellen Wahrnehmung gute Entwicklungsfortschritte beschrieben worden seien. Die Schlussfolgerung von Dr. H., dass der Entwicklungszustand des Klägers hinsichtlich der Modalität Sehen dem eines sechs bis acht Wochen alten Säuglings entspreche und hinsichtlich der anderen Modalitäten dem eines vier bis sechs Monate alten Säuglings, sei zweifelhaft, da zum Zeitpunkt der Untersuchung eine fundierte Verhaltensbeobachtung fehle. Unabhängig hiervon sehe der Beklagte bei dem inzwischen sechsjährigen Kläger bei einem unterstellten Entwicklungsunterschied von zwei bis viereinhalb Monaten die Maßgabe des BSG bezüglich des Nachweises einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens nicht als erfüllt an, da letztlich weiterhin insgesamt der Entwicklungsstand eines Säuglings bestehe. Zur Berufungsbegründung hat der Beklagte auch darauf hingewiesen, dass sich das SG nicht mit den Ausführungen der o.g. Diplompsychologin auseinander gesetzt habe, vor allem auch nicht mit der von ihr beschriebenen Variationsbreite in der Entwicklung einzelner Sinneswahrnehmungen. Bedenklich erscheine vor allem aber auch die grundsätzliche Bemerkung des vom SG beauftragten Sachverständigen zur Begutachtungsproblematik, die vermuten lasse, dass dem Sachverständigen der für das gesamte Sozialrecht maßgebliche Grundsatz der objektiven Beweislast nicht bekannt sei.

Zudem hat der Beklagte Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellt. Mit Beschluss vom 31.03.2011 (Az.: L 15 BL 3/11 ER) hat das LSG die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil ausgesetzt, soweit Blindengeldleistungen für Zeiträume vor Dezember 2010 betroffen seien. Auf weiteren Antrag des Beklagten hat das LSG sodann mit Beschluss vom 12.09.2012 (Az.: L 15 BL 7/12 ER) die Vollstreckung aus dem Urteil bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch ein Sachverständigengutachten von Dr. D., Kinder- und Jugendarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum D-Stadt. In seinem Gutachten vom 29.07.2012, dem die neuropädiatrische Untersuchung vom 14.03.2012 zugrunde gelegen hat, hat Dr. D. zunächst u. a. die Angaben der Mutter des Klägers festgehalten, dass Letzterer den Kopf in Richtung des Sprechenden drehe, dass ihm Singen Freude bereite, dass er das Geräusch des Mixers mit Essen in Verbindung bringe, dass der Kläger auch heute noch kein Gesicht fixiere und dass er in allen Entwicklungsbereichen Fortschritte gemacht habe; beim Sehen „komme jedoch gar nichts“. Die seit über fünf Jahren erhaltene Blindenfrühförderung sei, so die Mutter des Klägers, ohne Effekt geblieben. Dr. D. hat eine umfangreiche Befunderhebung durchgeführt. Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich aller Sinnesmodalitäten (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) sei nach den Untersuchungsergebnissen und nach den anamnestischen Angaben stark eingeschränkt. Allgemein hat er dann Folgendes erläutert: Anders als bei der akustischen Wahrnehmung könne die visuelle Wahrnehmung bewusst willkürlich abgeschaltet werden. Zu beachten sei auch, dass die Stelle des schärfsten Sehens bei Säuglingen im Abstand von ca. 20 bis 30 cm liege. Für den Kläger bedeute dies, dass er Personen oder Gegenstände in einem größeren Abstand nicht wahrnehmen könne. Das Gehör hingegen sei in der Lage, Geräusche aus dieser Entfernung sicher wahrzunehmen. Dieses zeige im Vergleich zum Auge keine so gute Anpassung an plötzliche Ereignisse. Auf ein lautes Geräusch sei Erschrecken eine physiologische Reaktion, die bereits beim hörenden Neugeborenen mit Hilfe des sog. Mororeflexes nachgewiesen werden könne; es komme zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit und einer motorischen Reaktion im Sinne einer Fluchtreaktion. Auf plötzliche optische Reize hingegen sei die erste Reaktion ein Zukneifen der Augen oder Verengung der Pupillen; es erfolge hier eine schnelle Adaption durch das visuelle System. Im Folgenden hat Dr. D. auf die Wertigkeit verschiedener Sinnesmodalitäten im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung aufmerksam gemacht. Bei schwergeschädigten Kindern sei es daher so, dass sie auf der Stufe der ersten Lebenswochen zurückbleiben würden, in der den auf den Körper unmittelbar einwirkenden Reizen (Berührung, Kinästhestik, Geschmack) mehr Aufmerksamkeit gelten würde als den in die Ferne gerichteten Sinnen, also den Seh- und Hörreizen. Um eine objektive Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Entwicklungsverzögerung zu erhalten, sei es in der Neuropädiatrie üblich, einen Entwicklungstest einzusetzen, der die Fähigkeiten des Kindes erfassen und abbilden könne (GES). Dabei handle es sich nicht um technische Messungen, sondern es würden die anamnestischen Angaben und die Beobachtung bei der Untersuchung einem Entwicklungsstand zugeordnet. Beim Kläger seien die Sinnesreaktionen der Telerezeptoren von Hören und Sehen nach der entwicklungsneurologischen Untersuchung nach Griffith als stark beeinträchtigt zu interpretieren. Gleiches gelte auch für den Bereich der Handmotorik. Auch wenn der Kläger nach seinem Alter bereits ein Schulkind sei, müsse er im Bereich seiner individuellen Entwicklung als Säugling eingeschätzt werden. In Zusammenschau aller Befunde lasse sich beim Kläger keine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen. Der Unterschied zwischen dem Bereich der visuellen Situation und dem Bereich des Hörens könne nicht als in diesem Sinne relevant herabgesetzt eingestuft werden, da es sich, wie oben beschrieben, um unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten handle. Die auditive Wahrnehmung sei immer aktiv, die visuelle Wahrnehmung müsse aktiv eingesetzt werden und löse üblicherweise auch eine motorische Antwort aus. Diese wiederum sei beim Kläger aber aufgrund der eingeschränkten motorischen Fähigkeiten nicht möglich. Auch dadurch könne der Eindruck entstehen, dass der Kläger vermeintlich besser höre als sehe. Aufgrund der o.g. Ergebnisse der Untersuchung zeige sich, dass der Kläger den eigenen Körper durch passive Bewegungen und Einflüsse durch seine Umwelt propriozeptiv wahrnehmen, sich jedoch nicht im Raum orientieren könne, da seine Haltungs- und Aufrichtungsstellreflexe sowie seine visuelle Wahrnehmung im Fernbereich nicht adäquat funktionieren würden. Primitive Massenbewegungen seien also möglich und bei guter passiver Stützfunktion könnten somit auch grobe zielmotorische Bewegungen erreicht werden. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger gleichwertig auf visuelle, akustische und sensible Reize reagiere. Die visuelle Wahrnehmung sei nicht deutlich stärker herabgesetzt als die Wahrnehmung in den anderen Sinnesmodalitäten.

Mit Schreiben vom 22.10.2012 hat die Mutter des Klägers zu dem Gutachten von Dr. D. Stellung genommen. Sie hat darauf hingewiesen, dass sich ihr Sohn trotz all den vielen Rückschlägen und Krankheiten entwickelt habe. Im Moment habe sie das Gefühl, dass dieser alles perfekt auf Knopfdruck können müsse, um als blind anerkannt zu werden. Der Kläger sei zwar schwer krank, er bekomme jedoch sehr viel mit und zeige es dann auf seine Art. Er liege nicht nur da wie ein null bis drei Monate altes Baby, sondern wolle am Leben teilnehmen, strahle dabei eine große Lebensqualität aus und setze all das um, was ihn fördere. Als Mutter, die sieben Jahre Tag und Nacht mit ihrem Kind verbracht habe, könne sie das aus menschlicher Sicht beurteilen. Innerhalb einer Stunde könne man kein Kind begutachten und alles aus ihm herausholen. Zudem hat die Klägerin ein Attest von Dr. B. (C. Kinderklinik) vom 15.10.2012 vorgelegt. Darin ist festgehalten worden, dass für eine adäquate Beurteilung des Zustandes des Klägers eine Untersuchung zum jetzigen Zeitpunkt deutlich günstiger sei, da der Kläger zwischen November 2011 und Januar 2012 für längere Zeit in stationärer Behandlung gewesen sei.

Am 26.07.2013 hat sodann Prof. Dr. E. auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein neuropädiatrisches Gutachten erstellt. Er hat auf die Angaben der Mutter des Klägers hin u. a. festgestellt, dass der Kläger ein eindeutiges Schmerz- und Kälteempfinden habe. Er könne essen sowie trinken und er schlucke weitgehend normal, was mindestens auf eine sehr ausgeprägte sensomotorische Kontrolle der Mund- und Schlundmuskulatur schließen lasse. Der Kläger könne eindeutig hören. Während der Untersuchung habe die Mutter den Jungen u. a. durch Kitzeln und liebevolle Ansprache zum Lachen bringen können. Nach Angaben der Mutter möge der Kläger schlechten Geruch nicht. Das Kind sei zum Zeitpunkt seiner, Prof. Dr. S., Untersuchung extrem mikrozephal. Es sei keinesfalls ein Kind im sog. vegetativen Status, er habe kein apallisches Syndrom. Das gesamte Ausmaß der afferenten Impulse sei beachtenswert, so dass der Kläger durchaus seine Umgebung so deutlich und differenziert wahrnehme, dass er aus diesen Sinnesqualitäten durchaus positive und negative Empfindungen, teilweise differenziert, unterscheide. Ganz anders bestellt sei es um die visuellen Reize. Der Kläger habe eine schwere, an Blindheit grenzende Sehstörung. Der Sachverständige hat auch den morphologischen Status des Klägers hervorgehoben. Wenn entsprechend dem ophthalmologischen Befund der Kläger erblindet sei, wenn Sehimpulse nicht mehr geleitet oder Seheindrücke am Ende der primären Sehbahn in der occipitalen Hirnrinde gar nicht mehr generiert werden könnten, dann sei die Sehfunktion auf eine sehr spezifische und spezielle Weise im Gegensatz zu den vielen anderen afferenten Sinneseindrücken weitgehend vollständig ausgefallen. Wenn die Summe der sonstigen afferenten Zuströme mit ihren Sinneseindrücken ebenso vollständig gestört wie die Sehfunktion wäre, dann müsste der Kläger, so Prof. Dr. E., mit seiner schweren geistigen Entwicklungsstörung, der Unfähigkeit zu sprechen und der schweren Tetraparese ein voll ausgeprägtes apallisches Syndrom haben. Die Möglichkeiten einer quantitativen Erfassung der Sehminderung seien beim Kläger bisher nicht ausreichend beachtet worden. Gut in der Routinediagnostik etablierte neurophysiologische Untersuchungen mittels evozierter Potentiale einerseits und MRT-Untersuchungen des Gehirns mit speziellen Untersuchungstechniken andererseits seien „mit gewissen Einschränkungen“ geeignet, um einer solchen Quantifizierung näher zu kommen. Auf diese Weise könne man auch bei schwerstbehinderten Menschen eine Hör- und Sehstörung teilweise auch quantitativ erfassen. An dieser Stelle solle, so Prof. Dr. E., nicht verschwiegen werden, dass der quantitative Vergleich von Sinneseindrücken aufgrund evozierter Potentiale in den verschiedenen sensorischen Bereichen problematisch bis unmöglich werden könne. Inwieweit nämlich unterschiedlich schwer beeinträchtigte und formveränderte evozierte Potentiale in ähnlicher Weise auch unterschiedlich ausgeprägte Sinnesqualitäten bedingen würden, sei je nach Schwere der abnormen neurophysiologischen Befunde nur eingeschränkt abschätzbar. Auch sei die Ableitung evozierter Potentiale bei einem so schwer behinderten Kind wie dem Kläger manchmal nur eingeschränkt möglich. Weiter halte er, Prof. Dr. E., den Aufwand solcher umfassender quantitativer Untersuchungen der sensorischen Afferenzen nicht für gerechtfertigt. Auch der Aufwand einer MRT-Untersuchung sei nur am schlafenden, d. h. am sedierten oder gar narkotisierten Kind möglich, sei also wegen der damit verbundenen Nebenwirkungen ärztlich ethisch schwer oder nicht vertretbar. Schließlich hat der Sachverständige auch auf die Durchführung einer Positronen-Emissions-Tomographie (PET) hingewiesen. Zusammenfassend hat Prof. Dr. E. festgestellt, dass aufgrund der vorliegenden klinischen Befunde eine weitgehende Störung der primären Sehbahn vorliege und dass diese Störung eher ausgedehnter sei als die Störung anderer afferenter Bahnen. Der Kläger habe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere, an Blindheit grenzende Sehstörung. Ob in diesem Fall Blindheit im Sinne des Gesetzes vorliege, erscheine ihm, Prof. Dr. E., erstens nicht ausreichend untersucht und zweitens hochproblematisch insofern, als ein Vergleich unterschiedlicher Sinnesqualitäten hinsichtlich ihres jeweiliges Schweregrades hochproblematisch erscheine und häufig speziell bei sehr schwer behinderten Menschen „mit unseren derzeitigen Möglichkeiten jedenfalls im Sinne einer evidenzbasierten Medizin nicht sicher zu entscheiden“ sei. Ganz sicher habe der Kläger eine spezifische und spezielle Störung seines Sehvermögens. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei die Sehfunktion auch stärker betroffen als die Summe aller anderen Empfindungsqualitäten, da das Kind nicht völlig von seiner Umgebung abgekoppelt sei. Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit sei vermutlich im Bereich aller Sinnesmodalitäten sehr eingeschränkt. Es erscheine ihm, Prof. Dr. E. sicher, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker herabgesetzt sei als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Durch die Anwendung spezieller Techniken sei eine weitergehende quantitative Analyse der Sehstörung wahrscheinlich möglich und - abhängig von den Befunden - unter bestimmten Umständen auch ein quantitativer Vergleich der verschiedenen Sinnesqualitäten.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 19.12.2013 hat der Beklagte erneut auf die Beratungen der Kommission für schwierige Begutachtungsfälle nach dem BayBlindG hingewiesen. Prof. Dr. E. habe keine Bewertung nach standardisierten Bedingungen vorgenommen, sondern (beim Hören) ausschließlich die anamnestischen Angaben der Eltern und die Interaktion der Mutter mit dem Kind dokumentiert. Es sei nicht vermerkt worden, ob der Kläger auf Ansprache gezielt reagiert oder einfache Aufforderungen befolgen habe können. Die von Prof. Dr. E. genannten speziellen Untersuchungstechniken wie z. B. die PET seien jedenfalls derzeit nicht geeignet. Weiterführende bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns seien aus versorgungsärztlicher Sicht daher weder erforderlich noch sinnvoll. Für die Frage der faktischen Blindheit im Sinne des BSG-Urteils vom 20.07.2005 sei primär der klinische Befund maßgeblich.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig (Art. 7 Abs. 3 BayBlindG i. V. m. §§ 143, 151 SGG) und begründet. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht. Dies hat das SG zu Unrecht bejaht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 31.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG v. 20.07.2011 (GVBl. Nr. 14/2011, S. 311) erhalten blinde Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder soweit die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 166 S. 1, ber. ABl L 200 S. 1, 2007 ABl L 204 S. 30) in der jeweils geltenden Fassung dies vorsieht, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Dabei beinhaltet nach der Rechtsprechung des BSG die Formulierung „zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen“ keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (Urteil vom 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R). Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind. Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.

Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 1/50 (0,02) oder weniger gleichzusetzende Sehstörung im Sinn des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG liegt, den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) folgend, bei folgenden Fallgruppen vor (siehe Teil A Nr. 6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VG, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung):

aa) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,033 (1/30) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 30° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, bb) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,05 (1/20) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 15° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, cc) bei einer Einengung des Gesichtsfeldes, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 (1/10) oder weniger die Grenze des Restgesichtsfelds in keiner Richtung mehr als 7,5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, dd) bei einer Einengung des Gesichtsfelds, auch bei normaler Sehschärfe, wenn die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5° vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50° unberücksichtigt bleiben, ee) bei großen Skotomen im zentralen Gesichtsfeldbereich, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und im 50°-Gesichtsfeld unterhalb des horizontalen Meridians mehr als die Hälfte ausgefallen ist, ff) bei homonymen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in der Horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt, gg) bei bitemporalen oder binasalen Hemianopsien, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und kein Binokularsehen besteht.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Blindengeld. Zwar ist der Senat überzeugt, dass beim Kläger die vorstehend genannten Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG erfüllt sind. Auch steht die Tatsache, dass cerebrale Schäden vorliegen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Doch kann beim Kläger eine spezifische Störung des Sehvermögens im Hinblick auf andere Sinnesmodalitäten nicht festgestellt werden.

1. Der Kläger ist - unabhängig von der Frage des Funktionierens der übrigen Sinne (s. hierzu Ziff. 3.) - blind. Diese Voraussetzung muss auch im Falle (umfangreicher) cerebraler Schäden nachgewiesen sein (vgl. das Urteil des Senats vom 27.11.2013, Az.: L 15 BL 4/11). Wie der Senat u. a. in den Entscheidungen vom 08.10.2013 (Az.: L 15 BL 2/09) und 27.11.2013 (Az.: L 15 BL 4/11) unterstrichen hat, sind nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d. h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92). Dabei ist im konkreten Fall u. a. auch zu beachten, „dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben, den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann“ (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl., S. 51 mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer), weil sich ein Warten auf neue und bessere (naturwissenschaftliche) Erkenntnisse aus naheliegenden Gründen verbietet.

Aufgrund einer perinatalen Asphyxie - nach Angaben des Bevollmächtigten des Klägers spielen hier medizinische Behandlungsfehler eine zentrale Rolle - ist beim Kläger eine Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel bzw. Minderdurchblutung mit Neugeborenenkrämpfen, Atemschwäche und Trinkschwäche aufgetreten. Im weiteren Verlauf hat sich ein Anfallsleiden und eine spastische Bewegungsstörung entwickelt. Beim Kläger besteht eine multizystische Enzephalomalazie, ein Mikrocephalus und eine schwere mentale Retardierung mit Intelligenzminderung. Die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit im Bereich der Sinnesmodalitäten ist stark eingeschränkt. Dies folgt aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, ergibt sich darüber hinaus bereits aus den zahlreichen vorliegenden Befundunterlagen und ist zwischen den Beteiligten auch nicht strittig.

Unter Beachtung der vorstehend genannten Beweisanforderungen steht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger blind ist. Dabei stützt sich der Senat auf die Gesamtheit der vorliegenden einschlägigen medizinisch-technischen Befunde, im Einzelnen auf die orthoptischen Beobachtungen, die nachgewiesene morphologische Situation sowie die weiteren medizinischen, vor allem ophthalmologischen und neuropädiatrischen Untersuchungsergebnisse. Der Senat macht sich diese sachverständigen Feststellungen zu eigen. Danach kann im Sinne der oben genannten Rechtsprechung gesagt werden, dass kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr daran zweifelt, dass der Kläger lediglich basale visuelle Fähigkeiten besitzt, die bereits unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Um diese basalen Fähigkeiten überhaupt einsetzen zu können, braucht der Kläger zudem sehr spezielle Bedingungen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.

2. Nach der Rechtsprechung des BSG (Entscheidungen vom 31.01.1995, Az.: 1 RS 1/93, 26.10.2004, Az.: B 7 SF 2/03 R, und 20.07.2005, Az.: B 9a BL 1/05 R) stehen auch cerebrale Schäden, die - für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans - zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, das heißt das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Benennen-Könnens erfüllen mithin die Voraussetzungen von Blindheit nicht.

Diese Rechtsprechung ist aus Sicht des Senats - nicht nur wegen der bereits durch das BSG in der Entscheidung vom 20.07.2005 (a. a. O.) hervorgehobenen Schwierigkeit der tatsächlichen Feststellungen („Im Einzelfall mag es sich allerdings als schwierig erweisen, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuordnen.“) - problematisch. Denn ihr scheint die auf Erkenntnissen der Psychologie basierende (vgl. d. Nachw. i. d. Gründen d. genannten Entscheidung) Annahme zugrunde zu liegen, dass der Wahrnehmungsvorgang einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Stufen darstellt. Dem ist jedoch nicht so. Wie dem Senat aufgrund zahlreicher anhängiger Berufungsverfahren zur Thematik „cerebrale Blindheit“ bekannt ist, entspricht eine solche vereinfachte (psychologische) Sichtweise nicht der Realität. Die vom Senat in dem bei ihm anhängigen Berufungsverfahren Az. L 15 BL 4/10 beauftragte biologisch-psychologische Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass eine - gedanklich mögliche - Aufteilung des Wahrnehmungsvorgangs in eine perzeptive, eine semantische und eine lexikalische Phase, was eine genauere Abgrenzung von Erkennen und Benennen ermöglichen würde, deswegen problematisch ist, weil eine stark parallelisierte, d. h. zeitgleiche Verarbeitung stattfinden dürfte. Zudem dürften aus Sicht des Senats auch die einzelnen Stufen nicht in jedem Fall mit der notwendigen Trennschärfe zu unterscheiden sein. Die o.g. Rechtsprechung des BSG hat denn auch keine klare Festlegung getroffen, ab welchem Punkt auf dem Weg des Sehens lediglich das Benennen betroffen ist.

Der Senat kann seine Bedenken vorliegend jedoch zurückstellen, da aufgrund der beim Kläger bestehenden Gegebenheiten hinsichtlich der Festlegung, ob das Erkennen betroffen ist, keine Entscheidung zu befürchten ist, die nicht sachgerecht wäre, und da Rechtsunsicherheit insoweit nicht im Raum steht. Denn beim Kläger liegt schon mit Blick auf die morphologische Situation der einfacher zu beurteilende Fall vor, dass der visuelle Informationsfluss bereits auf einer frühen Stufe behindert bzw. unterbrochen wird, so dass eine bloße Benennensstörung aus Sicht des Senats nicht in Frage kommt.

3. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 20.07.2005, a. a. O.) darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich, um von Blindheit im Sinne des Art. 1 Abs. 2 BayBlindG ausgehen zu können: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Diese vom BSG entwickelte zusätzliche Differenzierung beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden entspricht, wie der Senat bereits früher festgestellt hat (Urteile vom 17.01.2006, Az.: L 15 BL 1/05, und vom 17.07.2012, Az.: L 15 BL 11/08), dem sich aus den Motiven des BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995, S. 5) ergebenden Willen des Landesgesetzgebers insoweit, als dieser Leistungen nach dem BayBlindG aufgrund einer ausschließlich als Folge einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung der kognitiven Fähigkeiten bestehenden Unfähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ausschließen wollte. Der Senat sieht im Übrigen bereits mit Blick auf den Ausnahmecharakter des Blindengelds im System behinderungsbedingter Sozialleistungen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Erfordernis, die visuelle Wahrnehmung müsse für den Nachweis von Blindheit bei generalisierten cerebralen Schäden deutlich stärker als andere Sinnesmodalitäten betroffen sein, zu einer sachwidrigen Benachteiligung mehrfach schwerst wahrnehmungsbehinderter Menschen führen könnte (so bereits das Urteil des Senats vom 17.07.2012, a. a. O.; vgl. ferner Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen v. 20.01.2011, Az.: L 12 SB 54/09).

Dem entsprechend gilt das Erfordernis einer spezifischen Störung des Sehvermögens nicht nur für die Fälle einer faktischen Blindheit, sondern, wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat (Urteil vom 17.07.2012, a. a. O.) auch für die Anspruchsgrundlage des Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG, jedenfalls soweit die Ursachen der Blindheit wie hier in einem engen Zusammenhang mit der cerebralen Schädigung stehen. Ob bei Schädigungen bzw. Zerstörungen des Sehorgans ohne direkten Bezug zu den cerebralen Beeinträchtigungen des Großhirns - etwa im Falle eines Anophthalmus - etwas Anderes zu gelten hat, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, liegt aus Sicht des Senats jedoch nahe (vgl. a. a. O.).

a. Welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine spezifische Sehstörung angenommen werden kann, ist in der Rechtsprechung bisher nicht geklärt. In der genannten Entscheidung des BSG (Urteil vom 20.07.2005, a. a. O.) hat dieses lediglich festgelegt, dass es zum Nachweis einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens insoweit genüge, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Weiter ist der Entscheidung zu entnehmen, dass für die Annahme einer spezifischen Sehstörung eine gleichmäßige und „allgemeine“ Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten des Betroffenen nicht ausreicht und dass die auf anderen Feldern der Sinneswahrnehmung verbliebenen Fähigkeiten nicht ihrerseits soweit herabgesetzt sein dürfen, dass der Leistungsunterschied zur fehlenden visuellen Modalität unbeachtlich wäre.

Damit ist in keiner Weise geklärt, welche grundsätzlichen Kriterien für die Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten (s. im Folgenden aa.), welches Verfahren zur Feststellung hierfür (s. bb.) und welche Diskrepanzen zur Annahme einer spezifischen Sehstörung (s. cc.) erforderlich sind.

Der Senat trifft daher die folgenden Festlegungen:

aa. Bei der Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten ist auf das entsprechende Geschehen beim Betroffenen auf der Verhaltensebene abzustellen. Es kommt nicht auf durch technische Untersuchungen erkennbare Signale von Hirnaktivität wie etwa auf durch Reizapplikation ausgelöste Reaktionen an. Aufgrund der überzeugenden Darlegungen der vom Senat in dem bei ihm anhängigen o.g. Berufungsverfahren (Az.: L 15 BL 4/10) beauftragten neuropsychologischen/neurologischen Sachverständigen steht es zur Gewissheit des Senats fest, dass zwar z. B. das Vorhandensein eines neuronalen Korrelats unbedingte Voraussetzung für mentale Prozesse und Funktionen, wie sie auch die visuelle Wahrnehmung darstellt, ist, dass jedoch aus dem Vorhandensein einer neuronalen Aktivität - wie sie z. B. mit einem funktionellen MRT oder auch mit EEG-Verfahren gemessen werden kann - nicht auf das Vorhandensein der mentalen Funktion (wie der Wahrnehmungsfähigkeit) auf Verhaltens- und Erlebnisebene geschlossen werden kann. Der Beitrag technischer (z. B. bildgebender) Verfahren zum Nachweis von mentalen Zuständen (wie der Wahrnehmung) ist, wie die Sachverständigen dort überzeugend dargestellt haben - ferner ergibt sich dies auch aus den Darlegungen des vorliegend gemäß § 109 SGG beauftragten Sachverständigen zur Messung evozierter Potentiale („nur eingeschränkt abschätzbar“) -, jedenfalls als deutlich begrenzt anzusehen, wobei die Gründe hierfür im methodischen, im fachlichen und im erkenntnistheoretischen Bereich liegen. Vor allem aber besteht eine Inkompatibilität der Untersuchungsebenen, da die Wahrnehmung nicht durch kortikale Aktivitätsänderung, sondern durch die zur gehörigen Phänomene auf Verhaltensebene definiert ist. Relevant bei der Beurteilung einer Wahrnehmungsmodalität sind die bewussten Funktionen des jeweiligen Sinnes. Die unbewussten Funktionen, die überwiegend auf der Ebene des Hirnstammes oder Rückenmarks verschaltet sind und ein funktionierendes Großhirn dabei nicht benötigen, lassen - wie dem Senat aufgrund zahlreicher anhängiger Berufungsverfahren zur Thematik „cerebrale Blindheit“ bekannt ist - hinsichtlich der einzelnen Sinne keine Angaben zum Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen zu. Daher lassen sich zum Beispiel mit sog. Startle-Reaktionen (im Sinne einer raschen, schützenden Reflexantwort der Muskulatur auf überraschende Reize) keine Anhaltspunkte für das Funktionieren eines Sinns finden; insbesondere kann eine „visuelle“ Schreckreflexreaktion auch bei blinden Personen ausgelöst werden (vgl. hierzu die Entscheidungen des Senats vom 01.08.2006, Az.: L 15 BL 13/05, und vom 17.07.2012, Az.: L 15 BL 11/08). Startle-Reaktionen dürfen nicht als reizspezifische Antworten bzw. willkürliche motorische Reaktionen fehlgedeutet werden. Wie ebenfalls aufgrund der Darlegungen der vom Senat in dem o.g. Berufungsverfahren (Az.: L 15 BL 4/10) beauftragten neuropsychologischen/neurologischen Sachverständigen zur Überzeugung des Senats feststeht, umfasst Wahrnehmung nämlich alle Aktivitäten der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung, einschließlich der daran beteiligten kognitiven, motorischen und emotionalen Komponenten. Wahrnehmen und somit auch das Sehen findet nicht unabhängig von den anderen kognitiven Funktionssystemen (Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit etc.) statt, sondern „im Konzert“ mit diesen.

Diese (natur)wissenschaftlich-methodischen Erwägungen stehen schließlich in Einklang mit der rechtlichen Wertung, dass nämlich mit Blick auf die Zielsetzung des BayBlindG, blindheitsbedingte Mehraufwendungen auszugleichen, nur die Verhaltens- und Erlebnisebene beim betroffenen blinden Menschen relevant sein kann.

bb. Auch wenn bei der Beurteilung der Wahrnehmungsmodalitäten das entsprechende Geschehen beim Betroffenen auf der Verhaltensebene maßgeblich ist, so bedarf es dennoch mehr als einer bloßen Verhaltensbeobachtung, wie sie z. B. von (nahen) Angehörigen im täglichen Umgang mit den Betroffenen wahrgenommen wird. Erforderlich ist bereits aus Rechtssicherheitsgründen ein objektiviertes Prüfverfahren. Mit dem Sachverständigen Dr. D. und der vom Beklagten vorliegend beauftragten Diplompsychologin geht der Senat davon aus, dass es nicht genügt, wie dies der Gutachter des erstinstanzlichen Verfahrens getan hat, lediglich vorliegende Behandlungs- sowie anamnestische Daten zu verwenden und daraus - ohne ein entwicklungsdiagnostisches Verfahren anzuwenden - eigene Schlüsse zu ziehen. Vielmehr ist erforderlich, dass ein Sachverständiger im Rahmen der Untersuchung (auch) selbst Daten erhebt und diese bei der Gutachtenserstellung verwertet. Unabdingbar sind also die fachgerechte Durchführung wissenschaftlich anerkannter neuropsychologischer Untersuchungsverfahren; neben Anamnese, Exploration und Verhaltensbeobachtung sind hier Untersuchungen zu den relevanten psychischen Teilfunktionen gefordert. Darüber hinaus muss, wie dies durch die Diplompsychologin zu Recht gefordert und durch Dr. D. umgesetzt worden ist, ein Gutachten präzise Angaben zu Testdurchführung und Interpretation enthalten, so dass diese auch für einen fachkundigen Leser überprüfbar sind. Mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand versteht es sich weiter von selbst, dass alle relevanten Sinnesmodalitäten untersucht und im Gutachten im Einzelnen abgehandelt werden müssen.

Aufgrund der sachverständigen Äußerungen des Gutachters Dr. D. ist der Senat davon überzeugt, dass die GES im o.g. Sinn geeignet sind, um die Sinneswahrnehmungen vergleichend bewerten zu können; auch die sachkundige Stellungnahme der Kommission zur Beratung schwieriger Begutachtungsfälle hat ausdrücklich festgehalten, dass sich die GES in Fällen wie dem vorliegenden hierzu eignen. Es steht zur Gewissheit des Senats fest, dass die GES als allgemein anerkannte Grundlage für die Prüfung der einzelnen Sinneswahrnehmungen bzw. als Standard bei neuropädiatrischen Untersuchungen gelten und somit eine einheitliche und sachgerechte Beurteilungsgrundlage darstellen. Denn die Bandbreite der funktionellen Entwicklung ist auch bei schwerst- und mehrfach behinderten Kindern vorhanden und eine Orientierung an der bei gesunden Kindern regelhaft zu beobachtenden Entwicklung ist sachgerecht. Da vorliegend kein besonders gelagerter Sachverhalt und im Hinblick auf die möglichen Sinneswahrnehmungen kein Grenzfall vorliegen, ist für den Senat auch kein Ansatzpunkt dafür gegeben, weitere Beurteilungskriterien heranzuziehen. Hingegen können die von Dr. H. geäußerten Bedenken nicht überzeugen, dass das Verfahren an einem gesunden Bevölkerungsquerschnitt erprobt und normiert worden sei und es „dann schwierig“ werde, wenn in einzelnen Funktionsbereichen starke Ausfälle vorlägen, vor allem, dass bei mehrfach behinderten Kindern diese Verfahren nicht anwendbar seien. Denn Dr. H. hat seine Bedenken nicht differenziert darlegen und im Übrigen auch keinerlei Alternativen aufzeigen können.

cc. Mit Dr. D. geht der Senat davon aus, dass jedenfalls ein unter Anwendung der GES festgestellter Entwicklungsunterschied von zwei bis vier Monaten nicht signifikant ist, um eine spezifische Störung einzelner Sinnesmodalitäten annehmen zu können. Auch insoweit ist dem Sachverständigen Dr. H. nicht zu folgen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der sachverständigen Darstellung der o.g. Kommission - für den Senat sind im Übrigen keinerlei Anhaltspunkte für eine Parteilichkeit der Kommission o.ä. ersichtlich - dass die Entwicklung der einzelnen Sinneswahrnehmungen eben nicht gleichmäßig und auch nicht parallel verläuft. Zudem ist, wie Dr. D. nachvollziehbar herausgearbeitet hat, zu beachten, dass es sich bei den Sinnen um unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten handelt (vor allem zwischen Sehen einer- und Hören andererseits, s.o.). Hier ist auch aus diesem Grund - u. a. um die Auswirkungen möglicher Fehlinterpretationen zu minimieren (s.o.) - ein größerer Entwicklungsabstand zu fordern.

b.) Im Falle des Klägers steht eine spezifische Sehstörung nicht mit der erforderlichen Gewissheit fest und kann auch nicht nachgewiesen werden. Dies ergibt sich aus dem plausiblen und detaillierten Gutachten von Dr. D., das alle o.g. (a.) Kriterien berücksichtigt und erfüllt. Vielmehr hat die Testung nach den GES zu dem Ergebnis geführt, dass die visuelle Wahrnehmung nicht deutlich stärker herabgesetzt als die Wahrnehmung in den anderen Sinnesmodalitäten ist; das Entwicklungsalter bezüglich der Sinnesmodalitäten ist mit Dr. D. (ca. ein bis vier Monate) als gleichwertig einzustufen. Alle Items der GES haben sich im Maximum zwischen einem und vier Monaten bewegt. Sie sind somit nicht signifikant unterschiedlich. Weiter ist im Hinblick auf das Alter des Klägers Dr. D. auch darin zu folgen, dass in einer Gesamtsicht die individuelle Entwicklung zu betrachten ist: Auch wenn der Kläger bereits ein Schulkind ist, muss er im Bereich seiner individuellen Entwicklung insgesamt als Säugling eingeschätzt werden; hierbei ergibt sich auch keine Abweichung im Hinblick auf einzelne besser vorhandene Sinneswahrnehmungen auf einzelnen Gebieten. Die - insbesondere von Prof. Dr. E. festgestellten - Unterschiede sind im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers marginal. Dass beim Kläger keine spezifische Sehstörung vorliegt, ergibt sich nach Auffassung des Senats weiter auch daraus, dass die kognitive Wahrnehmungsfähigkeit, wovon auch der gemäß § 109 SGG beauftragte Sachverständige ausgeht, im Bereich aller Sinnesmodalitäten sehr eingeschränkt ist.

Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den Gutachten von Dr. H. und Prof. Dr. E ... Insbesondere die zweite ergänzende Stellungnahme des vom Sozialgericht beauftragten Sachverständigen gibt Anlass für erhebliche Bedenken an der Objektivität des Gutachters. Zudem genügt seine Begutachtung nicht den oben genannten Anforderungen (a.); vor allem fehlt es an einem standardisierten Verfahren. Auch das Gutachten von Prof. Dr. E. kann nicht nachweisen, dass der Kläger eine spezifische Sehstörung hätte. Dies ergibt sich bereits aus den vagen Formulierungen von Prof. Dr. E., der sich letztlich nicht sicher ist. Vor allem sind auch insoweit die oben genannten Kriterien (a.) nicht erfüllt. Letzteres gilt auch im Hinblick auf die Argumentation von Prof. Dr. E. mit dem morphologischen Befund des Klägers.

Im Übrigen ist der Senat davon überzeugt, dass die Untersuchung von Dr. D. den tatsächlichen Dauerzustand des Klägers wiedergegeben hat. Es besteht kein Hinweis darauf, dass aufgrund des Gesundheitszustands Mitte März 2012 die Untersuchungsergebnisse nicht verwertbar bzw. „verfälscht“ gewesen sein sollten. Insoweit findet sich kein Hinweis im Gutachten von Dr. D. und auch das von der Klägerseite vorgelegte Attest des Dr. B. stellt nur Behauptungen auf, liefert jedoch keine nähere Begründung. Vor allem ist nicht davon auszugehen, dass die gesundheitliche Situation des Klägers hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen nicht repräsentativ gewesen wäre; so spricht die Mutter des Klägers selbst von vielen „Höhen und Tiefen“ bzgl. der gesundheitlichen Situationen und Entwicklungsstadien ihres Sohnes.

Der Senat verkennt nicht, dass sich aus den Schilderungen der Mutter des Klägers Anhaltspunkte dafür ergeben, dass andere Sinne des Klägers besser funktionieren als die visuelle Wahrnehmung. Dies ändert jedoch nichts am Ergebnis des Verfahrens. Denn nach der vom Senat vertretenen Rechtsauffassung, die entscheidend auf Objektivität, wissenschaftliche Fundierung und Rechtssicherheit abstellt, kommt anamnestischen Angaben naher Angehöriger lediglich ergänzende Bedeutung insoweit zu, als diese Angaben vom Gutachter (näher) zu würdigen sind. Zudem steht, wie oben dargelegt, vorliegend fest, dass die kognitive Wahrnehmung des Klägers in allen Modalitäten erheblich eingeschränkt ist. Schließlich dürfte dem bei der Beurteilung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers für die Mutter bestehenden Vorteil, dass niemand ihren Sohn so gut kennt wie sie, die Problematik möglicher Fehlinterpretationen von einzelnen Reaktionen des Klägers gegenüber stehen; dem Senat ist bekannt, dass in vergleichbaren Fällen Angehörige z. B. Startle-Reaktionen („Schreckreaktionen“) oftmals fälschlich als Beleg für bewusstes Handeln aufgrund von Sinnesreizen deuten.

Für weitere Ermittlungen bestehen kein Anlass und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht. Dies sieht auch die Klägerseite so. Hinsichtlich der von Prof. Dr. E. ins Spiel gebrachten visuell und akustisch evozierten Potentiale und der MRT ergibt sich dies bereits aus dessen eigenen Feststellungen. Im Hinblick auf die PET ist aufgrund der sachkundigen Stellungnahme des Beklagten davon auszugehen, dass insoweit - jedenfalls derzeit - keine Eignung für Gutachten vorliegt: Danach werden Untersuchungsverfahren wie PET weder routinemäßig eingesetzt noch sind sie für Gutachten ausreichend evaluiert, so dass eine valide Aussage auf dieser Grundlage schon aus diesem Grund nicht möglich ist. Vor allem aber kommen aus Sicht des Senats mit Blick auf die oben angeführten grundsätzlichen Erwägungen (Ziff. 3.a. aa.) solche Ermittlungen in Fällen wie dem vorliegenden nicht in Betracht.

Die Berufung hat somit Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Blindengeld durch den Beklagten.

Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage gegen die angefochtenen Verwaltungsakte des Beklagten ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat lässt die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu, weil er vor allem folgende Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig hält:

1. Wie ist die - dem Erfordernis einer spezifischen Sehstörung zugrunde liegende - Abgrenzung beim Sehvorgang zwischen dem Erkennen und dem Benennen im Hinblick auf die oben geschilderten Problematiken rechtssicher vorzunehmen? 2. Welche grundsätzlichen Kriterien gelten für die Beurteilung der einzelnen Wahrnehmungsmodalitäten im Rahmen der Feststellung einer spezifischen Sehstörung? 3. Unter welchen Voraussetzungen liegt eine spezifische Sehstörung bei mehrfach behinderten Kindern vor? Insbesondere: a. Ist insoweit ein objektiviertes, anerkanntes Prüfverfahren erforderlich oder genügen Anamneseerhebungen (und damit übereinstimmende Beobachtungen bei den Begutachtungsuntersuchungen)? b. Stellen die GES ein geeignetes Instrument dar, falls ein anerkanntes Prüfverfahren erforderlich ist? c. Welcher bei Anwendung der GES festgestellte Entwicklungsunterschied ist für die Annahme einer spezifischen Sehstörung maßgeblich, falls die GES ein geeignetes Instrument darstellen?

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt die Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

2

Der Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Gehirnschäden. Diese führten unter anderem zu einem Anfallsleiden, einer spastischen Bewegungsstörung sowie zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen, so dass der Kläger nicht sehen kann.

3

Die allein sorgeberechtigte Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld (Bescheid vom 31.7.2007; Widerspruchsbescheid vom 4.12.2007).

4

Das SG hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger faktisch blind und seine visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung durch andere Sinnesorgane (Urteil vom 15.12.2010). Auf die Berufung des beklagten Freistaates hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage nach Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Kläger sei zwar faktisch blind. Auch stehe das Vorliegen cerebraler Schäden der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse für einen Anspruch auf Blindengeld jedoch im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen. Dies sei entgegen der Ansicht des SG beim Kläger nicht der Fall. Die Unterschiede bei den noch vorhandenen Sinneswahrnehmungen seien nach den eingeholten Gutachten im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers vielmehr marginal (Urteil vom 27.3.2014).

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 SGG, Art 1 Abs 2 BayBlindG). Die vom LSG gestellten Anforderungen an die Prüfung einer spezifischen Sehstörung seien mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar. Soweit gutachterlich zur Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Retardierung auf die sogenannten Griffiths Entwicklungsskalen (GES) zurückgegriffen worden sei, fehle es an einer allgemein anerkannten Grundlage für die Prüfung einzelner Sinneswahrnehmungen.

6

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückzuweisen.

7

Der beklagte Freistaat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er hält das Urteil für zutreffend.

9

Der Senat hat zu den GES als Methode der Diagnostik spezifischer Sehstörungen bei cerebral geschädigten Kindern Auskünfte der Gesellschaft für Neuropädiatrie und des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeholt.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG.

11

1. Der Senat ist, obwohl in der Sache um die Auslegung bayerischen und damit an sich irreversiblen Landesrechts gestritten wird, nicht an einer Sachentscheidung gehindert.

12

Nach § 162 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Zwar erstreckt sich das BayBlindG nicht über den Freistaat Bayern und damit den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus. Revisibilität von Landesrecht hat das BSG jedoch auch angenommen, wenn inhaltsgleiche Vorschriften verschiedener Länder in den Bezirken verschiedener LSG gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig, sondern im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 162 RdNr 5a mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 17 f mwN). Letzteres hat das BSG in ständiger Rechtsprechung auch für den Begriff der Blindheit nach dem BayBlindG angenommen. Der dort verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch die in den Bezirken anderer LSG geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde legen (zB für NRW § 1 Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25.11.1997, GVBl S 430 idF des Gesetzes vom 5.4.2005, GVBl S 332). Übereinstimmung besteht zudem mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB XII, auf den im Schwerbehindertenrecht(§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehindertenausweisverordnung) Bezug genommen wird (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004, SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 5; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R, BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 6 mwN).

13

2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers ist begründet. Der allein gegenständliche Bescheid vom 31.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2007, mit dem der Beklagte dem Kläger Blindengeld versagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Antragstellung Anspruch auf Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG. Er ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu a). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass beim Kläger auch weitere Sinnesorgane wie das Hörvermögen oder der Tastsinn nicht weniger auf Schwerste beeinträchtigt sind (dazu b).

14

a) Monatliches Blindengeld nach dem BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder durch die VO (EG) Nr 883/2004 gleichgestellt sind, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013, GVBl 2013, 464). Dies ist beim Kläger der Fall. Er lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes.

15

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen hierdurch (Nr 1) nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG; zur Entwicklung des Begriffs "Blindheit" vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4).

16

Dies ist beim Kläger der Fall. Nach den Feststellungen des LSG besitzt er lediglich basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.

17

Dabei kann es sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie auf einer Schädigung des optischen Sehapparates, einer Hirnschädigung oder einer Kombination denkbarer Ursachen beruht. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich und können zur Blindheit führen (etwa der Ausfall der Sehrinde , vgl auch Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c Versorgungsmedizin-Verordnung), und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Der erkennende, für das BayBlindG allein zuständige 9. Senat des BSG gibt insoweit seine bisherige anderslautende, an die Materialien zum Gesetzentwurf für ein BayBlindG anknüpfende Rechtsprechung auf.

18

Das BSG hatte bisher in Anlehnung an Empfehlungen der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim früheren Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA, Rundschreiben vom 16.2.1990) zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) unterschieden. Ausgangspunkt der Empfehlung war der Antrag eines Mädchens, das infolge einer Gewalttat unter einem apallischen Syndrom litt und die Versorgung mit einem Blindenführhund beantragt hatte. Der Sachverständigenbeirat beim BMA kam zu dem Ergebnis, dass bei einer solchen cerebralen Schädigung (dort als "Seelenblindheit" oder "visuelle Agnosie" bezeichnet) keine Blindheit vorliege; nicht das Sehvermögen mit dem Sehorgan im engeren Sinne sei beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit, das Gesehene geistig zu verarbeiten (vgl dazu Stefan Jungeblut, Nicht sehen können - doch nicht blind? in: Sozialrecht im Umbruch, 2010, S 69, 70). Das BSG hat bei seiner Differenzierung zwischen "Erkennens- und Benennungsstörungen" selbst darauf hingewiesen, dass es sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen könne, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuweisen (vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 5, Juris RdNr 34 zum Saarländischen Gesetz Nr 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe; zum BayBlindG wieder Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9-11).

19

Das BSG gibt diese Differenzierung nunmehr auf. Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, unter dem Begriff "Störungen des Sehvermögens" seien Störungen beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen (Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein BayBlindG, BayLT-Drucks 13/458 S 5; vgl zum Ausschluss jeder visuellen Agnosie nach Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c VersMedV; zur Teilnichtigkeit dieser Regelung SG Osnabrück Urteil vom 24.6.2009 - S 9 SB 231/07 mit Anm Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4), hat diese Differenzierung in Art 1 BayBlindG keinen normativen Niederschlag gefunden.

20

Die Differenzierung kann zudem gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen werden, dh die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setzt voraus, dass Untersuchungsfähigkeit gegeben ist; dazu gehören ua ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen (Mitteilung ua über das eigene Sehvermögen bzw Beschreiben von optischen Reizen) oder ausreichende Handfunktionen, etwa um Reaktionstasten im Rahmen perimetrischer Untersuchungen betätigen zu können (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81 ff; und sogleich unter 2b, aa).

21

Ein hinreichend sachlicher Grund für das Erfordernis einer genauen Lokalisierung der Sehstörung ist daher nicht nachweisbar. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch "blind" ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist (vgl Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 82: fehlende Trennschärfe visueller Verarbeitungsstrukturen; aA und für einen mehrstufigen Prozess weiterhin vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 20. Aufl, 2015, S 112 ff, 161 f).

22

b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass bei ihm darüber hinaus auch sonstige Sinnesorgane wie sein Hörvermögen oder der Tastsinn auf Schwerste beeinträchtigt sind. Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hat, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hält er auch daran nicht mehr fest (Aufgabe von BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Der Senat hat für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9). Zu einer Aufgabe dieser Rechtsprechung sieht sich der Senat aus den oben bereits angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten (dazu aa) sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst (dazu bb).

23

aa) Die Praxis der Instanzgerichte, darunter diejenige über den Anspruch des Klägers, zeigen, dass sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen lässt (vgl weiter zB Urteil des Bayerischen LSG vom 17.7.2012 - L 15 BL 11/08 - Juris RdNr 58 ff). Insoweit fehlt es an Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sowohl zu medizinisch sicheren Ergebnissen führt als auch ethisch vertretbar ist. Das Kriterium der "spezifischen Sehstörung" hat sich aus Sicht des Senates insgesamt als nicht praktikabel erwiesen, weil es zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen führt.

24

Anspruchsbegründende Tatsachen im Recht der sozialen Leistungen unterliegen grundsätzlich einem notwendigen Vollbeweis (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 15 RdNr 46), die Nichterweislichkeit geht zu Lasten des Klägers. Die Nichterweislichkeit ginge auch im Falle des bayerischen Blindengelds zu Lasten des Klägers (hierzu Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 228). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Kausalitätsfragen BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 6 RdNr 25). Besondere Vorschriften der Kriegsopferversorgung gelten im Rahmen des BayBlindG nur, soweit solche im SGG vorgesehen sind (vgl Art 7 Abs 3 S 2 BayBlindG, zB § 154 Abs 2 SGG; vgl BayLT-Drucks 13/458 S 6).

25

Die mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind, ist in Bezug auf die vorhandene medizinische Diagnostik zur Feststellung einer spezifischen Sehstörung nicht gerechtfertigt. Die Diagnostik spezifischer Sehstörungen insbesondere bei cerebral geschädigten Kindern ist beschränkt. Medizintechnische Untersuchungsmethoden sind - worauf in der Vorinstanz unangegriffen hingewiesen wurde - wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar, verbleibende Befragungen der Betreuungspersonen störanfällig, weil oftmals subjektiv gefärbt (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 83). Der Einsatz von Entwicklungsskalen hängt nach Auskunft der Gesellschaft für Neuropädiatrie maßgeblich von der Expertise des Testleiters ab. Die Anwendung der GES für Kleinkinder (im Alter von 0 bis 12 Monaten) auf ältere Kinder begünstigt weitere Unwägbarkeiten, unabhängig davon, ob sie dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Erfahrungswissens genügen, welcher im Rahmen der richterlichen Sachaufklärung (§ 103 SGG) verbindlich zugrunde zu legen wäre (vgl BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 63). Zweifel bestehen jedenfalls insofern auch in Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in ihrer S2k-Praxisleitlinie "Intelligenzminderung" von Dezember 2014 S 35 die GES (Brandt und Sticker 2001) wegen ihrer geringen Testgüte und mangels aktueller Normen für den diagnostischen Einsatz nicht einmal mehr empfohlen hat (abrufbar unter www.awmf.de).

26

bb) Vor allem aber lässt es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen (Hören, Tasten etc), sog spezifische Sehstörung. Hieran hält der Senat im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz nicht mehr fest (Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention, zur unmittelbaren Anwendbarkeit BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29 ff).

27

Abgesehen davon, dass sich bei schwersten cerebralen Schäden die mit dem Merkmal einer spezifischen Sehstörung angestrebte Begrenzung des blindengeldberechtigten Personenkreises angesichts des erhöhten Risikos von Zufallsergebnissen (dazu oben aa) nach derzeitigen Erkenntnissen nicht hinreichend rechtssicher erreichen lässt (zum vorgelagerten Aspekt einer genauen Abgrenzung des begünstigten Personenkreises bereits BVerfGE 37, 154, 155, 164 f), besteht auch sonst keine Möglichkeit die genannte Differenzierung zu rechtfertigen.

28

Der Senat sieht keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann (im Ergebnis ebenso bereits BVerfG Beschluss vom 7.5.1974 - 1 BvL 6/72 - BVerfGE 37, 154, 165 f zur Differenzierung zwischen zu einer zu fehlendem Sehvermögen führenden Beeinträchtigung der Sehschärfe und einer vergleichbar wirkenden Einschränkung des Gesichtsfeldes).

29

Zwar kommt in der früheren Rechtsprechung des BSG das Anliegen zum Ausdruck, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, weil Behinderungen solcher Art ggf durch anderweitige, auch einkommens- und vermögensunabhängige Sozialleistungen ausgeglichen werden, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (etwa Leistungen der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe, §§ 61 ff SGB XII; vgl Demmel, aaO, S 501 ff; zur Reform der Eingliederungshilfe durch Einführung eines Bundesteilhabegelds vgl Koalitionsvertrag 2013, S 111 abrufbar unter www.bundesregierung.de). Dies kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter jedoch nicht begründen.

30

Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedarf, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden können, keinen solchen sachlichen Grund dar. Zwar heißt es in Art 1 Abs 1 BayBlindG, das Blindengeld werde "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" gezahlt. Das BSG hat jedoch entsprechend der Praxis der zuständigen Behörden, ohne dass dem der Gesetzgeber entgegengetreten wäre, entschieden, dass das Blindengeld derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt wird. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreiben lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1, RdNr 10 und 11; BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1; BVerwGE 51, 281, 286). Insoweit hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.

31

Nach allem gilt: Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlich wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist und jedenfalls Anspruch auf Blindengeld hat.

32

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt die Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

2

Der Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Gehirnschäden. Diese führten unter anderem zu einem Anfallsleiden, einer spastischen Bewegungsstörung sowie zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen, so dass der Kläger nicht sehen kann.

3

Die allein sorgeberechtigte Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld (Bescheid vom 31.7.2007; Widerspruchsbescheid vom 4.12.2007).

4

Das SG hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger faktisch blind und seine visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung durch andere Sinnesorgane (Urteil vom 15.12.2010). Auf die Berufung des beklagten Freistaates hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage nach Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Kläger sei zwar faktisch blind. Auch stehe das Vorliegen cerebraler Schäden der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse für einen Anspruch auf Blindengeld jedoch im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen. Dies sei entgegen der Ansicht des SG beim Kläger nicht der Fall. Die Unterschiede bei den noch vorhandenen Sinneswahrnehmungen seien nach den eingeholten Gutachten im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers vielmehr marginal (Urteil vom 27.3.2014).

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 SGG, Art 1 Abs 2 BayBlindG). Die vom LSG gestellten Anforderungen an die Prüfung einer spezifischen Sehstörung seien mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar. Soweit gutachterlich zur Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Retardierung auf die sogenannten Griffiths Entwicklungsskalen (GES) zurückgegriffen worden sei, fehle es an einer allgemein anerkannten Grundlage für die Prüfung einzelner Sinneswahrnehmungen.

6

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückzuweisen.

7

Der beklagte Freistaat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er hält das Urteil für zutreffend.

9

Der Senat hat zu den GES als Methode der Diagnostik spezifischer Sehstörungen bei cerebral geschädigten Kindern Auskünfte der Gesellschaft für Neuropädiatrie und des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeholt.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG.

11

1. Der Senat ist, obwohl in der Sache um die Auslegung bayerischen und damit an sich irreversiblen Landesrechts gestritten wird, nicht an einer Sachentscheidung gehindert.

12

Nach § 162 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Zwar erstreckt sich das BayBlindG nicht über den Freistaat Bayern und damit den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus. Revisibilität von Landesrecht hat das BSG jedoch auch angenommen, wenn inhaltsgleiche Vorschriften verschiedener Länder in den Bezirken verschiedener LSG gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig, sondern im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 162 RdNr 5a mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 17 f mwN). Letzteres hat das BSG in ständiger Rechtsprechung auch für den Begriff der Blindheit nach dem BayBlindG angenommen. Der dort verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch die in den Bezirken anderer LSG geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde legen (zB für NRW § 1 Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25.11.1997, GVBl S 430 idF des Gesetzes vom 5.4.2005, GVBl S 332). Übereinstimmung besteht zudem mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB XII, auf den im Schwerbehindertenrecht(§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehindertenausweisverordnung) Bezug genommen wird (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004, SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 5; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R, BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 6 mwN).

13

2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers ist begründet. Der allein gegenständliche Bescheid vom 31.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2007, mit dem der Beklagte dem Kläger Blindengeld versagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Antragstellung Anspruch auf Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG. Er ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu a). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass beim Kläger auch weitere Sinnesorgane wie das Hörvermögen oder der Tastsinn nicht weniger auf Schwerste beeinträchtigt sind (dazu b).

14

a) Monatliches Blindengeld nach dem BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder durch die VO (EG) Nr 883/2004 gleichgestellt sind, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013, GVBl 2013, 464). Dies ist beim Kläger der Fall. Er lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes.

15

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen hierdurch (Nr 1) nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG; zur Entwicklung des Begriffs "Blindheit" vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4).

16

Dies ist beim Kläger der Fall. Nach den Feststellungen des LSG besitzt er lediglich basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.

17

Dabei kann es sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie auf einer Schädigung des optischen Sehapparates, einer Hirnschädigung oder einer Kombination denkbarer Ursachen beruht. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich und können zur Blindheit führen (etwa der Ausfall der Sehrinde , vgl auch Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c Versorgungsmedizin-Verordnung), und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Der erkennende, für das BayBlindG allein zuständige 9. Senat des BSG gibt insoweit seine bisherige anderslautende, an die Materialien zum Gesetzentwurf für ein BayBlindG anknüpfende Rechtsprechung auf.

18

Das BSG hatte bisher in Anlehnung an Empfehlungen der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim früheren Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA, Rundschreiben vom 16.2.1990) zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) unterschieden. Ausgangspunkt der Empfehlung war der Antrag eines Mädchens, das infolge einer Gewalttat unter einem apallischen Syndrom litt und die Versorgung mit einem Blindenführhund beantragt hatte. Der Sachverständigenbeirat beim BMA kam zu dem Ergebnis, dass bei einer solchen cerebralen Schädigung (dort als "Seelenblindheit" oder "visuelle Agnosie" bezeichnet) keine Blindheit vorliege; nicht das Sehvermögen mit dem Sehorgan im engeren Sinne sei beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit, das Gesehene geistig zu verarbeiten (vgl dazu Stefan Jungeblut, Nicht sehen können - doch nicht blind? in: Sozialrecht im Umbruch, 2010, S 69, 70). Das BSG hat bei seiner Differenzierung zwischen "Erkennens- und Benennungsstörungen" selbst darauf hingewiesen, dass es sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen könne, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuweisen (vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 5, Juris RdNr 34 zum Saarländischen Gesetz Nr 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe; zum BayBlindG wieder Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9-11).

19

Das BSG gibt diese Differenzierung nunmehr auf. Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, unter dem Begriff "Störungen des Sehvermögens" seien Störungen beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen (Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein BayBlindG, BayLT-Drucks 13/458 S 5; vgl zum Ausschluss jeder visuellen Agnosie nach Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c VersMedV; zur Teilnichtigkeit dieser Regelung SG Osnabrück Urteil vom 24.6.2009 - S 9 SB 231/07 mit Anm Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4), hat diese Differenzierung in Art 1 BayBlindG keinen normativen Niederschlag gefunden.

20

Die Differenzierung kann zudem gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen werden, dh die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setzt voraus, dass Untersuchungsfähigkeit gegeben ist; dazu gehören ua ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen (Mitteilung ua über das eigene Sehvermögen bzw Beschreiben von optischen Reizen) oder ausreichende Handfunktionen, etwa um Reaktionstasten im Rahmen perimetrischer Untersuchungen betätigen zu können (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81 ff; und sogleich unter 2b, aa).

21

Ein hinreichend sachlicher Grund für das Erfordernis einer genauen Lokalisierung der Sehstörung ist daher nicht nachweisbar. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch "blind" ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist (vgl Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 82: fehlende Trennschärfe visueller Verarbeitungsstrukturen; aA und für einen mehrstufigen Prozess weiterhin vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 20. Aufl, 2015, S 112 ff, 161 f).

22

b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass bei ihm darüber hinaus auch sonstige Sinnesorgane wie sein Hörvermögen oder der Tastsinn auf Schwerste beeinträchtigt sind. Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hat, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hält er auch daran nicht mehr fest (Aufgabe von BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Der Senat hat für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9). Zu einer Aufgabe dieser Rechtsprechung sieht sich der Senat aus den oben bereits angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten (dazu aa) sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst (dazu bb).

23

aa) Die Praxis der Instanzgerichte, darunter diejenige über den Anspruch des Klägers, zeigen, dass sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen lässt (vgl weiter zB Urteil des Bayerischen LSG vom 17.7.2012 - L 15 BL 11/08 - Juris RdNr 58 ff). Insoweit fehlt es an Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sowohl zu medizinisch sicheren Ergebnissen führt als auch ethisch vertretbar ist. Das Kriterium der "spezifischen Sehstörung" hat sich aus Sicht des Senates insgesamt als nicht praktikabel erwiesen, weil es zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen führt.

24

Anspruchsbegründende Tatsachen im Recht der sozialen Leistungen unterliegen grundsätzlich einem notwendigen Vollbeweis (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 15 RdNr 46), die Nichterweislichkeit geht zu Lasten des Klägers. Die Nichterweislichkeit ginge auch im Falle des bayerischen Blindengelds zu Lasten des Klägers (hierzu Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 228). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Kausalitätsfragen BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 6 RdNr 25). Besondere Vorschriften der Kriegsopferversorgung gelten im Rahmen des BayBlindG nur, soweit solche im SGG vorgesehen sind (vgl Art 7 Abs 3 S 2 BayBlindG, zB § 154 Abs 2 SGG; vgl BayLT-Drucks 13/458 S 6).

25

Die mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind, ist in Bezug auf die vorhandene medizinische Diagnostik zur Feststellung einer spezifischen Sehstörung nicht gerechtfertigt. Die Diagnostik spezifischer Sehstörungen insbesondere bei cerebral geschädigten Kindern ist beschränkt. Medizintechnische Untersuchungsmethoden sind - worauf in der Vorinstanz unangegriffen hingewiesen wurde - wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar, verbleibende Befragungen der Betreuungspersonen störanfällig, weil oftmals subjektiv gefärbt (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 83). Der Einsatz von Entwicklungsskalen hängt nach Auskunft der Gesellschaft für Neuropädiatrie maßgeblich von der Expertise des Testleiters ab. Die Anwendung der GES für Kleinkinder (im Alter von 0 bis 12 Monaten) auf ältere Kinder begünstigt weitere Unwägbarkeiten, unabhängig davon, ob sie dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Erfahrungswissens genügen, welcher im Rahmen der richterlichen Sachaufklärung (§ 103 SGG) verbindlich zugrunde zu legen wäre (vgl BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 63). Zweifel bestehen jedenfalls insofern auch in Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in ihrer S2k-Praxisleitlinie "Intelligenzminderung" von Dezember 2014 S 35 die GES (Brandt und Sticker 2001) wegen ihrer geringen Testgüte und mangels aktueller Normen für den diagnostischen Einsatz nicht einmal mehr empfohlen hat (abrufbar unter www.awmf.de).

26

bb) Vor allem aber lässt es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen (Hören, Tasten etc), sog spezifische Sehstörung. Hieran hält der Senat im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz nicht mehr fest (Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention, zur unmittelbaren Anwendbarkeit BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29 ff).

27

Abgesehen davon, dass sich bei schwersten cerebralen Schäden die mit dem Merkmal einer spezifischen Sehstörung angestrebte Begrenzung des blindengeldberechtigten Personenkreises angesichts des erhöhten Risikos von Zufallsergebnissen (dazu oben aa) nach derzeitigen Erkenntnissen nicht hinreichend rechtssicher erreichen lässt (zum vorgelagerten Aspekt einer genauen Abgrenzung des begünstigten Personenkreises bereits BVerfGE 37, 154, 155, 164 f), besteht auch sonst keine Möglichkeit die genannte Differenzierung zu rechtfertigen.

28

Der Senat sieht keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann (im Ergebnis ebenso bereits BVerfG Beschluss vom 7.5.1974 - 1 BvL 6/72 - BVerfGE 37, 154, 165 f zur Differenzierung zwischen zu einer zu fehlendem Sehvermögen führenden Beeinträchtigung der Sehschärfe und einer vergleichbar wirkenden Einschränkung des Gesichtsfeldes).

29

Zwar kommt in der früheren Rechtsprechung des BSG das Anliegen zum Ausdruck, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, weil Behinderungen solcher Art ggf durch anderweitige, auch einkommens- und vermögensunabhängige Sozialleistungen ausgeglichen werden, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (etwa Leistungen der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe, §§ 61 ff SGB XII; vgl Demmel, aaO, S 501 ff; zur Reform der Eingliederungshilfe durch Einführung eines Bundesteilhabegelds vgl Koalitionsvertrag 2013, S 111 abrufbar unter www.bundesregierung.de). Dies kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter jedoch nicht begründen.

30

Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedarf, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden können, keinen solchen sachlichen Grund dar. Zwar heißt es in Art 1 Abs 1 BayBlindG, das Blindengeld werde "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" gezahlt. Das BSG hat jedoch entsprechend der Praxis der zuständigen Behörden, ohne dass dem der Gesetzgeber entgegengetreten wäre, entschieden, dass das Blindengeld derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt wird. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreiben lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1, RdNr 10 und 11; BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1; BVerwGE 51, 281, 286). Insoweit hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.

31

Nach allem gilt: Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlich wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist und jedenfalls Anspruch auf Blindengeld hat.

32

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.