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| Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeschuldigten mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls zur Last, er sei am 22.07.2014 mit dem Zug von Straßburg (Frankreich) kommend über die Grenzübergangsstelle Kehl an die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wobei er, wie er gewusst habe, eine total gefälschte tschechische ID-Karte mit der Nr. 812502014 mit sich geführt habe. Dies sei strafbar als Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen gemäß § 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB. |
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| Gegen den Angeschuldigten besteht kein hinreichender Tatverdacht wegen einer strafbaren Handlung. |
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| 1. Zwar wird aller Voraussicht nach festgestellt werden können, dass der Angeschuldigte den Tatbestand des § 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt hat. Allerdings greift für den Angeschuldigte der persönliche Strafausschließungsgrund des Art. 31 Abs. 1 des für die Bundesrepublik Deutschland bindenden Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559 in der Folge: GFK), wonach die vertragschließenden Staaten keine Strafen gegen Flüchtlinge wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts verhängen werden, wenn die Flüchtlinge unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihrer Freiheit im Sinne des Art. 1 GFK bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. |
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| a. Dass der Angeschuldigte bei Verlassen seiner Heimat Syrien, wo bekanntlich seit Jahren ein heftiger Bürgerkrieg tobt, als „Flüchtling“ im Sinne der GFK anzusehen ist, bedarf keiner weiteren Begründung. |
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| b. Unerheblich für die Anwendbarkeit des Art. 31 Abs. 1 GFK ist, ob der Angeschuldigte bereits nach deutschem Ausländerrecht als „Flüchtling“ anerkannt wurde oder zumindest einen Antrag auf Anerkennung gestellt hat (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.12.2014, Az. 2 BvR 450/11, NVwZ 2015, 361). |
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| c. Unschädlich ist darüber hinaus, dass der Angeschuldigte nicht direkt aus Syrien, sondern über die Türkei, Griechenland und Frankreich, wo ihm offenbar keinerlei Verfolgung drohte oder er um sein Leben oder seine Gesundheit fürchten musste, nach Deutschland reiste. |
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| (1.) Ein Flüchtling verliert seinen Schutz durch Art. 31 Abs. 1 GFK grundsätzlich nicht schon dann, wenn er einen oder mehrere Drittstaaten als „Durchgangsland“ nutzt und sich der Aufenthalt in diesem nicht schuldhaft verzögert. Das Tatbestandsmerkmal der „Unmittelbarkeit“ des Art. 31 Abs. 1 GFK will lediglich verhindern, dass Flüchtlinge, die sich bereits in einem anderen Staat niedergelassen haben, unter Berufung auf die Konvention ungehindert weiterreisen können (vgl. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.12.2014, a.a.O.; OLG Stuttgart, Urteil vom 02.03.2010, Az. 4 Ss 1558/09, veröffentlicht bei juris.de.; AG Frankfurt, Urteil vom 17.06.2015, Az. 975 Cs 858 Js 53066/14, StV 2015, 706). So liegt der Fall hier. |
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| (2.) Der Angeschuldigte ist ausgehend von seiner Einlassung, die mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln nicht zu widerlegen ist, von Syrien über die Türkei nach Griechenland gereist, wo er der Polizei erklärte, dass er nicht in Griechenland bleiben wolle. Daraufhin ist er von der griechischen Polizei angewiesen worden, das Land binnen sechs Monaten zu verlassen. Zwei Monate später ist er dann nach Frankreich geflogen, nachdem er sich selbst den tschechischen Personalausweis hergestellt habe. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass er sich weder in der Türkei noch in Griechenland oder Frankreich niedergelassen und keines dieser Länder das Ziel seiner Flucht waren. |
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| d. Neben dem eigentlichen Einreisedelikt nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, welches nach § 95 Abs. 5 AufenthG im Falle der Anwendbarkeit des Art. 31 Abs. 1 GFK straffrei ist, erfasst der persönliche Strafausschließungsgrund des Art. 31 Abs. 1 GFK im vorliegenden Fall auch das Einführen des gefälschten tschechischen Personalausweises als sogenanntes Begleitdelikt. |
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| (1.) Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Begleitdelikte in den Schutzbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK einbezogen sind, ist in der deutschen Rechtsprechung und Literatur umstritten. |
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| (a.) Gegen die Einbeziehung in den Schutzbereich wird in der fachgerichtlichen Rechtsprechung angeführt, dass Art. 31 Abs. 1 GFK lediglich die Pönalisierung des Grenzübertritts unterbinden, nicht aber staatliche Interessen gefährden oder gar die staatliche Souveränität beeinträchtigen solle. Es liege nicht im Schutzbereich von Art. 31 Abs. 1 GFK, kriminellem Tun Vorschub zu leisten, wie es bei Gebrauch von falschen Personaldokumenten, die entgeltlich von Schleusern erworben worden seien, der Fall sei (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.03.2010, Az. 5St RR (II) 79/10, veröffentlicht bei juris.de; OLG Dresden, Beschluss vom 18.01.2011, Az. 3 Ss 780/10, zitiert in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.12.2014, a.a.O.; so auch zumindest für die Benutzung falscher Dokumente Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 206. Ergänzungslieferung Januar 2016, Rn. 68; Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand 01.11.2015, Rn. 108). Diese Erwägungen können - zumindest im vorliegenden Fall - aber nicht zu einem generellen Ausschluss von Begleitdelikten vom Schutzbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK führen. |
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| (b.) Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem Beschluss vom 08.12.2014 (a.a.O.) entschieden, dass es, zumindest im Fall des sogenannten Flughafenverfahrens (§ 18a AsylVfG), von Verfassung wegen nicht geboten sei, Art. 31 Abs. 1 GFK dahin auszulegen, dass auch Begleitdelikte vom Schutzbereich erfasst werden. Allerdings schließt diese Entscheidung des Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Auslegung der Konvention durch die Fachgerichte nicht aus, wenngleich es der Auffassung ist, dass Überwiegendes gegen eine Erstreckung der strafbefreienden Wirkung des Art. 31 Abs. 1 GFK auch auf Begleitdelikte spreche. Dabei zieht das Bundesverfassungsgericht offenbar aber eine Erstreckung zumindest auf solche Delikte in Betracht, die begangen werden, um eine notstandsähnliche Lage zu beenden, in der es unmöglich oder unzumutbar wäre, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen (Rn. 38 der Entscheidung; siehe auch die Anmerkung zu dieser Entscheidung von Hörig und Bergmann, NVwZ 2015, 367). |
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| (c.) Bei der Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK sind zunächst die allgemeingültigen Auslegungsgrundsätze des Völkerrechts heranzuziehen. Danach kann zumindest nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass Begleitdelikte jeglicher Art erfasst sind (vgl. dazu die umfassenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 08.12.2014, a.a.O.). Andererseits ist die Erstreckung des Art. 31 Abs. 1 GFK auf Begleitdelikte möglich und wird von fast der Hälfte der Konventionsstaaten in dieser Weise angewendet (Stand 2003, siehe Darstellung im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.12.2014, a.a.O.). |
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| (d.) § 95 Abs. 5 AufenthG, der die einzige deutsche Vorschrift mit Bezug auf Art. 31 Abs. 1 GFK ist, besteht einer Ausdehnung des Schutzbereichs des Artikel 31 Abs. 1 GFK auf Begleitdelikte nicht entgegen. Denn § 95 Abs. 5 AufenthG bestimmt lediglich, dass Art. 31 Abs. 1 GFK von den Regelungen über Straftaten nach § 95 AufenthG unberührt bleibt. Nach der Systematik des § 95 AufenthG betrifft das nicht nur die Strafbarkeit wegen eines Verstoßes gegen ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot, sondern sämtliche von § 95 AufenthG unter Strafe gestellte Sachverhalte, darunter auch die ausländerspezifische mittelbare Falschbeurkundung nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Dies deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber einen weiteren Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK sah, als lediglich die eigentlichen Einreise- und Aufenthaltsdelikte. Umgekehrt kann aus § 95 Abs. 5 AufenthG nicht geschlossen werden, dass damit abschließend nur die Straftaten des § 95 AufenthG in den Schutzbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK fallen können. Diese Einschränkung lässt sich dem Wortlaut des § 95 Abs. 5 AufenthG unter Berücksichtigung der aufgrund des Zustimmungsgesetzes zur Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl. 1953 II S. 559) bestehenden Gleichrangigkeit mit Art. 31 Abs. 1 GFK nicht entnehmen. |
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| (e.) Für eine weite Auslegung des Art. 31 Abs. 1 GFK spricht dessen Intention, die nach der Konvention geschützte Flucht nicht dadurch unmöglich zu machen oder wesentlich zu erschweren, dass sich der Flüchtling in die Gefahr der Strafverfolgung oder sonstiger Repressionen begibt und deshalb von der Flucht ganz absieht, ein anderes, in seinen Augen weniger sicheres Zielland anstreben oder sich dazu veranlasst sieht, im Zielland „unterzutauchen“, um einer Strafverfolgung zu entgehen (vgl. Weiss, The Refugee Convention, veröffentlicht vom UNHCR im Internet). |
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| (f.) Nach alldem legt das Gericht Art. 31 Abs. 1 GFK dahin aus, dass es auch solche Straftaten erfasst, die unmittelbar erforderlich und typisch für eine Flucht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Dazu gehört insbesondere ein Urkundsdelikt, das begangen wird, um die Reise vom Heimatstaat in den Zielstaat erheblich zu erleichtern oder gar erst möglich zu machen. Dabei ist nicht zu verlangen, dass ein solches Urkundsdelikt eine objektiv unverzichtbare Voraussetzung für die Möglichkeit der Fortbewegung des Flüchtlings darstellt. Vielmehr muss es genügen, dass dieses Urkundsdelikt nach verständiger Würdigung aus der Sicht eines Flüchtlings in seiner konkreten Situation die Reise überhaupt erst durchführbar erscheinen lässt und diese Reise nur mit der falschen Urkunde in zumutbarer Weise unternommen werden kann, insbesondere unter Vermeidung von erheblichen Gefahren für Leib und Leben, in angemessener Zeit und mit adäquaten finanziellen Aufwand oder unter Umgehung staatlicher Maßnahmen der Verhinderung der (weiteren) Flucht, sei es des Heimatstaats oder eines Durchgangslands, wobei die Integrität der Rechtsordnung des Staates, dessen Interessen durch das Urkundsdelikt betroffen sind, nicht in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt werden darf (noch weitergehend AG München, Urteil vom 01.03.2012, Az. 836 Cs 381 Js 200807/11; Stellungnahme des UNHCR zur Auslegung und Reichweite des Art. 31 Abs. 1 GFK vom Mai 2004, veröffentlicht vom UNHCR im Internet, nach dessen Untersuchung die deutsche Rechtsprechung Art. 31 Abs. 1 GFK bis dahin weit auslegte und Urkundsdelikte in den Schutzbereich des Artikel 31 Abs. 1 GFK einbezog). |
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| (2.) Nach dieser Maßgabe ist das vom Angeschuldigten begangene Urkundsdelikt vom Schutzbereich des Art. 31 Abs. 1 GFK umfasst. |
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| (a.) Nach den Ermittlungen ist davon auszugehen, dass sich der Angeschuldigte den falschen tschechischen Personalausweises verschafft hat, ob nun selbst hergestellt oder von einem Dritten erworben, um von Griechenland aus, welches von Anfang an nur ein Durchgangsland war, seine Flucht fortzusetzen. So nahm er mithilfe dieses Personalausweis ein Flugzeug nach Frankreich, um von dort nach Deutschland weiter zu reisen. Dies wäre ohne das falsche Dokument voraussichtlich nicht möglich gewesen. Nach der Überschreitung der Grenze in Kehl begehrte er sofort gegenüber den Beamten der Bundespolizei Asyl, wobei er seine wahre Identität angab. Den falschen tschechischen Personalausweises hat er in Deutschland nicht benutzt. Dafür, dass er dies vorhatte, liegen keine Anhaltspunkte vor. |
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| (b.) Für das eigentliche Überschreiten der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war zwar das Mitführen des falschen tschechischen Personalausweises tatsächlich nicht (mehr) erforderlich. Auch für das Asylgesuch und den späteren Asylantrag benötigte er dieses falsche Dokument nicht. Bis zum Erreichen der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich konnte der Angeschuldigte aber nicht sicher sein, dass er nicht zuvor kontrolliert und aufgehalten wird oder das Transportunternehmen ihm die (weitere) Mitfahrt verwehrt. Somit hätte er im letzten Moment vor der Flussmitte sich des falschen Dokuments entledigen müssen, um den Tatbestand des Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen gemäß § 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht zu erfüllen. Dass dies zu fordern lebensfremd ist, liegt auf der Hand. |
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| (c.) Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland wurde durch die Tat des Angeschuldigten nur unwesentlich beeinträchtigt, so dass das Interesse des Angeschuldigten seine Flucht (auch) durch diese Straftat in zumutbarer Weise sicherzustellen überwiegt. |
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| (d.) Schließlich ist der hier zu entscheidende Fall nicht mit dem zu vergleichen, der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.12.2014 (a.a.O.) zugrunde lag. Dort erfolgte die Einreise des betroffenen Flüchtlings über einen internationalen Flughafen. Zudem hat der Flüchtling den falschen Pass bei der Einreisekontrolle vorgelegt, ohne offenbar gleichzeitig ein Asylgesuch anzubringen. |
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| e. Schließlich hat sich der Angeschuldigte unverzüglich im Sinne des Art. 31 Abs. 1 GFK bei den Behörden als Flüchtling gemeldet. Bereits unmittelbar nach der Einreise erklärte er sein Asylgesuch gegenüber den Beamten der Bundespolizei. Bereits zwei Tage später wurde er bei der Landeserstaufnahmeeinrichtung Karlsruhe vorstellig, um dort einen Asylantrag zu stellen. |
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| 2. Ob sich der Angeschuldigte bereits auf einen rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstand gemäß §§ 34, 35 StGB berufen kann (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.10.1996, Az. 1 Ss 232/96, StV 1997, 78; AG Korbach, Urteil vom 13.08.2012, Az. 4 Cs 1620 Js 8985/12, veröffentlicht bei juris.de; AG Nienburg, Urteil vom 16.05.2013, Az. 4 Cs 519 Js 24060/12, veröffentlicht bei juris.de), kann nach dem Vorgesagten offenbleiben. |
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| Nach alldem ist der Erlass des beantragten Strafbefehls aus Rechtsgründen abzulehnen. |
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