Systematisches Kommentar zu § 242 BGB von Dirk Streifler

14.12.2023

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Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

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Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 242 Leistung nach Treu und Glauben

Der Grundsatz von "Treu und Glauben" gemäß § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist ein zentraler Bestandteil des deutschen Rechtssystems. Er legt fest, dass alle vertraglichen Pflichten unter Berücksichtigung von Ehrlichkeit, Vertrauen und Fairness zu erfüllen sind.

Der § 242 BGB ist ein offener Tatbestand, der keine spezifischen Situationen definiert, sondern allgemeine Prinzipien festlegt. Die Auslegung und Anwendung erfordern daher eine individuelle Bewertung jeder Situation.

Bei der Anwendung von Treu und Glauben in der Praxis ist eine umfassende Abwägung aller relevanten Interessen erforderlich. Der Grundsatz dient als Leitprinzip für die Bewertung und Abwägung der verschiedenen Interessen.

reu und Glauben schützen vor unzulässiger Rechtsausübung, sowohl bei subjektiven Rechten als auch bei allgemeinen Rechtsinstituten und Normen. § 242 BGB wirkt als Korrektiv, wenn die strikte Anwendung von Gesetzen oder Regelungen zu Ergebnissen führen würde, die den Prinzipien von Treu und Glauben widersprechen.

Dirk Streifler - Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin
 
 
 
 

I. Allgemeines

Gemäß § 242 bestimmt sich die Art und Weise, in der der Schuldner seine Leistung zu erbringen hat (das "Wie" der Leistung). Die Rechtsprechung und die juristische Lehre haben diesem Paragrafen eine über seine wortwörtliche Bedeutung hinausgehende Relevanz zugeordnet, indem sie daraus den allgemeinen Rechtsgrundsatz ableiten, dass jede Person in der Ausübung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten nach Treu und Glauben handeln muss (BGHZ 85, 48.). Dieser Grundsatz ist für den gesamten Rechtsverkehr maßgeblich und muss als Generalklausel in seinen verschiedenen Anwendungsbereichen jeweils unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wertend konkretisiert werden. Dabei ist auf andere Grundsätze und Wertentscheidungen der Rechtsordnung sowie auf spezifische Bestimmungen des betreffenden Rechtsgebiets und gegebenenfalls auf die jeweiligen Vertragsinhalte und -zwecke sorgfältig Rücksicht zu nehmen.

Der aus § 242 abgeleitete Grundsatz ermächtigt nicht zu einer "Billigkeitsjustiz", die die Rechtsfolgen aus Gesetz oder Vertrag von Fall zu Fall durch scheinbar angemessenere Ergebnisse ersetzen könnte. Vielmehr richtet er sich gegen treuwidriges Verhalten und dient in seinen unterschiedlichen Anwendungsbereichen der Vermeidung "untragbarer Ergebnisse" (vgl. BGHZ 102, 105). Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit muss seine Anwendung an bestimmten Rechtsinstituten und tatsächlichen Konkretisierungen ausgerichtet sein, die von Rechtsprechung und Lehre zur Ausfüllung dieser weit gefassten Generalklausel entwickelt wurden und allgemein anerkannt sind.

Die Kriterien für die genauere Bestimmung der Anwendungs- oder Funktionsbereiche des Grundsatzes von Treu und Glauben sind in der Lehre umstritten. Üblicherweise werden insbesondere folgende Funktionen unterschieden: § 242 konkretisiert bereits seinem Wortlaut nach die Art und Weise der Leistung durch den Schuldner. Hieraus ergibt sich eine nähere Festlegung und möglicherweise eine Erweiterung des Inhalts der Hauptleistungspflicht. Viel weiter reicht die über den Wortlaut hinausgehende Ergänzungsfunktion: Aufgrund von Treu und Glauben kann der Inhalt des Schuldverhältnisses durch die Begründung von Nebenpflichten ergänzungsbedürftig sein; insbesondere durch Auskunfts-, Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten bei der Vorbereitung, Durchführung und Absicherung der Leistung. Die Schutzpflichten, die früher größtenteils nur auf § 242 gestützt wurden, behandelt nunmehr § 241 Absatz 2 (siehe Abschnitt 4 und folgende). Wie diese Schutzpflichten entstehen auch die leistungsbezogenen Nebenpflichten, die von § 241 Absatz 2 nicht erfasst sind, aufgrund von Treu und Glauben für beide Seiten, sowohl den Schuldner als auch den Gläubiger, der seinerseits durch sein Verhalten den Eintritt des Leistungserfolges nicht gefährden darf (siehe Abschnitt 11). Ebenso wie die Begründung von Pflichten und die Begrenzung der Rechtsausübung in einzelnen Fällen und Fallgruppen dient der Grundsatz von Treu und Glauben der Entwicklung und Fortentwicklung von Rechtsinstituten, die teilweise die herkömmliche Rechtssystematik erheblich verändert haben („Kreativfunktion“). Insbesondere haben Lehre und Rechtsprechung aus ihm das Institut des Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage entwickelt, bevor das Schweizerische Obligationenrecht dies nunmehr in § 313 gesetzlich geregelt hat.

II. Tatbestandliche Voraussetzungen:

Zwischen den Parteien muss eine Sonderverbindung bestehen (→ Rn. 3). Über den Wortlaut von § 242 hinaus betrifft die Verpflichtung zum Verhalten nach Treu und Glauben nicht nur den Schuldner, sondern auch den Gläubiger und nicht nur die Leistungsbewirkung, sondern die Ausübung der Rechte und Erfüllung der Pflichten insgesamt.

Bei den Tatbestandsmerkmalen Treu und Glauben handelt es sich um besonders ausfüllungsbedürftige Begriffe, die § 242 den Charakter einer Generalklausel geben. Das BGB verwendet sie auch in §§ 157, 162, 320 II, 815. Für ihre jeweils spezifische Konkretisierung in den einzelnen Funktions- und Anwendungsbereichen des aus § 242 entwickelten Grundsatzes kann der Wortsinn nur den Ausgangspunkt bieten: Treue bezeichnet im Verhältnis der Beteiligten eine Haltung, die Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und Rücksichtnahme einschließt. Glauben bedeutet das Vertrauen auf eine derartige Haltung der anderen Partei. Die Wortverbindung enthält damit das Erfordernis redlichen und loyalen Verhaltens unter billiger Rücksichtnahme auf berechtigte Interessen der anderen Seite. Dieses Erfordernis schließt den Gedanken des Vertrauensschutzes ein (BGHZ 94, 351). 13b) Bei der näheren Bestimmung der Erfordernisse von Treu und Glauben ist zunächst die Verkehrssitte zu berücksichtigen. Abzustellen ist insofern auf die tatsächliche Übung in den betr Verkehrskreisen. Dies gilt allerdings nur, wenn die betr Übung nicht ihrerseits Treu und Glauben oder sonstigen Anforderungen der Rechtsordnung widerspricht und damit zur „Verkehrsunsitte“ wird (→ § 276 Rn. 15). Über die Verkehrssitte hinaus sind zur Ausfüllung der Anforderungen von Treu und Glauben ggf. grdlg Wertentscheidungen der Rechtsordnung, insbes. die Wertordnung des Grundgesetzes, heranzuziehen. Wie über andere Generalklauseln erlangen damit auch über § 242 va die Wertentscheidungen, die in den Grundrechten und in Strukturprinzipien des GG (wie dem Sozialstaatsprinzip) Ausdruck gefunden haben, Wirkung im Privatrecht (hM; „mittelbare Drittwirkung von Grundrechten“, BVerfGE 7, 203 ff.; 34, 279 f.; 81, 254); zur Duldungspflicht des Vermieters bei dem Einbau eines Lifts für den Partner eines Mieters NJW 00, 2658; beim Aufstellen einer Parabolantenne auf dem Balkon durch einen ausländischen Mieter vgl. BGH NJW-RR 07, 1243. 14c) Stets erforderlich ist eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles (BGHZ 49, 153). Ein Verstoß gegen Treu und Glauben setzt zwar kein Verschulden voraus (BGHZ 64, 9); iR der Wertung und Abwägung der Interessen sind aber auch subjektive Elemente zu berücksichtigen. Doch muss das Verschulden einer Partei nicht in jedem Fall zu einer für sie negativen Interessenwertung führen. Besonders zu berücksichtigen ist für den Umfang der Anforderungen aus Treu und Glauben die Intensität und Dauer der Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien.

III. Verbot unzulässiger Rechtsausübung

Treu und Glauben schaffen nicht nur Pflichten, sondern setzen auch als interne Beschränkung eine Grenze für alle Rechte, Rechtsinstitute und Rechtsnormen (bekannt als die Theorie der immanenten Schranke oder „Innentheorie“; BGHZ 19, 75; 30, 145). Das Geltendmachen von Rechten und die Nutzung von Rechtspositionen oder Rechtslagen gelten daher als rechtsmissbräuchlich und sind folglich unzulässig, wenn sie dem Grundsatz von Treu und Glauben zuwiderlaufen (BGHZ 12, 157). In dieser Interpretation des Grundsatzes von Treu und Glauben bleibt die römisch-rechtliche exceptio doli praesentis (Einrede der gegenwärtigen Arglist) wirksam.

Aufgrund der Vielfalt möglicher Anwendungen des Verbots unzulässiger Rechtsausübung haben sich einige typische Fallgruppen herausgebildet. Es gibt jedoch keine allgemein anerkannte Einteilung und Terminologie (Grüneberg/Grüneberg Rn. 42; Soergel/Teichmann Rn. 281 ff.). Die Grenzen zwischen den Fallgruppen sind fließend, wie die abweichende Einteilung ein und derselben BGH-Entscheidung in unterschiedliche Fallgruppen in der Kommentarliteratur zeigt. Eine Rechtsausübung kann als unzulässig gelten, wenn sie bereits an sich missbilligungswürdig ist, sei es aufgrund der Art und Weise der Ausübung (siehe Rn. 71), der Verletzung eigener Pflichten (siehe Rn. 72 ff.) oder des Mangels eines schutzwürdigen Eigeninteresses (siehe Rn. 82 ff.). Unzulässig kann auch eine Rechtsausübung sein, bei der nicht das gegenwärtige Handeln als solches zu beanstanden ist, sondern vielmehr ein früheres Verhalten, das in tatsächlichem oder rechtlichem Zusammenhang damit steht (Fall der exceptio doli praeteriti). Dies betrifft die Fallgruppen des unredlichen Erwerbs der eigenen Rechtsstellung (siehe Rn. 58 ff.), des widersprüchlichen Verhaltens (siehe Rn. 111 ff.) und der Verwirkung (siehe Rn. 140 ff.). Schließlich kann auch aus veränderten Umständen resultieren, dass die Berufung auf einen vereinbarten Unterhaltsverzicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist (BGH NJW 2008, 1080) oder dass mietrechtliche Nebenkosten aufgrund hoher Leerstände anders als bisher verteilt werden sollten (BGH MDR 2015, 143 = NJW-RR 2015, 457).

III. Rechtfolgen

Die Konsequenzen unzulässiger Rechtsausübung variieren je nach Anwendungsbereich und den spezifischen Interessen im Einzelfall. Diese führen zu Einschränkungen der Rechte zugunsten der Partei, die die unzulässige Rechtsausübung vornimmt. Insbesondere können für diese Partei erhebliche Umstände unbeachtet bleiben (beispielsweise kann eine Einrede als nicht relevant angesehen werden), die Durchsetzbarkeit von Rechten verweigert werden oder tatsächlich fehlende Voraussetzungen als erfüllt betrachtet werden ("Ersetzung", zum Beispiel die Gewährung von Ansprüchen aus einem formnichtigen Vertrag unter bestimmten Bedingungen wie der Einhaltung des Formerfordernisses; BGHZ 85, 318 f.).

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