Urteils-Kommentar zu Verwaltungsgericht Düsseldorf Urteil, 12. Jan. 2021 - 12 K 3089/20.A von Dirk Streifler
Verwaltungsgericht Düsseldorf Urteil, 12. Jan. 2021 - 12 K 3089/20.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Mai 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
Die am 00. N. 1986 geborene Klägerin zu 1. und ihr am 00. P. 2016 geborener Sohn, der Kläger zu 2., sind russische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Angaben am 25. Dezember 2019 gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater, Herrn T. N. , und drei weiteren Kindern bzw. Geschwistern im Alter von zwölf, zehn und zwei Jahren in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Ehemann bzw. Vater und die weiteren Kinder bzw. Geschwister stellten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 6. Januar 2020 (förmliche) Asylanträge. Die Kläger stellten ihre (förmlichen) Asylanträge am 14. Januar 2020.
Das Bundesamt stellte aufgrund eines Eurodac-Treffers fest, dass die Kläger bereits am 12. Dezember 2019 in Italien einen Asylantrag gestellt hatten und richtete am 31. Januar 2020 ein Übernahmeersuchen an die italienische Dublin-Einheit, das nicht beantwortet wurde.
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 28. Mai 2020 die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung der Kläger nach Italien an (Ziffer 3) und ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG an und befristete es auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Bescheid wurde der Klägerin zu 1. am 4. Juni 2020 ausgehändigt.
Im Verfahren des Ehemannes bzw. Vaters und der weiteren Kinder bzw. Geschwister der Kläger lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 25. Mai 2020 (Gz. 0000000-160) die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG an und befristete es auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Hiergegen erhoben der Ehemann bzw. Vater und die weiteren Kinder bzw. Geschwister am 8. Juni 2020 vor dem Verwaltungsgericht E. Klage (8 K 3088/20.A) und stellten einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (8 L 1049/20.A). Mit Beschluss vom 15. Juni 2020 ordnete das dort beschließende Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage an; nach Auskunft der Kläger hob es den Bescheid vom 25. Mai 2020 mit inzwischen rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 31. Juli 2020 auf.
Die Kläger haben am 8. Juni 2020 die vorliegende Klage erhoben. Ferner haben sie am selben Tag einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (12 L 1050/20.A), auf den hin das Gericht mit Beschluss vom 27. Juli 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat.
Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger - unter Vorlage mehrerer ärztlicher Atteste - geltend, der Kläger zu 2. sei schwer erkrankt.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Mai 2020 aufzuheben,
hilfsweise,
festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Italiens vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte, der Gerichtsakte 12 L 1050/20.A sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Gründe
Die Entscheidung kann im Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO) ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) ergehen.
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und mit dem Hauptantrag begründet.
Der angefochtene Bescheid erweist sich im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Ablehnung der Asylanträge der Kläger als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a AsylG ist rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Die Zuständigkeit richtet sich dabei im Fall eines - hier gegebenen - Wiederaufnahmeverfahrens nach Art. 23 ff. Dublin III-Verordnung nicht nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung, sondern ist anhand der Voraussetzungen der Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchstaben b bis d Dublin III-Verordnung zu bestimmen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 und C-583/17 -, juris, Rn. 58 ff.
Hiernach ist gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-Verordnung grundsätzlich Italien zuständig, da die Kläger ausweislich des in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Eurodac-Treffers bereits am 12. Dezember 2019 in Italien Asylanträge gestellt haben.
Die Zuständigkeit liegt indes gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 und 2 Dublin III-Verordnung bei der Beklagten. Hiernach gilt: Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
Nach diesen Maßgaben kommt eine Überstellung der Kläger nach Italien nicht in Betracht. Denn den Klägern (im Familienverbund mit ihrem Ehemann bzw. Vater und weiteren Kindern bzw. Geschwistern) droht in Italien jedenfalls für den Fall, dass die Familie dort internationalen Schutz erhalten sollte, aufgrund der gegenwärtig dort bestehenden Lebensbedingungen für international Schutzberechtigte die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta.
Im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gilt zwar die Vermutung, dass die Behandlung von Antragstellern und Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Antragsteller oder Schutzberechtigte bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 82 f. und 87-89.
Art. 4 EU-Grundrechtecharta bestimmt - ebenso wie der gleichlautende Art. 3 EMRK -, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Hieraus folgen neben Unterlassungs- auch staatliche Schutzpflichten. Eine Verletzung von Schutzpflichten kommt in Betracht, wenn sich die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten in dem jeweiligen Zielstaat allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 - 13 A 1490/13.A -, juris, Rn. 86, und Beschluss vom 29. Januar 2015 - 14 A 134/15.A -, juris, Rn. 11.
Die hinsichtlich der allgemeinen Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigen bestehenden Gewährleistungspflichten hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Einzelnen konkretisiert. Demnach kann die Verantwortlichkeit eines Staates aus Art. 3 EMRK begründet sein, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel / Schweiz) -, NVwZ 2015, 127-132, und juris, Rn. 98 m.w.N.
Der Europäische Gerichtshof hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Maßstäbe im Zusammenhang mit der Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung weiter konkretisiert. Danach ist es für die Anwendung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 88.
Aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 EU-Grundrechtecharta geht hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in einen anderen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87.
Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines ernsthaften Risikos von Verstößen gegen Art. 4 EU-Grundrechtecharta vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 90 m.w.N.
Solche Schwachstellen fallen aber nur dann unter Art. 4 der EU-Grundrechtecharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 91 f., und vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. -, juris, Rn. 90; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person reichen danach nicht aus, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Das Fehlen familiärer Solidarität und Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen allein ebenfalls nicht aus, um eine Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta anzunehmen. Auch der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im zuständigen Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta verstoßende Behandlung zu erfahren.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 93 f. und 96 f., und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39.
Der Gesichtspunkt der Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten ist bereits im Verfahren nach der Dublin III-Verordnung zu berücksichtigen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 −, juris, Rn. 76 ff.
Nach diesen Maßstäben stellen sich die Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten in Italien zwar nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK dar. Das Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen. Danach sind anerkannte Flüchtlinge ebenso wie subsidiär Schutzberechtigte italienischen Staatsbürgern gleichgestellt. Sie können erforderlichenfalls staatliche Hilfen in Anspruch nehmen, um jedenfalls ihre Grundbedürfnisse zu decken. Gelingt dies nicht sogleich bzw. nicht vollständig, können sie die Hilfe caritativer Organisationen erhalten.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. September 2016 - 13 A 1503/16.A -, juris, Rn. 4 ff., und Urteile vom 22. September 2016 - 13 A 2448/15.A -, juris, Rn. 142, vom 24. August 2016 - 13 A 63/16.A -, juris, Rn. 51 ff. m.w.N., und vom 19. Mai 2016 - 13 A 1490/13.A -, juris, Rn. 79 ff.; vgl. auch: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 21. Dezember 2018 - 10 LB 201/18 -, juris, Rn. 33 ff.
Das italienische System geht davon aus, dass eine Person spätestens ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten darf, dadurch aber auch für sich selbst sorgen muss.
Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien - Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden in Italien, August 2016, S. 35, abrufbar unter: https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/2016/160815-sfhberichtitalienaufnahmebedingungenfinal.pdf.
Italien verfügt - im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland - über kein ausdifferenziertes Sozialsystem, sondern ist durch eigenverantwortliches Handeln jedes Einzelnen geprägt. Dementsprechend muss der jeweilige Schutzberechtigte grundsätzlich in der Lage sein, sich den - unbestreitbar schwierigen - Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. August 2016 - 13 A 63/16.A -, juris, Rn. 53 m.w.N.
Im Hinblick auf diese Lebensbedingungen für international Schutzberechtigte sind indes individuelle, in der Person der Kläger liegende besondere Gründe anzunehmen, die auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK schließen lassen. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgeblich:
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist für die Prognose, welche Gefahren dem einzelnen Ausländer bei Rückkehr in das Herkunftsland drohen, bei im Bundesgebiet "gelebter" Kernfamilie von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der - wenngleich notwendig hypothetischen - Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 -, juris, Rn. 15 (unter Änderung der Rechtsprechung).
Das erkennende Gericht hat diese Rechtsprechung zur Gefahrenprognose bei Rückkehr in das Herkunftsland auf die Situation einer Rückkehr in einen anderen Zielstaat (hier: Italien) übertragen. Demnach umfasst die Prüfung auch die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK bei Abschiebung in einen Zielstaat. Denn es ist rechtlich unerheblich, ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat oder in einen sonstigen Zielstaat droht.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. Dezember 2020 - 11 A 1602/17.A -, juris, Rn. 49; VG Düsseldorf, Urteile vom 29. Juli 2020 - 12 K 1281/20.A -, vom 25. Februar 2020 - 12 K 8343/18.A -, vom 23. Dezember 2019 - 12 K 3505/19.A - und vom 14. Oktober 2019 - 12 K 6960/17.A -, Beschluss vom 7. April 2020 - 12 L 460/20.A -, Gerichtsbescheid vom 2. März 2020 - 12 K 5872/18.A -.
Nach diesen Grundsätzen ist damit für die Gefährdungsprognose von einer Rückkehr nach Italien der Kläger gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater und ihren weiteren Kindern bzw. Geschwistern als Kernfamilie auszugehen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 -, juris, Rn. 17 f.
Die Kläger (im Familienverbund mit der Kernfamilie) gehören zu einer besonders schutzbedürftigen Gruppe. Bei einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband nach Italien droht ihnen (mit der Kernfamilie) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK.
Die Familie wird aufgrund der besonderen individuellen Situation aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, sich den schwierigen Bedingungen in Italien zu stellen und den Lebensunterhalt für eine Familie mit insgesamt vier minderjährigen Kindern sicherzustellen. Die Familie verfügt in Italien über kein familiäres Netzwerk, auf das sie zurückgreifen könnte. Es ist insofern nicht ersichtlich, wie die Familie die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse in Bezug auf Unterkunft, Ernährung und sanitäre Einrichtungen dauerhaft gewährleisten könnte. Es droht vielmehr Obdachlosigkeit und Verelendung.
Dem steht nicht entgegen, dass das am 5. Oktober 2018 in Kraft getretene Gesetzesdekret des Ministerrates Nr. 113/2018 vom 4. Oktober 2018 (sogenanntes Salvini-Dekret), dessen fortdauernde Geltung als Gesetz am 29. November 2018 beschlossen wurde, neben zahlreichen Verschärfungen im italienischen Asylsystem auch vorsieht, dass die bisherigen SPRAR-Einrichtungen (nunmehr: SIPROIMI) künftig nur noch unbegleiteten Minderjährigen sowie denjenigen Personen zur Verfügung stehen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde.
Vgl. AIDA Country Report: Italy, 2019 Update, Juni 2020, S. 91, 156 ff., abrufbar unter: www.asylumineurope.org; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 5, abrufbar unter: www.fluechtlingshilfe.ch.
Zum einen ist nicht gewährleistet, dass die Familie mit vier minderjährigen Kindern überhaupt Aufnahme in einer solchen Einrichtung finden würde. Zum anderen ist die Unterbringung in einer der ehemaligen SPRAR-Einrichtungen zeitlich auf sechs Monate begrenzt. Die dort untergebrachten Schutzberechtigten haben zwar Anspruch darauf, für weitere sechs Monate untergebracht zu bleiben; in besonderen Fällen auch für zwölf oder mehr Monate.
Vgl. AIDA Country Report: Italy, 2019 Update, Juni 2020, S. 156 ff., abrufbar unter: www.asylumineurope.org; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 27. September 2018, aktualisiert am 26. Februar 2019, S. 25, abrufbar unter: www.milobamf.de.
Dies ändert letztlich aber nichts daran, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Unterbringung handelt und Schutzberechtigte über kurz oder lang selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. Es bleibt insofern bei der Einschätzung, dass die Familie aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein wird, die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Familie in Bezug auf Unterkunft, Ernährung und sanitäre Einrichtungen dauerhaft zu gewährleisten, so dass Obdachlosigkeit und Verelendung drohen.
Vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 26. Juli 2019 - 12 K 1565/19.A - und vom 28. Dezember 2018 - 12 K 47/18.A -.
Auf die Frage, ob die Lebensbedingungen für die Familie in Italien aufgrund der geltend gemachten Krankheiten des Klägers zu 2. zusätzlich erschwert werden, kommt es nach alledem nicht an.
Infolge der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung gemäß Ziffer 1 des Bescheides sind auch dessen übrige Regelungen gemäß Ziffern 2 bis 4 aufzuheben.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4/16 -, juris, Rn. 21 m.w.N.
Einer Entscheidung über den Hilfsantrag bedurfte es wegen der Aufhebung des angefochtenen Bescheides nicht mehr.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) eingereicht werden.
In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz - RDGEG -). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
Die Antragsschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat mit Urteil vom 12.01.2021 – 20 K 4706/20 entschieden, dass die Rückforderung einer ausgezahlten Corona-Soforthilfe in Höhe von 9.000,00 Euro von einem Selbstständigen Freiberufler rechtmäßig ist, wenn dieser sich bereits zum Zeitpunkt der Antragsstellung in finanziellen Schwierigkeiten befunden hat. Die Klage des selbstständigen freischaffenden Künstlers gegen die Zurücknahme eines Bewilligungsbescheides durch die Bezirksregierung Düsseldorf wurde abgewiesen.
Dirk Streifler - Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin
Was ist passiert?
Ein selbstständiger freischaffender Künstler hat im vergangenem Jahr Corona-Subventionen beantragt und diese auch in Höhe von 9.000,00 Euro erhalten. Nachdem die Bezirksregierung Düsseldorf festgestellt hatte, dass der Solo-Selbstständige sich bereits im Dezember 2019 in finanziellen Schwierigkeiten befunden hat, nahm sie den ausgestellten Bewilligungsbescheid zurück und forderte das die ausgezahlte Soforthilfe zurück. Dagegen wehrte sich der Selbstständige und wandte sich gegen die Zurücknahme sowie die Rückforderung.
Die Entscheidung der Richter
Die 20. Kammer des Verwaltungsgericht Düsseldorf hat entschieden, dass das Unternehmen des Solo-Selbstständigen, bei Beantragung der Corona-Hilfe nicht die Voraussetzungen erfüllte, die für die Gewährung des Zuschusses notwendig gewesen wären. Maßgeblich zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen war das „Corona Soforthilfeprogramm des Bundes“ sowie die Richtlinie „NRW-Soforthilfe“, welche gleichzeitig die Grundlage für die Bewilligung des Zuschusses waren. Demnach wurden finanzielle Hilfen nur für diejenigen Unternehmen gewährt, denen infolge der Corona-Pandemie ein temporärer Mangel an Zahlungsmitteln zur Verfügung stand und die aufgrund dieser Liquiditätsengpässe, um ihre Existenz fürchten mussten.
Zahlungsschwierigkeiten infolge der Corona-Pandemie
Diese Unternehmen duften sich jedoch nicht bereits im Jahr 2019 in finanzieller Not befunden haben. Demnach musste der Antragssteller bei Beantragung der Hilfen mit einer Erklärung versichern, dass die Corona-Pandemie ursächlich für seine finanziellen Schwierigkeiten war, was der Beklagte vorliegend auch tat. Tatsächlich habe sich der Künstler jedoch bereits vor Ablauf des Dezember 2019 in Zahlungsnot befunden. So habe er fällige Steuerverbindlichkeiten von insgesamt 360.000,00 Euro nicht begleichen können.
Das Gericht wies weiterhin auf folgende Fehleinschätzung des Klägers hin: Der klagende Künstler argumentierte, dass er als „Solo-Selbstständiger“ nicht in der Lage gewesen war, seine Pflicht zur Nachprüfung des Merkmals „Unternehmen in Schwierigkeiten“, zu erkennen. Die Richter des Verwaltungsgerichts Düsseldorf stellen fest, dass er diese Pflichtverletzung durch eine Nachfrage bei der Bezirksregierung vermeiden hätte können.
Haben Sie noch Fragen zum Thema „Corona-Hilfen“ dann nehmen Sie Kontakt zu Streifler&Kollegen auf und lassen Sie sich fachkundig beraten.
Rechtsanwalt
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