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Die Beschwerde ist statthaft (§ 146 Abs. 1 VwGO), da es sich bei der Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, nicht um eine der in § 146 Abs. 2 VwGO aufgeführten, mit dem Rechtsmittel der Beschwerde nicht anfechtbaren prozessleitenden Maßnahmen handelt (vgl. Kopp, VwGO, 13. Aufl., § 146 RdNr. 12). Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ermangelt es dem Beklagten nicht an der für jeden Rechtsbehelf erforderlichen Beschwer; denn der Beklagte hat die Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO nicht beantragt, sondern in seinem Schreiben vom 19.1.2004 dem Verwaltungsgericht Stuttgart lediglich mitgeteilt, dass einer Vorgehensweise des Gerichts nach dieser Vorschrift der Vorzug gegeben werde. In dieser Erklärung kann auch kein Rechtsmittelverzicht gesehen werden. Denn der Hinweis des Beklagten in diesem Schreiben auf den Umstand, dass das Vorabentscheidungsersuchen zu der vom Verwaltungsgericht als maßgeblich angesehenen Rechtsfrage vom Österreichischen Verwaltungsgerichtshof gestellt worden ist, sowie die sich hieran anschließenden Ausführungen, mit denen er nochmals seinen Standpunkt bezüglich der Nichtanwendbarkeit von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221 des Rats der EWG vom 25.2.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern bekräftigt, machen deutlich, dass er sich des Rechts auf Nachprüfung der gerichtlichen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht nicht begeben wollte. Überdies könnte ein solcher Rechtsmittelverzicht durch einseitige Erklärung gegenüber dem Gericht wohl auch nur nach Erhalt der rechtsmittelfähigen Entscheidung, nicht jedoch schon zuvor wirksam erklärt werden (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 11. Aufl. § 124 RdNr. 35).
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Die Beschwerde ist auch begründet. Für eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Fragen Nr. 1 und 2 des Vorlagebeschlusses des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18.3.2003 - Zlen.EU 2003/0001, 0002-1 (InfAuslR 2003, 217) bzw. über die Frage Nr. 2 des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.11.2001 - 6 K 1307/01 - (InfAuslR 2002, 66) - diese Verfahren waren wohl Anlass der hier angegriffenen Entscheidung - fehlt es an den gesetzlichen Voraussetzungen.
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Die Aussetzung eines Gerichtsverfahrens bis zur Erledigung eines in einem gleichgelagerten Fall beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV (bzw. Art. 177 EG-Vertrag) in entspr. Anw. des § 94 VwGO ist grundsätzlich zulässig. § 94 Abs. 1 VwGO ist allerdings nicht unmittelbar einschlägig. Denn diese Vorschrift regelt lediglich die Aussetzung mit Blick auf ein anderes Verfahren, in dem es um ein vorgreifliches Rechtsverhältnis geht, während die Vorabentscheidungsverfahren bei Europäischen Gerichtshof, um derentwillen hier ausgesetzt worden ist, die Klärung von abstrakten Rechtsfragen betrifft. Auf derartige Fälle kann § 94 Satz 1 VwGO jedoch entsprechend angewendet werden, da die Interessenlage vergleichbar ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 19.9.2001 - 9 S 1464/01 -, DÖV 2002, 35 und BVerwG, Beschluss vom 10.11.2000 - 3 C 3.00 -, BVerwGE 112, 166).
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Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu Unrecht angenommen, dass die vom Österreichischen Verwaltungsgerichtshof bzw. vom Verwaltungsgericht Stuttgart dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen auch im vorliegenden Verfahren, das die unter Sofortvollzug verfügte Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand hat, rechtserheblich und damit für die Entscheidung vorgreiflich sind.
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Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit seinem Beschluss vom 20.11.2001 u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (Vorabentscheidungsverfahren C-482/01-)
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„Steht Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25.2.1964 einer nationalen Regelung entgegen, die ein Widerspruchsverfahren, in dem auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung stattfindet, gegenüber einer Entscheidung einer Verwaltungsbehörde über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet nicht mehr vorsieht, wenn eine bestimmte, von der die Entscheidung treffenden Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht eingerichtet wird?“
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Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof wirft in Ziff. 1 seines Vorabentscheidungsbeschlusses vom 18.3.2003 im Wesentlichen die gleiche Rechtsfrage auf; in Ziff. 2 seines Beschlusses legt er dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Rechtsschutzgarantien der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sind, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 zukommt (Vorabentscheidungsverfahren C-136/03-).
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Diese dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten, die Auslegung der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG betreffenden Fragen sind im vorliegenden Verfahren nicht rechtserheblich, da die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Klage des Klägers gegen seine Ausweisung nicht von ihrer Beantwortung abhängt. Art. 8 der Richtlinie 64/221/EWG bestimmt, dass ein Betroffener gegen die Verweigerung der Einreise, einer Aufenthaltsgenehmigung oder gegen die Entfernung aus dem Aufnahmeland die Rechtsbehelfe haben muss, die Inländern gegenüber Verwaltungsakten zustehen. Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG ergänzt den Art. 8. Durch ihn soll den Personen, die von einer dieser Maßnahmen betroffen sind, ein Minimum an verfahrensmäßigem Schutz gewährleistet werden, wenn einer der drei besonderen Fälle vorliegt, die Art. 9 Abs. 1 mit den Worten „sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben“ umschreibt. Im ersten Fall soll die Möglichkeit der Anrufung einer „zuständigen Stelle“, die eine andere als die für die Entscheidung zuständige Behörde sein muss, das Fehlen jeglichen gerichtlichen Rechtsbehelfs ausgleichen. Im zweiten Fall soll die Einschaltung der zuständigen Stelle eine umfassende Prüfung der Situation des Betroffenen, einschließlich der Zweckmäßigkeit der fraglichen Maßnahme, ermöglichen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Im dritten Fall soll dieses Verfahren es dem Betroffenen ermöglichen, zu beantragen und ggf. zu erwirken, dass die Vollziehung der geplanten Maßnahme ausgesetzt wird, und ihm so einen Ausgleich dafür bieten, dass es nicht möglich ist, die Vollziehung durch die Gerichte aussetzen zu lassen. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG fordert dabei bei Vorliegen eines dieser drei besonderen Fälle die Einschaltung einer zuständigen Stelle vor Erlass der ausländerrechtlichen Maßnahme (vgl. EuGH, Urteil vom 30.11.1995 - C 175/94 -, Sammlung 1995, I-4253, RdNr. 20). Die - vorherige - Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ kann jedoch „in dringenden Fällen“ unterbleiben; diese Ausnahme ist in Art 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG für alle drei Fallgestaltungen ausdrücklich vorgesehen.
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Vom Vorliegen eines „dringenden Falles“ in diesem Sinne ist das Regierungspräsidium Stuttgart bei Erlass der gegen den Kläger ergangenen Ausweisungsverfügung vom 20.1.2003 jedoch ausgegangen; denn es hat die Ausweisung des Klägers wegen der von ihm ausgehenden schweren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung - auch - aus spezialpräventiven Gründen für erforderlich gehalten und hat die Ausweisungsverfügung in der Annahme für sofort vollziehbar erklärt, dass die begründete Besorgnis bestehe, dass sich die vom Kläger ausgehende, mit seiner Ausweisung bekämpfte Gefahr schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren werde. Lag im Fall des Klägers aber ein „dringender Fall“ vor, so folgt hieraus, dass das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer „zuständigen Stelle“ unabhängig davon, ob diese Vorschrift überhaupt auf den Kläger als türkischen Staatsangehörigen Anwendung finden kann, der Entscheidung über seine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht vorauszugehen hatte und dass sein Unterbleiben mithin nicht gegen die in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG festgelegten Rechtsschutzgarantien verstößt.
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Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart auf den Antrag des Klägers mit Beschluss vom 16.7.2203 - 6 K 1757/03 - die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 20.1.2003 wiederhergestellt bzw. angeordnet hat. Denn ungeachtet dessen, dass diese Entscheidung - wohl -auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung zurückwirkt (vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 6.3.1992 - 12 Cs 91.3128 -, GewArch 1993, 349; Eyermann/Jörg Schmidt, VwGO, 11. Aufl., § 80 RdNr. 86; Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 RdNr. 362) bedeutet dies nicht, dass in Wirklichkeit kein „dringender Fall“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorgelegen hat und folglich - zumindest bei Annahme der Anwendbarkeit der Richtlinie 64/221/EWG auch auf türkische Staatsangehörige - das in dieser Vorschrift vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren zu Unrecht unterblieben ist. Die Beurteilung der Frage der Dringlichkeit in begründeten Fällen ist nämlich, wie der Europäische Gerichtshof entschieden hat (vgl. sein Urteil vom 5.3.1980 - Rs 98/79 -, Sammlung 1980, 619 RdNrn. 19 und 20) Sache der Verwaltung: Durch das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme soll den Gerichten im Rahmen der verfahrensrechtlichen Überprüfung nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet verliehen werden. Für die Ausübung derartige Befugnisse durch die innerstaatlichen Gerichte gilt nach Auffassung des EuGH Art. 8 der Richtlinie. Diese Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs machen deutlich, dass der Umstand, dass ein Gericht bei einer ex-post-Beurteilung zu einer anderen Auffassung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet kommt als die Ausländerbehörde, rechtlich nicht die Annahme rechtfertigt, das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG ansonsten vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme sei zu Unrecht unterblieben.
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