Verwaltungsgericht Magdeburg Urteil, 17. März 2016 - 8 A 79/16
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22.09.2015, mit welchem der Asylantrag wegen der in Ungarn erlangten Anerkennung als Flüchtling als unzulässig abgelehnt sowie die Abschiebung nach Ungarn angedroht wurde.
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Er wendet sich gegen die Rückführung nach Ungarn wegen der dortigen Verhältnisse. Zudem ist er der Vater eines in Deutschland geborenen Kindes seiner Lebensgefährtin, Frau S., welche mit Urteil vom 25.08.2015/08.09.2015 (5 A 316/13) ein Abschiebungsverbot nach § 60 As. 7 Satz 1 AufenthG erhielt.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22.09.2015 zu verpflichten, ein weiteres Asylverfahren für den Kläger durchzuführen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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und verweist auf den streitbefangenen Bescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch den Einzelrichter (§ 87 Abs. 2, 3 VwGO) entschieden werden konnte, hat Erfolg.
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1.) Das klägerische Begehren ist insoweit unzulässig und unterliegt der Abweisung, soweit die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland begehrt wird. Insoweit fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis. Denn dem Kläger ist bereits Flüchtlingsschutz durch die zuständigen ungarischen Behörden unanfechtbar zuerkannt worden. An diese Entscheidung der ungarischen Behörden ist die Beklagte gebunden. Insoweit greift auch die Rechtsprechung zur sogenannten "Aufstockung" des – nur – subsidiären Schutzes nicht (vgl. dazu: VG Magdeburg, Urteil v. 04.02.2016, 8 A 45/16 mit Verweis auf BVerwG, Beschluss v. 23.10.2015, 1 B 41.15; beide juris). Mehr als den Flüchtlingsstatus kann er auch in Deutschland nicht bekommen. Die weitergehende in dem Antrag enthaltene Klage gegen die Rückführung nach Ungarn ist im Wege der Anfechtungsklage zulässig (vgl. nur: BVerwG, Urteil v. 27.10.2015, 1 C 32.14; juris).
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2.) Bezüglich der Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides ist die Klage begründet. Der Kläger darf nicht nach Ungarn abgeschoben werden. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist der streitbefangene Bescheid insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn dem Kläger droht in Ungarn aufgrund systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen auch für anerkannte Flüchtlinge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh bzw. in seinem Menschenrecht aus Art. 3 EMRK bzw. seinem Recht auf Freiheit aus Art. 6 GRCh und Art. 5 EMRK verletzt zu werden.
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Zu dem europäischen asylrechtlichen Rechts- und Wertesystem ist auszuführen:
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Dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, zu dem insbesondere die Dublin-Verordnungen gehören, liegt die Vermutung zugrunde, dass jeder Asylbewerber in jedem Mitgliedsstaat gemäß den Anforderungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, S. 559) sowie der EMRK behandelt wird. Es gilt daher die Vermutung, dass Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat eine Behandlung entsprechend den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und EMRK zukommt. Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011 - C-411/10 u. C-493/10 -; ders.: U. v. 14. November 2013 - C-4/11 -, beide juris) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (BVerfG, Urt. v. 14.05. 1996 - 2 BvR 1938/93 u. 2315/93 -, BVerfGE 94, S. 49, juris) zugrunde liegende Vermutung ist jedoch dann als widerlegt zu betrachten, wenn den Mitgliedstaaten „nicht unbekannt sein kann“, also ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylverfahren einschließlich seiner Aufnahmebedingungen in einem zuständigen Mitgliedstaat derart grundlegende, systemische Mängel anhaften, dass für dorthin überstellte Asylbewerber die Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a. a. O.; ders.: U. v. 14.11. 2013, a. a. O.). In einem solchen Fall ist die Prüfung anhand der Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnungen fortzuführen, um festzustellen, ob anhand der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrages zuständig bestimmt werden kann; ist zu befürchten, dass durch ein unangemessen langes Verfahren eine Situation, in der Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, verschlimmert wird, muss der angegangene Mitgliedstaat den Asylantrag selbst prüfen (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a. a. O.; ders.: Urteil vom 14.11. 2013, a. a. O.).
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Als systemische Mängel sind solche Störungen anzusehen, die entweder im System eines nationalen Asylverfahrens angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von ihnen nicht vereinzelt oder zufällig, sondern in einer Vielzahl von Fällen objektiv vorhersehbar treffen oder die dieses System aufgrund einer empirisch feststellbaren Umsetzung in der Praxis in Teilen funktionslos werden lassen (vgl. Bank/Hruschka, Die EuGH-Entscheidung zu Überstellungen nach Griechenland und ihre Folgen für Dublin-Verfahren (nicht nur) in Deutschland, ZAR 2012, S. 182; OVG Rheinland-Platz, U. v. 21.02.2014 - 10 A 10656/13 -, juris), wobei nicht jede Verletzung eines Grundrechts und jeder geringe Verstoß gegen gemeinsame Vorschriften geeignet ist, das Dublin-System in Frage zu stellen (vgl. VG Oldenburg, B. v. 21.01.2014 - 3 B 6802/13 -, juris). Beurteilungsgrundlage bilden die Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a. a. O., Rdnr.90 ff.). Dabei ist eine Gesamtbetrachtung der Verhältnisse geboten, wobei bei der unterschiedlichen Behandlung von bestimmten Personengruppen vorrangig auf die Verhältnisse für diejenige Gruppe abzustellen ist, der der Asylbewerber angehört; gleichwohl sind auch die Umstände, die andere Gruppenangehörige betreffen, mittelbar für die Beurteilung systemischer Mängel geeignet (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 07.03.2014 - 1 A 21/12 -, juris).
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Prognosemaßstab für das Vorliegen derart relevanter Mängel ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die Annahme systemischer Mängel setzt somit voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedsstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylsuchenden im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verletzung eines Grundrechts der GRC oder der EMRK droht. Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss ihnen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. zur drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK: VG Magdeburg, B. v. 30.06.2015 – 9 B 565/15 MD -, S. 5 f. d. BA. m. w. N.).
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Bereits ungeachtet einer Verletzung des Verbotes einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK droht dem Kläger bei einer Fortsetzung seines Asylverfahrens in Ungarn die systemische Verletzung seines Rechts auf Freiheit aus Art. 6 GRC und Art. 5 EMRK. Bereits die drohende systemische Verletzung eines Menschenrechts der Grundrechtecharta oder der Europäischen Menschenrechtskonvention führt zu Verpflichtung des Mitgliedstaates zur Ausübung seines Selbsteintritts. Das Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO und die damit verbundene Selbsteintrittspflicht schützt den Asylbewerber nicht nur vor einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung. Weil der Mitgliedstaat bei der Prüfung des Selbsteintrittsrechts Unionsrecht durchführt, hat er nach Art. 51 Abs. 1 GRC die Unionsgrundrechte zu beachten (EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 -, juris, Rdnr. 69 ff.). Dem Unionsrecht lässt sich nicht entnehmen, dass das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, wonach die Mitgliedstaaten die Grundrechte grundsätzlich achten, nur für eine Verletzung des Art. 4 GRC oder Art. 3 EMRK widerlegt werden könnte, noch ließe sich eine derartige Ausnahme auf der Grundlage des Unionsrechts überzeugend begründen. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten nach gefestigter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert. Bei der Prüfung des Selbsteintritts ist der Mitgliedstaat aufgrund der unmittelbaren Bindung an die - primärrechtliche – GRC daher auch verpflichtet, weitere Grundrechtsverletzungen zu prüfen. Ihre inhaltliche Schranke findet diese Prüfung allerdings zum einen in der tatbestandlichen Beschränkung auf „systemische“ Mängel des „Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ und zum anderen in den hohen Anforderungen an die Widerlegung der grundsätzlichen Vermutung der Wahrung der GRC durch die Mitgliedstaaten (vgl. VG Berlin, B. v. 15.01.2015 – 23 L 899.14 A -, a. a. O., Rdnr. 9 m. w. N.). Eine Grundrechtsverletzung in diesem Sinne droht dem Kläger.
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Nach Art. 6 GRC, für dessen Auslegung der Maßstab des Art. 5 EMRK heranzuziehen ist (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRC), hat jeder Mensch das Recht auf Freiheit. Die Freiheit darf nur bei rechtmäßiger Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung oder zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist, und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Buchst. b und f EMRK). Jeder festgenommenen Person muss innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden (Abs. 2). Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist (Abs. 4). Die Haft muss in verhältnismäßiger Weise ihrem Zweck entsprechen. Sie muss den Umständen nach notwendig sein. Dies gilt sowohl für die Haftbedingungen als auch die Bemessung des Zeitintervalls für die Überprüfung der Haftanordnung. Hierbei ist zu berücksichtigen, ob die inhaftierte Person eine Straftat begangen hat oder aber – etwa wie ein Asylantragsteller – ihr Heimatland verlassen hat (VG Berlin, B. v. 15.01.2015 – 23 L 899. 14 A -, juris, Rdnr. 10 m. w. N.).
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Gemessen an diesem Maßstab ist die Vermutung, dass Ungarn im Asylverfahren das Recht auf Freiheit nach Art. 6 EU-GR-Charta achtet, auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse zur tatsächlichen Inhaftierung von Asylantragstellern als widerlegt anzusehen. Es besteht die ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von alleinstehenden und volljährigen Dublin-Rückkehrern, zu denen auch der Kläger zählt. Der Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 (im Folgenden: UNHCR vom 30.09.2014) zufolge werden praktisch alle Dublin-Rückkehrer mit Ausnahme von Familien und besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden in Haft genommen (UNHCR vom 30.09.2014, S. 2). Soweit das Auswärtige Amt in seiner Auskunft an das VG Düsseldorf vom 19.11.2014 demgegenüber ausführt, eine regelhafte Inhaftnahme von Dublin-Rückkehrern könnte nicht bestätigt werden, ist diese Stellungnahme nicht hinreichend belastbar, weil sie zu sehr das in Ungarn geltende Recht und weniger die davon abweichenden tatsächlichen Verhältnisse in diesem Land beschreibt (vgl. VG B-Stadt, GB. v. 30.06.2015 – 3 K 296/15 -, S. 8 d. GB. A.). Zwar verbietet Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht grundsätzlich, auch Asylantragsteller zu inhaftieren (VG Berlin, B. v. 15.01.2015 a. a. O, Rdnr. 11 m. w. N.). Es bestehen allerdings tatsächliche Anhaltspunkte für eine willkürliche und unverhältnismäßige Anwendungspraxis in Ungarn. Der nur begrenzte Zweck der Asylhaft findet bei deren Ausgestaltung keine hinreichende Berücksichtigung. So lässt sich die ausnahmslose Inhaftierung aller Dublin-Rückkehrer schon als solche durch die in Art. 31/A Abs. 1 des ungarischen Asylgesetzes geregelten Haftgründe kaum rechtfertigen. Auch gibt es Hinweise auf gesetzlich überhaupt nicht vorgesehene Begründungen der Haft (vgl. Pro Asyl vom 31.10.2014 an VG Düsseldorf (im Folgenden Pro Asyl), S. 8). Hinzukommt, dass den Inhaftierten unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 EMRK eine (verständliche) individuelle Begründung der Haftanordnung vorenthalten wird (UNHCR vom 30.09.2014, S. 2; Pro Asyl, S. 8). Dies, wie auch die geschilderte tatsächliche Entscheidungspraxis, wecken den Verdacht einer willkürlichen und damit gesetzeswidrigen Handhabung der gesetzlich geregelten Haftgründe durch die Behörden. In Ungarn verstehen weder die Fachleute noch die betroffenen Ausländer die Gründe für eine Haftanordnung (UNHCR an VG Düsseldorf vom 09.05.2014 (im Folgenden: UNHCR vom 09.05.2014), S. 2). Die durchschnittliche Dauer der Inhaftierung über mehrere Monate (Pro Asyl, S. 1; UNHCR vom 30.09.2014, S. 2) erscheint zumindest bei bestimmten Haftgründen (Identitätsfeststellung) sowie Staatsangehörigen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsstaaten unverhältnismäßig. Jedenfalls erweisen sich der zeitliche Abstand der richterlichen Überprüfung der Haft wie auch die Ausgestaltung dieses Verfahrens als nicht effektiv und damit im Ergebnis unverhältnismäßig. Gegen die Anordnung der Haft oder von Sicherungsmaßnahmen gegen einen Asylantragsteller existiert kein individuelles Rechtsmittel (UNHCR vom 30.09.2014, S. 7; Pro Asyl, S. 9 f.). Die Entscheidungen, mit denen gegen Asylsuchende Asylhaft verhängt wird, sind nicht anfechtbar (s. § 31/C(2) Asylgesetz). Es kann lediglich ein sogenannter Widerspruch eingelegt werden; es finden sich jedoch keine Angaben, in welchem Zeitraum dieser zu erheben und an wen er zu richten ist. Dieses Instrument ist den Asylsuchenden praktisch nicht bekannt. Rechtsvertreter berichteten, OIN-Mitarbeiter hätten ihnen nahelegt, dieses Instrument sei in keinem Fall geeignet, die Rechtsgrundlage einer Haftanordnung in Frage zu stellen (UNHCR vom 09.05.2014, S. 6). Auch die automatische gerichtliche Haftprüfung genügt den Anforderungen nicht. Eine solche Prüfung findet wegen der pauschalen Verlängerung der Haft um den maximal zulässigen Zeitraum erst nach zwei Monaten statt und beschränkt sich auf eine durchschnittlich dreiminütige Anhörung des Betroffenen (UNHCR vom 30.09.2014, a. a. O.; Pro Asyl, a. a. O.).
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Darüber hinaus droht dem Kläger neben der Inhaftierung als solcher bei einer Überstellung nach Ungarn die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK. Denn die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen lassen nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (VG Köln, U. v. 15.07.2015 – 3 K 2005/15.A -, juris, Rdnr. 55 m. w. N.).
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Die Bedingungen der Asylhaft in Ungarn entsprechen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe (vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG B-Stadt; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf).
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Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR (vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf) an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein "Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben (VG Köln, U. v. 15.07.2015 – a. a. O., juris, Rdnr. 52 m. w. N.).
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Der Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens in Ungarn steht nicht die Rechtsprechung des EGMR entgegen. Seine Entscheidung vom 06.06.2013 (EGMR, U. v. 06.06.2013 2283/12 -, InfAuslR 2014, 197, (199)) berücksichtigt die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehende Erkenntnislage und ist insbesondere davon getragen, dass das ungarische Parlament im November 2012 versucht hatte, die damals bereits gerügten Missstände in der ungarischen Asylpraxis durch Gesetzesänderungen zu beheben. Die aktuellen Erkenntnisse zeigen aber, dass diese Bemühungen des ungarischen Gesetzgebers nicht hinreichend von Erfolg gekrönt waren. Es kann nicht angenommen werden, dass der EGMR nach derzeitiger Erkenntnislage die Asylpraxis in Ungarn als grundrechtskonform ansehen würde. Denn der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 06.06.2013 die schon bis 2012 in Ungarn bestehende Asylpraxis – u. a. die Praxis, Asylbewerber in Handschellen und Ketten anlässlich von gerichtlichen Ladungen und behördlichen Anordnungen vorzuführen – mit Sorge gesehen (EGMR, U. v. 06.06.2013 – a. a. O.).
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Auch die aktuellen Gesetzesänderungen begründen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich damit etwas an der menschenrechtswidrigen Praxis der Asylhaft in Ungarn ändern könnte.
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Dass der UNHCR sich bislang noch nicht gegen Rückführungen nach Ungarn ausgesprochen hat, steht einer Wertung des ungarischen Asylsystems als defizitär durch die Beklagte oder das erkennende Gericht entgegen. An das bisherige Unterbleiben einer solchen Empfehlung durch den UNHCR sind weder die Beklagte noch das Gericht gebunden. Vielmehr ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall selbst zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK oder von Art. 6 GRC bzw. Art. 5 EMRK eine Überstellung in den Mitgliedstaat ausschließen (vgl. VG B-Stadt, GB. v. 30.06.2015 – a. a. O. -, S. 11 d. GBA.).
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Unerheblich ist auch, dass in Ungarn nicht alle Asylbewerber in Haft genommen werden. Entscheidend ist allein, dass nahezu alle Dublin-Rückkehrer in Ungarn mit Ausnahme von Familien und besonders schutzwürdigen Asylsuchenden in Asylhaft genommen werden. Denn der Begriff des systemischen Mangels ist nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Antragstellern auszuwirken. Vielmehr kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur vorhersehbar und regelhaft realisieren wird, nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist (VGH Baden-Württemberg, U. v. 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 -, juris, Rdnr. 33 m. w. N.), und der Kläger – wie hier – dieser Gruppe angehört.
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Auch hat die Europäische Kommission u.a. gegen Ungarn am 10.12.2015 ein Vertragsverletzungsverfahren wegen mangelhafter Umsetzung von EU-Asylrecht eingeleitet. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Verhältnisse in Ungarn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen auch für anerkannte Flüchtlinge dort wesentlich gebessert hätten, sind nicht bekannt geworden. Insbesondere hat die Beklagte solche nicht vorgetragen. Es mag zwar zweifelhaft sein, dass der Kläger im Zuge einer Überstellung nach Ungarn dort in Haft genommen würde, da er sich dort auf seinen Flüchtlingsstatus berufen könnte. Es ist aber, angesichts der oben getroffenen Feststellungen und der der Beklagten anzulastenden Unmöglichkeit, aktuelle Informationen aus Ungarn diesbezüglich zu erhalten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Ungarn zum jetzigen Zeitpunkt dort in die Obdachlosigkeit fallen, keinen Notschlafplatz finden, keine ausreichende Unterstützung erhalten und auch keine Hilfen bei der Suche nach Wohnung und Arbeit erhalten würde.
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Die relevanten Bedingungen dafür dürften sich aufgrund der oben dargelegten politischen Abwehrhaltung der ungarischen Regierung und der nachgeordneten Stellen gegenüber Schutzsuchenden und auch Flüchtlingen eher noch verschlechtert haben. Insoweit ist auch zu bedenken, dass die Abschiebung wahrscheinlich auf unabsehbare Zeit nicht ausgeführt werden kann. Denn - wie oben ausgeführt - erscheint es als ausgeschlossen, dass Ungarn gegenwärtig und auf absehbare Zeit Schutzsuchende (im Rahmend der Dublin-Regeln) oder anerkannte Flüchtlinge (im Rahmen des deutsch-ungarischen Rückübernahmeabkommens) wieder von Deutschland übernimmt (so auch: VG Freiburg, Urteil v. 04.01.2016, A 5 K 1838/13; juris).
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3.) Soweit ist dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Urteil einreichenVerwaltungsgericht Magdeburg Urteil, 17. März 2016 - 8 A 79/16 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
(1) Der Vorsitzende oder der Berichterstatter hat schon vor der mündlichen Verhandlung alle Anordnungen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Er kann insbesondere
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die Beteiligten zur Erörterung des Sach- und Streitstandes und zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits laden und einen Vergleich entgegennehmen; - 2.
den Beteiligten die Ergänzung oder Erläuterung ihrer vorbereitenden Schriftsätze, die Vorlegung von Urkunden, die Übermittlung von elektronischen Dokumenten und die Vorlegung von anderen zur Niederlegung bei Gericht geeigneten Gegenständen aufgeben, insbesondere eine Frist zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte setzen; - 3.
Auskünfte einholen; - 4.
die Vorlage von Urkunden oder die Übermittlung von elektronischen Dokumenten anordnen; - 5.
das persönliche Erscheinen der Beteiligten anordnen; § 95 gilt entsprechend; - 6.
Zeugen und Sachverständige zur mündlichen Verhandlung laden. - 7.
(weggefallen)
(2) Die Beteiligten sind von jeder Anordnung zu benachrichtigen.
(3) Der Vorsitzende oder der Berichterstatter kann einzelne Beweise erheben. Dies darf nur insoweit geschehen, als es zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Gericht sachdienlich und von vornherein anzunehmen ist, daß das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10.06.2015, mit welchem der Asylantrag wegen der in Italien erlangten Anerkennung subsidiären Schutzes als unzulässig abgelehnt sowie die Abschiebung nach Italien angedroht wurde.
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Er begehrt die "Aufstockung seines Schutzes" und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 10.06.2015 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen,
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verweist auf den streitbefangenen Bescheid und ist nach richterlichem Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Beschluss vom 23.10.2015 (1 B 41.15; juris) der Auffassung, dass der Bescheid in eine Ablehnungsentscheidung über einen Zweitantrag nach § 71 a AsylG umzudeuten sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch den Einzelrichter (§ 87 Abs. 2, 3 VwGO) entschieden werden konnte, hat Erfolg.
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1.) Das klägerische Begehren ist im Wege der Anfechtungsklage zulässig (vgl. nur: BVerwG, Urteil v. 27.10.2015, 1 C 32.14; juris).
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2.) Die Klage ist begründet. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist der streitbefangene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht festgestellt, dass der Asylantrag in Deutschland unzulässig ist und die daran anknüpfende Androhung seiner Abschiebung ausgesprochen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
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a.) Denn die vor dem 20.07.2015 gestellten Asylanträge dürfen aufgrund der Übergangsregelung in Art. 51 Unterabschnitt 1 der Richtlinie 2013/32/EU nicht allein deshalb als unzulässig behandelt werden, weil dem Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinem Beschluss vom 23.10.2015 (1 B 41.15; juris) zur der vorliegenden Problematik aus:
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"Danach wenden die Mitgliedstaaten die in Umsetzung der Richtlinie nach Art 51. Abs. 1 erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf förmlich gestellte Anträge auf internationalen Schutz nach dem 20.07.2015 oder früher an; für vor diesem Datum gestellte Anträge gelten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften "nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85//EG" (Asylverfahrensrichtlinie a.F.). Zu den dieser Übergangsregelung unterfallenden Bestimmungen zählt auch die Ermächtigung in Art. 33 der Richtlinie 2013/32/EU, die regelt, unter welchen Voraussetzungen Mitgliedstaten zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Dublin-Verordnung ein Antrag nicht geprüft wird, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen Unzulässigkeit nicht prüfen müssen. Folglich darf ein vor dem Stichtag (20.07.2015) gestellter Asylantrag nur nach Maßgabe der Regelung in Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG als unzulässig abgelehnt werden. Nach Art. 25 Abs. 2 Bucht. b der Richtlinie 2005/8/EG können die Mitgliedstaaten einen Asylantrag wegen Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat aber nur als unzulässig betrachten, wenn der andere Mitliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Daran fehlt es hier.
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Da es sich bei der den Mitgliedstaaten in Art. 33 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten – und gegenüber der Vorgängerregelung erweiterten – Option um eine den Antragsteller belastende Änderung handelt, ermöglicht auch die Günstigkeitsbestimmung des Art. 5 der Richtlinie 2013/32/EU keine vorzeitige Anwendung der Änderung auf vor dem 20.Juli 2015 gestellte Asylanträge. Damit steht im vorliegende Verfahren Unionsrecht der von der Beklagten angenommenen Auslegung des § 60 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG entgegen […]."
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b.) Die Beklagte kann sich auch nicht erfolgreich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Urteil vom 17.06.2014 (10 C 7.13; juris) berufen. Denn in der dortigen Fallkonstellation war der Asylbewerber bereits im anderen Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt worden. Nur eine solche ausländische Flüchtlingsanerkennung hat zur Folge, dass ein - nur dann - neuerlicher Anspruch auf eine Statusanerkennung durch das Bundesamt nicht erfolgt (BVerwG, Beschluss v. 23.10.2015, (1 B 41.15; juris). Vorliegend ist die Fallkonstellation aber wegen der ausländischen bloßen subsidiären Schutzgewährung gerade anders. Die Beklagte wird daher aufgrund der Übergangsregelung die inhaltliche Prüfung der begehrten "Aufstockung" des bereits erlangten ausländischen "subsidiären Schutzes" zur Zuerkennung der "Flüchtlingseigenschaft" nachholen müssen (so auch: VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid v. 29.12.2015, 22 K 1472/15.A; VG Osnabrück, Urteil v. 04.01.2016, 5 A 83/15, beide juris). Ob diese materiell-rechtliche Prüfung des "Flüchtlingsschutzes" inhaltlich im Rahmen eines von den Dublin-Vorschriften unabhängigen "reinen inländischen" Erstverfahrens oder eines Zweitverfahrens nach § 71 a AsylG zu erfolgen hat, muss hier nicht entschieden werden und setzt weitere tatsächliche Erkenntnisse voraus. Denn fraglich ist, ob der ausländische Schutzstatus aufgrund einer inhaltlichen Prüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft erlangt wurde, ob also der andere Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft überhaupt geprüft und abgelehnt hat. Dies müsste von der Beklagten überprüft werden. Denn eine solche Prüfung beinhaltet auch, dass das Bundesamt Kenntnis von den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrages im anderen Mitgliedstaat hat (BVerwG, Beschluss v. 18.02.2015, 1 B 2.15; VG Osnabrück, Beschluss v. 24.04.2015, 5 B 125/15; VG Lüneburg, Beschluss v. 11.05.2015, 2 B 13.15; VG Ansbach, Urteil v. 07.01.2016, AN 3 K 15.30960 mit Verweis auf Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 71 a Rz. 17; alle juris). Sollte es eine explizite ausländische Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft geben, wäre die in Deutschland begehrte "Aufstockung" jedenfalls im Rahmen eines Zweitantrages nach § 71 a AsylG von der Beklagten zu prüfen.
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c.) Den Ausführungen der Beklagten in ihrer Stellungnahme aufgrund des richterlichen Hinweises auf die Rechtslage und Rechtsprechung, folgt das Gericht nicht. Eine Umdeutung des streitbefangenen Bescheides wegen "Unzulässigkeit aufgrund Bescheidung in einem anderen Mitgliedstaat“ in eine materiell-rechtliche „Ablehnungsentscheidung über einen Zweitantrag nach § 71 a AsylG“ ist rechtlich nicht möglich. Die Beklagte wendet auch hier nicht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund des Urteils vom 16.11.2015 (1 C 4.15; juris) an. Danach kann die Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig nicht als Entscheidung nach § 71 a AsylG umgedeutet bzw. aufrechterhalten werden (so auch: VG Düsseldorf, Urteil v. 04.01.2016, 5 A 83/15; juris).
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Bei der Umdeutung (Konversion) wird die im Verwaltungsakt getroffene Regelung nicht lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, sondern durch eine andere (rechtmäßige) Regelung ersetzt. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter und damit rechtswidriger Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenen Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Nach § 47 Abs. 4 VwVfG ist § 28 VwVfG entsprechend anzuwenden. Außerdem dürfen die Rechtsfolgen für den Betroffenen nicht ungünstiger sein (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwVfG).
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Diese Voraussetzungen für eine Umdeutung liegen nicht vor. Denn eine Umdeutung scheitert schon daran, dass die Rechtsfolgen einer Entscheidung nach § 71 a AsylG für den Kläger ungünstiger wären. Dabei sind nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Rechtsfolgen der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil v. 16.11.2015, 1 C 4.15; juris). Die Ablehnung als "unzulässig" ist qualitativ nicht mit der Prüfung eines Zweitantrages nach § 71 a Abs. 1 AsylG zu vergleichen. Denn dort muss geprüft werden, ob nach der Beendigung des – in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten – Asylverfahrens Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eingetreten sind. Es muss eine Beurteilung und Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Vortrag des Asylbewerbers erfolgen. Die sodann nach Prüfung inhaltliche Ablehnung des neuerlichen Asylbegehrens entfaltet andere Rechtswirkungen als der ursprüngliche, streitgegenständliche Bescheid wegen Unzulässigkeit ohne materiell-rechtliche Prüfung.
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Die Voraussetzungen zum Wiederaufgreifen hat die Beklagte bislang nicht geprüft. Dabei ist unerheblich, dass derartige Gründe, die ein Wiederaufgreifen nach Beendigung des ausländischen Asylverfahrens hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - wenn diese dort explizit verneint wurde – rechtfertigen würden, bislang nicht vorgetragen wurden. Denn eine solche Entscheidung ist von der Beklagten grundsätzlich nach Anhörung noch zu treffen und kann nicht in die bisherige Entscheidung hineingelesen werden (so auch: VG Osnabrück, Urteil v. 04.01.2016, 5 A 83/15; juris).
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3.) Demnach entfällt auch die Rechtsgrundlage für die in Ziffer 2 des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung.
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4.) Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.
(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.
(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.
(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.
(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.
(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.