Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht Urteil, 01. Dez. 2011 - 4 LB 8/11

ECLI:ECLI:DE:OVGSH:2011:1201.4LB8.11.0A
bei uns veröffentlicht am01.12.2011

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 2. Kammer - vom 07. April 2009 geändert.

Der Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2008 wird aufgehoben.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

2

Der am 06. September 1981 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste – minderjährig – im September 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 13. Januar 1997 einen Antrag auf Gewährung politischen Asyls stellte. Zur Begründung machte er seinerzeit im Wesentlichen geltend, er habe die Türkei verlassen, weil die Jugendlichen dort unterdrückt worden seien. Man habe von ihm etwa Mitte 1995 verlangt, mit dem Staat zusammen zu arbeiten und Dorfschützer zu werden. Er stamme aus einem Dorf nahe der türkisch-syrischen Grenze und habe gegen die PKK kämpfen sollen. Auch habe er zusammen mit anderen Jugendlichen auf Baustellen der Militärs arbeiten müssen. Man habe sie beschuldigt, die PKK zu unterstützen. Sein Vater sei wiederholt festgenommen worden. Im Falle der Rückkehr befürchte er, zwangsweise als Dorfschützer eingesetzt zu werden und zum Wehrdienst eingezogen zu werden.

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Mit Bescheid vom 30. Januar 1997 lehnte das seinerzeitige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG a. F. nicht vorlägen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Kläger die Abschiebung in die Türkei angedroht. Die daraufhin erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Mit rechtskräftigem Urteil vom 06. März 2002 (Az.: 21 A 443/01) hob das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht die sich auf die Türkei beziehende Abschiebungsandrohung auf und verpflichtete die Beklagte unter Abweisung der Klage im Übrigen zur Feststellung, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Die Abweisung der Asylklage wurde im Wesentlichen damit begründet, der Kläger habe eine politische Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Er sei unverfolgt ausgereist. Die von ihm geschilderten Ereignisse würden das typische Erscheinungsbild einer örtlich begrenzten Verfolgung darstellen. Auch aus dem Umstand, dass sich der Kläger durch seine Ausreise der Ableistung seiner Wehrpflicht in der Türkei entzogen habe, ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Gefahr einer politischen Verfolgung iSd Art. 16 a Abs. 1 GG. Die vom Kläger dargelegten exilpolitischen Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland könnten als subjektive Nachfluchtgründe den Asylanspruch nicht tragen. Der Kläger sei unverfolgt, ohne erkennbar betätigte und gefestigte politische Überzeugung ausgereist. Auch wenn er vortrage, aus einer politisch interessierten Familie zu stammen, habe er zu keinem Zeitpunkt dargelegt, sich in seinem Heimatland aktiv für die „kurdische Sache“ eingesetzt zu haben, obgleich er hierzu auch im Alter von 15 Jahren in der Lage gewesen wäre. Allerdings stehe dem Kläger aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu, da er im Falle der Rückkehr in sein Heimatland eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende politische Verfolgung glaubhaft gemacht habe, ohne dass ihm insoweit eine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung stünde. Hiervon sei aufgrund der vom Kläger dargelegten exilpolitischen Aktivitäten insbesondere in der YCK (Union der Jugendlichen aus Kurdistan), einer Unterorganisation der PKK, in deren Rahmen er sich in einer auch für die türkischen Sicherheitsbehörden deutlich erkennbaren Stellung betätigt habe, auszugehen. Ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko bestehe regelmäßig bei profilierten Aktivisten von Vereinen, die als von der PKK dominiert oder beeinflusst gelten oder von Seiten des türkischen Staates als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft werden, die sich in herausgehobener oder jedenfalls erkennbarer Stellung betätigen. Unter Berücksichtigung der schlüssigen und überzeugenden Darlegung des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es sich bei dem Kläger um einen in der vorgenannten Art hervorgehobenen Aktivisten handele. Er sei nicht nur Mitglied in der Organisation der PKK für Jugendliche, der YCK (Union der Jugendlichen aus Kurdistan) und nehme als solches an 14-täglich stattfindenden Versammlungen in D-Stadt teil, in denen er u. a. kurdische Jugendliche über kurdische Kultur unterrichte, er verteile auch die monatlich erscheinende Veröffentlichung der YCK, die Sterka Ciwan, und sei für die Dauer eines Monats im Schulungscamp der PKK in Holland gewesen, wo er über die Geschichte Kurdistans und die Ziele der PKK unterrichtet worden sei. Er sei darüber hinaus Mitglied der Kieler Deutsch-Kurdischen Gesellschaft e. V., einer Organisation, die als offizieller Mitgliedsverein der am 27. März 1994 in Bochum gegründeten Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V. (YEK-KOM), einem Dachverband PKK-naher kurdischer Vereine im Bundesgebiet als der PKK nahestehend anzusehen sei. Die Gründung der YEK-KOM sei seinerzeit als Reaktion der PKK auf das Verbot der „Föderation der patriotischen Arbeiter- und Kulturvereinigungen in Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland“ (DEKA-Kurdistan) am 26.11.1993 durch die Bundesinnenminister erfolgt. Nach der Auskunftslage wisse in D-Stadt jeder lebende Mensch türkischer und/oder kurdischer Abstammung, dass die Deutsch-Kurdische Gesellschaft, D-Stadt, der PKK nahestehe und betrachte die Mitglieder und Aktivisten als Mitglieder der PKK. Dieses sei auch dem Türkischen Generalkonsulat in A-Stadt bekannt. Die meisten türkisch-stämmigen Familien würden die Mitglieder und Sympathisanten als Landesverräter und Feinde des türkischen Staates betrachten. Darüber hinaus sei – ausweislich der von dem Kläger vorgelegten entsprechenden Ausgabe im Original – ein Interview des Klägers in der Zeitung „Özgür Politika“ vom 02.06.2001 unter Nennung seines Namens veröffentlicht worden. Bei dieser Zeitschrift handele es sich um das Sprachrohr der PKK. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der türkische Staat umfangreiche organisatorische Maßnahmen zur Überwachung der kurdischen nationalen Opposition im Ausland getroffen habe und die Personalien von Kadern der PKK und ähnlich militante staatsfeindlicher Exilorganisationen erfasse und bei der zuständigen Behörde registriere, sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die türkischen Sicherheitskräfte den Kläger aufgrund seines exponierten Auftretens in der Jugendorganisation der PKK, der YCK, zum einen und seiner namentlichen Nennung in der „Özgür Politika“ zum anderen ohne Weiteres dem der PKK nahestehenden Personenkreis zuordnen würden, so dass ein beachtlich wahrscheinliches Risiko zu seinen Lasten im Falle seiner Rückkehr in die Türkei auf der Hand liege.

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Aufgrund des Urteils vom 06. März 2002 stellte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 15. April 2002 unter Hinweis auf die ihm auferlegte Verpflichtung für den Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. hinsichtlich der Türkei fest.

5

Am 05. Juni 2008 leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Widerrufsverfahren gemäß § 73 AsylVfG ein. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aufgrund exilpolitischer Aktivitäten erfolgt sei. Nach den Reformen in der Türkei aus jüngster Zeit sei jedoch davon auszugehen, dass ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates nur dann gegeben sei, wenn der Verdacht bestehe, exilpolitische Aktivitäten könnten nach türkischem Recht strafbar sein. Hierfür lägen keine Anhaltspunkte vor. Der Kläger könne nach Aktenlage die Rückkehr in das Heimatland auch nicht aus zwingenden Gründen, die auf früheren Verfolgungen beruhten, ablehnen. Deshalb sei beabsichtigt, die ihm zuerkannte Begünstigung zu widerrufen.

6

Der Kläger machte im Rahmen seiner Anhörung im Wesentlichen geltend, die Verhältnisse in der Türkei hätten sich nicht asylrelevant geändert.

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Mit Bescheid vom 16. Juli 2008 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die mit Bescheid vom 15. April 2002 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Wegen der Begründung wird auf den Bescheid vom 16. Juli 2008 verwiesen.

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Am 30. Juli 2008 hat der Kläger Klage erhoben.

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Er hat im Wesentlichen geltend gemacht, der Widerrufsbescheid sei rechtswidrig, da sich die Verhältnisse in der Türkei nicht asylrelevant, d. h., erheblich und dauerhaft geändert hätten. Auch sei zu berücksichtigen, dass er in der Türkei wegen seiner Militärdienstentziehung gesucht würde und den dortigen Sicherheitskräften im Übrigen sein Aufenthalt in Deutschland sowie seine politischen Aktivitäten bekannt seien.

10

Im Rahmen seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausgeführt, er sei unverändert Mitglied in der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft in D-Stadt. Er sei dort auch bei Aktionen und Aktivitäten beteiligt. Die Veränderungen in der Türkei einschließlich des geltend gemachten Reformprozesses würden dort diskutiert. Sie seien aber nicht der Meinung, dass sich etwas Wesentliches geändert habe. Im Verhältnis zu früher sei er eher mehr als weniger aktiv. So habe er an den Newroz-Feierlichkeiten teilgenommen, auch an einer Veranstaltung in Hannover. Allerdings schreibe er keine Artikel mehr. In diesem Bereich halte er sich seit geraumer Zeit zurück, da er wegen einer seinerzeitigen Veröffentlichung zur Polizei vorgeladen worden sei. Man habe ihm Vorhaltungen gemacht, dass es angeblich Beweise gegen ihn im Zusammenhang mit der PKK gebe. Außerdem habe er im Falle einer Rückkehr Angst, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Er lehne es ab, gegen sein eigenes Volk kämpfen zu müssen. Vor etwa sechs Monaten sei ein Onkel in Mersin nach ihm gefragt worden. Er sei in seinem ganzen Leben noch nicht in Mersin gewesen. Wenn man aber schon dort nach ihm frage, könne man sich vorstellen, was es für ihn bedeuten würde, in die Türkei zurückzukehren. Er müsse auch mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Militärdienstentziehung rechnen. Im Jahre 2006 seien der Onkel seiner Mutter und dessen Frau in Midyat getötet worden. Wenn schon 80jährige dort getötet würden, was müssten dann erst junge Menschen befürchten.

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Der Kläger hat beantragt,

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den Bescheid des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 16. Juli 2008 aufzuheben.

13

Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

15

Die Beklagte hat zur Begründung auf den Inhalt des streitgegenständlichen Widerrufsbescheides verwiesen.

16

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 07. April 2009 abgewiesen. Der Widerrufsentscheidung stehe nicht das rechtskräftige Verpflichtungsurteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 06. März 2002 entgegen, da eine wesentliche, entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage festzustellen sei. In den Fällen, in denen – wie hier – die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht auf einer individuellen Vorverfolgung beruhe, sondern Folge angenommener subjektiver Nachfluchtgründe sei, setze der Widerruf dieses Status nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG voraus, dass sich die zum Zeitpunkt der Zuerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat die Gefahr asylrelevanter Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Zwar hätten sich die Verhältnisse in der Türkei noch nicht derart verändert, dass von einer hinreichenden Sicherheit ausgegangen werden könne, weil nach wie vor eine nicht auszuschließende, ernsthafte Möglichkeit bestehe, in der Türkei im Rahmen polizeilicher Maßnahmen, insbesondere Gewahrsamsnahmen, Opfer von Misshandlungen zu werden. Nach Einschätzung des Gerichts wäre der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland aber keinem beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisiko mehr ausgesetzt. Zu dem Personenkreis der politisch Aktiven, die aus der Sicht des türkischen Staates durch Art, Intensität und Gewicht ihrer auf Einflussnahme auf die politische Willensbildung der in Deutschland lebenden Landsleute abzielenden politischen Arbeit prägend auf die Umwelt einwirkten und die Meinungsbildung mitgestalteten, zähle der Kläger heute ersichtlich nicht mehr. Seine frühere exponierte Stellung innerhalb der YCK habe der Kläger nach dem in der mündlichen Verhandlung vermittelten Eindruck aufgegeben und auch seine einmalige namentliche Nennung in der Zeitung „Özgür Politika“ vom 02. Juni 2001 als Organisator eines Fußballturniers liege mittlerweile nahezu acht Jahre zurück, ohne dass es weitere Berichte über den Kläger in dieser Zeitschrift gegeben habe oder gar von ihm selbst verfasste Texte dort veröffentlicht worden wären. Die vom Kläger geschilderten aktuellen exilpolitischen Aktivitäten seit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus im April 2002 seien gegenüber seiner ursprünglichen Betätigung, die schwerpunktmäßig in den Jahren 2000 und 2001 erfolgt sei, deutlich zurückgegangen. Vor dem Hintergrund einer Jahre zurückliegenden exponierten exilpolitischen Betätigung des seinerzeit jugendlichen Klägers und seiner nunmehr erheblich eingeschränkten Aktivitäten, die keinerlei staatliches Interesse auf Seiten der Türkei begründen würden, lasse sich eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in die Türkei nicht mehr feststellen. Dies gelte auch vor dem Hintergrund nicht abgeleisteten Wehrdienstes. Zwar möge es sein, dass der Kläger bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbehörden an der Grenze als Wehrdienstflüchtiger erkannt und festgenommen werde. Es gebe aber keine Erkenntnisse darüber, dass ihm in einem solchen Falle Folter drohe, zumal die Wehrdienstentziehung durch Flucht ins Ausland ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt werde. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe, auf denen der Kläger gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG die Rückkehr in die Türkei ablehnen könnte, seien nicht ersichtlich.

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Am 4. September 2009 hat der Kläger die Zulassung der Berufung gegen das ihm am 6. August 2009 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts beantragt.

18

Der Senat hat mit Beschluss vom 28. Oktober 2009 auf Antrag des Klägers die Berufung zugelassen.

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Der Kläger vertritt die Auffassung, bei der Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit müsse der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab angewandt werden. Das Flüchtlingsrecht diene auch der Schaffung dauerhafter Zustände. Jedenfalls hinsichtlich einer der ursprünglich drohenden Verfolgung gleichartigen Verfolgung sei im Widerrufsverfahren der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde zu legen. Von einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Verhältnisse könne nur ausgegangen werden, wenn eine der ursprünglich geltend gemachten gleichartige Verfolgung hinreichend sicher auszuschließen sei. Im Übrigen hätten sich die Verhältnisse in der Türkei auch nicht derart verändert, dass nunmehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen damals asylrelevanter exilpolitischer Aktivitäten mehr gegeben sei. Von einer nachhaltigen und stabilen Veränderung der Verhältnisse für Personen, die im Verdacht stehen, die PKK zu unterstützen, könne keine Rede sein. Soweit er sich in der letzten Zeit nicht mehr exponiert betätigt habe, werde dies dadurch „ausgeglichen“, dass er bei Rückkehr ohnehin eine Festnahme zu erwarten habe. Er werde nach wie vor wegen Nichtantritts des Wehrdienstes gesucht. Seine Eltern hätten eine entsprechende Ladung erhalten.

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Der Kläger beantragt,

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unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2008 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

24

Sie hält den angefochtenen Widerrufsbescheid für rechtmäßig. Da die Qualifikationsrichtlinie das Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nicht übernommen habe, setze der Widerruf nur voraus, dass die ursprüngliche Verfolgung nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie könne sich der Kläger mangels Vorverfolgung nicht berufen. Die ursprünglich zur Flüchtlingsanerkennung führende Gefahr der Folter oder Misshandlung wegen exilpolitischer Aktivitäten für der PKK nahestehende Organisationen habe in der Türkei mittlerweile nur noch Ausnahmecharakter; darin liege eine erhebliche Veränderung.

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Das Bundesverwaltungsgericht hat auf die Revision der Beklagten hin das der Berufung stattgebende Urteil des Senats vom 09. Februar 2010 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Wegen der Gründe wird auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 01. Juni 2011 (Az.: 10 C 10.10) Bezug genommen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, insbesondere auf den Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 28.11.2011, und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid vom 16. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war deshalb aufzuheben.

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Maßgebliche Rechtsgrundlage ist § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 02. September 2008, BGBl. I S. 1798).

29

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gem. § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

30

Im Hinblick auf das in § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG enthaltene Tatbestandsmerkmal der “Unverzüglichkeit“ begegnet der Widerruf allerdings keinen Bedenken. Das Gebot der Unverzüglichkeit dient nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des Betroffenen Ausländers verletzten kann. Die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 S. 2, § 48 Abs. 4 VwlVfG findet jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Flüchtlingsanerkennung innerhalb der 3-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG widerrufen wird. Diese Vorschrift enthält eine bereichsspezifische Sonderregelung, welche die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt und auch für Altanerkennungen gilt (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 10.10 -, juris unter Hinweis auf die Urteile v. 12.06.2007 - 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 und v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243).

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Der angefochtene Bescheid ist auch nicht wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 01. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2 a S. 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 01. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 01. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (BVerwG, Urt. v. 25.11.2008 - 10 C 53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31).

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Nach § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere dann nicht mehr vor, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Hierbei ist - unter anderem - zu prüfen, ob der Flüchtling aufgrund der erheblichen Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr noch mit Verfolgung rechnen muss. Dabei findet - unabhängig davon, ob der Flüchtling Vorverfolgung erlitten hat - der Wahrscheinlichkeitsmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Anwendung. Dies ergibt sich aus folgendem:

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Mit § 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 v. 30.09.2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 v. 05.08.2005 S. 24) und über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011,408). Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrundeliegenden Schutzanträge - wie vorliegend - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind.

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Das Bundesverwaltungsgericht hat, insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zur Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft (EuGH, Urt. v. 02.03.2010 [Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505]) seine frühere Rechtsprechung aufgegeben, wonach der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraussetzte, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben mussten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (so Urteile v. 01.11.2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277, 281 u. v. 12.06.2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28). Unionsrechtlich gilt bei Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in den Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchstabe c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Gr. Kammer, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, a.a.O.).

35

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit der Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass darauf abzustellen ist, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht. Die Richtlinie kennt nur einen einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Anhaltspunkte dafür, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte, bestehen nicht. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG unter anderem Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu Eigen gemacht hat, wonach in Privilegierung des Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG eine tatsächliche Vermutung dahingehend normiert, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, wodurch der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet wird, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Auf die Frage, ob die Mitgliedsstaaten überhaupt bei der Regelung von Widerrufsverfahren von der unionsrechtlichen Vorgabe eines einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen durften, kommt es deshalb nicht mehr an.

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Die für den Widerruf gem. § 73 Abs. 1 AsylVfG erforderliche erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. Der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände hat sich dabei danach zu bestimmen, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10, a.a.O. unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 2. März 2010 Rs. C-175/08 u.a. -NVwZ 2010,505). Gegenüber dem Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, weil reiner Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirkt (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, a.a.O.).

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Die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland Türkei haben sich seit der aufgrund des Verpflichtungsurteils vom 06. März 2002 erfolgten Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. durch Bescheid vom 15. April 2002 geändert (vgl. hierzu auch: OVG Saarland, Urt. v. 25.08.2011 - 3 A 35/10 -, juris).

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Das Auswärtiges Amt beschreibt diese Veränderungen in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Februar 2011; im Folgenden: Lagebericht 2011) folgendermaßen:

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Die rechtliche Entwicklung der vergangenen Jahre in der Türkei ist hiernach gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden Reformprozess, der wesentliche Teile der Rechtsordnung (besonders im Strafrecht, aber auch im Zivil- oder Verfassungsrecht) erfasst hat und auf große Teile der Gesellschaft ausstrahlt. Im Jahre 2010 hat die Regierung durch ein erfolgreiches Verfassungsreferendum bislang offene Aufgaben erledigt (z.B. Stärkung der Rechte der Gewerkschaften, Ombudsmann-Gesetz, Gleichstellung, Verfassungsbeschwerde, Datenschutz). Das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert, die Bedeutung des Militärs ist graduell zurückgegangen. Auch im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit hat es Fortschritte gegeben. Ehemalige Tabu-Themen (Kurden, Armenien, Militär) können offener als früher diskutiert werden Die Bedeutung des Militärs und der Sicherheitskräfte ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Die zivile Kontrolle der Streitkräfte wurde in den letzten Jahren wesentlich gestärkt, zuletzt im September 2010 durch die Abschaffung der Militärjustiz für Zivilpersonen, die Einführung der Jurisdiktionsgewalt des Verfassungsgerichts über den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und die Offenlegung des Militärbudgets gegenüber dem Parlament. Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch (wie alle Vereine) der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium nach Maßgabe des Vereinsgesetzes. Das „Präsidium für Menschenrechte“ untersteht als staatliche eigenständige Behörde mit ungefähr 20 Beschäftigten formal dem Ministerpräsidenten. Es besteht die Möglichkeit, sich über sogenannte „Menschenrechtsantragskästen“ in städtischen Einrichtungen über Menschenrechtsverstöße zu beschweren. Auch spricht der Parlamentsausschuss für Menschenrechte Missstände im Land an. Das am 23. November 2004 novellierte Vereinsgesetz erlaubt die Gründung von Vereinen auf der Grundlage der Zugehörigkeit unter anderem zu einer Religion oder Volksgruppe innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Türkisch muss nur noch in der offiziellen Korrespondenz des Vereins mit staatlichen Institutionen benutzt werden.

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Im Vergleich zur Situation vor 2005 berichtet die Presse freier und kritischer, insbesondere auch in Bezug auf die Regierung und auf Menschenrechtsverstöße. Über die Kurdenthematik wird offen berichtet. Auch die Möglichkeiten zur Kritik am Militär haben sich deutlich verbessert. Der private Gebrauch des Kurdischen, das heißt der beiden in der Türkei vorwiegend gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmanci und Zaza, ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. 2010 wurde durch eine Änderung des Wahlgesetzes das Verbot von Wahlwerbung in einer anderen Sprache als Türkisch aufgehoben. Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Die bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in „Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden“ wurde aufgehoben. An der staatlichen Atakule Universität in Mardin wurde 2010 ein „Institut für lebende Sprachen“ (u.a. Kurdisch) eingerichtet. Die staatliche Alpaslan-Universität in Mus bietet seit dem Wintersemester auch einen Magister in kurdischer Sprache an, die private Istanbuler Bilgi-Universität bietet Kurdisch seit 2009 als Wahlfach an.

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Reformen hat es insbesondere im Bereich der Gesetzgebung und des Justizwesens gegeben. Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafrecht. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in der Verfassung verankert (Art. 138). Entscheidungen über Entlassungen von Richtern durch den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte unter Vorsitz des Justizministeriums sind seit 2010 gerichtlich überprüfbar. Seit 2008 hat sich die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten verbessert (Lagebericht 2011). Dem Auswärtigen Amt sind in jüngster Zeit keine Gerichtsurteile auf Grundlage von durch die Strafprozessordnung verbotenen, erpressten Geständnissen bekannt geworden. Bis 2004 kam es bei Wehrdienstentziehung auch zur Aberkennung der türkischen Staatsangehörigkeit (Art. 25 c tStAG). Diese gesetzliche Bestimmung wurde am 29. Mai 2009 durch ein Änderungsgesetz zum Staatsangehörigkeitsgesetz abgeschafft. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Nach der am 08. Mai 2008 in Kraft getretenen Reform des Art. 301 tStGB können Ermittlungen nach diesem Straftatbestand nur noch nach Zustimmung des Justizministers aufgenommen werden. Dabei ist der Tatbestand „Beleidigung des Türkentums“ durch die Formulierung „Beleidigung der türkischen Nation“ abgeändert, der Strafrahmen von 3 auf 2 Jahre heruntergesetzt sowie für im Ausland begangene Taten an das Inlandsstrafmaß angepasst worden. In der großen Mehrzahl der Fälle wurde es von der Justiz seither abgelehnt, Gerichtsverfahren einzuleiten.

42

Die Türkei ist Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und ist seit dem 15. April 2002 (Anerkennung des Klägers) zahlreichen VN-Übereinkommen beigetreten, so dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 (in Kraft seit 16.06.2002); nach entsprechender Ratifizierung trat am 21.07.2003 der Pakt über bürgerliche und politische Rechte und am 11.08.2003 der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 in Kraft. Das zweite Fakultativprotokoll (Abschaffung der Todesstrafe) ist seit 27.12.2005 in Kraft. Das Fakultativprotokoll zu dem VN-Übereinkommen gegen Folter, welches am 14.09.2005 unterzeichnet wurde und eine unabhängige, finanzielle und strukturell autonome Überwachungseinrichtung vorsieht, wurde zwar bisher noch nicht ratifiziert; der Ministerrat hat am 02.09.2009 der Ratifizierung jedoch zugestimmt

43

Die AK-Partei-Regierung hat alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, um Folter und Misshandlungen im Rahmen einer „Null-Toleranz-Politik“ zu unterbinden. Beispielsweise ist die entsprechende Strafandrohung in Art. 94 ff. tStGB erhöht worden; ferner sind ärztliche Untersuchungen bei polizeilicher Ingewahrsamsnahme und die Stärkung von Verteidigerrechten durchgesetzt worden. Nach belastbaren Informationen von Menschenrechtsorganisationen hat sich auch die Situation hinsichtlich der Folter in Gefängnissen in den letzten Jahren erheblich gebessert. Runderlasse schreiben vor, dass Staatsanwaltschaften Folterstraftaten vorrangig und mit besonderem Nachdruck zu verfolgen haben. Für die letzten Jahre sind dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt geworden, in denen ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden ist.

44

Veränderungen in der Türkei attestiert auch der Fortschrittsbericht der EU vom 06.01.2007 (im Folgenden: Fortschrittsbericht 2007). Die Türkei habe im Oktober 2006 das Protokoll Nr. 14 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention ratifiziert. Das erste Fakultativprotokoll zu dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das die Türkei 2004 unterzeichnet hatte, sei im November 2006 ratifiziert worden und im Februar 2007 in Kraft getreten. In diesem Protokoll sei die Zuständigkeit des UN-Ausschusses für Menschenrechte anerkannt, Beschwerden von Einzelpersonen über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und zu prüfen. Die durchgeführten Reformmaßnahmen hätten positive Auswirkungen auf die Umsetzung von ergangenen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gehabt. Die positiven Auswirkungen der gesetzlichen Schutzmaßnahmen im Rahmen der „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Folter hielten an. Die gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlungen seien rückläufig. Die Reformen zur Gewährleistung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand hätten zu positiven Ergebnissen geführt. Die Türkei habe ihre Anstrengungen zur Verbesserung der ärztlichen Untersuchung bei Verdacht bei Misshandlungen fortgesetzt. Die Verwendung von Aussagen, die ohne Rechtsbeistand zustande gekommen seien oder nicht von einem Richter bestätigt würden, sei nach der Strafprozessordnung verboten. Insgesamt sehe das türkische Recht umfassende Schutzmaßnahmen gegen Folter und Misshandlung vor, wobei es jedoch immer wieder Ausnahmen, insbesondere vor Haftantritt gebe. Gewisse Fortschritte seien auch beim Zugang zur Justiz gemacht worden. Die materielle Ausstattung der Haftanstalten sei weiter verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt worden. Die offene Debatte in den türkischen Medien über zahlreiche Themen, darunter solche, die von der türkischen Gesellschaft als heikel empfunden werden, habe sich fortgesetzt. Allerdings garantiere das türkische Rechtssystem die Meinungsfreiheit nicht in vollem Umfang gemäß den europäischen Standards. Der Rechtsrahmen im Bereich der Versammlungsfreiheit entspreche im Großen und Ganzen den europäischen Standards. Allerdings sei es bei den Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest zu (wenigen) gewaltsamen Zwischenfällen gekommen. Im Hinblick auf die kulturellen Rechte und Rundfunksendungen in anderen Sprachen als Türkisch teilt der Fortschrittsbericht mit, es gebe mittlerweile vier lokale Radio- und TV-Anstalten, die auf Kurdisch senden. Was die Professionalität und Kompetenz der Justiz angehe, so hätten das Justizministerium und die Justizakademie Schulungen für Richter, Staatsanwälte und Gerichtspersonal zu einem breiten Spektrum von Themen durchgeführt. Hierzu hätten unter anderem das neue Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung, die Meinungsfreiheit, die Berufungsgerichte, die Verwaltung von Gerichten, die Internetkriminalität und die Jugendgerichtsbarkeit gehört. Im Bereich der Meinungsfreiheit, einschließlich der Medienfreiheit und des Pluralismus, gebe es allerdings nach wie vor Defizite. Die Anwendung bestimmter Vorschriften des Strafgesetzbuchs, vor allem von Art. 301, habe zu zahlreichen Strafverfahren und teilweise Verurteilungen von Personen geführt, die in friedlicher Weise ihre Meinung unter anderem zur armenischen und kurdischen Frage oder zur Rolle des Militärs geäußert hatten. Durch Gerichtsverfahren und Drohungen gegen Menschenrechtler, Journalisten, Schriftsteller, Verleger, Akademiker und Intellektuelle sei ein Klima geschaffen worden, dass zu Fällen von Selbstzensur geführt habe. Insgesamt seien aber im Justizwesen vor allem bei der Effizienz Fortschritte erzielt worden.

45

Ein rechtmäßiger Widerruf, der - wie hier - mit den Veränderungen im Herkunftsland begründet wird, setzt voraus, dass die Veränderungen erheblich, d.h. deutlich und wesentlich und vor allem nicht nur vorübergehender Natur sind. Vorliegend sind jedenfalls die Anforderungen, die an die Nachhaltigkeit der Veränderungen zu stellen sind, nicht erfüllt. Ein Widerruf ist nur dann rechtmäßig, wenn die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur ist. Es muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Es reicht deshalb nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedsstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, das heißt dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält.

46

Sind - wie im vorliegenden Fall der Türkei - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, so sind an deren Dauerhaftigkeit hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören. Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 10.10 -, juris).

47

Ferner ist in diesem Zusammenhang auf die individuelle Situation des Flüchtlings abzustellen. Bei der Prüfung des nachhaltigen Wegfalls der Umstände ist zwar die allgemeine Situation im Heimatstaat des Berechtigten in den Blick zu nehmen, hierauf aufbauend aber auch auf die individuelle Situation des als Flüchtling anerkannten Ausländers abzustellen, dem dieser Status wieder entzogen werden soll (vgl. OVG Saarland, Urt. v. 25.08.2011 - 3 A 35/10 -, juris; OVG Lüneburg, Urt. v. 11.08.2010 - 11 LB 405/08 -, juris). So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt, gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, a.a.O.).

48

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei zwar keine politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mehr. Allerdings verbleibt für ihn unterhalb dieser Schwelle ein nicht unerhebliches Verfolgungsrisiko. Dies ergibt sich aus Folgendem:

49

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung nach Rückkehr in die Türkei besteht nach bisheriger Senatsrechtsprechung (nur) unter besonderen individuellen Voraussetzungen, nämlich für politisch aktive, sich erkennbar von der Masse gleichartiger Betätigungen abhebende und damit überhaupt erst in das Blickfeld der vom türkischen Staat organisierten Überwachung der kurdischen Opposition geratende Unterstützer der PKK und vergleichbarer Organisationen, nicht dagegen für „niedrig profilierte“ politisch-oppositionell aktive Unterstützer (vgl. Senatsbeschl. v. 16.04.2009 - 4 LA 14/09 -, Senatsurt. v. 20.06.2006 - 4 LB 56/02 -, v. 25.07.2000 - 4 L 147/95 - m.w.N.).

50

Zu dieser Gruppe gehört der Kläger nicht. Die vom Kläger mitgeteilten, vor seiner am 06. April 2000 erfolgten Aufnahme als Mitglied der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft e.V. entwickelten exilpolitischen Aktivitäten seit Ende 1996 betreffen die Teilnahme an Konzerten, Festivals, den Newroz-Feierlichkeiten, einzelnen Versammlungen wie Trauerfeierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen sowie Demonstrationen. Auch wenn der Kläger über die bloße Teilnahme hinaus bei einigen dieser Veranstaltungen Stände der YCK (Union der Jugendlichen aus Kurdistan) betreut und Bücher, Kassetten und kurdische Symbole verkauft hat sowie teilweise als Ordner bei der Organisation einzelner Veranstaltungen mitgeholfen hat, sind diese Tätigkeiten nicht als herausgehobene und profilierte oppositionelle Betätigung für die Ziele der PKK zu werten. Nach der Aufnahme als Mitglied der Deutsch-Kurdischen-Gesellschaft hat der Kläger zwar bis zu seiner aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 06. März 2002 (Az.: 21 A 443/01) erfolgten Anerkennung als Flüchtling gem. § 51 Abs. 1 AuslG a.F. seine exilpolitischen Aktivitäten intensiviert. So hat er seinerzeit mitgeteilt, nach einer einwöchigen Schulung in einem Camp in Holland anschließend etwa im Abstand von zwei Wochen auf Versammlungen von kurdischen Jugendlichen in D-Stadt über die Ziele der PKK unterrichtet und die Broschüre “Sterka Ciwan“ verkauft zu haben. Im Rahmen eines in der Zeitung Özgür Politika vom 02. Juni 2001 unter namentlicher Nennung des Klägers abgedruckten Interviews, welches im Rahmen der Berichterstattung über ein Fußballturnier geführt wurde, wird der Kläger mit der Äußerung zitiert, Ziel des Turniers sei es, den kurdischen Jugendlichen die Mai-Märtyrer näherzubringen und dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen ihre nationale Kultur und Identität bewahren. Über den Kläger ist seinen Angaben zufolge auch in der Zeitung Hürriyet sowie im türkischen Fernsehen TGRT berichtet worden, weil er im April 2001 auf einem Konzert des türkischen Sängers Ibrahim Tatlises in A-Stadt diesen geschlagen habe, weil er während der Veranstaltung die Kurden verächtlich gemacht habe. Im Sommer 2001 hat der Kläger nach seinen vom Senat nicht in Zweifel gezogenen Angaben an einer “Selbstbezichtigungskampagne“ von PKK-Unterstützern teilgenommen, selbst unterschrieben, andere Kurden mobilisiert und ist bei der Übergabe der Erklärungen im Landtag dabei gewesen. Am 03. Februar 2002 hat er eine Feier der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft in D-Stadt organisiert, die Räumlichkeiten angemietet, den Ablauf mit geplant, für die Veranstaltung geworben und Tickets verkauft. Inhaltlich sei es um eine Kampagne gegangen dafür, dass die kurdische Sprache an den Schulen in der Türkei gelehrt werden solle. Des Weiteren hat er eine Busfahrt nach Straßburg im Februar 2002 organisiert, um zusammen mit anderen von ihm mobilisierten Teilnehmern am 16. Februar 2002 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg für eine faire Behandlung Öcalans zu demonstrieren.

51

Neuere herausgehobene und profilierte Unterstützungshandlungen für die PKK oder eine ihrer Unterorganisationen hat der Kläger für den Zeitpunkt nach seiner Anerkennung nicht vorgetragen. Im Rahmen der Klagebegründung der gegen den Widerrufsbescheid erhobenen Anfechtungsklage hat er mit Schriftsatz vom 02. Dezember 2008 zunächst vorgetragen, es hätten sich keine wesentlichen neuen Punkte ergeben. Es bleibe im Wesentlichen bei dem zur Asylanerkennung führenden Vortrag und dem Umstand, dass sich die Verhältnisse in der Türkei nicht asylrelevant, das heißt erheblich und dauerhaft geändert hätten. Im Verhandlungstermin hat der Kläger im Rahmen der informatorischen Anhörung am 07. April 2009 angegeben, er sei unverändert Mitglied in der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft in D-Stadt und dort auch bei Aktionen und Aktivitäten beteiligt. Sie sprächen über Menschenrechte und über die angeblichen Reformen in der Türkei. Daneben gebe es aber auch Veranstaltungen, an denen er teilnehme; so habe er beispielsweise in Hannover an einer Veranstaltung sowie an den Newroz-Feierlichkeiten teilgenommen. Auf Nachfrage hat der Kläger angegeben, er müsse sagen, dass er nicht weniger aktiv - im Verhältnis zu früher - sei, sondern eher mehr, ohne dies allerdings in irgendeiner Form zu konkretisieren. Vielmehr gab er an, keine Artikel mehr zu schreiben, das heißt nicht mehr zu publizieren. Er halte sich in diesem Bereich seit geraumer Zeit zurück. Hintergrund sei, dass er wegen einer Veröffentlichung einmal zur Kriminalpolizei habe gehen müssen. Man habe ihm Vorhaltungen gemacht im Zusammenhang mit der PKK. Auch im Berufungsverfahren hat er keine herausgehobenen Aktivitäten vorgetragen, sondern geltend gemacht, soweit er in letzter Zeit nicht mehr exponiert tätig gewesen sei, werde dies dadurch „ausgeglichen“, dass er bei Rückkehr ohnehin eine Festnahme zu erwarten habe. Ein vorgetragenes Interview mit den Kieler Nachrichten ist vom Kläger entgegen seiner Ankündigung nicht belegt worden. Insgesamt ist der Senat zur Einschätzung gelangt, dass der Kläger zum heutigen Zeitpunkt - nicht zuletzt infolge der geschilderten Veränderungen - nicht mehr zu dem Personenkreis zu rechnen ist, bei dem die türkischen Sicherheitskräfte wegen herausgehobenen und profilierten Unterstützeraktivitäten für die PKK ein gesteigertes Verfolgungsinteresse haben, sodass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nicht mehr besteht.

52

Das Auswärtige Amt geht zwar weiterhin davon aus, dass sich die Sicherheitsbehörden bei einer Einreise in die Türkei mit türkischen Staatsangehörigen befassen, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben. Zugleich wird aber mitgeteilt, dass öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange nur noch dann strafbar seien, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern in die Türkei wird mitgeteilt, dem Auswärtigen Amt sei in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 08.04.2011, S. 27).

53

Der Senat ist jedoch überzeugt, dass für den Kläger - wenn auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - ein Risiko der Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei verbleibt. In seiner bisherigen Rechtsprechung zur Gefährdung von Unterstützern kurdischer oppositioneller Organisationen ist der Senat davon ausgegangen, dass Personen, die von den türkischen Sicherheitsbehörden als Sympathisanten und Unterstützer der PKK eingestuft werden, vor Verfolgung nicht hinreichend sicher sind, auch wenn es sich nicht um exponierte Akteure handelt (Senatsurt. v. 09.02.2010 - 4 LB 9/09 -, Juris, v. 20.06.2006 - 4 LB 25/02 -, v. 23.05.2000 - 4 L 21/94 -, Senatsbeschl. v. 10.06.2008 - 4 LB 4/06 -, Juris; v. 16.04.2009 - 4 LA 14/09 -, v. 20.03.2009 - 4 LA 16/09 -). An der im Anschluss an die Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.04.2005 – 8 A 273/04.A – und vom 26.05.2004 – 8 A 3852/03.A-, Juris) getroffenen Bewertung, dass nach wie vor vom Fortbestehen von Folter und Misshandlungen in der Türkei auszugehen sei und daher jedenfalls keine hinreichende Verfolgungssicherheit (in der Terminologie des vor Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie gültigen rechtlichen Maßstabes) für vermutete Mitglieder oder Unterstützer der PKK bestehe (Urteil vom 20.06.2006 – 4 LB 25/02 -), hat der Senat noch mit Urteil vom 09. Februar 2010 - 4 LB 9/09 - festgehalten. Dabei hat er sich auf die aktuelle Auskunftslage zu zwischenzeitlichen Reformbemühungen der Türkei im Strafrecht und bei dem Problem staatlicher Folter und Misshandlungen bezogen und auf die fortbestehenden, sich eher verschärfenden Spannungen in der Kurdenfrage, auf strafrechtliche Verfolgungen von positiven Aussagen zur PKK, Verhaftungen von PKK-Unterstützern, fortbestehende Berichte über Folter und Misshandlungen sowie die Problematik der Straflosigkeit von Tätern in Folterfällen verwiesen (vgl. im Einzelnen die Auswertung der Auskunftslage im Urteil v. 09.02.2010 - 4 LB 9/09 -, Juris).

54

Daran ist auch unter Auswertung der aktualisierten Auskunftslage festzuhalten (vgl. bereits Senatsurt. v. 01.09.2011 - 4 LB 11/10 -).

55

Die Wahrscheinlichkeit für Rückkehrer, bei der Einreise festgehalten, verhört und ggf. an weitere Sicherheitsbehörden überstellt zu werden, hängt nach im Wesentlichen übereinstimmenden Auskünften nach wie vor davon ab, ob ein Strafverfahren gegen den Rückkehrer anhängig ist oder war und ob er seine Wehrpflicht noch nicht erfüllt hat. Ist beides nicht der Fall, so ist nach Auskunft von Kaya (an das VG Freiburg vom 01.07.2010) eine Ingewahrsamsnahme an der Grenze nicht zu erwarten. Wird bei der Einreise jedoch festgestellt, dass der Wehrdienst noch nicht abgeleistet wurde, wird der Betreffende nach Auskunft von Kaya (Gutachten an VG Freiburg vom 11.06.2008) festgenommen und in Begleitung von Polizisten oder Gendarmen zwecks Musterung und Einberufung der nächstgelegenen Militärdienstbehörde überstellt. Taylan hält eine Situation des vorherigen jahrelangen Nichterscheinens bei der Musterung mit der Möglichkeit, dass darüber ein Aufenthalt des Wehrpflichtigen im Ausland bei der PKK bekannt geworden sein könnte, und den fehlenden Beleg der entstandenen Auslandszeiten mit einem von türkischen Behörden anerkannten Status bei der Einreise für sehr gefährlich, weil er in aller Regel zu einer intensiveren Untersuchung führe (Taylan, Gutachten an VG Sigmaringen v. 21.12.2007). Für eine derartige Konstellation ist auch Aydin in einem Gutachten an das VG Sigmaringen vom 20. September 2007 von einer Gefährdung des betreffenden Rückkehrers durch Misshandlung oder Folter ausgegangen. Oberdiek teilt in seinem Gutachten an das VG Sigmaringen vom 15. August 2007 ebenfalls die Einschätzung, dass zurückkehrende Nichtwehrdienstleistende einer Überprüfung hinsichtlich des Grundes ihrer zwischenzeitlichen Abwesenheit und eines möglichen Verdachts der Zusammenarbeit mit der PKK unterzogen werden, ohne jedoch eine klare Aussage zu den hierdurch zu befürchtenden Folgen für den Rückkehrer zu treffen (vgl. dort S. 15).

56

Unter Berücksichtigung dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass der Kläger, der noch keinen Wehrdienst in der Türkei geleistet hat, bei Einreise festgehalten und befragt werden wird und ihn hierbei ein Risiko trifft, misshandelt zu werden. Nach der Einschätzung von Kaya (Serafettin Kaya, Auskunft an das Verwaltungsgericht Freiburg vom 11.06.2008) ist es undenkbar, dass die türkischen Sicherheits- und Nachrichtendienstbehörden zur Beobachtung der Organisationen der kurdischen nationalen Opposition, insbesondere der PKK in Europa und für das Sammeln von Informationen über deren Aktivitäten, Aktionen und Aktivisten keine Spitzel und Agenten einsetzen. Sie sammeln danach über solche Aktionen und Teilnehmer Informationen nicht nur mittels ihrer Spitzel, sondern auch über die aktiven türkischen Vereine, Moscheen, Reisebüros, Studenten, Arbeiter und Zeitungsjournalisten, die in Europa ansässig sind. Bereits das Verwaltungsgericht ist in seinem Verpflichtungsurteil vom 06. März 2002 davon ausgegangen, dass den türkischen Sicherheitskräften die seinerzeitigen exilpolitischen Aktivitäten des Klägers bekannt geworden sind. Hiervon ist auch der Senat überzeugt. Auch wenn dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt geworden sind, in denen PKK-Sympathisanten im Zusammenhang mit ihren exilpolitischen Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sind, so kann das Risiko, dass der Kläger als Kurde, der sich bislang dem Wehrdienst entzogen hat und der zumindest als PKK-Sympathisant eingestuft werden wird, im Zuge der Ingewahrsamsnahme und Befragung misshandelt wird, nicht von der Hand gewiesen werden, auch wenn es nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Dieses Risiko besteht um so mehr, als die gegenwärtige Situation von Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten des Landes gekennzeichnet ist und die von Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Erdogan 2009 initiierte „Demokratische Öffnung“ (zuvor „Kurdische Öffnung“) aufgrund nationalistischer Vorbehalte und andauernder Anschläge durch die PKK zum Stillstand gekommen ist (vgl. dazu auch OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 14.10.2011 - 10 A 10416/11.OVG)

57

Die Annahme eines verbleibenden Risikos für den Kläger wird auch durch die weitere Auskunftslage gestützt. Was die Gefahr von Folter und Misshandlungen allgemein anbelangt, so ist auch unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse weiterhin von einer nicht auszuschließenden Gefährdung auszugehen. Das Auswärtige Amt berichtet für das Jahr 2010 von einer erheblichen Anzahl von Fällen von Folter und Misshandlungen, die bei anerkannten Menschenrechtsorganisationen registriert seien. Es sei der Regierung nach wie vor nicht gelungen, solche Misshandlungen vollständig zu unterbinden; Straflosigkeit der Täter sei weiterhin ein ernstzunehmendes Problem (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 08.04.2011, S. 21). Die EU-Kommission stellt in ihrem Fortschrittsbericht vom 09. November 2010 (Turkey 2010 Progress Report, SEC (2010) 1327, S. 18) zwar insgesamt einen positiven Trend bezüglich der Verhütung von Folter und Misshandlungen, gleichzeitig aber weiterhin ein verbleibendes, besorgniserregendes Problem unangemessener Gewaltanwendung seitens der Sicherheitsbehörden fest. Beispiele für auch noch 2010 geschehene Folter führt auch Kaya (Gutachten an OVG Greifswald v. 14.06.2010, S. 11 ff.) auf. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe hält staatliche Folter in der Realität immer noch für verbreitet, wobei zunehmend an unbeobachteten Orten - außerhalb von Polizeistationen und Gefängnissen - gefoltert werde (SFH, Türkei: Die aktuelle Situation der Kurden, 20.12.2010, S. 13; Türkei: Risiken bei der Rückkehr eines verurteilten PKK-Mitglieds, 26.05.2010, S. 1 f.).

58

Nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Bericht v. 20.12.2010 über die aktuelle Situation der Kurden, S. 19) riskieren politisch aktive Kurden Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in der verbotenen PKK. Kamil Taylan berichtete in einem Gutachten für das OVG Saarland vom 11. Februar 2011 (S. 5), dass die Staatsanwaltschaft Diyarbakir im April 2010 ein Strafverfahren gegen 30 Rückkehrer aus dem Nordirak wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine Terrororganisation bzw. Planung und Durchführung von Verbrechen im Auftrag einer solchen Organisation eingeleitet habe; dieselbe Staatsanwaltschaft führe einen Massenprozess gegen PKK-Unterstützer. An anderer Stelle führt Taylan allerdings aus, dass keine Verfahren gegen Rückkehrer wegen Unterstützungshandlungen in den 90’ger Jahren bekannt seien (ebd. S. 4).

59

Nach allem ist der Senat davon überzeugt, dass für den Kläger - wenn auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - ein erhebliches Risiko verbleibt, als kurdischer Sympathisant der PKK bei Rückkehr misshandelt zu werden.

60

Unter Berücksichtigung dieses Umstandes und der Tatsache, dass es sich um zu beurteilende Veränderungen innerhalb eines bestehenden Systems handelt, sind vorliegend hohe Anforderungen an die Nachhaltigkeit der Veränderungen zu stellen, die nicht erfüllt werden.

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Das Auswärtige Amt teilt im Lagebericht 2011 mit, dass trotz der Veränderungen des politischen Systems in den letzten Jahren weiterhin Hinweise vorliegen, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien in Strafverfahren nicht immer konsequent eingehalten werden. Auch seien weiterhin Spannungen in dem kurdisch geprägten Regionen im Südosten und in den Ballungszentren des Landes zu verzeichnen. Die Politik der sogenannten „Demokratischen Öffnung“ sei vorerst eingefroren. Die PKK habe Ende Februar 2011 eine im Herbst des Jahres 2010 verkündete Waffenruhe zunächst aufgekündigt. Die vielfältige Presselandschaft berichte nach Einflussnahme der Regierung wenig regierungskritisch. Im März 2011 sei es zu zahlreichen Verhaftungen von Journalisten gekommen. Die Aktivitäten der Menschenrechtsorganisationen würden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet; ihre Mitglieder seien nach wie vor des Öfteren Verfahren ausgesetzt, deren rechtliche Grundlage zum Teil fragwürdig erscheine. Seit April 2009 seien über 1500 Personen, darunter 11 Bürgermeister, 2 Provinzvorsitzende und 2 Mitglieder der Stadtversammlung der pro-kurdischen BTP verhaftet worden. Ihnen sei vorgeworfen worden, Mitglieder der Struktur KCK (Liga Demokratisches Kurdistan) und damit auch einer terroristischen Vereinigung zu sein. In der Praxis würden bei pro-kurdischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Angaben Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeilichen Ingewahrsammaßnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kämen vor. Die extensive Auslegung des unklar formulierten § 220 tStGB durch das oberste Zivilgericht führe zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung den Betroffenen bekannt wurde. Sie müssten damit rechnen, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt zu werden, ohne Mitglied in dieser zu sein. Schriftliche wie mündliche Aussagen, die die PKK (z.B. Bezeichnung der PKK als „Guerilla“), den PKK-nahen TV-Sender ROJ-TV oder den inhaftierten Abdullah Öcalan (z.B. „verehrter Öcalan“) in ein positives Licht stellen, werden strafrechtlich verfolgt. Die Möglichkeit, Meinungen im Internet zu äußern, sei durch das Gesetz für die Bekämpfung von Verbrechen gegen Kriminalität im Internet 2007 eingeschränkt worden. Nach Angaben des EU-Fortschrittsbericht 2010 sei der Zugang zu rund 8000 Seiten gesperrt. Insgesamt betrachtet hätten die Pressefreiheit und der Pluralismus in der türkischen Medienlandschaft u.a. aufgrund der offenen Diskreditierungen von Journalisten durch Politiker und durch die zunehmende vorauseilende Selbstzensur einen Rückschlag erfahren. Weiterhin würden mit Verweis auf die „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ oder „Gefährdung der nationalen Einheit“ Publikationsverbote ausgesprochen, welche vor allem kurdische oder linke Zeitungen beträfen. Kurdischunterricht und Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen sei nicht erlaubt. Durch die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als der einzigen Nationalsprache werde die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden erschwert. Die 2009 vom Staatspräsidenten Gül und Ministerpräsident Erdogan initiierte „demokratische Öffnung“ sei aufgrund nationalistischer Vorbehalte und andauernder Anschläge durch die PKK seit Mitte 2010 zum Stillstand gekommen. Seit 2008 habe sich zwar die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert, allerdings komme es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen, beispielsweise wegen Folter. Der Kassationsgerichtshof habe im Jahr 2008 unter Bezug auf Art. 220 Abs. 6 tStGB entschieden, dass Teilnehmer an einer Demonstration, zu der eine Terrororganisation aufgerufen habe, als Mitglied einer Terrororganisation verurteilt werden könnten, ohne formal Mitglied zu sein, selbst wenn der Teilnehmer von diesem Aufruf keine nachweisbare Kenntnis gehabt habe. Trotz der „Null-Toleranz-Politik“ und der Ausschöpfung gesetzgeberischer Mittel zur Unterbindung von Folter und Misshandlung sei es der Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kommen es zur übermäßiger Gewaltanwendung. Es gebe Anzeichen, dass Misshandlungen nicht mehr in den Polizeistationen, sondern gelegentlich an anderen Orten, u.a. im Freien stattfänden. Nach glaubhaften Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV seien bis Ende November 2010 insgesamt 161 Personen registriert, die im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt wurden. Auch die Regierung räume ein, dass Folter in wenigen Ausnahmefällen vorkomme. Straflosigkeit der Täter in Folterfällen sei weiterhin ein ernstzunehmendes Problem. Laut Bericht des UN-Komitees gegen Folter (CAT) vom November 2010 mangele es an unabhängiger, unparteiischer und transparenter Untersuchung. Sicherheitskräfte, die unter Verdacht der Folter oder der unmenschlichen Behandlung stehen, würden zu selten vom Dienst suspendiert und gefährdeten damit die effektive Aufklärung.

62

Amnesty International führt zur allgemeinen Entwicklung in seinem Länderbericht Türkei (Stand: Dezember 2010; im Folgenden: Länderbericht Türkei 2010) aus, es habe in der Türkei seit etwa 2002 verstärkte Bemühungen gegeben, den Beitrittsprozess zur EU durch Reformen in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte voranzubringen. Zwischen 2002 und 2005 seien insgesamt 8 Reformpakete mit Änderungen der Verfassung, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze verabschiedet worden; zum 01. Juni 2005 sei ein neues Strafrecht in Kraft getreten. Seit Mitte 2005 sei jedoch eine deutliche Verlangsamung der Reformbemühungen festzustellen, in einigen Bereichen habe es sogar Rückschritte gegeben. Im Sommer 2005 habe der damalige Generalstabschef kritisiert, die im Hinblick auf die EU vorgenommenen Gesetzesänderungen hätten den Kampf gegen den Terror behindert. Diese Kritik sei mit kampagnenartiger Intensität von der Presse aufgenommen worden und habe schließlich zu einer Verschärfung des Anti-Terror-Gesetzes im Juli 2006 geführt. Ansätze zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage seien ins Stocken geraten und würden durch die Verfahren gegen die KCK und gegen Menschen, die an Demonstrationen teilgenommen hatten, weiter erschwert. Im Sommer 2006 habe das türkische Parlament eine geänderte Fassung des Anti-Terror-Gesetzes (ATG) verabschiedet. Darin sei das im Rahmen vorausgegangener Gesetzesreformen zugestandene Recht auf sofortigen Anwaltszugang für Festgenommene für den Anwendungsbereich dieses Gesetzes wieder eingeschränkt worden. Bei Strafverfahren mit politischem Hintergrund habe es unfaire Gerichtsverfahren und überzogene Strafen gegeben. Die Auseinandersetzungen um die Rechte der Kurden seien auch von den Aktivitäten der PKK geprägt, die nicht nur einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führe, sondern auch, zumindest in der Vergangenheit, vor Bombenanschläge gegen die Zivilbevölkerung nicht zurückgeschreckt habe und Druck und Gewalt gegen Kurden ausübe, die andere politische Positionen vertreten oder sich von der PKK getrennt hätten. Einen möglicherweise schwerwiegenden Rückschlag für politische Lösungsbemühungen in der Kurdenfrage stelle das juristische Vorgehen gegen Kurden dar, denen eine Zusammenarbeit mit der PKK im Rahmen ihrer legalen politischen Aktivitäten vorgeworfen wird. Im April, September und im Dezember 2009 habe es gegen angebliche Mitglieder der KCK Verhaftungswellen gegeben. Insgesamt seien 1500 Personen in verschiedenen Provinzen angeklagt. Die Anklagepunkte würden sich auf legale politische Aktivitäten beziehen, die Beteiligung an bewaffneten Aktionen werde keinem der Beteiligten vorgeworfen. Bei der KCK handele es sich offenbar um eine politische Struktur, mit der die PKK versuche, ihre Macht auf legaler politischer und gesellschaftlicher Ebene zu etablieren.

63

Die Reformpakete, die in den Jahren 2002 bis 2005 verabschiedet worden seien, um das Ziel der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU zu erreichen, hätten wichtige Mechanismen zum Schutz Festgenommener vor Folter enthalten. Seit der Änderung des Anti-Terror-Gesetzes vom Juli 2006 hätten jedoch Berichte über Folter und Misshandlungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte wieder zugenommen. Personen, die wegen politisch motivierter Straftaten angeklagt bzw. verurteilt waren, würden nach wie vor in Kleingruppen isoliert. Die Zahl der Misshandlungen in Gefängnissen habe in letzter Zeit wieder zugenommen. Neben Berichten über Folter in Polizei- und Gendarmerie-Gewahrsam sowie in Gefängnissen gebe es weiterhin in steigender Zahl Fälle von Folter und Misshandlung außerhalb offizieller Haftorte. Der Menschenrechtsverein IHD führe beispielsweise für das Jahr 2008 264 Fälle von Folter und Misshandlung an nichtregistrierten Haftorten an, für das Jahr 2009 358 Fälle.

64

Bei Demonstrationen gingen die Sicherheitskräfte nach wie vor mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Teilnehmer vor.

65

Die Labilität des Reformprozesses in der Türkei spiegelt auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 09. März 2011 zum Fortschrittsbericht 2010 der EU wieder. In dem Bericht erkennt das Europäische Parlament zwar verschiedene Reformbemühungen an, stellt jedoch zugleich fest, dass die Reformen in der Türkei langsam vorankommen und weist darauf hin, dass die türkische Regierung sich dazu verpflichtet habe, umfassende Reformen durchzuführen, um die Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen sowie die Türkei zu modernisieren, und fordert die Regierung auf, ihre diesbezüglichen Anstrengungen zu verstärken. Die Entschließung zeigt sich besorgt über die anhaltende Konfrontation zwischen den politischen Parteien in der Türkei und die mangelnde Bereitschaft der Regierung und der Opposition, auf einen Konsens über wichtige Reformen hinzuarbeiten. Die Annahme der Verfassungsänderungen sei ein Schritt in die richtige Richtung, es sei jedoch deren Umsetzung unter umfassender Einhaltung der Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu fordern. Die Entschließung zeigt sich besorgt über die Verschlechterung der Pressefreiheit, insbesondere einige Zensurmaßnahmen sowie die zunehmende Selbstzensur in den türkischen Medien und im Internet sowie über den Umstand, dass Journalisten, die Beweise über Menschenrechtsverletzungen und andere Fragen von öffentlichem Interesse an die Öffentlichkeit bringen, strafrechtlich verfolgt würden. Zugleich wird die türkische Regierung mit Nachdruck aufgefordert, das Recht auf Versammlungsfreiheit und das Recht auf Vereinigungsfreiheit zu wahren. Die Fortschritte bei der Reformierung der Justiz würden begrüßt; die Regierung bleibe jedoch aufgefordert, die in diesem Bereich angenommenen Verfassungsänderungen unter uneingeschränkter Achtung der Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative, der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz und dem Einklang mit europäischen Normen umzusetzen. Die Auslegung der Strafprozessordnung durch den obersten Gerichtshof der Türkei, durch die die Dauer der Untersuchungshaft bis auf 10 Jahre ausgedehnt werden könne, sei besorgniserregend und stelle einen eindeutigen Verstoß gegen diesbezügliche europäische Normen dar. Das Europäische Parlament verurteilt entschieden die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die auf der EU-Liste terroristischer Vereinigungen stehe, und von anderen terroristischen Gruppierungen auf türkischem Boden weiterhin begangenen terroristischen Gewaltakte; fordert aber zugleich die Regierung auf, ihre Anstrengungen im Rahmen der demokratischen Öffnung zu verstärken, um die Kurdenthematik umfassend im Hinblick auf eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu behandeln, indem sie insbesondere eine kohärente Auslegung der Gesetze gewährleiste, die den Gebrauch der kurdischen Sprache im politischen und öffentlichen Leben und im Bildungssektor gestatte und indem sie die Rechtsvorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus ändere, um Missbrauch oder eine weitreichende Auslegung zu vermeiden. Die in Diyarbakir anhängigen Gerichtsverfahren gegen 151 kurdische politische Aktivisten, darunter 8 gewählte amtierende Bürgermeister, stellten eine Einmischung in legale politische Aktivitäten dar und seien besorgniserregend, ebenso noch anhängige Gerichtsverfahren gegen Menschenrechtsverteidiger und die anhaltende strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern (vgl. insgesamt: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 09. März 2011 zum Fortschrittsbericht 2010 über die Türkei).

66

Der Senat zieht aus den genannten Auskünften unter Berücksichtigung der dargestellten rechtlichen Grundsätze den Schluss, dass in der Türkei zwar seit der Anerkennung des Klägers erhebliche Reformbemühungen erfolgt sind, angesichts der zu verzeichnenden Rückschläge und der Verlangsamung des Reformprozesses im vorliegenden Einzelfall jedoch jedenfalls die für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zu fordernde Stabilität der Veränderungen bisher nicht erreicht ist.

67

Die Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG lagen nach allem nicht vor. Aus der Entscheidung folgt zugleich, dass der Bescheid insgesamt aufzuheben ist, das heißt, dass auch die negative Feststellung zu § 60 Abs. 1 AufenthG der Aufhebung unterliegt, da die negative Feststellung zu § 60 Abs. 1 AufenthG der positiven Feststellung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG a.F., welche Bestand hat, widersprechen würde.

68

Das Urteil des Verwaltungsgericht war mit der sich aus § 83 b AsylVfG und § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuändern.

69

Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionszulassungsgründe nicht vorliegen.


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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 6.6.1995 mit einem Lkw in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 12.6.1995 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung seines Asylantrags gab er an, anlässlich des Newrozfestes 1994 von Soldaten bei einer Kontrolle festgenommen worden zu sein, wobei man ihm vorgeworfen habe, mit seinem Minibus PKK-Anhänger und Lebensmittel für diese zu transportieren. Man habe ihn zu einer Militärstation gebracht und zwei Tage lang verhört, wobei er mit einem Gewehrkolben geschlagen worden sei. Dabei habe er einen Bruch der Wangenknochen davongetragen. Mangels konkreter Beweise sei er wieder freigelassen worden. Anlässlich der Verhaftung seien seine Personalien registriert worden. In den darauffolgenden Monaten sei er- wie auch die anderen männlichen Bewohner seines Heimatdorfes - unter massiven Drohungen aufgefordert worden, das Amt eines Dorfschützers zu übernehmen. Da er nicht Dorfschützer habe werden wollen und keinen anderen Ausweg gesehen habe, habe er sich zur Ausreise entschlossen. Kurz vor seiner Ausreise sei er bei einer allgemeinen Kontrolle in Istanbul erneut von Sicherheitskräften mitgenommen und nach einer Überprüfung seiner Personalien erheblich misshandelt worden.

Mit Bescheid vom 27.6.1995 lehnte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) - Bundesamt - den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorlägen. Im Anschluss an die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht des Saarlandes die Beklagte mit Urteil vom 20.12.1999 - 6 K 136/98.A - festzustellen, dass der Abschiebung des Klägers in die Türkei ein Abschiebungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 AuslG entgegensteht. Zur Begründung war in dem Urteil ausgeführt, der Kläger habe glaubhaft machen können, in seiner Heimatregion einer Unterstützung der PKK verdächtigt und bei den Heimatbehörden als Verdächtiger registriert worden zu sein. Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten linksorientierter und separatistischer kurdischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden Verdacht geraten seien, müssten im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielten, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen. Bei einer Rückkehr in die Türkei bestehe im Falle des Klägers die Gefahr, erneut festgenommen und dabei auch Foltermaßnahmen unterworfen zu werden.

Daraufhin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 10.3.2000 fest, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen.

Mit Verfügung vom 27.5.2008 wurde ein Widerrufsverfahren eingeleitet. Dem Kläger wurde mit Schreiben vom 28.5.2008, zugestellt am 29.5.2008, Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, wovon dieser mit Schriftsatz vom 19.6.2008 Gebrauch machte. Mit Bescheid vom 17.7.2008 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 10.3.2000 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Ergänzend wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde in dem Bescheid ausgeführt, seit der Ausreise des Klägers hätten sich Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei deutlich zum Positiven verändert. Die Gründe für die frühere Schutzgewährung seien daher heute entfallen. Türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die sich Verfolgungsmaßnahmen wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Guerilla mit Bedarfsartikeln, Beherbergung o.ä., oder dem Zwang zur Übernahme eines Dorfschützeramtes, dem Zwang zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften oder sonstigen Repressalien im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften durch Flucht ins Ausland entzogen und in der Bundesrepublik Deutschland Schutz vor Verfolgung erhalten hätten, seien heute bei einer Rückkehr in die Türkei mit hinreichender Sicherheit keinen Repressalien dieser Art bzw. staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang mehr ausgesetzt. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG, aus denen der Kläger die Rückkehr in seinen Herkunftsstaat ablehnen könnte, lägen nicht vor.

Gegen diesen Widerrufsbescheid, der am 18.7.2008 als Einschreiben zur Post gegeben wurde, hat der Kläger am 4.8.2008 Klage erhoben. Zur Begründung hat der Kläger vorgetragen, die Verhältnisse in der Türkei hätten sich nicht so wesentlich geändert, dass sich die Prognose drohender politischer Verfolgung im Falle seiner Rückkehr in die Türkei nicht mehr treffen ließe. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts in dem Urteil vom 20.12.1999 habe er die Türkei vorverfolgt verlassen, so dass vorliegend der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab gelte. Die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung könnten dementsprechend nur dann wegfallen, wenn er vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei. Ungeachtet dessen, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei in Teilen verbessert haben möge, sei der Reformprozess keineswegs so weit fortgeschritten, dass eine menschenrechtswidrige Behandlung des Klägers durch türkische Sicherheitsorgane mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Soweit überhaupt von einem Mentalitätswandel gesprochen werden könne, habe dieser nicht alle Teile von Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst. Nach wie vor werde Folter angewandt, was insbesondere damit zusammenhänge, dass es an einer effizienten Strafverfolgung gegenüber folternden Beamten fehle. Auch würden erfolterte Geständnisse weiterhin in Gerichtsverfahren als Beweis verwertet. Von einer verfestigten und nachhaltigen Veränderung der Menschenrechtssituation in der Türkei, welche Voraussetzung für einen Widerruf sei, könne daher nicht ausgegangen werden. Hinzu komme, dass im Zuge des aktuellen Widererstarkens von PKK-Aktivitäten entschiedenere Maßnahmen zu deren Bekämpfung gefordert würden. Im Falle des Klägers stehe rechtskräftig fest, dass er vor seiner Ausreise in seiner Heimatregion der Unterstützung der PKK verdächtigt worden und deswegen dort registriert gewesen sei. Selbst in Istanbul sei er deshalb festgenommen und mehrstündigen Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Vor erneuten Übergriffen durch die Sicherheitskräfte, insbesondere vor Verhören, die mit Misshandlungen verbunden seien, sei er keineswegs hinreichend sicher. Da er seinerzeit verdächtigt worden sei, die PKK zu unterstützen, würde auch heute noch der Verdacht bestehen, dass er sich während seines langen Auslandsaufenthalts für die PKK betätigt habe. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gab der Kläger ergänzend an, in der Bundesrepublik Deutschland wie alle anderen Kurden an Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen zu haben.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 17.7.2008 aufzuheben.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf die Ausführungen in ihrem angefochtenen Bescheid beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13.5.2009 ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht des Saarlandes die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen heißt es im Wesentlichen, das Bundesamt habe zu Recht angenommen, dass die in dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.12.1999 hinsichtlich des Klägers für die Türkei bejahten Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zwischenzeitlich entfallen seien. Zwar sei der Kläger nach den Feststellungen in dem genannten Urteil vorverfolgt ausgereist; indes sei er nunmehr vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher. Der Kläger habe wegen seiner Weigerung, Dorfschützer zu werden, heute keine politische Verfolgung mehr zu vergegenwärtigen. Insoweit hätten sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei seit dem Erlass des nunmehr aufgehobenen Bescheides maßgeblich zugunsten des Klägers geändert. Allerdings müssten Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten seien, im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielten, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar seien. Ein individualisierter, d.h. konkret auf die Person des Klägers bezogener Verdacht der PKK-Unterstützung von Seiten der türkischen Sicherheitskräfte liege jedoch nicht vor. Insoweit sei zunächst maßgeblich, dass der Kläger selbst nie behauptet habe, die PKK unterstützt zu haben. Allein deshalb, weil ihm vor seiner Ausreise im Jahr 1995 wegen der Ablehnung des ihm angetragenen Dorfschützeramtes - wie vielen anderen auch - pauschal unterstellt worden sei, die PKK zu unterstützen, müsse der Kläger heute nicht mehr befürchten, im Falle einer Rückkehr als „Separatist“ behandelt und deshalb Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Von Bedeutung sei hierbei, dass Personen, die das Dorfschützeramt abgelehnt hätten, mangels strafrechtlicher Relevanz nicht mit Fahndungsmaßnahmen zu rechnen hätten. Hinzu komme, dass mittlerweile - aufgrund einer Anordnung des türkischen Innenministeriums aus dem Jahr 2000 - keine Dorfschützer mehr rekrutiert würden und sich die Lage auch insofern geändert habe. Unter diesen veränderten Umständen und unter Berücksichtigung des langen Zeitablaufs seit seiner Ausreise rechtfertige allein die damalige Weigerung des Klägers, das Dorfschützeramt zu übernehmen, nicht die Annahme, für ihn bestehe die konkrete Gefahr, in einem polizeilichen Verhör Misshandlungen ausgesetzt zu werden, weil man ihn verdächtigen würde, die PKK zu unterstützen. Ein gegen den Kläger selbst gerichteter, hinreichend konkreter Verdacht einer Unterstützung der PKK ergebe sich auch nicht aus seinem sonstigen Vorbringen. Soweit er vorgetragen habe, ihm sei anlässlich des Newrozfestes 1994 vorgeworfen worden, mit seinem Minibus PKK-Anhänger zu transportieren, sei dies - ebenso wie die Versuche, die Bevölkerung zu der Übernahme des Dorfschützeramtes zu bewegen - im Zusammenhang mit dem allgemeinen und im Südosten der Türkei weit verbreiteten Druck auf die Bevölkerung bei der Bekämpfung der PKK zu sehen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seinerzeit von den Heimatbehörden als Sympathisant bzw. Unterstützer der PKK registriert worden sei, seien diesem Vorbringen nicht zu entnehmen.

Gegen das ihm am 25.5.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19.6.2009 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, dem der Senat mit Beschluss vom 16.2.2010 - 3 A 383/09 - entsprochen hat.

Zur Begründung der Berufung führte der Kläger mit am 9.3.2010 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) seien nicht entfallen. Aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.12.1999 stehe rechtskräftig fest, dass er in seiner Heimatregion der Unterstützung der PKK verdächtigt worden und deshalb dort registriert gewesen sei. Selbst in Istanbul sei er deshalb festgenommen und mehrstündigen Misshandlungen ausgesetzt worden. Demgemäß sei er auch im Westen der Türkei latent der Gefahr erneuter Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Demzufolge gelte bei der Beurteilung der Frage, ob die Anerkennungsvoraussetzungen entfallen seien, der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Zu Unrecht habe sich das angegriffene Urteil darauf beschränkt, die Voraussetzungen der Anerkennung als deshalb entfallen anzusehen, weil der Kläger wegen seiner Weigerung, Dorfschützer zu werden, keine politische Verfolgung mehr zu vergegenwärtigen habe. Im Hinblick darauf, dass gegenüber dem Kläger ein individualisierter, d.h. konkret auf seine Person bezogener Verdacht der PKK-Unterstützung auf Seiten der türkischen Sicherheitskräfte vorgelegen habe, sei auch heute noch davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in die Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher sei. Auch heute noch müssten Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten seien, im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielten, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar seien. Von einer nachhaltigen und verfestigten Verbesserung der Menschenrechtslage könne in der Türkei nach wie vor nicht ausgegangen werden.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13.5.2009 ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes - 6 K 742/08 - den Bescheid der Beklagten vom 17.7.2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, nach dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amtes vom 29.6.2009 sei davon auszugehen, dass der als vorverfolgt geltende Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung sei. Nach diesem Lagebericht sei dem Auswärtigen Amt in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei. Dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen. Seitens türkischer Menschenrechtsorganisationen sei ebenfalls kein Fall benannt worden, in dem politisch nicht in Erscheinung getretene Rückkehrer oder exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen menschenrechtswidriger Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt gewesen seien. Dies entspreche auch den Auskünften zahlreicher anderer europäischer Staaten.

Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums vom 18.12.2004 dürften keine Suchvermerke mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden. Angaben türkischer Behörden zufolge seien Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern gelöscht worden.

Nach der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung sei zudem zu berücksichtigten, dass bei Prüfung eines fortbestehenden Anspruchs auf die Flüchtlingsanerkennung nicht mehr auf das richterrechtlich entwickelte Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe abzustellen sei, vielmehr darauf, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QualRL widerlegt sei. Diese könne im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Umgekehrt gelte allerdings weiter, dass in jedem Fall, in dem hinreichende Sicherheit festzustellen sei, immer auch das Kriterium der Widerlegung der durch Art. 4 Abs. 4 QualRL ausgelösten Vermutung erfüllt sei, weil in diesem Fall entsprechend stichhaltige Gründe vorlägen.

Gemäß Beschlüssen vom 16.7.2010 und 10.9.2010 hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung von Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes, von amnesty international sowie des Sachverständigen Kamil Taylan. Wegen der Einzelheiten sowie des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die vorgenannten Beschlüsse sowie die entsprechenden Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 13.10.2010, von amnesty international vom 31.1.2011 und von Kamil Taylan vom 11.2.2011 verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens 6 K 136/98.A des Verwaltungsgerichts des Saarlandes sowie der beigezogenen Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Ausländerbehörde Bezug genommen, welcher ebenso wie die bei Gericht geführte Dokumentation Türkei, insbesondere hinsichtlich der in der Anlage zur Sitzungsniederschrift bezeichneten Teile, Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 17.7.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben. Das Bundesamt hat auch zu Recht festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Widerrufsentscheidung ist § 73 AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2.9.2008 (BGBl. I S. 1798).

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die – hier streitgegenständliche - Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. bis zum 1.1.2005 des § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG gilt Satz 2 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Zunächst ist festzustellen, dass der Widerruf nicht an einem formellen Mangel leidet. Er entspricht insoweit den maßgeblichen Anforderungen des § 73 AsylVfG. Insbesondere ist die beabsichtigte Entscheidung über den Widerruf entsprechend § 73 Abs. 4 AsylVfG dem Kläger zuvor schriftlich mitgeteilt und ihm Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Auch begegnet die angefochtene Entscheidung weder im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Widerrufs im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch im Hinblick auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG Bedenken. Das Gebot der Unverzüglichkeit dient nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt

vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243.

Das Bundesverwaltungsgericht hat auch bereits entschieden, dass die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen - wie hier - die Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG widerrufen wird

vgl. BVerwG, Urteil vom 12.6.2007 - 10 C 24.07 -, Buchholz 204.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 m.w.N..

Diese Vorschrift enthält eine bereichsspezifische Sonderregelung, welche die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt und auch für Altanerkennungen gilt.

Der angefochtene Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das Bundesamt kein Ermessen ausgeübt hat. Nach § 73 Abs. 7 AsylVfG ist in Fällen wie dem vorliegenden keine Ermessensentscheidung erforderlich

Vgl. ausführlich BVerwG, Urteile v. 24.2.2011 – 10 C 3/10 – u.a. sowie Urteile v. 1.6.2011 – 10 C 10.10 – u. – 10 C 25.10 -, juris.

Das Bundesamt hat im Ergebnis auch zu Recht das Vorliegen der materiell-rechtlichen Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 AsylVfG bejaht, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union vom 29.4.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“) und unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in seinem Grundsatzurteil vom 2.3.2010 (Rs C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Abdulla u.a. - InfAuslR 2010, 188) auszulegen ist und zwar auch in Fällen, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere zu widerrufen, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände im Herkunftsland diejenigen Umstände, aufgrund derer der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG haben muss

vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, Urteil v. 24.2.2011 – 10 C 3/10 –, a.a.O..

In seinen jüngsten Urteilen vom 1.6.2011 – 10 C 10.10 und 10 C 25.10 – hat das Bundesverwaltungsgericht insoweit nochmals hervorgehoben, dass eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände im vorgenannten Sinne voraussetzt, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, selbst dann nicht, wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder neuen Erkenntnismitteln beruht

vgl. zu letzterem auch BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 -1 C 21/04 -, DVBl. 2006, 511.

Es muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen, soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dabei dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offen zu legen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweisen muss, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbarer Zeit kann indes nicht verlangt werden.

Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland verhält sich grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit des Weiteren ausgeführt, dass wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft seit der Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden kann, vielmehr unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Die Richtlinie 2004/83/EG kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird

vgl. zu allem Vorstehenden BVerwG, Urteile vom 1.6.2011 – 10 C 10.10 u. 10 C 25.10 – m.w.N. sowie EuGH, Urt. vom 2.3.2010, Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a., juris.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist demnach bei der Prüfung eines fortbestehenden Anspruchs auf die Flüchtlingsanerkennung nicht mehr auf den Maßstab einer hinreichenden Sicherheit vor weiterer Verfolgung abzustellen. Das Bundesverwaltungsgericht ist in den vorgenannten Entscheidungen vielmehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, wonach für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung verlangt wurde, dass eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen war, ausdrücklich abgerückt.

Der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit ist insoweit durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 11 AufenthG sowohl für den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG als auch für die weiteren unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG gilt

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, OVG Münster, Urteil vom 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A -, juris.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der spätere Wegfall der Verfolgungsgefahr durch einen Wechsel oder eine Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatstaat zwar den Hauptanwendungsfall des § 73 Abs. 1 AsylVfG darstellt, die Anwendung dieser Bestimmung aber nicht hierauf beschränkt ist, vielmehr der nachträgliche Wegfall aller Voraussetzungen für die Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung hiervon erfasst wird, etwa auch Veränderungen in der Person des Begünstigten

vgl. dazu ausführlich OVG Niedersachsen, Urt. v. 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, juris.

Die zuständigen Behörden und Gerichte müssen sich mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.2011 - 10 C 5/10 - sowie EuGH, Urteil vom 2.3.2010 a.a.O.;

Dementsprechend ist bei der nach den vorgenannten Kriterien gebotenen Prüfung, ob die Anerkennungsvoraussetzungen nachträglich im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylVfG weggefallen sind, die allgemeine Situation im Heimatstaat des Berechtigten in den Blick zu nehmen, hierauf aufbauend aber auf die individuelle Situation des als Flüchtling anerkannten Ausländers abzustellen, dem dieser Status wieder entzogen werden soll. In Abhängigkeit von den Umständen, die zur Zuerkennung des jeweiligen Schutzstatus geführt haben, sind auch die Anforderungen an die Verbesserung der Lage im Heimatstaat und an eine Gefährdung im Falle einer Rückkehr individuell zu bewerten. Entscheidend für einen Widerruf ist die Feststellung, dass sich die für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben und deshalb jedenfalls im Falle des konkret betroffenen Flüchtlings keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verfolgung mehr besteht. Hingegen ist für den Widerruf nicht erforderlich, dass im Herkunftsland des betroffenen Ausländers nunmehr umfassender Schutz vor Verfolgung gewährt wird oder es zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der auch der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt

vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, juris.

Ist eine grundlegende Änderung der verfolgungsrelevanten Umstände im vorgenannten Sinne zu bejahen, so ist es für den Widerruf des Weiteren unerheblich, ob die Flüchtlingsanerkennung zu Recht erfolgt war

vgl. BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, NVwZ 2005, 89.

Ausgehend davon ist ein Wegfall der der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zugrunde liegenden Verfolgungsgefahr anzunehmen.

Der Kläger wurde mit Bescheid vom 10.3.2000 als Flüchtling anerkannt, weil das Verwaltungsgericht des Saarlandes in dem Urteil vom 20.12.1999 - 6 K 136/98.A - davon ausgegangen war, dass der Kläger in seiner Heimatregion einer Unterstützung der PKK verdächtigt worden und bei den Heimatbehörden als Verdächtiger registriert gewesen sei. Im Jahre 1994 sei er anlässlich des Newrozfestes bei einer Verkehrskontrolle festgenommen und unter dem Vorwurf, mit seinem Minibus PKK-Mitglieder und Lebensmittel für diese transportiert zu haben, zwei Tage lang verhört worden. Er sei mit dem Gewehrkolben geschlagen worden, so dass er einen Bruch der Wangenknochen davon getragen habe. Kurz vor seiner Ausreise sei er bei einer allgemeinen Kontrolle in Istanbul erneut von Sicherheitskräften mitgenommen und nach einer Überprüfung seiner Personalien erheblich misshandelt worden.

Diese die Verfolgungsfurcht des Klägers begründenden Umstände können als dauerhaft beseitigt angesehen werden.

Seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers im März 2000 haben sich - wie im angefochtenen Bescheid zutreffend ausgeführt - Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei - nicht zuletzt mit Blick auf den angestrebten EU-Beitritt des Landes - deutlich zum Positiven verändert, so dass im konkreten Fall des Klägers – auch unter Berücksichtigung der vorgetragenen exilpolitischen Aktivitäten – keine beachtliche Gefahr von politischer Verfolgung mehr besteht.

Die rechtliche Entwicklung der vergangenen Jahre in der Türkei ist gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden Reformprozess, der wesentliche Teile der Rechtsordnung (besonders im Strafrecht, aber auch im Zivil- oder Verfassungsrecht) erfasst hat und auf große Teile der Gesellschaft ausstrahlt

vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Lagebericht) vom 8.4.2011.

Zwischen 2002 und 2005 wurden insgesamt acht Reformpakete zur Änderung der Verfassung, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetzte verabschiedet

vgl. ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010 sowie

ai Report 2011: zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Türkei).

Abgesehen von der Beendigung des Notstandsregimes, in dessen Folge die Verfahrensgarantien gegenüber den Sicherheitsbehörden in den hiervon betroffenen Gegenden massiv eingeschränkt waren, sind insbesondere die gesetzlichen Schutzmaßnahmen wie die Regeln über die Verstärkung der Verteidigerrechte, den Zugang zu einem Rechtsbeistand, die zeitlichen Vorgaben bis zur obligatorischen Vorführung eines Festgenommenen vor ein Gericht, die Regeln über die ärztliche Untersuchung eines Festgenommenen und die Straferhöhung für Foltertäter zu nennen

vgl. Fortschrittsbericht der EU vom 6.11.2007; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011; European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Bericht vom 6.9.2006, S. 11 f., http://www.cpt.coe.int/documents/tur/2006-30-inf-eng.pdf.

Zu dem Reformpaket gehören auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung von Meinungsfreiheit. Die türkische Regierung hat zudem wiederholt betont, dass sie gegenüber Folter eine „Null-Toleranz“-Politik verfolge. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird insoweit gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die entsprechenden zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid vom 17.7.2008 verwiesen.

Das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Bedeutung des Militärs und der Sicherheitskräfte ist zurückgegangen

vgl. Auswärtiges Amt Lagebericht Türkei vom 8.4.2011

Im Jahr 2010 fand ein Verfassungsreferendum statt, das weitere Fortschritte vorsieht. Insbesondere wurde eine Individualbeschwerdemöglichkeit vor dem Verfassungsgericht eingeführt. Das Verfassungsgericht wurde zudem mit der Gerichtsbarkeit auch gegenüber den Oberbefehlshabern des Militärs, welche bislang vor den Zivilgerichten fehlte, betraut

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011, S. 6.

Auch hat sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen galt, wurde mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet. Ein Teil der abgewanderten oder infolge der militärischen Maßnahmen zur Bekämpfung der PKK zwangsevakuierten Bevölkerung hat danach begonnen, in die Heimat zurückzukehren

vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 11.1.2007 und vom 3.5.2005.

Die türkische Regierung hat erkannt, dass die Probleme im Südosten nicht allein mit militärischen Mitteln überwunden werden können. So wurden außer der geplanten wirtschaftlichen Aufbauhilfe für die strukturschwachen Gebiete im Südosten im Rahmen des Programms zur demokratischen Öffnung, das derzeit allerdings zum Stillstand gekommen ist, der kurdischen Bevölkerung kulturelle Rechte in Bezug auf die kurdische Sprache eingeräumt, wie Fernsehsendungen auf kurdisch und Lehr- und Studienangebote für die kurdische Sprache

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011, S. 11, 12.

Allerdings wird in den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen übereinstimmend nach wie vor von Defiziten, insbesondere im rechtsstaatlichen Bereich, im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit sowie im Bereich der Achtung der Menschenrechte durch die Sicherheitsbehörden berichtet. Der türkischen Regierung ist es bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kam es bis in jüngste Zeit zu übermäßiger Gewaltanwendung. Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass die im Falle einer Festnahme vorgesehenen gesetzlichen Schutzinstrumentarien zuweilen unbeachtet bleiben. Die Ahndung von Misshandlung und Folter ist noch nicht zufriedenstellend

vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8.4.2011, S. 7 ff.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Helmut Oberdiek, Türkei, update: Aktuelle Entwicklungen, 9.10.2008; Fortschrittsbericht Türkei der EU vom 6.11.2007; ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010; U.S. Departement of State, 2010, Human Rights Report: Turkey vom 8.4.2011, http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrtt/2010/eur/154455.htm.

So berichtet etwa das Auswärtige Amt, dass Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, welche verfassungsrechtlich garantiert seien, nach wie vor aufgrund verschiedener, teils unklarer Rechtsbestimmungen Einschränkungen unterlägen. Ehemalige Tabuthemen, etwa die Kurdenfrage betreffend, könnten jedoch mittlerweile offener diskutiert werden. Auch lägen weiterhin Hinweise vor, dass die verfassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien im Strafverfahren nicht immer konsequent eingehalten würden

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Des Weiteren sei es der türkischen Regierung trotz zahlreicher gesetzgeberischer Maßnahmen zur Verhinderung von Folter (etwa auch der Erhöhung der Strafandrohung) und trotz nachweisbarer Verbesserungen bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Seit 2008 habe sich jedoch die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert, wenn es auch vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen gekommen sei. Nach Angaben von Menschenrechtsverbänden sei jedoch die Zahl der Beschwerden und offiziellen Vorwürfe, die in Zusammenhang mit mutmaßlichen Folter- und Misshandlungsfällen stehen, 2010 landesweit zurückgegangen. So seien bis Ende November 2010 insgesamt 161 (2009: 252, 2088: 269) Personen registriert worden, die im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt worden seien. Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen habe sich die Situation in den letzten Jahren erheblich verbessert; es würden weiterhin Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Misshandlung und psychischem Druck wie Anschreien und Beleidigungen. Straflosigkeit der Täter in Folterfällen sei weiterhin ein ernst zu nehmendes Problem. Auch kämen nach wie vor willkürliche kurzfristige Festnahmen, etwa im Rahmen von Demonstrationen vor, die von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt würden. Des Weiteren sei es 2010 zu über 27 sog. extra-legalen Tötungen durch Sicherheitskräfte gekommen

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Die vorstehend dargestellten Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes stimmen in den Grundzügen mit denjenigen von amnesty international überein, wenn auch etwa die Anzahl der im Jahr 2010 verzeichneten Folteropfer von der vom Auswärtigen Amt mitgeteilten Zahl abweicht und ai die mitgeteilten Fakten etwas kritischer bewertet. Auch nach Angaben von ai gab es in der Türkei seit etwa 2002 verstärkte Bemühungen, den Beitrittsprozess zur EU durch Reformen in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte voranzubringen. Seit Mitte 2005 sei jedoch eine deutliche Verlangsamung der Reformbemühungen festzustellen, in einigen Bereichen habe es sogar Rückschritte gegeben. Durchaus vorhandene Ansätze zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage seien ebenfalls ins Stocken geraten. Geprägt seien die Auseinandersetzungen um die Rechte der Kurden auch von den Aktivitäten der PKK, die nicht nur - inzwischen mit reduzierter Intensität - einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führe, sondern auch, zumindest in der Vergangenheit vor Bombenanschlägen gegen die Zivilbevölkerung nicht zurückgeschreckt sei. Die Reformpakete, die in den Jahren 2002 bis 2005 verabschiedet worden seien, hätten wichtige Mechanismen zum Schutz Festgenommener vor Folter enthalten. Dennoch seien auch danach noch Folter und Misshandlungen in Polizeihaft, außerhalb offizieller Haftorte und auch in Gefängnissen zu verzeichnen. Die im Jahre 2010 umgesetzten Änderungen der Verfassung und des Antiterrorgesetzes seien ein weiterer Schritt hin zum Schutz der Menschenrechte gewesen, der notwendige grundlegende Wandel sei damit jedoch nicht vollzogen worden. Ermittlungen und Strafverfahren gegen Beamte mit Polizeibefugnissen in Folterfällen seien noch immer ineffektiv, wenn auch inzwischen eine vielbeachtete Verurteilung von Polizisten zu hohen Haftstrafen stattgefunden habe, die den Tod eines Festgenommenen verursacht hätten. Die Meinungsfreiheit werde in der Türkei noch immer durch zahlreiche Gesetze und deren sehr weite Auslegung durch die Gerichte eingeschränkt.

vgl. ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010 sowie

ai Report 2011: zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Türkei).

Ähnlich wie ai äußert sich auch Helmut Oberdiek für die Schweizerische Flüchtlingshilfe

vgl. Oberdiek, Türkei, Zur aktuellen Situation – Oktober 2007.

Neben demnach immer noch vorkommenden Fällen von Folter und Misshandlungen ist nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch die Kurdenfrage nach wie vor ein Problem der türkischen Innenpolitik. Zur Entwicklung in den letzten Jahren sowie der Stellung der PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen kann zunächst auf die entsprechenden ausführlichen Darlegungen im angefochtenen Bescheid verwiesen werden (§ 117 Abs. 5 VwGO). Auch aus den neueren Erkenntnissen geht hervor, dass in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten des Landes trotz der von Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Ergodan im Jahr 2009 initiierten „Demokratischen Öffnung“ (zuvor „Kurdischen Öffnung“), die auf eine Lösung der Probleme des Südostens zielte und politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Maßnahmen beinhaltete, weiterhin Spannungen zu verzeichnen sind. So wurden etwa in der Provinz Diyarbakir, aus der der Kläger stammt, auch in jüngerer Zeit Versammlungen gewaltsam aufgelöst und von Menschenrechtsorganisationen kritisch bewertete (Massen)Prozesse wegen des Verdachts der PKK-Unterstützung eingeleitet. Immer noch gibt es Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften. Allerdings haben diese sich im Vergleich zu den 90er Jahren in erheblichem Umfang reduziert und betreffen auch nicht die gesamte von Kurden bewohnte Region. Insgesamt hat sich die Härte des Einsatzes der Sicherheitskräfte, die bei ihrem Kampf gegen die PKK in den 90er Jahren die Bevölkerung im Südosten erheblich in Mitleidenschaft gezogen hatten, in den letzten Jahren deutlich verringert.

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011; sowie zusammenfassendes Protokoll der Gesprächsreise von Rechtsanwalt Tahir Elci im Juni 2010.

Die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bieten keinen Anlass zu einer anderen Bewertung.

Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass in der Türkei seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers tiefgreifende Reformen stattgefunden haben und die gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen der letzten 10 Jahre im Hinblick auf die Menschenrechtslage deutliche Veränderungen zum Positiven bewirkt haben, auch wenn, wie dargelegt, die erreichten Standards in verschiedener Hinsicht nicht denen Westeuropas entsprechen. Der Reformprozess dauert inzwischen schon ca. ein Jahrzehnt an und wird prinzipiell weitergeführt. Die Türkei strebt nach wie vor eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union an und hat sich daher den sog. Kopenhagener Kriterien unterworfen. Der Reformprozess unterliegt insofern einer Kontrolle, als die Europäische Union turnusgemäß über die erreichten Fortschritte berichtet und den Fortschrittsbericht veröffentlicht. Von daher sind die seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers in der Türkei stattgefundenen Veränderungen durchaus als dauerhaft einzustufen, auch wenn es – wie ai und Helmut Oberdiek anmerken – in Einzelpunkten im Laufe der Jahre auch Rückschritte gegeben hat und der Reformprozess, was die Lösung der Kurdenfrage betrifft, seit Mai 2010 stagniert.

Ob angesichts der dargestellten Verhältnisse in der Türkei allerdings generell die Feststellung getroffen werden kann, dass - wie im angefochtenen Bescheid angenommen - türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die sich Verfolgungsmaßnahmen wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Guerilla mit Bedarfsartikeln, Beherbergung oder ähnlichem, oder dem Zwang zur Übernahme eines Dorfschützeramtes oder sonstiger Repressalien im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften durch Flucht ins Ausland entzogen hatten, heute bei einer Rückkehr in die Türkei mit hinreichender Sicherheit keinen Repressalien dieser Art bzw. staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang mehr ausgesetzt sind, erscheint fraglich. Dies kann jedoch vorliegend dahinstehen.

Denn für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung ist - wie dargelegt - nicht die Feststellung erforderlich, dass es im Heimatland des betroffenen Ausländers ausnahmslos oder zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt. Vielmehr ist in Abhängigkeit von den konkreten Umständen, die zur Zuerkennung des jeweiligen Schutzstatus geführt haben, festzustellen, dass sich diese Verhältnisse erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben und dass deshalb jedenfalls der konkret betroffene vorverfolgte Asylberechtigte nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Verfolgung zu befürchten hat

vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11.8.2010 - 11 LB 405/08 - sowie Beschluss vom 12.4.2010 - 11 LA 54/10 -; in diesem Sinne wohl auch BVerwG, Urt. v. 24.2 2011 – 10 C 5/10 -, juris, wonach sich die zuständigen Behörden und Gerichte mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern müssen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können.

Bezogen auf die individuelle Situation des Klägers haben die vorstehend dargestellten Änderungen der Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei und die damit einhergehende Entspannung der Verhältnisse auch im Südosten des Landes seit der Flüchtlingsanerkennung aber jedenfalls eine solche Auswirkung, dass nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der Kläger im Zusammenhang mit den Vorgängen, die 1994 und 1995 zu Misshandlungen führten, weiterhin bzw. erneut polizeiliche oder sonstige behördliche Maßnahmen von asylerheblicher Intensität befürchten muss. Als Flüchtling anerkannt wurde der Kläger – wie ausgeführt - vor allem im Hinblick auf die Annahme, dass er 1994 bei den Heimatbehörden als möglicher Sympathisant der PKK registriert war, weil man ihn verdächtigte, für diese Transporte durchzuführen. Bei der anzustellenden Prognose einer dem Kläger heute noch drohenden Verfolgungsgefahr fällt zunächst ins Gewicht, dass die dem Kläger im Jahr 1994 vorgehaltenen vermeintlichen Unterstützungshandlungen für die PKK in Gestalt gelegentlicher Transportfahrten nur untergeordneter Natur waren und es – da der Vorwurf eigenen Angaben des Klägers zufolge unbegründet war - dafür auch keinerlei Beweise gab, weshalb man ihn jeweils nach kurzer Zeit auch wieder freigelassen habe. Zudem liegen die Vorwürfe mittlerweile mehr als sechzehn Jahre zurück. Darüber hinaus wäre die dem Kläger ehemals vorgeworfene Unterstützung der PKK durch gelegentliche Transportfahrten heute nach türkischem Strafrecht ohnehin nicht mehr zu verfolgen. In Betracht gekommen wäre zur vermeintlichen Tatzeit insoweit eine Bestrafung gemäß Art. 169 Türkisches StGB (TStGB) von 1926 wegen Unterstützung einer bewaffneten Organisation und zwar mit einer Strafe von 4,5 bis 7,5 Jahren (Art. 159 i.V.m. Art. 4, 5 Antiterrorgesetz). Diese Tat wäre aber unter die Amnestie vom 21.12.2000 durch das Gesetz Nr. 4616 (betreffend bedingte Freilassungen und die Aussetzung von Strafverfahren sowie von der Vollstreckung von Strafen im Falle von bis zum 23. April 1999 begangener Straftaten) gefallen. Diese gewährte einen Straferlass von zehn Jahren, was bei Straftaten mit einer Strafe unter zehn Jahren eine Straffreistellung bedeutete

vgl. Gutachten Dr. Silvia Tellenbach an das VG Osnabrück vom 26.11.2006 sowie an das VG Freiburg vom 4.6.2007; Serafettin Kaya an VG Berlin vom 9.8.2006 und an OVG Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2009 und vom 22.7.2009.

Auch nach Angaben des Sachverständigen Kamil Taylan in seinem Gutachten für den Senat vom 11.2.2011 ist die vom Kläger in diesem Verfahren berichtete tatsächliche oder vermeintliche Unterstützung der PKK mit Bedarfsartikeln, Beherbergung von PKK-Aktivisten o.ä. in den 90er Jahren heute als Delikt im Sinne des TStGB verjährt. Diese Verjährung betrifft nach den Ausführungen des Sachverständigen auch die Ablehnung eines Dorfschützeramtes bzw. einer Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitskräften, „auch durch Flucht ins Ausland“.

Damit wären die dem Kläger im Jahr 1994 unterstellten gelegentlichen Transporte von PKK-Anhängern bzw. Lebensmitteln für die PKK mittlerweile jedenfalls straffrei.

Auch sind dem Gutachter Kamil Taylan keine aktuellen Verfahren gegen in die Türkei zurückgekehrte Personen bekannt, die, wie der Kläger, bis Ende der 90er Jahre in den Verdacht geraten sind, die PKK mit Bedarfsartikeln, Beherbergungen oder ähnlichem unterstützt zu haben und deswegen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren

vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das OVG des Saarlandes vom 11.2.2011.

Damit vergleichbar hält auch der Gutachter Serafettin Kaya die Gefahr für eine im Jahr 1995 wegen der Unterstützung der TDKP in Verdacht geratene Person, die, ebenso wie vorliegend der Kläger, nicht verurteilt worden war, im Falle einer Rückkehr nicht für beachtlich wahrscheinlich

vgl. Serafettin Kaya, Gutachten an das OVG Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2009 und vom 22.7.2009.

Soweit der Kläger darüber hinaus als mitursächlich für seine Ausreise angegeben hat, dass er sich dem auf ihn ausgeübten Druck zur Übernahme des Dorfschützer-amtes habe entziehen wollen, was allerdings ausweislich der Entscheidungsgründe des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.12.1999 für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers nicht von Bedeutung war, droht ihm in diesem Zusammenhang im Falle einer Rückkehr ebenfalls keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass die Ablehnung der Übernahme des Dorfschützeramtes keine strafrechtliche Relevanz besitzt

vgl. ai an OVG Münster vom 17.12.2004.

Darüber hinaus haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Ausreise des Klägers auch betreffend die Dorfschützerproblematik grundlegend geändert, so dass nicht angenommen werden kann, dass der Kläger heute insoweit nochmals Beeinträchtigungen ausgesetzt sein könnte. Denn seit dem Frühjahr 2000 wird das System der Dorfschützer in der zuvor praktizierten Form nicht mehr aufrecht erhalten. Mit Runderlass des Innenministeriums an die Gouverneursämter der Provinzen vom 24.4.2000 wurde angeordnet, dass keine neuen „vorläufigen“ Dorfschützer mehr eingestellt werden. Durch Kündigung, Tod oder andere Gründe freiwerdende Stellen vorläufiger Dorfschützer werden nicht mehr besetzt

vgl. Serafettin Kaya, Gutachten vom 28.1. 2007 an das VG Aachen; ai an OVG Münster vom 17.12.2004.

Diese Anordnung des Innenministeriums wird seitdem ersichtlich auch eingehalten. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Anordnung in absehbarer Zeit außer Kraft gesetzt wird oder ihre Bedeutung verliert. Denn die Bedingungen, deretwegen das Dorfschützersystem seinerseits geschaffen und ausgebaut wurde, haben sich - wie oben bereits ausgeführt - inzwischen wesentlich geändert. Das Mitte der 80er Jahre geschaffene und in den 90er Jahren weiter ausgebaute System diente u. a. dazu, die Dorfbewohner in den vier Notstandsprovinzen (Diyarbakir, Hakkari, Mardin, Siirt) und später - entsprechend der Ausweitung der Guerillatätigkeit - auch in weiteren Provinzen mit starker kurdischer Bevölkerung als „verlängerten Arm“ der Sicherheitskräfte vor Ort zu rekrutieren und damit zugleich die kurdische Bevölkerung zu spalten. Seit der Entspannung der Situation und dem Rückgang der Guerillatätigkeit im Südosten der Türkei und der von der türkischen Regierung verfolgten Politik der sog. „demokratischen Öffnung“ wurden neue Dorfschützer nicht mehr benötigt, so dass die türkischen Sicherheitskräfte auch keinen Druck mehr auf die Bevölkerung zur Rekrutierung auszuüben brauchten, auch wenn das Dorfschützersystem nicht insgesamt abgeschafft wurde. Letzteres liegt u.a. daran, dass eine vollständige und zügige Abschaffung der Dorfschützer eine erhebliche Unruhe in den kurdischen Provinzen mit sich brächte, weil damit viele - zudem bisher staatsloyale - Kurden ihren auskömmlichen Broterwerb bis hin zu ihrer Rentenberechtigung verlören.

vgl. ai, Gutachten vom 18.7.2003 an VG Frankfurt; vgl. zu alledem auch ausführlich OVG Koblenz, Urteil vom 17.12.2010 - 10 A 10911/10 -, juris.

Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass der Kläger wegen seiner Weigerung, Dorfschützer zu werden, heute keine politische Verfolgung mehr zu befürchten hat.

Nichts anderes ist im Hinblick auf die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers anzunehmen, welche sich nach dessen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht darauf beschränkten, wie alle anderen Kurden an Veranstaltungen und Demonstrationen teilzunehmen. Dabei handelt es sich eindeutig um eine Betätigung niedrigen Profils. Die bloße Beteiligung an Veranstaltungen und Demonstrationen stellt kein Verhalten dar, das sich von demjenigen der meisten in Deutschland lebenden Kurden aus der Türkei unterscheidet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes begründet jedoch nur eine exponierte exilpolitische Betätigung, d. h. eine Tätigkeit in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation bzw. besonders publizitätsträchtige Aktivitäten im Falle einer Rückkehr eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr

vgl. etwa OVG des Saarlandes, Urteile vom 3.4.2008 - 2 A 312/07 -, juris und vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 - m.w.N., juris; sowie Beschluss vom 21.12.2009 - 3 A 275/09 -.

Neuere Erkenntnisse, die Anlass zu einer anderen Beurteilung böten, liegen nicht vor. Vielmehr führt etwa das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht vom 8.4.2011 ebenso wie bereits in verschiedenen vorangegangenen Lageberichten bzw. Stellungnahmen aus, dass (nur) türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, Gefahr laufen, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit Ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen würden, müssten mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange seien nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden könnten, was vorliegend jedoch nicht erkennbar ist.

Ist somit bereits nach den vorangegangenen Ausführungen nicht zu erwarten, dass die türkischen Sicherheitskräfte heute noch ein Interesse an der Person des Klägers haben, so findet dies eine weitere Bestätigung in den vom Senat eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und von Kamil Taylan.

So hat das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 13.10.2010 zu den im Beweisbeschluss des Senats vom 16.7.2010 gestellten Fragen mitgeteilt, dass Nachforschungen eines beauftragten Vertrauensanwalts im Falle des Klägers ergeben hätten, dass an den maßgeblichen Orten, nämlich am Ort der personenstandsamtlichen Registrierung und am letzten Wohnort des Klägers keine behördlichen Vorgänge gegen ihn vorhanden seien. Auch bei der Sicherheitsdirektion Istanbul und der Oberstaatsanwaltschaft Istanbul sei der Kläger nicht aktenkundig. Es habe auch kein Fahndungsersuchen nach ihm festgestellt werden können. Im Hinblick darauf seien keine Hinweise dafür vorhanden, dass der Kläger bei Rückkehr in die Türkei in den Fokus der türkischen Sicherheitskräfte geraten könnte bzw. mit staatlichen Repressalien wegen der behaupteten früheren Aktivitäten zu rechnen hätte.

Auch der Sachverständige Taylan bestätigt in seiner Stellungnahme vom 11.2.2011, über türkische Anwälte in Erfahrung gebracht zu haben, dass über den Kläger in zentralen Fahndungsregistern keine Einträge vorhanden seien, d. h., dass der Kläger nicht zur Fahndung ausgeschrieben sei, auch kein Haftbefehl gegen ihn existiere und derzeit auch kein Strafverfahren gegen ihn anhängig sei. Es könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer eventuellen Rückkehr in die Türkei wegen seiner Aktivitäten in den 90er Jahren politisch verfolgt werde. Es sei auch derzeit kein einziges Verfahren in der Türkei bekannt, worin ein Rückkehrer wegen Verfehlungen, wie sie dem Kläger vorgeworfen worden seien, angeklagt sei oder sich in U-Haft befinde bzw. deswegen sonstigen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen wäre. Ein Verfahren gegen einen zurückkehrenden türkischen Staatsangehörigen, der im Jahre 1994 in den Verdacht geraten war, die PKK durch Transportfahrten unterstützt zu haben, hält der Gutachter wegen der Verjährung dieser Taten für ausgeschlossen, auch wenn die betroffene Person damals kurzfristig festgenommen und misshandelt worden sowie in ihrer Heimatregion als Verdächtiger registriert war.

Dafür, dass – wie das Auswärtige Amt und Kamil Taylan festgestellt haben – der Kläger in der Türkei tatsächlich nicht mehr als Verdächtiger bzw. Sympathisant der PKK registriert ist, spricht im Übrigen auch, dass aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums vom 18.12.2004 keine Suchvermerke mehr ins Personenstandregister eingetragen werden und Angaben türkischer Behörden zufolge Mitte Februar 2009 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregister gelöscht wurden

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Der darüber hinausgehenden Anmerkung des Sachverständigen Taylan in seiner Stellungnahme vom 11.2.2011, wonach mit Blick darauf, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland als Unterstützer und Sympathisant der PKK aktiv gewesen sei, die Gefahr einer politischen Verfolgung „nicht gänzlich ausgeschlossen“ werden könne, lässt sich die erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger weiterhin drohenden politischen Verfolgung ebenfalls nicht entnehmen. Die Gefahr einer solchen Verfolgung erachtet auch Kamil Taylan wörtlich als „sehr gering“ bzw. „verschwindend klein“; er vermag sie angesichts der seiner Meinung nach „chaotischen Verhältnisse in der türkischen Justiz“ nur nicht ganz auszuschließen. Eine so hohe Prognosesicherheit, dass eine Verfolgungsgefahr ohne jeden Zweifel ausgeschlossen werden kann, was letztlich einen kaum zu gewährleistenden Schutzstandard bedeutete, wird jedoch für die Annahme eines Wegfalls der Anerkennungsvoraussetzungen nicht gefordert. Vielmehr hätte bei dem vom Gutachter umschriebenen Wahrscheinlichkeitsgrad nach der früheren Rechtsprechung sogar eine hinreichende Verfolgungssicherheit bejaht werden können. Nach dieser Rechtsprechung konnte vom Fehlen hinreichender Sicherheit vor der Wiederholung von Verfolgungshandlungen nicht schon bei jeder noch so geringen Möglichkeit abermaligen Verfolgungseintritts ausgegangen werden. Vielmehr war über eine „theoretische“ Möglichkeit hinaus erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus „reale“ Möglichkeit erscheinen ließen

vgl. BVerwG, Urt. v. 8.9.1992 – 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 f.

Auch amnesty international hält zumindest eine gerichtliche Verfolgung aufgrund der dem Kläger früher vorgeworfenen Aktivitäten für nicht wahrscheinlich. Auch ansonsten lässt sich der Stellungnahme vom 31.1.2011 an den Senat, welche sich auf allgemeine Ausführungen zur Gefährdungslage von Rückkehrern beschränkt, ohne jedoch die individuelle Situation des Klägers näher zu beleuchten, eine dem Kläger im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung nicht entnehmen. Dies gilt zunächst, soweit ai ganz allgemein die Gefahr sieht, dass einreisende ehemalige Asylsuchende bereits während der Dauer der im Regelfall erfolgenden Erkundigungen bei den Heimatbehörden misshandelt werden. Der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen allen Rückkehrern, und damit auch dem Kläger, drohenden Gefahr steht entgegen, dass in den letzten Jahren konkrete derartige Fälle nicht verzeichnet wurden.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes ist diesem in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in den ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei; dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen. Auch seitens türkischer Menschenrechtsorganisationen sei kein Fall genannt worden, in dem politisch nicht in Erscheinung getretene Rückkehrer oder exponierte Mitglieder oder führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen menschenrechtswidriger Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt gewesen seien. Nach Auskunft der Vertretungen von EU-Mitgliedstaaten in Ankara (Dänemark, Schweden, Niederlande, Frankreich, England, auch der Kommission) sowie von Norwegen, der Schweiz und den USA im Frühjahr 2011 sei auch diesen aus jüngerer Zeit kein Fall bekannt, in dem exponierte Mitglieder, führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer unmenschlicher Behandlung oder Folter ausgesetzt gewesen seien

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Konkrete Fälle, die den vorgenannten Feststellungen des Auswärtigen Amtes entgegen stehen, hat auch ai nicht benannt. Von daher kann jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass dem Kläger schon allein während einer routinemäßigen Nachfrage bei den Behörden seines Heimatortes Misshandlungen drohen. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes, wonach zurückkehrende Asylbewerber jedenfalls nicht routinemäßig - d.h. ohne Vorliegen von Besonderheiten - bei der Wiedereinreise in die Türkei inhaftiert bzw. asylerheblichen Misshandlungen ausgesetzt werden

vgl. etwa Urteil vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 - m.w.N., juris.

Soweit ai darüber hinaus die Gefahr eines Verhörs - und in diesem Zusammenhang auch von Folter - sieht, sobald gegen den Rückkehrer ein Eintrag oder ein polizeiinterner Suchbefehl vorliegt, ist eine diesbezüglich beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers ebenfalls nicht anzunehmen, weil der Kläger - wie oben dargelegt - nach entsprechenden überzeugenden Angaben des Auswärtigen Amtes und des Sachverständigen Taylan in der Türkei derzeit nicht aktenkundig ist und keine behördlichen Vorgänge über ihn existieren. Die von ai lediglich in theoretischer Weise in den Blick genommen Risikofaktoren eines noch bestehenden Suchinteresses sind nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes und des Sachverständigen Taylan im Falle des Klägers vielmehr zu verneinen.

Nach alledem ist ein aktuelles Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an dem Kläger (und damit einhergehend die Gefahr weiterer Ermittlungen und Misshandlungen) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, vielmehr nahezu auszuschließen.

Soweit der Kläger die Befürchtung geäußert hat, dass die türkischen Sicherheitskräfte gegen eine in der jüngeren Zeit wieder verstärkt militärisch operierende PKK nochmals nachhaltig vorgehen und dies zu einer erneuten Verschlechterung der Verhältnisse in seiner Heimatregion führen könnte, bietet dies keinen Anlass zu der Annahme, dass eine langjährig zurückliegende Unterstützung der PKK relativ geringfügiger Art, wie sie bei dem Kläger vermutet wurde, im Falle einer Rückkehr Anlass für weitergehende Behelligungen sein könnte, nachdem in diesem Zusammenhang keinerlei behördliche Vorgänge und Registrierungen hinsichtlich des Klägers mehr vorliegen.

Schließlich droht dem Kläger auch im Hinblick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit bei einer Rückkehr keine Gefährdung. Eine Gruppenverfolgung von Kurden lag weder im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung des Klägers vor noch kann hiervon aktuell ausgegangen werden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats

vgl. Urteile vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 -, vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 - und vom 29.3.2000 - 9 R 10/98 -, juris.

und auch aller weiteren Obergerichte, welche im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt wurde. Auf diesen wird insoweit Bezug genommen. Weiterer Darlegungen bedarf dies nicht, da sich der Kläger im anhängigen Verfahren auch nicht auf eine asylrelevante Gruppenverfolgung von Kurden berufen hat.

Haben sich nach alledem im Falle des Klägers die für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Verhältnisse seither erheblich verändert, steht der Annahme des nachträglichen Wegfalls der die Flüchtlingsanerkennung begründenden Umstände schließlich auch nicht die gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG anwendbare Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG entgegen, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung bzw. des Eintritts eines sonstigen ernsthaften Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - m.w.N., juris.

Die Beweislast liegt insoweit bei der Beklagten.

Zwar hat der Senat keinen Anlass die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers in Zweifel zu ziehen, wonach er im Rahmen einer zweitägigen Festnahme im Jahr 1994 mit einem Gewehrkolben geschlagen wurde, dabei einen Bruch der Wangenknochen erlitt und auch anlässlich eines mehrstündigen Verhörs in Istanbul im Jahre 1995 erneut misshandelt wurde, wovon auch das Verwaltungsgericht des Saarlandes in seinem Urteil vom 20.12.1999 - 6 K 136/98.A - ausgegangen ist. Von daher liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG formulierten Vermutung vor. Ausgehend von den vorstehend dargestellten Veränderungen der Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei, insbesondere den oben dargestellten, dem Kläger zu Gute kommenden Amnestie- bzw Verjährungsregelungen sowie der Tatsache, dass derzeit in der Türkei bezüglich des Klägers keinerlei Fahndungsersuchen, Registereintragungen oder sonstige behördliche Vorgänge wegen des Verdachts einer Unterstützung der PKK mehr existieren, sprechen jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Denn die in der Türkei trotz der durchgeführten Reformen im Einzelfall nicht auszuschließende Gefahr der Folter besteht vor allem bei Ermittlungen der türkischen Sicherheitskräfte gegen bestimmte Personen wegen der Verdächtigung, politische Straftaten begangen zu haben. Für solche Ermittlungen gegen den Kläger besteht nach dem Vorgesagten aber kein Anlass mehr.

Nach den vorstehenden Ausführungen ist auch ohne Weiteres anzunehmen, dass die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur ist, vielmehr die Faktoren, die die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Angesichts der dem Kläger zugute kommenden Amnestie- bzw. Verjährungsregelungen sowie des im Zuge der Beweiserhebung des Senats zu Tage getretenen gänzlich fehlenden aktuellen Interesses der türkischen Behörden an der Person des Klägers ist nicht erkennbar, dass diesem auf absehbare Zeit erneute Verfolgung drohen könnte. Dies umfasst zugleich die Feststellung, dass die türkische Regierung in den letzten Jahren geeignete Schritte unternommen hat, um die der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zugrunde liegende Verfolgung dauerhaft zu verhindern. Aufgrund der vorgenannten Maßnahmen (insbesondere der Amnestie- und Verjährungsregelungen sowie des Beseitigens von Registereintragungen) ist davon auszugehen, dass der Kläger in der Türkei nunmehr vor weiteren Verfolgungsmaßnahmen nachhaltig geschützt ist.

Sind danach aufgrund einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Verhältnisse in der Türkei diejenigen Umstände weggefallen, auf denen die begründete Furcht vor Verfolgung und die Flüchtlingsanerkennung des Klägers beruhten, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Rechtskraft des zur Anerkennung verpflichtenden Urteils einem Widerruf nicht entgegensteht. Denn bei einer solchen wesentlichen Veränderung der Sachlage endet auch die Rechtskraft des Urteils.

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wegen anderer Umstände begründete Furcht vor Verfolgung haben müsste, hat dieser nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

Hat die Beklagte demnach im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Kläger wegen einer erheblichen und dauerhaften Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände keine begründete Furcht vor Verfolgung mehr haben muss, war vom Widerruf auch nicht gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG wegen zwingender auf früheren Verfolgungen beruhender Gründe abzusehen. Solche zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe, um eine Rückkehr in die Türkei abzulehnen, liegen im Falle des Klägers nicht vor. Mit § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG wird insbesondere der psychischen Sondersituation Rechnung getragen, in dem sich ein Asylberechtigter befindet, welcher ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse im Heimatland nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgungsstaat zurückzukehren. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist demnach, dass Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen vorliegen, die zur Unzumutbarkeit der Rückkehr in die Türkei auch dann führen, wenn - wie hier - eine Verfolgung nicht mehr droht

vgl. BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 24.04 in DVBl. 2006, S. 511.

Eine derartige Sachlage ist im Falle des Klägers nicht gegeben. Zwar ist der Kläger vor seiner Ausreise körperlich misshandelt worden. Jedoch hat er weder vorgetragen noch ist erkennbar, dass er dabei derart schwere physische oder psychische Schäden davon getragen hat, dass diese auch derzeit noch in einem erheblichen Umfang nachwirken, so dass ihm eine Rückkehr nicht angesonnen werden könnte. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zwar angegeben, die erlittenen Misshandlungen nicht vergessen zu können. Dies reicht jedoch zur Annahme einer Unzumutbarkeit der Rückkehr in die Türkei nicht aus, zumal der Kläger sich offenkundig vorrangig um die Zukunft seiner Kinder und auch die wirtschaftliche Lage der Familie sorgte.

Hat die Beklagte demnach die im Bescheid vom 10.3.2000 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Recht widerrufen, ist auch die weitere Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, zu Recht ergangen. Die Beklagte hat im Rahmen des Widerrufsverfahrens zu Recht auch über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entschieden. Insoweit sowie zu den Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen. Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend vom Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die geäußerte Befürchtung erneuter staatlicher Repressionen im Zusammenhang mit den Vorgängen vor der Ausreise in Betracht. Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen, auf die verwiesen werden kann, kann insoweit jedoch nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden.

Schließlich ist auch die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, rechtlich nicht zu beanstanden. Der Senat geht insoweit davon aus, dass die ohne Einschränkung gegen den gesamten Bescheid vom 17.7.2008 erhobene Anfechtungsklage auch gegen diese Feststellung gerichtet ist. Ungeachtet der Frage des richtigen Rechtsbehelfs kann auch hier zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen werden. Ergänzend wird folgendes hinzugefügt: Auch bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist stets der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

vgl. BVerwG, Urteile vom 24.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -.

Ausgehend vom Sachvortrag des Klägers kommt auch hier lediglich eine ihm im Rückkehrfalle drohende Gefahr erneuter Folter bzw. Misshandlung durch türkische Sicherheitskräfte in Betracht. Eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende derartige Gefahr ist jedoch nach den vorangegangenen Darlegungen, auf die auch hier Bezug genommen werden kann, nicht anzunehmen. Die Vermutungsregelung des auch im Rahmen der Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG anwendbaren Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG wirkt sich auch hier nicht zugunsten es Klägers aus, da - wie ausgeführt - stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dementsprechend liegt weder ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 2 oder Abs. 5 AufenthG noch ein solches im Sinne des nachrangig zu prüfenden § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Für sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 3 AufenthG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG oder § 60 Abs. 4 AufenthG sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich.

Die Berufung des Klägers wird daher zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 17.7.2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. gegeben. Das Bundesamt hat auch zu Recht festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Widerrufsentscheidung ist § 73 AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2.9.2008 (BGBl. I S. 1798).

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die – hier streitgegenständliche - Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. bis zum 1.1.2005 des § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG gilt Satz 2 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Zunächst ist festzustellen, dass der Widerruf nicht an einem formellen Mangel leidet. Er entspricht insoweit den maßgeblichen Anforderungen des § 73 AsylVfG. Insbesondere ist die beabsichtigte Entscheidung über den Widerruf entsprechend § 73 Abs. 4 AsylVfG dem Kläger zuvor schriftlich mitgeteilt und ihm Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Auch begegnet die angefochtene Entscheidung weder im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Widerrufs im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch im Hinblick auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG Bedenken. Das Gebot der Unverzüglichkeit dient nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt

vgl. BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243.

Das Bundesverwaltungsgericht hat auch bereits entschieden, dass die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen - wie hier - die Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2 a AsylVfG widerrufen wird

vgl. BVerwG, Urteil vom 12.6.2007 - 10 C 24.07 -, Buchholz 204.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 m.w.N..

Diese Vorschrift enthält eine bereichsspezifische Sonderregelung, welche die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt und auch für Altanerkennungen gilt.

Der angefochtene Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das Bundesamt kein Ermessen ausgeübt hat. Nach § 73 Abs. 7 AsylVfG ist in Fällen wie dem vorliegenden keine Ermessensentscheidung erforderlich

Vgl. ausführlich BVerwG, Urteile v. 24.2.2011 – 10 C 3/10 – u.a. sowie Urteile v. 1.6.2011 – 10 C 10.10 – u. – 10 C 25.10 -, juris.

Das Bundesamt hat im Ergebnis auch zu Recht das Vorliegen der materiell-rechtlichen Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 AsylVfG bejaht, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union vom 29.4.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“) und unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in seinem Grundsatzurteil vom 2.3.2010 (Rs C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08, Abdulla u.a. - InfAuslR 2010, 188) auszulegen ist und zwar auch in Fällen, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft insbesondere zu widerrufen, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände im Herkunftsland diejenigen Umstände, aufgrund derer der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG haben muss

vgl. dazu im Einzelnen BVerwG, Urteil v. 24.2.2011 – 10 C 3/10 –, a.a.O..

In seinen jüngsten Urteilen vom 1.6.2011 – 10 C 10.10 und 10 C 25.10 – hat das Bundesverwaltungsgericht insoweit nochmals hervorgehoben, dass eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände im vorgenannten Sinne voraussetzt, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, selbst dann nicht, wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder neuen Erkenntnismitteln beruht

vgl. zu letzterem auch BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 -1 C 21/04 -, DVBl. 2006, 511.

Es muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen, soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor „Verfolgung“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dabei dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offen zu legen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweisen muss, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbarer Zeit kann indes nicht verlangt werden.

Die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland verhält sich grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit des Weiteren ausgeführt, dass wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft seit der Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung zu § 73 AsylVfG nicht mehr festgehalten werden kann, vielmehr unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit gilt, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Die Richtlinie 2004/83/EG kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird

vgl. zu allem Vorstehenden BVerwG, Urteile vom 1.6.2011 – 10 C 10.10 u. 10 C 25.10 – m.w.N. sowie EuGH, Urt. vom 2.3.2010, Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a., juris.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist demnach bei der Prüfung eines fortbestehenden Anspruchs auf die Flüchtlingsanerkennung nicht mehr auf den Maßstab einer hinreichenden Sicherheit vor weiterer Verfolgung abzustellen. Das Bundesverwaltungsgericht ist in den vorgenannten Entscheidungen vielmehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, wonach für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung verlangt wurde, dass eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen war, ausdrücklich abgerückt.

Der sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit ist insoweit durch die Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ersetzt worden, die gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 11 AufenthG sowohl für den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG als auch für die weiteren unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsverbote des § 60 AufenthG gilt

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -, OVG Münster, Urteil vom 17.8.2010 - 8 A 4063/06.A -, juris.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der spätere Wegfall der Verfolgungsgefahr durch einen Wechsel oder eine Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatstaat zwar den Hauptanwendungsfall des § 73 Abs. 1 AsylVfG darstellt, die Anwendung dieser Bestimmung aber nicht hierauf beschränkt ist, vielmehr der nachträgliche Wegfall aller Voraussetzungen für die Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung hiervon erfasst wird, etwa auch Veränderungen in der Person des Begünstigten

vgl. dazu ausführlich OVG Niedersachsen, Urt. v. 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, juris.

Die zuständigen Behörden und Gerichte müssen sich mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können

vgl. BVerwG, Urteil vom 24.2.2011 - 10 C 5/10 - sowie EuGH, Urteil vom 2.3.2010 a.a.O.;

Dementsprechend ist bei der nach den vorgenannten Kriterien gebotenen Prüfung, ob die Anerkennungsvoraussetzungen nachträglich im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylVfG weggefallen sind, die allgemeine Situation im Heimatstaat des Berechtigten in den Blick zu nehmen, hierauf aufbauend aber auf die individuelle Situation des als Flüchtling anerkannten Ausländers abzustellen, dem dieser Status wieder entzogen werden soll. In Abhängigkeit von den Umständen, die zur Zuerkennung des jeweiligen Schutzstatus geführt haben, sind auch die Anforderungen an die Verbesserung der Lage im Heimatstaat und an eine Gefährdung im Falle einer Rückkehr individuell zu bewerten. Entscheidend für einen Widerruf ist die Feststellung, dass sich die für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben und deshalb jedenfalls im Falle des konkret betroffenen Flüchtlings keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verfolgung mehr besteht. Hingegen ist für den Widerruf nicht erforderlich, dass im Herkunftsland des betroffenen Ausländers nunmehr umfassender Schutz vor Verfolgung gewährt wird oder es zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der auch der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt

vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11.8.2010 - 11 LB 405/08 -, juris.

Ist eine grundlegende Änderung der verfolgungsrelevanten Umstände im vorgenannten Sinne zu bejahen, so ist es für den Widerruf des Weiteren unerheblich, ob die Flüchtlingsanerkennung zu Recht erfolgt war

vgl. BVerwG, Urteil vom 25.8.2004 - 1 C 22.03 -, NVwZ 2005, 89.

Ausgehend davon ist ein Wegfall der der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zugrunde liegenden Verfolgungsgefahr anzunehmen.

Der Kläger wurde mit Bescheid vom 10.3.2000 als Flüchtling anerkannt, weil das Verwaltungsgericht des Saarlandes in dem Urteil vom 20.12.1999 - 6 K 136/98.A - davon ausgegangen war, dass der Kläger in seiner Heimatregion einer Unterstützung der PKK verdächtigt worden und bei den Heimatbehörden als Verdächtiger registriert gewesen sei. Im Jahre 1994 sei er anlässlich des Newrozfestes bei einer Verkehrskontrolle festgenommen und unter dem Vorwurf, mit seinem Minibus PKK-Mitglieder und Lebensmittel für diese transportiert zu haben, zwei Tage lang verhört worden. Er sei mit dem Gewehrkolben geschlagen worden, so dass er einen Bruch der Wangenknochen davon getragen habe. Kurz vor seiner Ausreise sei er bei einer allgemeinen Kontrolle in Istanbul erneut von Sicherheitskräften mitgenommen und nach einer Überprüfung seiner Personalien erheblich misshandelt worden.

Diese die Verfolgungsfurcht des Klägers begründenden Umstände können als dauerhaft beseitigt angesehen werden.

Seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers im März 2000 haben sich - wie im angefochtenen Bescheid zutreffend ausgeführt - Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei - nicht zuletzt mit Blick auf den angestrebten EU-Beitritt des Landes - deutlich zum Positiven verändert, so dass im konkreten Fall des Klägers – auch unter Berücksichtigung der vorgetragenen exilpolitischen Aktivitäten – keine beachtliche Gefahr von politischer Verfolgung mehr besteht.

Die rechtliche Entwicklung der vergangenen Jahre in der Türkei ist gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden Reformprozess, der wesentliche Teile der Rechtsordnung (besonders im Strafrecht, aber auch im Zivil- oder Verfassungsrecht) erfasst hat und auf große Teile der Gesellschaft ausstrahlt

vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Lagebericht) vom 8.4.2011.

Zwischen 2002 und 2005 wurden insgesamt acht Reformpakete zur Änderung der Verfassung, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetzte verabschiedet

vgl. ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010 sowie

ai Report 2011: zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Türkei).

Abgesehen von der Beendigung des Notstandsregimes, in dessen Folge die Verfahrensgarantien gegenüber den Sicherheitsbehörden in den hiervon betroffenen Gegenden massiv eingeschränkt waren, sind insbesondere die gesetzlichen Schutzmaßnahmen wie die Regeln über die Verstärkung der Verteidigerrechte, den Zugang zu einem Rechtsbeistand, die zeitlichen Vorgaben bis zur obligatorischen Vorführung eines Festgenommenen vor ein Gericht, die Regeln über die ärztliche Untersuchung eines Festgenommenen und die Straferhöhung für Foltertäter zu nennen

vgl. Fortschrittsbericht der EU vom 6.11.2007; Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011; European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Bericht vom 6.9.2006, S. 11 f., http://www.cpt.coe.int/documents/tur/2006-30-inf-eng.pdf.

Zu dem Reformpaket gehören auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung von Meinungsfreiheit. Die türkische Regierung hat zudem wiederholt betont, dass sie gegenüber Folter eine „Null-Toleranz“-Politik verfolge. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird insoweit gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die entsprechenden zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid vom 17.7.2008 verwiesen.

Das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Bedeutung des Militärs und der Sicherheitskräfte ist zurückgegangen

vgl. Auswärtiges Amt Lagebericht Türkei vom 8.4.2011

Im Jahr 2010 fand ein Verfassungsreferendum statt, das weitere Fortschritte vorsieht. Insbesondere wurde eine Individualbeschwerdemöglichkeit vor dem Verfassungsgericht eingeführt. Das Verfassungsgericht wurde zudem mit der Gerichtsbarkeit auch gegenüber den Oberbefehlshabern des Militärs, welche bislang vor den Zivilgerichten fehlte, betraut

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011, S. 6.

Auch hat sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen galt, wurde mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet. Ein Teil der abgewanderten oder infolge der militärischen Maßnahmen zur Bekämpfung der PKK zwangsevakuierten Bevölkerung hat danach begonnen, in die Heimat zurückzukehren

vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 11.1.2007 und vom 3.5.2005.

Die türkische Regierung hat erkannt, dass die Probleme im Südosten nicht allein mit militärischen Mitteln überwunden werden können. So wurden außer der geplanten wirtschaftlichen Aufbauhilfe für die strukturschwachen Gebiete im Südosten im Rahmen des Programms zur demokratischen Öffnung, das derzeit allerdings zum Stillstand gekommen ist, der kurdischen Bevölkerung kulturelle Rechte in Bezug auf die kurdische Sprache eingeräumt, wie Fernsehsendungen auf kurdisch und Lehr- und Studienangebote für die kurdische Sprache

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011, S. 11, 12.

Allerdings wird in den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen übereinstimmend nach wie vor von Defiziten, insbesondere im rechtsstaatlichen Bereich, im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit sowie im Bereich der Achtung der Menschenrechte durch die Sicherheitsbehörden berichtet. Der türkischen Regierung ist es bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kam es bis in jüngste Zeit zu übermäßiger Gewaltanwendung. Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass die im Falle einer Festnahme vorgesehenen gesetzlichen Schutzinstrumentarien zuweilen unbeachtet bleiben. Die Ahndung von Misshandlung und Folter ist noch nicht zufriedenstellend

vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8.4.2011, S. 7 ff.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Helmut Oberdiek, Türkei, update: Aktuelle Entwicklungen, 9.10.2008; Fortschrittsbericht Türkei der EU vom 6.11.2007; ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010; U.S. Departement of State, 2010, Human Rights Report: Turkey vom 8.4.2011, http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrtt/2010/eur/154455.htm.

So berichtet etwa das Auswärtige Amt, dass Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, welche verfassungsrechtlich garantiert seien, nach wie vor aufgrund verschiedener, teils unklarer Rechtsbestimmungen Einschränkungen unterlägen. Ehemalige Tabuthemen, etwa die Kurdenfrage betreffend, könnten jedoch mittlerweile offener diskutiert werden. Auch lägen weiterhin Hinweise vor, dass die verfassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien im Strafverfahren nicht immer konsequent eingehalten würden

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Des Weiteren sei es der türkischen Regierung trotz zahlreicher gesetzgeberischer Maßnahmen zur Verhinderung von Folter (etwa auch der Erhöhung der Strafandrohung) und trotz nachweisbarer Verbesserungen bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Seit 2008 habe sich jedoch die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert, wenn es auch vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen gekommen sei. Nach Angaben von Menschenrechtsverbänden sei jedoch die Zahl der Beschwerden und offiziellen Vorwürfe, die in Zusammenhang mit mutmaßlichen Folter- und Misshandlungsfällen stehen, 2010 landesweit zurückgegangen. So seien bis Ende November 2010 insgesamt 161 (2009: 252, 2088: 269) Personen registriert worden, die im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt worden seien. Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen habe sich die Situation in den letzten Jahren erheblich verbessert; es würden weiterhin Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Misshandlung und psychischem Druck wie Anschreien und Beleidigungen. Straflosigkeit der Täter in Folterfällen sei weiterhin ein ernst zu nehmendes Problem. Auch kämen nach wie vor willkürliche kurzfristige Festnahmen, etwa im Rahmen von Demonstrationen vor, die von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt würden. Des Weiteren sei es 2010 zu über 27 sog. extra-legalen Tötungen durch Sicherheitskräfte gekommen

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Die vorstehend dargestellten Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes stimmen in den Grundzügen mit denjenigen von amnesty international überein, wenn auch etwa die Anzahl der im Jahr 2010 verzeichneten Folteropfer von der vom Auswärtigen Amt mitgeteilten Zahl abweicht und ai die mitgeteilten Fakten etwas kritischer bewertet. Auch nach Angaben von ai gab es in der Türkei seit etwa 2002 verstärkte Bemühungen, den Beitrittsprozess zur EU durch Reformen in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte voranzubringen. Seit Mitte 2005 sei jedoch eine deutliche Verlangsamung der Reformbemühungen festzustellen, in einigen Bereichen habe es sogar Rückschritte gegeben. Durchaus vorhandene Ansätze zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage seien ebenfalls ins Stocken geraten. Geprägt seien die Auseinandersetzungen um die Rechte der Kurden auch von den Aktivitäten der PKK, die nicht nur - inzwischen mit reduzierter Intensität - einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führe, sondern auch, zumindest in der Vergangenheit vor Bombenanschlägen gegen die Zivilbevölkerung nicht zurückgeschreckt sei. Die Reformpakete, die in den Jahren 2002 bis 2005 verabschiedet worden seien, hätten wichtige Mechanismen zum Schutz Festgenommener vor Folter enthalten. Dennoch seien auch danach noch Folter und Misshandlungen in Polizeihaft, außerhalb offizieller Haftorte und auch in Gefängnissen zu verzeichnen. Die im Jahre 2010 umgesetzten Änderungen der Verfassung und des Antiterrorgesetzes seien ein weiterer Schritt hin zum Schutz der Menschenrechte gewesen, der notwendige grundlegende Wandel sei damit jedoch nicht vollzogen worden. Ermittlungen und Strafverfahren gegen Beamte mit Polizeibefugnissen in Folterfällen seien noch immer ineffektiv, wenn auch inzwischen eine vielbeachtete Verurteilung von Polizisten zu hohen Haftstrafen stattgefunden habe, die den Tod eines Festgenommenen verursacht hätten. Die Meinungsfreiheit werde in der Türkei noch immer durch zahlreiche Gesetze und deren sehr weite Auslegung durch die Gerichte eingeschränkt.

vgl. ai, Länderbericht Türkei, Stand: Dezember 2010 sowie

ai Report 2011: zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Türkei).

Ähnlich wie ai äußert sich auch Helmut Oberdiek für die Schweizerische Flüchtlingshilfe

vgl. Oberdiek, Türkei, Zur aktuellen Situation – Oktober 2007.

Neben demnach immer noch vorkommenden Fällen von Folter und Misshandlungen ist nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch die Kurdenfrage nach wie vor ein Problem der türkischen Innenpolitik. Zur Entwicklung in den letzten Jahren sowie der Stellung der PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen kann zunächst auf die entsprechenden ausführlichen Darlegungen im angefochtenen Bescheid verwiesen werden (§ 117 Abs. 5 VwGO). Auch aus den neueren Erkenntnissen geht hervor, dass in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten des Landes trotz der von Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Ergodan im Jahr 2009 initiierten „Demokratischen Öffnung“ (zuvor „Kurdischen Öffnung“), die auf eine Lösung der Probleme des Südostens zielte und politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Maßnahmen beinhaltete, weiterhin Spannungen zu verzeichnen sind. So wurden etwa in der Provinz Diyarbakir, aus der der Kläger stammt, auch in jüngerer Zeit Versammlungen gewaltsam aufgelöst und von Menschenrechtsorganisationen kritisch bewertete (Massen)Prozesse wegen des Verdachts der PKK-Unterstützung eingeleitet. Immer noch gibt es Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften. Allerdings haben diese sich im Vergleich zu den 90er Jahren in erheblichem Umfang reduziert und betreffen auch nicht die gesamte von Kurden bewohnte Region. Insgesamt hat sich die Härte des Einsatzes der Sicherheitskräfte, die bei ihrem Kampf gegen die PKK in den 90er Jahren die Bevölkerung im Südosten erheblich in Mitleidenschaft gezogen hatten, in den letzten Jahren deutlich verringert.

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011; sowie zusammenfassendes Protokoll der Gesprächsreise von Rechtsanwalt Tahir Elci im Juni 2010.

Die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bieten keinen Anlass zu einer anderen Bewertung.

Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass in der Türkei seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers tiefgreifende Reformen stattgefunden haben und die gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen der letzten 10 Jahre im Hinblick auf die Menschenrechtslage deutliche Veränderungen zum Positiven bewirkt haben, auch wenn, wie dargelegt, die erreichten Standards in verschiedener Hinsicht nicht denen Westeuropas entsprechen. Der Reformprozess dauert inzwischen schon ca. ein Jahrzehnt an und wird prinzipiell weitergeführt. Die Türkei strebt nach wie vor eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union an und hat sich daher den sog. Kopenhagener Kriterien unterworfen. Der Reformprozess unterliegt insofern einer Kontrolle, als die Europäische Union turnusgemäß über die erreichten Fortschritte berichtet und den Fortschrittsbericht veröffentlicht. Von daher sind die seit der Flüchtlingsanerkennung des Klägers in der Türkei stattgefundenen Veränderungen durchaus als dauerhaft einzustufen, auch wenn es – wie ai und Helmut Oberdiek anmerken – in Einzelpunkten im Laufe der Jahre auch Rückschritte gegeben hat und der Reformprozess, was die Lösung der Kurdenfrage betrifft, seit Mai 2010 stagniert.

Ob angesichts der dargestellten Verhältnisse in der Türkei allerdings generell die Feststellung getroffen werden kann, dass - wie im angefochtenen Bescheid angenommen - türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die sich Verfolgungsmaßnahmen wegen tatsächlicher, unterstellter oder vermeintlicher Unterstützung der kurdischen Guerilla mit Bedarfsartikeln, Beherbergung oder ähnlichem, oder dem Zwang zur Übernahme eines Dorfschützeramtes oder sonstiger Repressalien im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften durch Flucht ins Ausland entzogen hatten, heute bei einer Rückkehr in die Türkei mit hinreichender Sicherheit keinen Repressalien dieser Art bzw. staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang mehr ausgesetzt sind, erscheint fraglich. Dies kann jedoch vorliegend dahinstehen.

Denn für den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung ist - wie dargelegt - nicht die Feststellung erforderlich, dass es im Heimatland des betroffenen Ausländers ausnahmslos oder zumindest bei allen Angehörigen der Gruppe, der der betroffene Ausländer angehört, zu keinen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Übergriffen mehr kommt. Vielmehr ist in Abhängigkeit von den konkreten Umständen, die zur Zuerkennung des jeweiligen Schutzstatus geführt haben, festzustellen, dass sich diese Verhältnisse erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben und dass deshalb jedenfalls der konkret betroffene vorverfolgte Asylberechtigte nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Verfolgung zu befürchten hat

vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11.8.2010 - 11 LB 405/08 - sowie Beschluss vom 12.4.2010 - 11 LA 54/10 -; in diesem Sinne wohl auch BVerwG, Urt. v. 24.2 2011 – 10 C 5/10 -, juris, wonach sich die zuständigen Behörden und Gerichte mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern müssen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können.

Bezogen auf die individuelle Situation des Klägers haben die vorstehend dargestellten Änderungen der Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei und die damit einhergehende Entspannung der Verhältnisse auch im Südosten des Landes seit der Flüchtlingsanerkennung aber jedenfalls eine solche Auswirkung, dass nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der Kläger im Zusammenhang mit den Vorgängen, die 1994 und 1995 zu Misshandlungen führten, weiterhin bzw. erneut polizeiliche oder sonstige behördliche Maßnahmen von asylerheblicher Intensität befürchten muss. Als Flüchtling anerkannt wurde der Kläger – wie ausgeführt - vor allem im Hinblick auf die Annahme, dass er 1994 bei den Heimatbehörden als möglicher Sympathisant der PKK registriert war, weil man ihn verdächtigte, für diese Transporte durchzuführen. Bei der anzustellenden Prognose einer dem Kläger heute noch drohenden Verfolgungsgefahr fällt zunächst ins Gewicht, dass die dem Kläger im Jahr 1994 vorgehaltenen vermeintlichen Unterstützungshandlungen für die PKK in Gestalt gelegentlicher Transportfahrten nur untergeordneter Natur waren und es – da der Vorwurf eigenen Angaben des Klägers zufolge unbegründet war - dafür auch keinerlei Beweise gab, weshalb man ihn jeweils nach kurzer Zeit auch wieder freigelassen habe. Zudem liegen die Vorwürfe mittlerweile mehr als sechzehn Jahre zurück. Darüber hinaus wäre die dem Kläger ehemals vorgeworfene Unterstützung der PKK durch gelegentliche Transportfahrten heute nach türkischem Strafrecht ohnehin nicht mehr zu verfolgen. In Betracht gekommen wäre zur vermeintlichen Tatzeit insoweit eine Bestrafung gemäß Art. 169 Türkisches StGB (TStGB) von 1926 wegen Unterstützung einer bewaffneten Organisation und zwar mit einer Strafe von 4,5 bis 7,5 Jahren (Art. 159 i.V.m. Art. 4, 5 Antiterrorgesetz). Diese Tat wäre aber unter die Amnestie vom 21.12.2000 durch das Gesetz Nr. 4616 (betreffend bedingte Freilassungen und die Aussetzung von Strafverfahren sowie von der Vollstreckung von Strafen im Falle von bis zum 23. April 1999 begangener Straftaten) gefallen. Diese gewährte einen Straferlass von zehn Jahren, was bei Straftaten mit einer Strafe unter zehn Jahren eine Straffreistellung bedeutete

vgl. Gutachten Dr. Silvia Tellenbach an das VG Osnabrück vom 26.11.2006 sowie an das VG Freiburg vom 4.6.2007; Serafettin Kaya an VG Berlin vom 9.8.2006 und an OVG Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2009 und vom 22.7.2009.

Auch nach Angaben des Sachverständigen Kamil Taylan in seinem Gutachten für den Senat vom 11.2.2011 ist die vom Kläger in diesem Verfahren berichtete tatsächliche oder vermeintliche Unterstützung der PKK mit Bedarfsartikeln, Beherbergung von PKK-Aktivisten o.ä. in den 90er Jahren heute als Delikt im Sinne des TStGB verjährt. Diese Verjährung betrifft nach den Ausführungen des Sachverständigen auch die Ablehnung eines Dorfschützeramtes bzw. einer Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitskräften, „auch durch Flucht ins Ausland“.

Damit wären die dem Kläger im Jahr 1994 unterstellten gelegentlichen Transporte von PKK-Anhängern bzw. Lebensmitteln für die PKK mittlerweile jedenfalls straffrei.

Auch sind dem Gutachter Kamil Taylan keine aktuellen Verfahren gegen in die Türkei zurückgekehrte Personen bekannt, die, wie der Kläger, bis Ende der 90er Jahre in den Verdacht geraten sind, die PKK mit Bedarfsartikeln, Beherbergungen oder ähnlichem unterstützt zu haben und deswegen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren

vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das OVG des Saarlandes vom 11.2.2011.

Damit vergleichbar hält auch der Gutachter Serafettin Kaya die Gefahr für eine im Jahr 1995 wegen der Unterstützung der TDKP in Verdacht geratene Person, die, ebenso wie vorliegend der Kläger, nicht verurteilt worden war, im Falle einer Rückkehr nicht für beachtlich wahrscheinlich

vgl. Serafettin Kaya, Gutachten an das OVG Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2009 und vom 22.7.2009.

Soweit der Kläger darüber hinaus als mitursächlich für seine Ausreise angegeben hat, dass er sich dem auf ihn ausgeübten Druck zur Übernahme des Dorfschützer-amtes habe entziehen wollen, was allerdings ausweislich der Entscheidungsgründe des Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 20.12.1999 für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers nicht von Bedeutung war, droht ihm in diesem Zusammenhang im Falle einer Rückkehr ebenfalls keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass die Ablehnung der Übernahme des Dorfschützeramtes keine strafrechtliche Relevanz besitzt

vgl. ai an OVG Münster vom 17.12.2004.

Darüber hinaus haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Ausreise des Klägers auch betreffend die Dorfschützerproblematik grundlegend geändert, so dass nicht angenommen werden kann, dass der Kläger heute insoweit nochmals Beeinträchtigungen ausgesetzt sein könnte. Denn seit dem Frühjahr 2000 wird das System der Dorfschützer in der zuvor praktizierten Form nicht mehr aufrecht erhalten. Mit Runderlass des Innenministeriums an die Gouverneursämter der Provinzen vom 24.4.2000 wurde angeordnet, dass keine neuen „vorläufigen“ Dorfschützer mehr eingestellt werden. Durch Kündigung, Tod oder andere Gründe freiwerdende Stellen vorläufiger Dorfschützer werden nicht mehr besetzt

vgl. Serafettin Kaya, Gutachten vom 28.1. 2007 an das VG Aachen; ai an OVG Münster vom 17.12.2004.

Diese Anordnung des Innenministeriums wird seitdem ersichtlich auch eingehalten. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Anordnung in absehbarer Zeit außer Kraft gesetzt wird oder ihre Bedeutung verliert. Denn die Bedingungen, deretwegen das Dorfschützersystem seinerseits geschaffen und ausgebaut wurde, haben sich - wie oben bereits ausgeführt - inzwischen wesentlich geändert. Das Mitte der 80er Jahre geschaffene und in den 90er Jahren weiter ausgebaute System diente u. a. dazu, die Dorfbewohner in den vier Notstandsprovinzen (Diyarbakir, Hakkari, Mardin, Siirt) und später - entsprechend der Ausweitung der Guerillatätigkeit - auch in weiteren Provinzen mit starker kurdischer Bevölkerung als „verlängerten Arm“ der Sicherheitskräfte vor Ort zu rekrutieren und damit zugleich die kurdische Bevölkerung zu spalten. Seit der Entspannung der Situation und dem Rückgang der Guerillatätigkeit im Südosten der Türkei und der von der türkischen Regierung verfolgten Politik der sog. „demokratischen Öffnung“ wurden neue Dorfschützer nicht mehr benötigt, so dass die türkischen Sicherheitskräfte auch keinen Druck mehr auf die Bevölkerung zur Rekrutierung auszuüben brauchten, auch wenn das Dorfschützersystem nicht insgesamt abgeschafft wurde. Letzteres liegt u.a. daran, dass eine vollständige und zügige Abschaffung der Dorfschützer eine erhebliche Unruhe in den kurdischen Provinzen mit sich brächte, weil damit viele - zudem bisher staatsloyale - Kurden ihren auskömmlichen Broterwerb bis hin zu ihrer Rentenberechtigung verlören.

vgl. ai, Gutachten vom 18.7.2003 an VG Frankfurt; vgl. zu alledem auch ausführlich OVG Koblenz, Urteil vom 17.12.2010 - 10 A 10911/10 -, juris.

Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass der Kläger wegen seiner Weigerung, Dorfschützer zu werden, heute keine politische Verfolgung mehr zu befürchten hat.

Nichts anderes ist im Hinblick auf die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers anzunehmen, welche sich nach dessen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht darauf beschränkten, wie alle anderen Kurden an Veranstaltungen und Demonstrationen teilzunehmen. Dabei handelt es sich eindeutig um eine Betätigung niedrigen Profils. Die bloße Beteiligung an Veranstaltungen und Demonstrationen stellt kein Verhalten dar, das sich von demjenigen der meisten in Deutschland lebenden Kurden aus der Türkei unterscheidet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes begründet jedoch nur eine exponierte exilpolitische Betätigung, d. h. eine Tätigkeit in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation bzw. besonders publizitätsträchtige Aktivitäten im Falle einer Rückkehr eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr

vgl. etwa OVG des Saarlandes, Urteile vom 3.4.2008 - 2 A 312/07 -, juris und vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 - m.w.N., juris; sowie Beschluss vom 21.12.2009 - 3 A 275/09 -.

Neuere Erkenntnisse, die Anlass zu einer anderen Beurteilung böten, liegen nicht vor. Vielmehr führt etwa das Auswärtige Amt in seinem jüngsten Lagebericht vom 8.4.2011 ebenso wie bereits in verschiedenen vorangegangenen Lageberichten bzw. Stellungnahmen aus, dass (nur) türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, Gefahr laufen, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit Ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen würden, müssten mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange seien nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden könnten, was vorliegend jedoch nicht erkennbar ist.

Ist somit bereits nach den vorangegangenen Ausführungen nicht zu erwarten, dass die türkischen Sicherheitskräfte heute noch ein Interesse an der Person des Klägers haben, so findet dies eine weitere Bestätigung in den vom Senat eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und von Kamil Taylan.

So hat das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 13.10.2010 zu den im Beweisbeschluss des Senats vom 16.7.2010 gestellten Fragen mitgeteilt, dass Nachforschungen eines beauftragten Vertrauensanwalts im Falle des Klägers ergeben hätten, dass an den maßgeblichen Orten, nämlich am Ort der personenstandsamtlichen Registrierung und am letzten Wohnort des Klägers keine behördlichen Vorgänge gegen ihn vorhanden seien. Auch bei der Sicherheitsdirektion Istanbul und der Oberstaatsanwaltschaft Istanbul sei der Kläger nicht aktenkundig. Es habe auch kein Fahndungsersuchen nach ihm festgestellt werden können. Im Hinblick darauf seien keine Hinweise dafür vorhanden, dass der Kläger bei Rückkehr in die Türkei in den Fokus der türkischen Sicherheitskräfte geraten könnte bzw. mit staatlichen Repressalien wegen der behaupteten früheren Aktivitäten zu rechnen hätte.

Auch der Sachverständige Taylan bestätigt in seiner Stellungnahme vom 11.2.2011, über türkische Anwälte in Erfahrung gebracht zu haben, dass über den Kläger in zentralen Fahndungsregistern keine Einträge vorhanden seien, d. h., dass der Kläger nicht zur Fahndung ausgeschrieben sei, auch kein Haftbefehl gegen ihn existiere und derzeit auch kein Strafverfahren gegen ihn anhängig sei. Es könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer eventuellen Rückkehr in die Türkei wegen seiner Aktivitäten in den 90er Jahren politisch verfolgt werde. Es sei auch derzeit kein einziges Verfahren in der Türkei bekannt, worin ein Rückkehrer wegen Verfehlungen, wie sie dem Kläger vorgeworfen worden seien, angeklagt sei oder sich in U-Haft befinde bzw. deswegen sonstigen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen wäre. Ein Verfahren gegen einen zurückkehrenden türkischen Staatsangehörigen, der im Jahre 1994 in den Verdacht geraten war, die PKK durch Transportfahrten unterstützt zu haben, hält der Gutachter wegen der Verjährung dieser Taten für ausgeschlossen, auch wenn die betroffene Person damals kurzfristig festgenommen und misshandelt worden sowie in ihrer Heimatregion als Verdächtiger registriert war.

Dafür, dass – wie das Auswärtige Amt und Kamil Taylan festgestellt haben – der Kläger in der Türkei tatsächlich nicht mehr als Verdächtiger bzw. Sympathisant der PKK registriert ist, spricht im Übrigen auch, dass aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums vom 18.12.2004 keine Suchvermerke mehr ins Personenstandregister eingetragen werden und Angaben türkischer Behörden zufolge Mitte Februar 2009 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregister gelöscht wurden

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Der darüber hinausgehenden Anmerkung des Sachverständigen Taylan in seiner Stellungnahme vom 11.2.2011, wonach mit Blick darauf, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland als Unterstützer und Sympathisant der PKK aktiv gewesen sei, die Gefahr einer politischen Verfolgung „nicht gänzlich ausgeschlossen“ werden könne, lässt sich die erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger weiterhin drohenden politischen Verfolgung ebenfalls nicht entnehmen. Die Gefahr einer solchen Verfolgung erachtet auch Kamil Taylan wörtlich als „sehr gering“ bzw. „verschwindend klein“; er vermag sie angesichts der seiner Meinung nach „chaotischen Verhältnisse in der türkischen Justiz“ nur nicht ganz auszuschließen. Eine so hohe Prognosesicherheit, dass eine Verfolgungsgefahr ohne jeden Zweifel ausgeschlossen werden kann, was letztlich einen kaum zu gewährleistenden Schutzstandard bedeutete, wird jedoch für die Annahme eines Wegfalls der Anerkennungsvoraussetzungen nicht gefordert. Vielmehr hätte bei dem vom Gutachter umschriebenen Wahrscheinlichkeitsgrad nach der früheren Rechtsprechung sogar eine hinreichende Verfolgungssicherheit bejaht werden können. Nach dieser Rechtsprechung konnte vom Fehlen hinreichender Sicherheit vor der Wiederholung von Verfolgungshandlungen nicht schon bei jeder noch so geringen Möglichkeit abermaligen Verfolgungseintritts ausgegangen werden. Vielmehr war über eine „theoretische“ Möglichkeit hinaus erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus „reale“ Möglichkeit erscheinen ließen

vgl. BVerwG, Urt. v. 8.9.1992 – 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 f.

Auch amnesty international hält zumindest eine gerichtliche Verfolgung aufgrund der dem Kläger früher vorgeworfenen Aktivitäten für nicht wahrscheinlich. Auch ansonsten lässt sich der Stellungnahme vom 31.1.2011 an den Senat, welche sich auf allgemeine Ausführungen zur Gefährdungslage von Rückkehrern beschränkt, ohne jedoch die individuelle Situation des Klägers näher zu beleuchten, eine dem Kläger im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung nicht entnehmen. Dies gilt zunächst, soweit ai ganz allgemein die Gefahr sieht, dass einreisende ehemalige Asylsuchende bereits während der Dauer der im Regelfall erfolgenden Erkundigungen bei den Heimatbehörden misshandelt werden. Der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen allen Rückkehrern, und damit auch dem Kläger, drohenden Gefahr steht entgegen, dass in den letzten Jahren konkrete derartige Fälle nicht verzeichnet wurden.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes ist diesem in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in den ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei; dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen. Auch seitens türkischer Menschenrechtsorganisationen sei kein Fall genannt worden, in dem politisch nicht in Erscheinung getretene Rückkehrer oder exponierte Mitglieder oder führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen menschenrechtswidriger Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt gewesen seien. Nach Auskunft der Vertretungen von EU-Mitgliedstaaten in Ankara (Dänemark, Schweden, Niederlande, Frankreich, England, auch der Kommission) sowie von Norwegen, der Schweiz und den USA im Frühjahr 2011 sei auch diesen aus jüngerer Zeit kein Fall bekannt, in dem exponierte Mitglieder, führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer unmenschlicher Behandlung oder Folter ausgesetzt gewesen seien

vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 8.4.2011.

Konkrete Fälle, die den vorgenannten Feststellungen des Auswärtigen Amtes entgegen stehen, hat auch ai nicht benannt. Von daher kann jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass dem Kläger schon allein während einer routinemäßigen Nachfrage bei den Behörden seines Heimatortes Misshandlungen drohen. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes, wonach zurückkehrende Asylbewerber jedenfalls nicht routinemäßig - d.h. ohne Vorliegen von Besonderheiten - bei der Wiedereinreise in die Türkei inhaftiert bzw. asylerheblichen Misshandlungen ausgesetzt werden

vgl. etwa Urteil vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 - m.w.N., juris.

Soweit ai darüber hinaus die Gefahr eines Verhörs - und in diesem Zusammenhang auch von Folter - sieht, sobald gegen den Rückkehrer ein Eintrag oder ein polizeiinterner Suchbefehl vorliegt, ist eine diesbezüglich beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers ebenfalls nicht anzunehmen, weil der Kläger - wie oben dargelegt - nach entsprechenden überzeugenden Angaben des Auswärtigen Amtes und des Sachverständigen Taylan in der Türkei derzeit nicht aktenkundig ist und keine behördlichen Vorgänge über ihn existieren. Die von ai lediglich in theoretischer Weise in den Blick genommen Risikofaktoren eines noch bestehenden Suchinteresses sind nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes und des Sachverständigen Taylan im Falle des Klägers vielmehr zu verneinen.

Nach alledem ist ein aktuelles Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an dem Kläger (und damit einhergehend die Gefahr weiterer Ermittlungen und Misshandlungen) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, vielmehr nahezu auszuschließen.

Soweit der Kläger die Befürchtung geäußert hat, dass die türkischen Sicherheitskräfte gegen eine in der jüngeren Zeit wieder verstärkt militärisch operierende PKK nochmals nachhaltig vorgehen und dies zu einer erneuten Verschlechterung der Verhältnisse in seiner Heimatregion führen könnte, bietet dies keinen Anlass zu der Annahme, dass eine langjährig zurückliegende Unterstützung der PKK relativ geringfügiger Art, wie sie bei dem Kläger vermutet wurde, im Falle einer Rückkehr Anlass für weitergehende Behelligungen sein könnte, nachdem in diesem Zusammenhang keinerlei behördliche Vorgänge und Registrierungen hinsichtlich des Klägers mehr vorliegen.

Schließlich droht dem Kläger auch im Hinblick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit bei einer Rückkehr keine Gefährdung. Eine Gruppenverfolgung von Kurden lag weder im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung des Klägers vor noch kann hiervon aktuell ausgegangen werden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats

vgl. Urteile vom 28.9.2005 - 2 R 1/05 -, vom 16.12.2004 - 2 R 1/04 - und vom 29.3.2000 - 9 R 10/98 -, juris.

und auch aller weiteren Obergerichte, welche im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt wurde. Auf diesen wird insoweit Bezug genommen. Weiterer Darlegungen bedarf dies nicht, da sich der Kläger im anhängigen Verfahren auch nicht auf eine asylrelevante Gruppenverfolgung von Kurden berufen hat.

Haben sich nach alledem im Falle des Klägers die für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Verhältnisse seither erheblich verändert, steht der Annahme des nachträglichen Wegfalls der die Flüchtlingsanerkennung begründenden Umstände schließlich auch nicht die gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG anwendbare Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG entgegen, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung bzw. des Eintritts eines sonstigen ernsthaften Schadens entkräften. Dies ist im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen

vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 - m.w.N., juris.

Die Beweislast liegt insoweit bei der Beklagten.

Zwar hat der Senat keinen Anlass die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers in Zweifel zu ziehen, wonach er im Rahmen einer zweitägigen Festnahme im Jahr 1994 mit einem Gewehrkolben geschlagen wurde, dabei einen Bruch der Wangenknochen erlitt und auch anlässlich eines mehrstündigen Verhörs in Istanbul im Jahre 1995 erneut misshandelt wurde, wovon auch das Verwaltungsgericht des Saarlandes in seinem Urteil vom 20.12.1999 - 6 K 136/98.A - ausgegangen ist. Von daher liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG formulierten Vermutung vor. Ausgehend von den vorstehend dargestellten Veränderungen der Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei, insbesondere den oben dargestellten, dem Kläger zu Gute kommenden Amnestie- bzw Verjährungsregelungen sowie der Tatsache, dass derzeit in der Türkei bezüglich des Klägers keinerlei Fahndungsersuchen, Registereintragungen oder sonstige behördliche Vorgänge wegen des Verdachts einer Unterstützung der PKK mehr existieren, sprechen jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Denn die in der Türkei trotz der durchgeführten Reformen im Einzelfall nicht auszuschließende Gefahr der Folter besteht vor allem bei Ermittlungen der türkischen Sicherheitskräfte gegen bestimmte Personen wegen der Verdächtigung, politische Straftaten begangen zu haben. Für solche Ermittlungen gegen den Kläger besteht nach dem Vorgesagten aber kein Anlass mehr.

Nach den vorstehenden Ausführungen ist auch ohne Weiteres anzunehmen, dass die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur ist, vielmehr die Faktoren, die die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Angesichts der dem Kläger zugute kommenden Amnestie- bzw. Verjährungsregelungen sowie des im Zuge der Beweiserhebung des Senats zu Tage getretenen gänzlich fehlenden aktuellen Interesses der türkischen Behörden an der Person des Klägers ist nicht erkennbar, dass diesem auf absehbare Zeit erneute Verfolgung drohen könnte. Dies umfasst zugleich die Feststellung, dass die türkische Regierung in den letzten Jahren geeignete Schritte unternommen hat, um die der Flüchtlingsanerkennung des Klägers zugrunde liegende Verfolgung dauerhaft zu verhindern. Aufgrund der vorgenannten Maßnahmen (insbesondere der Amnestie- und Verjährungsregelungen sowie des Beseitigens von Registereintragungen) ist davon auszugehen, dass der Kläger in der Türkei nunmehr vor weiteren Verfolgungsmaßnahmen nachhaltig geschützt ist.

Sind danach aufgrund einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Verhältnisse in der Türkei diejenigen Umstände weggefallen, auf denen die begründete Furcht vor Verfolgung und die Flüchtlingsanerkennung des Klägers beruhten, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Rechtskraft des zur Anerkennung verpflichtenden Urteils einem Widerruf nicht entgegensteht. Denn bei einer solchen wesentlichen Veränderung der Sachlage endet auch die Rechtskraft des Urteils.

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wegen anderer Umstände begründete Furcht vor Verfolgung haben müsste, hat dieser nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

Hat die Beklagte demnach im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Kläger wegen einer erheblichen und dauerhaften Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände keine begründete Furcht vor Verfolgung mehr haben muss, war vom Widerruf auch nicht gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG wegen zwingender auf früheren Verfolgungen beruhender Gründe abzusehen. Solche zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe, um eine Rückkehr in die Türkei abzulehnen, liegen im Falle des Klägers nicht vor. Mit § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG wird insbesondere der psychischen Sondersituation Rechnung getragen, in dem sich ein Asylberechtigter befindet, welcher ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse im Heimatland nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgungsstaat zurückzukehren. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist demnach, dass Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen vorliegen, die zur Unzumutbarkeit der Rückkehr in die Türkei auch dann führen, wenn - wie hier - eine Verfolgung nicht mehr droht

vgl. BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 24.04 in DVBl. 2006, S. 511.

Eine derartige Sachlage ist im Falle des Klägers nicht gegeben. Zwar ist der Kläger vor seiner Ausreise körperlich misshandelt worden. Jedoch hat er weder vorgetragen noch ist erkennbar, dass er dabei derart schwere physische oder psychische Schäden davon getragen hat, dass diese auch derzeit noch in einem erheblichen Umfang nachwirken, so dass ihm eine Rückkehr nicht angesonnen werden könnte. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zwar angegeben, die erlittenen Misshandlungen nicht vergessen zu können. Dies reicht jedoch zur Annahme einer Unzumutbarkeit der Rückkehr in die Türkei nicht aus, zumal der Kläger sich offenkundig vorrangig um die Zukunft seiner Kinder und auch die wirtschaftliche Lage der Familie sorgte.

Hat die Beklagte demnach die im Bescheid vom 10.3.2000 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, zu Recht widerrufen, ist auch die weitere Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, zu Recht ergangen. Die Beklagte hat im Rahmen des Widerrufsverfahrens zu Recht auch über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entschieden. Insoweit sowie zu den Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen. Eine nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr drohende Gefährdung kommt ausgehend vom Vorbringen des Klägers ebenfalls nur mit Blick auf die geäußerte Befürchtung erneuter staatlicher Repressionen im Zusammenhang mit den Vorgängen vor der Ausreise in Betracht. Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen, auf die verwiesen werden kann, kann insoweit jedoch nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgegangen werden.

Schließlich ist auch die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, rechtlich nicht zu beanstanden. Der Senat geht insoweit davon aus, dass die ohne Einschränkung gegen den gesamten Bescheid vom 17.7.2008 erhobene Anfechtungsklage auch gegen diese Feststellung gerichtet ist. Ungeachtet der Frage des richtigen Rechtsbehelfs kann auch hier zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen werden. Ergänzend wird folgendes hinzugefügt: Auch bei der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist stets der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

vgl. BVerwG, Urteile vom 24.4.2010 - 10 C 5.09 - und vom 7.9.2010 - 10 C 11.09 -.

Ausgehend vom Sachvortrag des Klägers kommt auch hier lediglich eine ihm im Rückkehrfalle drohende Gefahr erneuter Folter bzw. Misshandlung durch türkische Sicherheitskräfte in Betracht. Eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende derartige Gefahr ist jedoch nach den vorangegangenen Darlegungen, auf die auch hier Bezug genommen werden kann, nicht anzunehmen. Die Vermutungsregelung des auch im Rahmen der Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG anwendbaren Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG wirkt sich auch hier nicht zugunsten es Klägers aus, da - wie ausgeführt - stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Dementsprechend liegt weder ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 2 oder Abs. 5 AufenthG noch ein solches im Sinne des nachrangig zu prüfenden § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Für sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 3 AufenthG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG oder § 60 Abs. 4 AufenthG sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich.

Die Berufung des Klägers wird daher zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichter der 8. Kammer - vom 04. Mai 2009 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05. September 2006 verpflichtet festzustellen, dass im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der am 10. Mai 1979 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er begehrt im vorliegenden Verfahren die Anerkennung als Flüchtling, hilfsweise eines Abschiebungsverbotes.

2

Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 26. Mai 2005 auf einem Lkw aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dort stellte er mit anwaltlichem Schreiben vom 30. Mai 2005 sowie persönlich am 03. Juni 2005 einen auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG beschränkten Asylantrag. Zur Begründung machte er geltend, er habe einige Jahre für die PKK gearbeitet, sich mittlerweile jedoch von ihr losgesagt. Er sei auf Grund seiner ehemaligen PKK-Mitgliedschaft in der Türkei von Haft, Folter und Strafverfolgung bedroht und befürchte gleichermaßen Verfolgung seitens der PKK.

3

Im Verlaufe des Asylverfahrens trug der Kläger vor, er habe sich im Alter von 17 Jahren der PKK angeschlossen. Er stamme aus einer politischen Familie, die ihn bei der Kontaktaufnahme zur PKK unterstützt habe. Zunächst habe er fünf bis sechs Monate in Bulgarien verbracht, um die Organisation kennenzulernen, im Anschluss sei er drei Monate lang in Griechenland politisch ausgebildet worden. Unter einem Decknamen sei er danach wieder nach Bulgarien zurückgeschickt worden und dort ca. 11 Monate für das sogenannte "Heimatbüro" zuständig gewesen. In dieser Funktion habe es ihm oblegen, den Personen, die sich der PKK angeschlossen hätten, Informationen über die Organisation zu vermitteln und für sie Wohnungen sowie die Weiterreise nach Griechenland zu organisieren. Außerdem habe er dem Kurdistan-Informationszentrum bei der Veröffentlichung der Tageszeitungen geholfen. Ab Juni 1998 habe er sich einige Monate in Griechenland und in Armenien aufgehalten, bis er im März 1999 in den Nordirak (Kandil Dagi) gefahren und dort 15 Tage lang politisch und militärisch ausgebildet worden sei. Insgesamt habe seine Ausbildung vor allem auf die Tätigkeit als Lehrender für Psychologie, Philosophie, türkische und kurdische Geschichte, nicht jedoch auf einen militärischen Einsatz abgezielt. Im Anschluss habe er bei der politischen Ausbildung von aus der Türkei zurückkommenden bewaffneten Kämpfern mitgewirkt. Im Jahre 2003 habe er an einer Militärkonferenz in Kandil Dagi teilgenommen. Anschließend sei ihm die Verantwortung für Öffentlichkeits- und Pressearbeit sowie die Lösung von Problemen im Verhältnis zur bzw. innerhalb der Zivilbevölkerung übertragen worden. Er habe Gesprächstermine zwischen den verschiedenen im Nordirak tätigen Organisationen arrangiert und Termine zwischen Journalisten und den Hauptverantwortlichen der PKK abgestimmt. Im Mai 2004 habe er sich jedoch von der Organisation abgesetzt, nachdem sein Vorgesetzter Naki Bektas festgenommen worden sei. Gemeinsam mit Bektas und einigen anderen Mitgliedern habe er sich gegen den Beschluss der PKK im Jahre 2004 gewandt, nochmals den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Sie seien der Auffassung gewesen, dass die kurdische Frage von der Weltöffentlichkeit ausreichend wahrgenommen worden sei und eine Wiederaufnahme des Krieges die Kurden international als Terroristen darstellen und das zwischenzeitlich politisch Erreichte gefährden könne. Die Organisation habe jedoch abweichende Meinungen nicht akzeptiert und es habe für sie eine große Gefahr bestanden. Im Zuge der Auseinandersetzungen über die weitere Strategie der PKK 2004 seien der Gruppe des Bektas, zu der auch er selbst gehört habe, Ultimaten gesetzt worden und es habe ihnen ein lebensgefährliches Gerichtsverfahren interner Parteiorgane gedroht. Nach der Verhaftung von Bektas hätten der Kläger und weitere Personen dessen Flucht organisiert. In diesem Zusammenhang habe er sich mit einem Freund ca. 5 Monate in Kirkuk in einer Wohnung aufgehalten und mehrere Male erfolglos versucht, über Jordanien auszureisen, um den Gefährdungen seitens der PKK zu entkommen. Anschließend habe er in Bagdad beim englischen Botschafter erfolglos Asyl beantragt. Mit einem gefälschten irakischen Reisepass und einem sechsmonatigen Visum sei er danach in die Türkei eingereist. Bis zu seiner Ausreise über Istanbul, die seine Familie für ihn organisiert habe, habe er sich in einem Ferienhaus seines Bruders in Balikesir verborgen. Während seines Aufenthaltes in Kirkuk hätten ihm zwei bewaffnete Männer eine Nachricht des Hauptverantwortlichen der PKK Murat Karayilan überbracht, in der ihm und seinen Freunden schlimme Konsequenzen für den Fall, dass sie ihren Weg entgegen den Beschlüssen der PKK fortsetzten, angedroht worden seien. Karayilan habe ihm telefonisch einmal mitgeteilt, dass die Organisation ihn an jedem Ort finden werde. Falls ihn die Organisation identifiziere, sei er daher überall gefährdet. Für den Fall seiner Rückkehr in die Türkei befürchte er zudem staatliche Folter und eine lebenslängliche Haftstrafe. Den Behörden sei bekannt, dass er bei der PKK gewesen sei, es laufe gegen ihn ein Ermittlungsverfahren. Außerdem werde er wegen Nichtableistung des Wehrdienstes gesucht.

4

Im Juli 2006 wurde der Kläger in die Betreuung der Organisation REFUGIO e.V. aufgenommen und zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung an die Fachärztin Dr. Klimaschewski vermittelt.

5

Mit Bescheid vom 05. September 2006 lehnte die Beklagte einen Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorlägen und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG nicht vorlägen. Der Kläger wurde zur Ausreise aufgefordert und ihm wurde die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob ein Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16 a GG entstanden sei oder ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG bestehe, da bezüglich des Klägers der Ausschlussgrund nach § 60 Abs. 8 AufenthG eingreife. Der Kläger sei als Kader in der terroristischen Organisation PKK tätig gewesen und erfülle die Merkmale einer mitgliedschaftlichen Beteiligung an einem schweren nichtpolitischen Verbrechen. Er habe nach seinem Anschluss an die PKK und seiner Ausbildung innerhalb der PKK-Hierarchie Funktionärstätigkeiten ausgeübt. Als Mitarbeiter des "Heimatbüros" in Bulgarien sei er nach den allgemeinen Erkenntnissen über den Aufgabenbereich dieser Büros auch für Sicherheitsbelange der PKK zuständig gewesen. Aus seinem Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Organisation lasse sich eine Verinnerlichung und Unterstützung auch der terroristischen Ausrichtung der PKK ableiten. Seine überdurchschnittliche Identifikation mit der Organisation werde auch durch die Teilnahme als Delegierter der Militärkonferenz 2003 sowie durch die Kontaktaufnahme seitens des Führungsmitgliedes Murat Karayilian nach seiner Distanzierung von der Organisation verdeutlicht. Eine konkrete eigene Beteiligung an bewaffneten Aktionen müsse dem Kläger nicht nachgewiesen werden. Als ehemaliges Kadermitglied müsse er sich vielmehr die von der PKK auch in den eigenen Reihen verübten Morde und Attentate, Misshandlungen und Folterungen zurechnen lassen. Der Kläger habe die Ziele der PKK und deren Umsetzung durch terroristische Aktivitäten im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterstützt. Eine Wiederholungsgefahr sei für einen Ausschluss des Schutzes nach § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG nicht erforderlich. Zudem lägen schwerwiegende Gründe vor, die die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger sich als Kadermitglied auch Handlungen habe zuschulden kommen lassen, die den Zielen der Vereinten Nationen zuwider liefen. Er habe als Funktionär an der Förderung des bewaffneten Kampfes und damit an Verstößen gegen die u.a. in Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen dargelegten Ziele der UN mitgewirkt. Durch seine professionelle Mitarbeit habe er die innere Organisation, den Zusammenhalt sowie den bewaffneten Kampf der PKK unmittelbar gefördert. Überdies sei eine zu einem Abschiebungshindernis führende Gefährdung des Klägers nicht hinreichend erkennbar. Aufgrund der in der Türkei umgesetzten Reformen und der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und Misshandlungen sei die Gefahr einer Misshandlung bei Wiedereinreise in die Türkei nicht beachtlich wahrscheinlich.

6

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 18. September 2006 Klage erhoben und gleichzeitig im Verfahren 8 B 62/06 erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht um Eilrechtsschutz nachgesucht. Die Klage ist anknüpfend an den Vortrag im Asylverfahren im Wesentlichen wie folgt begründet worden:

7

Der Kläger sei niemals systematisch bewaffnet oder gewaltbereit und auch nicht an der Vorbereitung gewaltsamer Aktionen der PKK beteiligt, sondern lediglich als Lehrender aktiv gewesen. Eine derartige ideologische Unterstützung falle nicht unter den Zweck des gesetzlichen Ausschlussgrundes für den Flüchtlingsschutz. Während seiner Tätigkeit im Nordirak habe er die aus der Türkei gekommenen - von der PKK von dort zurückgezogenen - Kämpfer politisch sowie am Computer geschult und darüber hinaus Lebensmittel besorgt, Bücher gelesen oder die Ausbildungskommission vorbereitet. Im Übrigen habe er sich glaubhaft von der Politik der prinzipiellen Gewaltbereitschaft abgewandt. Auf der Militärkonferenz 2003, an der er wie andere PKK-Mitglieder uniformiert teilgenommen habe und an der auch einfache Mitglieder hätten teilnehmen können, habe er sich öffentlich kritisch zur neuen Strategie der Wiederaufnahme eines bewaffneten Kampfes geäußert. In der Hierarchie der PKK sei er unterhalb der Ebene angesiedelt gewesen, welche die politischen und ideologischen Entscheidungen mitbestimmt habe. Bei der Ausführung der ihm zugewiesenen Arbeiten habe er zwar selbstständig, aber nicht weisungsgebend oder in politischer oder ideologischer Hinsicht ideengebend gearbeitet.

8

Die Familie des Klägers sei seit seinem Anschluss an die PKK 1996 von türkischen Sicherheitskräften drangsaliert, bedroht, ihr Haus sei überfallen und Gegenstände seien zerstört worden. Sein Vater sei bis mindestens Anfang 2008 mehrfach zur Wache genommen, geschlagen und bedroht worden. Sein Cousin sei als PKK-Kämpfer inhaftiert gewesen und der Kläger vermute, dass in diesem Zusammenhang auch sein eigener Kontakt zur PKK bekannt geworden sei. Zwar sei er bislang noch nie einem Ermittlungsverfahren unterzogen worden, er könne jedoch im Falle einer Rückkehr in die Türkei seinen Aufenthalt und seine Tätigkeiten für mehrere Jahre nicht belegen, was innerhalb kürzester Zeit zu Rückschlüssen über seinen Aufenthalt bei der Guerilla führen könne. Er befürchte, bei einer Rückkehr zum Wehrdienst überstellt, dort sonderinhaftiert und misshandelt und gegebenenfalls sogar gezielt umgebracht zu werden.

9

In einem vom Kläger eingereichten fachärztlichen-psychotherapeutischen Attest seiner Therapeutin Dr. Klingenburg-Vogel vom 03. April 2009 ist für den Kläger - anknüpfend an ein im Eilverfahren nach mehrwöchigem stationären Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Heiligenhafen vorgelegtes Attest vom 30. Januar 2007 - u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung, eine mittelgradige depressive Episode sowie der ernstzunehmende Verdacht einer Suizidabsicht für den Fall der Ablehnung seines Asylgesuches und einer Abschiebung diagnostiziert worden.

10

Der Kläger hat beantragt,

11

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 05. September 2006 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 5 und 7 AufenthG vorliegen.

12

Die Beklagte hat beantragt,

13

die Klage abzuweisen.

14

Sie hat unter Verweise auf die Begründung des Bescheides vorgetragen, die von der PKK begangenen Verbrechen seien dem Kläger individuell auf Grund seiner Einbindung in die Organisation als professioneller Kader und seiner jahrelangen aktiven Unterstützung der Ideologie der PKK gerechtfertigt. Damit habe er sich nicht nur die Ziele, sondern auch die von der PKK zu ihrer Verfolgung angewandten Mittel zu eigen gemacht. Die Mitwirkungshandlungen des Klägers im Rahmen seiner aktiven Mitgliedschaft in der PKK seien rechtlich als besonders schweres nichtpolitisches Verbrechen im Sinne des mittlerweile in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG überführten Ausschlussgrundes zu bewerten. Dieser gehe auf das Konzept der Asylunwürdigkeit zurück und setze eine Wiederholungsgefahr nicht voraus. Aufgrund seiner langjährigen Aktivitäten erfülle der Kläger zudem die Voraussetzungen des Ausschlussgrundes des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG, da schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigten, dass er die PKK durch den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider laufende Handlungen unterstützt habe.

15

Mit Urteil vom 04. Mai 2009 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht vorverfolgt aus der Türkei ausgereist. Ihm drohten bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen. Nachfragen bei seiner Familie könnten auf seine seit 1997 bestehende Wehrpflicht zurückgehen. Im Falle einer Wiedereinreise müsse er gegebenenfalls mit seiner Überstellung an die nächste Militärdienstbehörde zur Einberufung rechnen. In der Türkei handele es sich bei der Wehrdienstentziehung um eine Massenerscheinung; der Kläger müsse wahrscheinlich nicht mit Eröffnung eines Strafverfahrens rechnen. Auch im Hinblick auf seine Mitgliedschaft und Tätigkeit für die PKK seien Verfolgungsmaßnahmen nicht beachtlich wahrscheinlich, da keine Anhaltspunkte für eine entsprechende Kenntnis des türkischen Staates und Ermittlungsverfahren vorlägen. Der Kläger sei auch durch den während seiner Tätigkeit geführten Decknamen vor einem Bekanntwerden seiner Identität auf Grund von Aussagen von Weggefährten geschützt. Selbst wenn es aber zu einer Verurteilung auf Grund der Tätigkeit für die PKK komme, sei eine Flüchtlingsanerkennung des Klägers nach § 60 Abs. 8 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Als ausgebildeter Kader, der Nachwuchskräfte betreut und Kämpfer geschult habe, habe der Kläger die Ziele der PKK verteidigt, sich die bei deren Verfolgung angewandten Mittel zu eigen gemacht und sich damit im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG in sonstiger Weise an schweren nichtpolitischen Straftaten der PKK beteiligt. Dem stehe auch nicht die Abwendung des Klägers von der PKK im Jahre 2004 entgegen, da eine Wiederholungsgefahr für das Eingreifen des Ausschlussgrundes nicht erforderlich sei. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG seien nicht gegeben, da Erkenntnisse über Misshandlungen oder Folterungen von aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrten abgelehnten Asylbewerbern in jüngster Zeit nicht vorlägen. Auch die Voraussetzungen für eine Anerkennung eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen im Falle des Klägers nicht vor. Psychische Erkrankungen seien in der Türkei behandelbar. Die psychische Erkrankung des Klägers sei nicht im Kern untrennbar mit dem Herkunftsland und dort erlittenen Traumatisierungen verbunden, da sie nicht auf traumatisierende Ereignisse in der Türkei, sondern auf Ereignisse während seines Aufenthaltes im Nordirak sowie Vertrauenserschütterungen durch seine rechtliche Nichtanerkennung als Asylberechtigter in Deutschland zurückzuführen sei.

16

Der Senat hat auf fristgerechten Antrag des Klägers mit Beschluss vom 01. Dezember 2009 die Berufung gegen dieses Urteil zugelassen.

17

Mit Beschluss vom 21. Januar 2010 hat der Senat im Einverständnis der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH über den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2008 - 10 C 46.07 - angeordnet und das Verfahren nach Ergehen des Urteils des EuGH vom 09. November 2010 - C-57/09 und C-101/09 - wieder aufgenommen.

18

Der Kläger begründet die Berufung unter Bezugnahme auf sein bisheriges Vorbringen wie folgt:

19

Er sei auch aktuell Dissident innerhalb der PKK, stünde aber im Falle einer Rückkehr in die Türkei dem türkischen Staat keinesfalls als Informant zur Verfügung, wodurch sich in einem Ermittlungsverfahren die Gefahr von Folter erhöhe. Der türkische Staat habe nach dem Verbot der kurdischen Partei DTP - dem "legalen Arm der PKK" - Ende 2009 ein weiterhin gesteigertes Interesse an der Verfolgung ehemaliger PKK-Mitglieder. Dass sich der Kläger von der PKK losgesagt habe, werde der türkische Staat nicht berücksichtigen, sondern ihn als Mitglied der Organisation aburteilen. Der Name seiner Familie sei dem Staat in diesem Kontext sehr gut bekannt. Er verweist auf sehr bekannte namensgleiche Verwandte, die Mitglied der PKK seien oder gewesen seien; ein Cousin seines Vaters werde von den türkischen Behörden in diesem Zusammenhang mit internationalem Haftbefehl gesucht.

20

Vordringlicher Fluchtgrund des Klägers sei ausweislich der Bundesamtsanhörung aber die Furcht vor einer Verfolgung durch die PKK gewesen. Er habe seine Flucht aus dem Nordirak nicht durch den mehrmonatigen Aufenthalt in dem Ferienhaus des Bruders in der Türkei beendet, denn in dieser überwiegend von Ausländern bewohnten Siedlung habe er sich nur während der halbjährigen Dauer seines unter gefälschten irakischen Papieren erlangten Visums sicher fühlen können. Er selbst kenne mehrere ehemalige PKK-Aktivisten und spätere Dissidenten, die noch im Jahre 2006 von der PKK ermordet worden seien, und halte sich selbst auch aktuell noch in gleicher Weise konkret gefährdet. Aufgrund der engen Beziehungen seiner Familie zur PKK und der ihm dort gebotenen Aufstiegschancen werde seine Lossagung von der Partei als besonders schlimm bewertet. Der Kläger habe, sofern aus Rechtsgründen die Zuerkennung des Schutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht erfolge, jedenfalls einen Anspruch auf Anerkennung eines Abschiebungsverbotes aufgrund zu erwartender staatlicher wie nichtstaatlicher Verfolgung in Form von Folter, unmenschlicher Behandlung und ständiger wiederkehrender niederschwelliger Drangsal und Ausgrenzung.

21

Der Kläger hält daran fest, dass seine früheren Aktivitäten innerhalb der PKK nicht den Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllten, weil er lediglich politisch-propagandistisch eingesetzt und durch keine seiner eigenen Handlungen unmittelbar an einer schweren nichtpolitischen Straftat beteiligt gewesen sei. Nach der Verhaftung von Öcalan 1999 habe ihm die im Zuge des Rückzuges aller PKK-Kämpfer aus der Türkei in den Nordirak und dem bis April 2004 geltenden inoffiziellen Waffenstillstand verfolgte Idee einer politischen Lösung der Kurdenfrage sehr zugesagt. In dieser nahezu kampflosen Zeit habe er mit seinem theoretischen Wissen u.a. als Lehrer für eine politische Lösung gearbeitet. Die Anforderungen des EuGH an eine lediglich im Rahmen einer individuellen Prüfung zulässige Zurechnung von aus einer Organisation heraus begangenem Unrecht seien in seinem Fall nicht erfüllt.

22

Aufgrund der weiterhin behandlungsbedürftigen, gegenwärtig auch behandelten psychischen Erkrankung des Klägers bestehe für ihn jedenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Er könne nicht auf eine Behandlung in der Türkei verwiesen werden, weil der Kern seiner Erkrankung untrennbar mit dem Herkunftsland verbunden sei. Er habe bereits als Kind die Verfolgung von Kurden in der Türkei angesehen; auch die auf nordirakischem Gebiet erlebten Kriegshandlungen gegen die PKK und das hierdurch ausgelöste Kriegstrauma seien ausschließlich auf türkische Staatskräften zurückzuführen. Ungeachtet noch nicht selbst erlebter Folter sehe er Bilder der zu erwartenden Misshandlungen vor sich. Der Kläger hat zuletzt ein Attest der ihn behandelnden Fachärztin für psychotherapeutische Medizin Dr. Klingenburg-Vogel vom 11. Juli 2011 eingereicht, wonach die bei ihm fortbestehende posttraumatische Belastungsstörung und Depression derzeit auch aufgrund guter Integrationserfolge durch eine erfolgreiche Schul- und Hochschulausbildung in Deutschland gebessert seien. Aus der erstinstanzlichen Klagabweisung hätten sich jedoch Rückschläge, verbunden mit Suizidideen, entwickelt. Die Gefahr eines Suizids im Falle einer drohenden Abschiebung müsse trotz der derzeitigen relativen Stabilisierung ernst genommen werden.

23

Der Kläger beantragt,

24

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichter der 8. Kammer - vom 04. Mai 2009 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,

25

hilfsweise

26

die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass im Falle des Klägers die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

27

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

29

Sie ist der Auffassung, dass die seinerzeitigen Aktivitäten des Klägers für die PKK auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH vom 09. November 2011 jedenfalls zum Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG führten. Die in dem Zeitraum 1996 bis 2004 von der PKK begangenen terroristischen Akte seien dem Kläger sowohl objektiv als auch subjektiv zuzurechnen. Bereits als Mitglied des "Heimatbüros" in Bulgarien habe der Kläger dem Funktionärskörper der PKK angehört; strafrechtlich sei er nach der Rechtsprechung des BGH aufgrund dieser Funktion als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu bewerten. Seine anschließende Funktion der politischen und ideologischen Ausbildung von PKK-Kämpfern und der Pflege von Beziehungen zu anderen Kräften, seine Unterstellung unmittelbar unter die Weisungsgewalt des PKK-Hauptverantwortlichen Murat Karayilan und die Teilnahme an der Militärkonferenz 2003 verdeutlichten seine vormals führende Rolle. Als "Diplomat" für die PKK müsse er deren Ideologie, Ziele und Methoden verinnerlicht haben. Er müsse in seiner Position auch Kenntnis von den terroristischen Aktivitäten der Organisation gehabt haben und habe sie durch sein weiteres Engagement bewusst unterstützt. Dies begründe eine unmittelbare Verantwortlichkeit für diese Aktivitäten. Eine weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung oder Darlegung einer Wiederholungsgefahr seien ausweislich der Rechtsprechung des EuGH nicht erforderlich. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger auch den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG verwirklicht habe. Die Aktivitäten des Klägers wiesen jedenfalls eine für die Einbeziehung der Handlungen von Privatpersonen in die Bewertung als internationaler Terrorismus hinreichende internationale Dimension auf.

30

In der mündlichen Berufungsverhandlung vom 01. September 2011 hat der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung durch den Senat und die Beklagte seinen Werdegang und seine Aufgaben innerhalb der PKK erneut eingehend dargestellt. Zu der im Mai 2004 stattgefundenen Flucht der Gruppe um Bektas einschließlich seiner eigenen Person aus dem Kandil-Gebiet nach Kirkuk und von dort weiter nach Mossul hat der Kläger ebenfalls ergänzende Angaben gemacht; u.a. hat er angegeben, im Zuge des Besuches der beiden bewaffneten Abgesandten der PKK in der Wohnung, in der sie sich in Kirkuk aufgehalten hätten, sei ihnen eine kurzzeitige Bedenkzeit eingeräumt worden, die sie aus Furcht vor einer von den Bewaffneten organisierten Verstärkung bei deren Wiederkehr zum sofortigen Verlassen der Wohnung und der Stadt genutzt hätten.

31

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift vom 01. September 2011, auf beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten im vorliegenden sowie im Verfahren 8 B 62/06 verwiesen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

32

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 05. September 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.

33

Für die gerichtliche Beurteilung des Verpflichtungsbegehrens des Klägers ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz abzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 - 10 C 11/09 -, Juris). Maßgeblich ist daher die seit dem 28. August 2007 geltende Fassung des Asylverfahrensgesetzes durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 2007, 1970) sowie nachfolgende Änderungen, zuletzt vom 23. Juni 2011 (BGBl. I 2011, 1266).

34

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach dieser Regelung darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die bereits erlittener Verfolgung gleichzustellende unmittelbar drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.2009 - 10 C 24/08 -, BVerwGE 135, 252). Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304, S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Damit ist auch zu prüfen, ob ein Antragsteller gem. Art. 8 der Richtlinie keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (inländische Fluchtalternative, vgl. BVerwG, Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186). Im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung nach der Qualifikationsrichtlinie kann allerdings eine Vorverfolgung nicht wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden inländischen Fluchtalternative verneint werden; dem Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes wird aber nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie durch eine Verweisung auf eine zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung bestehende interne Schutzalternative Rechnung getragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).

35

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Ziff. c AufenthG begründet auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ein Abschiebungsverbot, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

36

Aus den in Art. 4 RL 2004/83/EG geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung abgibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigen werden (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 17.08.2010 - 8 A 4063/06.A -, Juris; Senatsurt. v. 03.12.2003 - 4 LB 75.99 -).

37

Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG ist, wie bei der Prüfung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Die zum Asylgrundrecht entwickelten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe, je nachdem, ob der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist, finden unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie auf § 60 AufenthG keine Anwendung mehr. Nach § 60 Abs. 1 Satz 5, Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Die Vorschrift privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das ergibt sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG, der sich mit der Voraussetzung, dass der Antragsteller "tatsächlich Gefahr läuft", an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zur tatsächlichen Gefahr ("real risk") orientiert. Das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Unterschiedliche Prognosemaßstäbe hingegen konnten bei den Beratungen über die Qualifikationsrichtlinie nicht durchgesetzt werden. Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten normiert Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zu allem BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 - 10 C 11/09 -, Juris, sowie v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, OVG NRW, a.a.O.).

38

Der Kläger hat nach diesen Maßstäben nach der Überzeugung des Senats vor seiner Ausreise keine Vorverfolgung durch staatliche Stellen erlitten und war auch nicht unmittelbar von einer solchen bedroht. Er war zu keinem Zeitpunkt im staatlichen Zugriff und es ist nach eigenem Vortrag im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bis zu seiner Ausreise aus der Türkei auch kein staatliches Ermittlungsverfahren gegen ihn angestrengt worden. Dass die türkischen Behörden in den Jahren 2004 und 2005 nach jahrelanger Abwesenheit des Klägers Kenntnis von seiner Rückkehr in die Türkei aus dem Irak unter irakischen Personalien gehabt hätten oder so bald hätten erlangen können, dass von einer bereits damals ausweglosen Lage auszugehen wäre, ist nicht ersichtlich. Auch der Kläger selbst hat keine staatliche Vorverfolgung geltend gemacht; die von ihm vorgetragenen Drangsalierungen und Festnahmen betrafen andere Mitglieder seiner Familie. Es liegen mithin keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ihm selbst vor seiner Ausreise aus der Türkei staatliche asylrelevante Maßnahmen unmittelbar gedroht hätten.

39

Solche Maßnahmen sind jedoch nunmehr nach der Erkenntnislage für den Fall einer Rückkehr des Klägers in die Türkei beachtlich wahrscheinlich. Der Senat ist in seiner bisherigen Rechtsprechung zur Gefährdung von Unterstützern kurdischer oppositioneller Organisationen zum einen davon ausgegangen, dass Personen, die von den türkischen Sicherheitsbehörden als Sympathisanten und Unterstützer der PKK eingestuft werden, vor Verfolgung nicht hinreichend sicher sind, auch wenn es sich nicht um exponierte Akteure handelt (Senatsurt. v. 09.02.2010 - 4 LB 9/09 -, v. 10.06.2008 - 4 LB 4/06 -, v. 20.06.2006 - 4 LB 25/02 -, v. 23.05.2000 - 4 L 21/94 -, Senatsbeschl. v. 16.04.2009 - 4 LA 14/09 -, v. 20.03.2009 - 4 LA 16/09 -). An der im Anschluss an die Rechtsprechung des OVG NW (Urteil vom 19.04.2005 – 8 A 273/04.A – und vom 26.05.2004 – 8 A 3852/03.A-) getroffenen Bewertung, dass nach wie vor vom Fortbestehen von Folter und Misshandlungen in der Türkei auszugehen sei und daher jedenfalls keine hinreichende Verfolgungssicherheit (in der Terminologie des vor Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie gültigen rechtlichen Maßstabes) für vermutete Mitglieder oder Unterstützer der PKK bestehe (Urteil vom 20.06.2006 – Az.: 4 LB 25/02), hat der Senat noch mit Urteil vom 09. Februar 2010 - 4 LB 9/09 - festgehalten. Dabei hat er sich auf die aktuelle Auskunftslage zu zwischenzeitlichen Reformbemühungen der Türkei im Strafrecht und bei dem Problem staatlicher Folter und Misshandlungen bezogen und auf die fortbestehenden, sich eher verschärfenden Spannungen in der Kurdenfrage, auf strafrechtliche Verfolgungen von positiven Aussagen zur PKK, Verhaftungen von PKK-Unterstützern, fortbestehende Berichten über Folter und Misshandlungen sowie die Problematik der Straflosigkeit von Tätern in Folterfällen verwiesen (vgl. im Einzelnen die dortige Auswertung der Auskunftslage). Zum anderen besteht nach bisheriger Senatsrechtsprechung (nur) unter besonderen individuellen Voraussetzungen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung nach Rückkehr in die Türkei, nämlich für politisch aktive, sich erkennbar von der Masse gleichartiger Betätigungen abhebende und damit überhaupt erst in das Blickfeld der vom türkischen Staat organisierten Überwachung der kurdischen Opposition geratende Unterstützer der PKK und vergleichbarer Organisationen, nicht dagegen für "niedrig profilierte" politisch-oppositionell aktive Unterstützer (vgl. Senatsbeschl. v. 16.04.2009 - 4 LA 14/09 -, Senatsurt. v. 20.06.2006 - 4 LB 56/02 -, v. 25.07.2000 - 4 L 147/95 - m.w.N.).

40

Daran ist auch unter Auswertung der aktualisierten Auskunftslage festzuhalten. Das Auswärtige Amt geht weiterhin davon aus, dass sich die Sicherheitsbehörden bei einer Einreise in die Türkei mit türkischen Staatsangehörigen befassen, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 08.04.2011, S. 18). Auch nach aktueller Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Bericht v. 20.12.2010 über die aktuelle Situation der Kurden, S. 19) riskieren politisch aktive Kurden Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in der verbotenen PKK. Kamil Taylan berichtete in einem Gutachten für das OVG Saarland vom 11. Februar 2011 (S. 5), dass die Staatsanwaltschaft Diyarbakir im April 2010 ein Strafverfahren gegen 30 Rückkehrer aus dem Nordirak wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine Terrororganisation bzw. Planung und Durchführung von Verbrechen im Auftrag einer solchen Organisation eingeleitet habe; dieselbe Staatsanwaltschaft führe einen Massenprozess gegen PKK-Unterstützer. An anderer Stelle führt Taylan allerdings aus, dass keine Verfahren gegen Rückkehrer wegen Unterstützungshandlungen in den 90’ger Jahren bekannt seien (ebd. S. 4). Was die Gefahr von Folter und Misshandlungen anbelangt, so ist auch nach den seit dem Senatsurteil vom 09. Februar 2010 hinzugekommenen Erkenntnissen weiterhin von einer nicht auszuschließenden, insgesamt nicht spürbar reduzierten Gefährdungslage auszugehen. Das Auswärtige Amt berichtet für das Jahr 2010 von einer erheblichen Anzahl von Fällen von Folter und Misshandlungen, die bei anerkannten Menschenrechtsorganisationen registriert seien. Es sei der Regierung nach wie vor nicht gelungen, solche Misshandlungen vollständig zu unterbinden; Straflosigkeit der Täter sei weiterhin ein ernstzunehmendes Problem (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 08.04.2011, S. 21). Die EU-Kommission stellt in ihrem Fortschrittsbericht vom 09. November 2010 (Turkey 2010 Progress Report, SEC (2010) 1327, S. 18) zwar insgesamt einen positiven Trend bezüglich der Verhütung von Folter und Misshandlungen, gleichzeitig aber weiterhin ein verbleibendes, besorgniserregendes Problem unangemessener Gewaltanwendung seitens der Sicherheitsbehörden fest. Beispiele für auch noch 2010 geschehene Folter führt auch Kaya (Gutachten an OVG Greifswald v. 14.06.2010, S. 11 ff.) auf. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe hält staatliche Folter in der Realität immer noch für verbreitet, wobei zunehmend an unbeobachteten Orten - außerhalb von Polizeistationen und Gefängnissen - gefoltert werde (SFH, Türkei: Die aktuelle Situation der Kurden, 20.12.2010, S. 13; Türkei: Risiken bei der Rückkehr eines verurteilten PKK-Mitglieds, 26.05.2010, S. 1 f.).

41

Die Wahrscheinlichkeit für Rückkehrer, bei der Einreise festgehalten, verhört und ggf. an weitere Sicherheitsbehörden überstellt zu werden, hängt nach im Wesentlichen übereinstimmenden Auskünften nach wie vor davon ab, ob ein Strafverfahren gegen den Rückkehrer anhängig ist oder war und ob er seine Wehrpflicht erfüllt hat. Ist beides nicht der Fall, so ist nach Auskunft von Kaya (an das VG Freiburg vom 01.07.2010) eine Ingewahrsamnahme an der Grenze nicht zu erwarten. Wird bei der Einreise jedoch festgestellt, dass der Wehrdienst noch nicht abgeleistet wurde, wird der Betreffende nach Auskunft von Kaya (Gutachten an VG Freiburg vom 11.06.2008) festgenommen und in Begleitung von Polizisten oder Gendarmen zwecks Musterung und Einberufung der nächstgelegenen Militärdienstbehörde überstellt. Taylan hält eine Situation des vorherigen jahrelangen Nichterscheinens bei der Musterung mit der Möglichkeit, dass darüber ein Aufenthalt des Wehrpflichtigen im Ausland bei der PKK bekannt geworden sein könnte, und den fehlenden Beleg der entstandenen Auslandszeiten mit einem von türkischen Behörden anerkannten Status bei der Einreise für sehr gefährlich, weil er in aller Regel zu einer intensiveren Untersuchung führe (Taylan, Gutachten an VG Sigmaringen v. 21.12.2007). Für eine derartige Konstellation ist auch Aydin in einem Gutachten an das VG Sigmaringen vom 20. September 2007 von einer Gefährdung des betreffenden Rückkehrers durch Misshandlung oder Folter ausgegangen. Oberdiek teilt in seinem Gutachten an das VG Sigmaringen vom 15. August 2007 ebenfalls die Einschätzung, dass zurückkehrende Nichtwehrdienstleistende einer Überprüfung hinsichtlich des Grundes ihrer zwischenzeitlichen Abwesenheit und eines möglichen Verdachts der Zusammenarbeit mit der PKK unterzogen werden, ohne jedoch eine klare Aussage zu den hierdurch zu befürchtenden Folgen für den Rückkehrer zu treffen (vgl. dort S. 15). Die österreichische Organisation ACCORD berichtet über ungeklärte Todesfälle auch von Kurden während des Wehrdienstes (ACCORD, KurdInnen in der Türkei, Juni 2009, S. 41); Erkenntnisse, dass es sich hierbei um ein in seiner Dimension greifbares und verbreitetes Phänomen handelt, liegen allerdings nicht vor.

42

Auf dieser Erkenntnisgrundlage geht der Senat davon aus, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Nachteile seitens des türkischen Staates erleiden würde. Dabei sind die Angaben des Klägers zugrunde zu legen, die er im Verlauf seines Asylverfahrens sowie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, zuletzt im Rahmen der eingehenden informatorischen Befragung in der mündlichen Berufungsverhandlung, gemacht hat. Der Kläger hat auf den Senat in jeglicher Hinsicht einen glaubwürdigen, sachlichen und zurückhaltenden Eindruck gemacht. Sein Vorbringen weist keine Widersprüche auf; seinen Werdegang und seine Erlebnisse hat der Kläger durchweg in ruhiger, klarer Weise ohne Zögern und ohne Übertreibungen geschildert. Auf Nachfragen war er jeweils imstande, weitere Detailinformationen zu liefern, die sich widerspruchsfrei in das zuvor aus seinen Angaben entstandene Bild einfügten.

43

Da der Kläger noch keinen Wehrdienst geleistet hat, würde er beachtlich wahrscheinlich bereits bei der Einreise von den Sicherheitsbehörden in Gewahrsam genommen und von diesen oder den Militärbehörden, an die er zwecks Musterung überstellt werden würde, einer eingehenderen Untersuchung unterzogen, in deren Zuge er nicht in der Lage wäre, die seit seinem 17. Lebensjahr entstandenen Abwesenheitszeiten aus dem Zugriff der Wehrdienstbehörden in einer zufriedenstellenden, für die Behörden unverdächtigen Weise zu erklären. Nachforschungen erfolgen in einem derartigen Fall der Untersuchung eines wehrdienstpflichtigen Rückkehrers auch in dessen Heimatregion (amnesty international, Auskunft an OVG Saarland v. 31.01.2011). Da der Nachname des Klägers den Behörden schon wegen der Aktivitäten des Großcousins zugunsten der PKK im Zusammenhang mit prokurdischen Organisationen bekannt sein dürfte, ist es naheliegend, dass die türkischen Behörden auch beim Kläger angesichts seiner jahrelangen Abwesenheit eine aktive Unterstützung der PKK annehmen werden. Hinzu kommt, dass er als politischer Ausbilder im Nordirak, insbesondere aber ab 2003 als Verantwortlicher für die Öffentlichkeitsarbeit der dortigen PKK-Führung und als Verbindungsperson im Verhältnis zu anderen Organisationen und zur Zivilbevölkerung einen potentiell großen Bekanntheitsgrad und vor allem in ganz besonderem Maße Insiderkenntnisse über die Strukturen und Strategien der PKK bis hin zur obersten Spitze erlangt hat, die von hohem Interesse für türkische Sicherheitsbehörden sein könnten. Diese Umstände lassen den Kläger stärker in das Blickfeld des türkischen Staates geraten als sog. niedrig profilierte kurdische Aktivisten; sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch Folter und Misshandlung im Rahmen des behördlichen Zugriffs, dem er bei der Einreise aufgrund der Nichtableistung des Wehrdienstes ausgesetzt wäre.

44

Der Kläger ist darüber hinaus durch nichtstaatliche Akteure vorverfolgt aus dem Irak und anschließend aus der Türkei ausgereist; eine Wiederholung seiner Verfolgung wäre im Falle seiner Rückkehr unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie beachtlich wahrscheinlich. vor seiner Ausreise von Verfolgung seitens der PKK als nichtstaatlichem Akteur i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Ziff. c AufenthG unmittelbar bedroht worden. Nach dem in sich stimmigen und glaubhaften Vorbringen des Klägers sowohl im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch im gerichtlichen Verfahren hat der Kläger die PKK gemeinsam mit Weggefährten im Nordirak verlassen, indem er seinem Vorgesetzten Bektas zur Flucht aus der "Haft" innerhalb der PKK verholfen hat. Er hat von Ultimaten berichtet, mit denen er sowie die anderen Angehörigen der Gruppe des Bektas zur Abkehr von ihrer der offiziellen PKK-Strategie zuwiderlaufenden, die Wiederaufnahme des gewaltsamen Kampfes gegen türkische Kräfte ablehnenden Position gedrängt werden sollten, darüber hinaus von einem Besuch bewaffneter Abgesandter des PKK-Führers Karayilan während ihrer Fluchtstation in Kirkuk, welche ihnen eine gravierende Drohung für den Fall der Fortsetzung ihres abtrünnigen Weges überbracht hätten. Diese Situation, in der er sich gemeinsam mit seinen Weggefährten in dem Unterschlupf in Kirkuk befand, hat der Kläger zuletzt in der mündlichen Berufungsverhandlung nachvollziehbar dahingehend geschildert, dass sie eine drohende Rückkehr der Bewaffneten zusammen mit weiteren bewaffneten Unterstützern befürchtet hätten, denen sie auch zahlenmäßig dann nicht mehr gewachsen gewesen wären. Daraufhin hätten sie unmittelbar die Wohnung verlassen, seien zu einem Minibusbahnhof gelaufen und in Richtung Mossul weggefahren.

45

Auch diesbezüglich hat sich kein Anlass zu Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Angaben des Klägers ergeben. Der Senat hält sein Vorbringen zu den Ereignissen nach der Loslösung von der Organisation auf dem Hintergrund der vorliegenden Erkenntnisse über die Sanktionierung von Dissidenten innerhalb der PKK auch für glaubhaft. Die PKK sanktioniert interne Opposition wie Ungehorsam und Befehlsverweigerung und Desertion konsequent (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 08.04.2011, S. 12, sowie vom 11.04.2010, S. 11). Mit der Fluchthilfe für einen Führer einer PKK-Gruppe hatte der Kläger über seine inhaltlich-oppositionelle Haltung zur offiziellen PKK-Doktrin in der Gewaltfrage hinaus einen greifbaren Anlass für eine derartige Sanktionierung geliefert. Bereits die vorherige Inhaftierung des Naki Bektas, zu dessen unmittelbaren Mitarbeitern der ihm gleichgesonnene Kläger gehörte, konnte der Kläger als Hinweis auf eine Gefährdung seitens der PKK bewerten; diese Situation der Bedrohung hatte sich durch die Fluchthilfe zugunsten des Bektas und das Absetzen der Gruppe des Klägers aus dem Kandil-Gebiet noch weiter verdichtet. Sie bestand auch noch bei seiner Ausreise aus der Türkei, denn nach dem Ablaufen des vom Kläger unter falschen irakischen Personalien erlangten Besuchsvisums für die Türkei hätte ihm im Falle einer Kontrolle durch türkische Behörden eine Enttarnung seiner Legende im Zuge vermeintlich ausländerrechtlicher Maßnahmen oder eine Abschiebung in den Irak gedroht, jedenfalls ein Verbleiben innerhalb des - bis in die türkischen Gefängnisse hinein bestehenden (vgl. nur Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Risiken bei der Rückkehr eines verurteilten PKK-Mitglieds, 26.05.2010, S. 6) - Einflussbereiches auch der PKK für eine Bestrafungsaktion gegenüber dem Kläger. Dass in Bezug auf die Bedrohungen seitens der PKK Schutz durch staatliche türkische Behörden für den Kläger nicht zu erlangen war, bedarf über die nachstehenden Ausführungen hinaus keiner weiteren Erläuterung.

46

Die dem Kläger danach wegen der unmittelbar bevorstehenden asylrelevanten (weil an seine politische Überzeugung anknüpfende) Maßnahmen der PKK und damit seiner Vorverfolgung zur Seite stehende beweisrechtliche Privilegierung nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG begründet für den Fall seiner Rückkehr in die Türkei die Vermutung einer Wiederholung der Vorverfolgung. Stichhaltige Gründe, die jene Vermutung entkräften könnten, liegen weder in individueller Hinsicht vor, noch lassen sie sich aus der Auskunftslage ableiten. Ebenso wie das Auswärtige Amt (s.o.) gehen auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe und das Schweizerische Bundesamt für Migration (BfM) davon aus, dass Abtrünnige der PKK im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei von Racheakten bedroht sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gutachten zur Rückkehr eines ehemaligen PKK-Aktivisten v. 23.02.2006, S. 6; Schweizerisches Bundesamt für Migration, Focus Irak / Türkei: Die Situation ehemaliger türkischer PKK-Mitglieder im Nordirak, 05.02.2008, S. 4, 11 ff.); das BfM sieht für abtrünnige PKK-Mitglieder ein durch mehrere Fälle bis zum Berichtszeitpunkt 2008 illustriertes reelles Risiko der Verfolgung oder sogar Tötung durch die Organisation, dessen Ausmaß von der vormaligen Position innerhalb der Hierarchie und von den vorhandenen Insider-Kenntnissen abhängig sei (ebd., S. 4, 13 ff.). Solche Kenntnisse hatte der Kläger jedenfalls ab 2003 in hohem Maße. Nach Oberdiek, der auch über die Ermordungen einiger prominenter PKK-Dissidenten 2005 und 2006 berichtet hat, sind die Kriterien, nach denen die PKK ihre Opfer für exemplarische Bestrafungsaktionen auswählt, unklar (Oberdiek, Gutachten an OVG Greifswald vom 05.05.2010, S. 6, 8). Nach Einschätzung von Kaya dagegen sind Übergriffe der Organisation gegen Deserteure, die nicht mit den türkischen Sicherheitsbehörden zusammengearbeitet haben, nicht zu erwarten (Kaya, Gutachten an OVG Greifswald vom 14.06.2010, S. 4). Dies wirft allerdings die Frage auf, anhand welcher Annahmen die PKK im Falle des Klägers von einer Kollaboration oder Nichtkollaboration mit den türkischen Behörden ausgehen würde. Insgesamt rechtfertigen die dem Senat vorliegenden Informationen jedenfalls nicht die Annahme, dass die für den Kläger bestehende Vermutung einer Wiederholung seiner Vorverfolgung durch die PKK für den Fall seiner Rückkehr in die Türkei aufgrund stichhaltiger Gründe widerlegt wäre.

47

Der Kläger hat keinen der Anerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft entgegenstehenden Ausschlussgrund gemäß § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylVfG verwirklicht. Die Anerkennung ist danach u.a. dann ausgeschlossen, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Betreffende vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebietes begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG), oder dass er den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (§ 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG). Dasselbe gilt nach Satz 3 der Regelung für Ausländer, die andere zu solchen Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben. Mit diesen seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes nunmehr im Asylverfahrensgesetz (früher: § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG / § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG) geregelten Ausschlussgründen hat der deutsche Gesetzgeber Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/83/EG, der seinerseits auf die schon in Art. 1 Abschnitt F Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) aufgeführten Ausschlussgründe zurückgeht, umgesetzt (vgl. BVerwG, Vorlagebeschl. v. 14.10.2008 - 10 C 48/07). Ihre Auslegung hat sich maßgeblich an den entsprechenden Regelungen in Art. 12 der Qualifikationsrichtlinie zu orientieren.

48

Die einen Ausschlussgrund gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie verwirklichenden Handlungen müssen nicht definitiv im Sinne eines für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Beweisstandards erwiesen sein; ausreichend ist vielmehr ein gegenüber der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit abgesenktes Beweismaß (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.03.2011 - 11 A 1439/07.A - Juris, m.w.N.). Die Annahme der Verwirklichung von Handlungen im Sinne eines Ausschlussgrundes ist aus schwerwiegenden Gründen gerechtfertigt, wenn hierfür Anhaltspunkte von erheblichem Gewicht vorliegen; dies ist in der Regel der Fall, wenn klare und glaubhafte Indizien für die Begehung der jeweils genannten Handlungen bestehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.03.2011 - 10 C 2/10 -, Juris).

49

Die Anwendung der auf Art. 12 Abs. 2 und 3 der Qualifikationsrichtlinie zurückgehenden Ausschlussgründe setzt eine Einzelfallwürdigung der - bekannten - genauen tatsächlichen Umstände in Bezug auf die Handlungen des betreffenden Ausländers, der im Übrigen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung erfüllt, voraus. Allein der Umstand einer Mitgliedschaft in einer anerkanntermaßen an terroristischen Handlungen beteiligten Organisation hat nicht automatisch den Ausschluss der betreffenden Person von der Anerkennung als Flüchtling zur Folge. Erforderlich ist vielmehr eine dem Beweisniveau der Annahme aus schwerwiegenden Gründen genügende Zurechnung eines Teils der Verantwortung für Handlungen, die von der Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft begangen wurden. Eine solche individuelle Verantwortung für die Verwirklichung der Handlungen der Organisation ist anhand sowohl objektiver als auch subjektiver Kriterien zu beurteilen, wobei die tatsächliche Rolle der betreffenden Person bei der Verwirklichung der fraglichen Handlungen, ihre Position innerhalb der Organisation, der Grad der Kenntnis, die sie von deren Handlungen hatte oder haben musste, sowie etwaige Pressionen oder andere verhaltensbeeinflussende Faktoren zu berücksichtigen sind. Hatte die betreffende Person eine hervorgehobene Position innerhalb der Organisation inne, so kann eine individuelle Verantwortung für von dieser Organisation begangene Handlungen im relevanten Zeitraum vermutet werden; dennoch bleibt eine Prüfung sämtlicher erheblicher Umstände erforderlich (vgl. EuGH, Urt. der Großen Kammer v. 09.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 -, NVwZ 2011, 285). Zu diesen gehört auch die altersbedingte Einsichtsfähigkeit des betreffenden Ausländers zur Zeit der zurechenbar begangenen Handlungen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15.12.2010 - 11 LA 495/10 -, AuAS 2011, 70, m.w.N.). Ein Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung setzt weder eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat noch eine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung des Ausschlusses unter erneuter Beurteilung des Schweregrades der begangenen Handlungen voraus; die Schwere der begangenen Handlungen ist vielmehr bereits bei der Prüfung des Vorliegens von Ausschlussgründen nach Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie einzubeziehen und muss von einem solchen Grad sein, dass die betreffende Person nicht in berechtigter Weise Anspruch auf den Schutz erheben kann (vgl. EuGH, ebd.).

50

Terroristische Handlungen, die durch ihre Gewalt gegenüber Zivilbevölkerungen gekennzeichnet sind, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden, müssen als schwere nicht politische Straftaten i.S.d. Art. 12 Abs. 2 Ziff. b der Qualifikationsrichtlinie (vgl. EuGH, a.a.O.) und damit auch § 3 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 AsylVfG angesehen werden.

51

Die für den Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG maßgeblichen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen werden in der Präambel und in den Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt (vgl. EuGH, a.a.O.). In der Präambel wie in Art. 1 der Charta wird das Ziel formuliert, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. Kapitel VII der Charta (Art. 39 bis 51) regelt die zu ergreifenden Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen. Nach Art. 39 der Charta obliegt dem Sicherheitsrat die Feststellung, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist dem Umstand besondere Bedeutung beizumessen, dass der Sicherheitsrat, indem er Resolutionen aufgrund von Kapitel VII der Charta beschließt, nach Art. 24 der Charta die Hauptverantwortung wahrnimmt, die ihm zur weltweiten Wahrung des Friedens und der Sicherheit übertragen ist. Das schließt die Befugnis des Sicherheitsrats ein zu bestimmen, was eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt (EuGH, Urt. der Großen Kammer vom 03.09.2008 - C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi und Al Barakaat - Slg. 2008 Rn. 294). Zu den Akten der Vereinten Nationen, die entsprechend dem 22. Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen konkretisieren, gehören auch die Resolutionen 1373 (2001) und 1377 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, denen die Auffassung des Sicherheitsrates zu entnehmen ist, dass Handlungen des internationalen Terrorismus allgemein und unabhängig von der Beteiligung eines Staates diesen Zielen und Grundsätzen zuwiderlaufen. Daher kann der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 Ziff. c der Qualifikationsrichtlinie auch auf eine Person als nichtstaatlichem Akteur angewendet werden, wenn sie im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu einer im Anhang des Gemeinsamen Standpunktes des Rates der Europäischen Union 2001/931 aufgeführten Organisation an terroristischen Handlungen mit einer internationalen Dimension nach den o.g. Kriterien beteiligt war (vgl. EuGH, Urt. v. 09.11.2010, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 31.03.2011 - 10 C 2/10, Juris Rn. 38; OVG NRW, Urt. v. 09.03.2011 - 11 A 1439/07.A -, Juris).

52

Nach diesen Maßstäben lassen sich Anhaltspunkte von erheblichem Gewicht dafür, dass der Kläger während seiner Tätigkeit für die PKK Handlungen im Sinne des Ausschlussgrundes des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 AsylVfG zumindest durch "Beteiligung in sonstiger Weise" verwirklicht hat, nicht feststellen. Zwar ist die PKK nach gesicherter obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urt. V. 30.03.1999 – 9 C 23/98 -, BVerwGE 109, 12; Urt. v. 15.03.2005 – 1 C 26/03 -, BVerwGE 123, 114; Vorlagebeschluss an den EuGH v. 25.11.2008 – 10 C 46/07 -, NVwZ 2009, 592; BGH, Urt. v. 28.10.2010 – 3 StR 179/10, BGHSt 56, 28) wie auch nach der Einstufung der Europäischen Union (vgl. zuletzt Beschuss 2011/70/GASP des Rates vom 31.01.2011, ABl. L 28/57, Anhang Ziff. 2.16) gerade aufgrund von Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung als terroristische Organisationen zu bewerten. Es bedarf vorliegend keiner näheren Ausführungen um zu begründen, dass die Organisation hierdurch auch schwere nichtpolitische Straftaten im Sinne des Ausschlussgrundes des § 3 Abs. 2 AsylVfG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie begangen hat und dass sehr viele ihrer Aktionen den Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und die Achtung vor den Menschenrechten zu fördern (vgl. Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen) zuwidergelaufen sind. Denn für eine im Verhältnis zum Kläger individuelle Zurechnung dieser terroristischen Handlungen nach den Kriterien des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 09. November 2011 fehlt es trotz des abgesenkten Beweisniveaus der "Annahme aus schwerwiegenden Gründen" an einem hinreichend dargelegten Bezug. Die für die Auslegung des Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie maßgeblichen Ausführungen des EuGH haben klargestellt, dass aufgrund der reinen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Rahmen des Ausschlussgrundes für die Flüchtlingseigenschaft keine automatische Zurechnung von Handlungen der Organisation erfolgen kann. Ebenso wenig reicht nach dem Urteil des EuGH eine Beteiligung des betreffenden Schutzsuchenden an den Handlungen der Organisation im Sinne von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/475 vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung einschließlich Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Tätigkeit mit dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den strafbaren Handlungen der terroristischen Vereinigung beiträgt) in jedem Falle aus, um einen Ausschlussgrund im Sinne der Qualifikationsrichtlinie zu verwirklichen. Auch eine ideologische Verinnerlichung der von der Organisation insgesamt angewandten Ziele – auch derjenigen der Gewaltanwendung – allein bewirkt noch keinen Ausschluss. Die nach objektiven und subjektiven Kriterien vorzunehmende Zurechnung von Verantwortung i.S.v. Art. 12 der Qualifikationsrichtlinie muss sich vielmehr spezifisch auf Handlungen der Organisation in dem Zeitraum der Mitgliedschaft des jeweiligen Antragstellers richten, die für sich genommen einen Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung begründen können. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Kläger nach eigenem, widerspruchslosen und von der Beklagten unwiderlegtem Vortrag bis zur Ausrufung des "einseitigen Waffenstillstandes" der PKK im Jahre 1999 zunächst politisch und erst im März 1999 15 Tage lang auch militärisch ausgebildet worden war und bis zu diesem Zeitpunkt nach seinem Anschluss an die PKK im Jahre 1996 im Rahmen des "Heimatbüros" in Sofia die von ihm angeführten organisatorischen Tätigkeiten der Beschaffung von Informationen und Wohnungen für neue Mitglieder sowie von Visen oder illegalen Ausreisewegen für Griechenland verrichtet hat. Eine zurechenbare Beteiligung an schweren nichtpolitischen Straftaten oder Handlungen entgegen den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen lässt sich für den Zeitraum vor der weiteren Ausbildung des Klägers im Irak im Frühjahr 1999 weder anhand der Angaben des Klägers feststellen noch aus den Ausführungen des angefochtenen Bescheides oder dem Vorbringen der Beklagten im gerichtlichen Verfahren ableiten. Im Zeitraum danach, von 1999 bis zu seiner Loslösung 2004, hat der Kläger eine politisch-ideologische Lehrtätigkeit sowie allgemeine organisatorische Arbeiten (Öffentlichkeitsarbeit, Verbindungen zur Zivilbevölkerung) für die im Nordirak zusammengezogenen Kräfte der PKK geleistet, wobei er nach eigenen Angaben auch die aus der Türkei abgezogenen bewaffneten Kämpfer in den von ihm aufgeführten sozialwissenschaftlichen Fächern unterrichtet hat. Hierin sieht der Senat noch keine hinreichende objektive oder subjektive Unterstützung von Handlungen der PKK, welche einen Ausschlusstatbestand verwirklichen. Diese Tätigkeit ist vor dem Hintergrund der bis zum Ausscheiden des Klägers im Jahre 2004 noch bestehenden einseitigen Waffenruhe der PKK zu sehen. Selbst wenn in besonderen Fällen die ideologische Unterstützung eines bewaffneten Kampfes ausreichen könnte, um eine individuelle Verantwortung im Sinne eines Ausschlussgrundes für die Flüchtlingsanerkennung nach Art. 2 der Qualifikationsrichtlinie zu begründen, müsste sie jedenfalls eine inhaltliche Ausrichtung auf die Anwendung gewaltsamer Mittel in der geforderten Qualität und auch zeitlich wie räumlich-organisatorisch eine hinreichende Nähe zu einem von der Organisation geführten gewaltsamen Kampf aufweisen. Andernfalls würde dem Ausschlusstatbestand eine ausufernde Weite beigemessen, die den Kriterien für eine Zurechnung der tatsächlichen Verwirklichung von entsprechenden Handlungen der Organisation im Sinne der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie durch den EuGH nicht gerecht würde. Eine Zurechenbarkeit terroristischer Handlungen kann deshalb nicht bereits aus der aktiven Unterstützung einer generell auf terroristische Handlungen ausgerichteten Organisation abgeleitet werden (vgl. aber OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09.03.2011 – 11 A 1439/07.A -, DVBl. 2011, 719, Juris Rn. 56). Soweit nicht bereits gewichtige Anhaltspunkte für eine persönliche Beteiligung des Betreffenden am bewaffneten Kampf der Organisation vorliegen, die im Rahmen der geforderten Einzelfallprüfung eine objektive und subjektive Zurechenbarkeit schwerer Gewalttaten der Organisation rechtfertigen, wird eine persönliche Verantwortlichkeit im Sinne eines Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 AsylVfG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie regelmäßig einen wesentlichen sonstigen (logistischen, organisatorischen oder auch unmittelbar ideologischen, d.h. zu terroristischen Taten aufrufenden) Beitrag zur Durchführung entsprechender Verbrechen im Bewusstsein von deren Erleichterung voraussetzen (vgl. OVG Lüneburg, Urt.
v. 11.08.2010 – 11 LB 405/08). Davon ist beim Kläger nach allem, was dem Senat über seine Tätigkeit und die Ausrichtung der PKK in deren Zeitraum bekannt ist, aber nicht auszugehen.

53

Auch eine Zurechnung von Verantwortung über eine exponierte Funktionärsposition, die ihm Befehls- oder Mitentscheidungsgewalt über terroristische Akte der Organisation verliehen hätte, kommt für den Kläger nicht in Betracht. Insoweit wäre ohnehin lediglich der Zeitraum von der Übertragung der Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit nach der Militärkonferenz 2003 bis zur Loslösung des Klägers von der PKK Mitte 2004 relevant. Davor erfüllten weder die Tätigkeit des Klägers als Leiter des - im Wesentlichen nur aus seiner Person bestehenden - Heimatbüros in Sofia noch die Ausbildungstätigkeit als einer von mehreren Lehrpersonen die Voraussetzungen einer hervorgehobenen Funktionärsrolle. Dass der Kläger über seinen Arbeitsbereich der politischen Bildung und Öffentlichkeitsarbeit hinaus in Entscheidungen über bewaffnete Aktivitäten der PKK in dem – in die einseitige "Waffenruhe" fallenden, vgl. etwa ACCORD, KurdInnen in der Türkei, Juni 2009, S. 35 – Zeitraum seines Aufenthaltes im Nordirak eingebunden gewesen wäre, haben weder die Beklagte noch der Senat festgestellt. Im Übrigen weist auch die "Chronologie der Kurden", auf die die Beklagte im Berufungsverfahren zum Beleg von auch während der Waffenruhe der PKK von dieser verübten terroristischen Taten verwiesen hat, zwischen Juli 1999 und Juni 2004 - also im Wesentlichen dem Zeitraum des Aufenthaltes des Klägers im Nordirak - keine derartigen terroristischen Übergriffe der PKK auf, sondern eine Vielzahl von Zusammenstößen mit türkischen Sicherheitskräften mit Verlusten auf beiden Seiten. Nach Darstellung des Bundesamtes für Verfassungsschutz bestand der bewaffnete Arm der PKK/HPG ab 2000 bis Juni 2004 grundsätzlich nur noch zu Verteidigungszwecken etwa im Falle eines Angriffs durch das türkische Militär; gleichwohl sei im Krisengebiet immer wieder auch offensiv operiert worden (BfV, Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL) - Strukturen, Ziele, Aktivitäten, März 2007. S. 12). Allein die Teilnahme an einer Militärkonferenz stellt allerdings noch kein ausreichendes Indiz für eine Mitentscheidungsgewalt über bewaffnete Aktionen dar, zumal der Kläger vorgetragen hat, dass dort auch einfache Mitglieder teilnehmen konnten. Und schließlich ist der vom Kläger sowohl in seiner Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der Berufungsverhandlung vorgetragene unmittelbare telefonische Kontakt mit dem damaligen Hauptverantwortlichen der PKK im Irak, Murat Karayilan, zwar ein Hinweis darauf, dass er in seiner Verantwortung für die Öffentlichkeitsarbeit eine nahe an diesem angesiedelte Stabsfunktion innehatte. Eine hinreichende Grundlage für die objektive und subjektive Zurechnung von Verantwortung selbst für (allenfalls vereinzelte) operativ-militärische Aktivitäten der PKK in jenem Zeitraum ergibt sich daraus aber noch nicht.

54

Ob für den Kläger auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, kann offenbleiben, da über seinen diesbezüglichen, im Berufungsverfahren gestellten Hilfsantrag wegen des Erfolges des auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG gerichteten Hauptantrages nicht mehr zu entscheiden ist. Die Feststellung in Ziff. 3 des angefochtenen Bescheides, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen, ist aufzuheben.

55

Das Urteil des Verwaltungsgerichts war daher mit den sich aus § 83b AsylVfG und § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolgen abzuändern.

56

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

57

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO sind nicht gegeben.


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.