Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 18. Sept. 2006 - 3 Ws 351/06

18.09.2006

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Verfügung des Vorsitzenden des Bezirksjugendschöffengerichts des Amtsgerichts M. vom 04. Mai 2006 aufgehoben.

Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt S A in M. als Verteidiger für das Revisionsverfahren bestellt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

 
I.
Gegen den 16 Jahre alten Angeklagten wurde durch -nicht rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts -Bezirksjugendschöffengericht -M. vom 14.03.2006 wegen Diebstahls in zwei Fällen auf die Jugendstrafe von sechs Monaten erkannt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Angeklagte beantragte mit am 03.04.2006 eingekommenem Schriftsatz seines Wahlverteidigers dessen Beiordnung als notwendiger Verteidiger für das Revisionsverfahren. Mit Verfügung vom 04.05.2006 lehnte der Jugendschöffengerichtsvorsitzende den Antrag ab. Die dagegen erhobene Beschwerde des Angeklagten, der nicht abgeholfen wurde, hat Erfolg.
II.
Zur Entscheidung über die zulässige Beschwerde ist der für die Hauptsache zuständige Senat in entsprechender Anwendung der §§ 305 a Abs. 2, 464 Abs. 3 Satz 3 StPO, 59 Abs. 5 JGG, 8 Abs. 3 Satz 2 StrEG berufen.
Das Rechtsmittel ist begründet. Dem Angeklagten ist -unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung -antragsgemäß der bisherige Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.
Die Bestellung eines Verteidigers im Revisionsverfahren richtet sich nach § 140 Abs. 2 StPO (Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 140 Rdnr. 8, 29 mwN), im jugendgerichtlichen Verfahren -wie hier -in Verbindung mit § 68 JGG. Danach ist die Verteidigung als notwendig anzusehen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann oder wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.
Während die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sache in tatsächlicher Hinsicht die Bestellung eines Verteidigers nicht gebieten, bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der jugendliche Angeklagte nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Dies leitet sich nicht aus der Komplexität des Revisionsrechts und der daraus resultierenden allgemein vorhandenen Schwierigkeit, eine Revision zu begründen, her. Denn die in § 345 Abs. 2 StPO vorgesehene Möglichkeit, die Revisionsanträge und ihre Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle zu erklären, wird vom Gesetz als gleichwertig erachtet (OLG Hamm NStZ 1982, 345; OLG Koblenz wistra 1983, 122). Für die Entscheidung des Senats war vielmehr der Umstand maßgebend, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Jugendlichen mit erheblichen Defiziten im Bereich der schulischen Ausbildung und im Sozialverhalten handelt. Jedenfalls zur Erhebung einer Verfahrensrüge und der schwerpunktmäßig die Rechtsfolgen betreffenden Sachrüge -wie in der Rechtfertigungsschrift des Wahlverteidigers vom 25.04.2006 ausgeführt -war die Mitwirkung eines Verteidigers geboten, weil insoweit Erwägungen zur persönlichen Entwicklung des Angeklagten notwendigerweise anzustellen waren, deren Darlegung gegenüber dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle den Angeklagten überfordert hätte. Um dem Gebot eines fairen Verfahrens zu entsprechen, war dem Angeklagten für das noch nicht abgeschlossene Revisionsverfahren der Pflichtverteidiger zu bestellen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 18. Sept. 2006 - 3 Ws 351/06

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 18. Sept. 2006 - 3 Ws 351/06

Referenzen - Gesetze

Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 18. Sept. 2006 - 3 Ws 351/06 zitiert 7 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 467 Kosten und notwendige Auslagen bei Freispruch, Nichteröffnung und Einstellung


(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zu

Strafprozeßordnung - StPO | § 345 Revisionsbegründungsfrist


(1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Die Revisionsbegründungsfrist verlängert sich, wenn d

Strafprozeßordnung - StPO | § 140 Notwendige Verteidigung


(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn 1. zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last g

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 68 Notwendige Verteidigung


Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn 1. im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde,2. den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nach diesem Gesetz entzogen

Referenzen

(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn

1.
zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;
2.
dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird;
3.
das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;
4.
der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist;
5.
der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet;
6.
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt;
7.
zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird;
8.
der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist;
9.
dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist;
10.
bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint;
11.
ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt.

(2) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

(3) (weggefallen)

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn

1.
im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde,
2.
den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nach diesem Gesetz entzogen sind,
3.
die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nach § 51 Abs. 2 von der Verhandlung ausgeschlossen worden sind und die Beeinträchtigung in der Wahrnehmung ihrer Rechte durch eine nachträgliche Unterrichtung (§ 51 Abs. 4 Satz 2) oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person nicht hinreichend ausgeglichen werden kann,
4.
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten (§ 73) seine Unterbringung in einer Anstalt in Frage kommt oder
5.
die Verhängung einer Jugendstrafe, die Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist.

(1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Die Revisionsbegründungsfrist verlängert sich, wenn das Urteil später als einundzwanzig Wochen nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden ist, um einen Monat und, wenn es später als fünfunddreißig Wochen nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden ist, um einen weiteren Monat. War bei Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung des Urteils und in den Fällen des Satzes 2 der Mitteilung des Zeitpunktes, zu dem es zu den Akten gebracht ist.

(2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.

(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last.

(2) Die Kosten des Verfahrens, die der Angeschuldigte durch eine schuldhafte Säumnis verursacht hat, werden ihm auferlegt. Die ihm insoweit entstandenen Auslagen werden der Staatskasse nicht auferlegt.

(3) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeschuldigte die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er in einer Selbstanzeige vorgetäuscht hat, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Das Gericht kann davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er

1.
die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat, oder
2.
wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.

(4) Stellt das Gericht das Verfahren nach einer Vorschrift ein, die dies nach seinem Ermessen zuläßt, so kann es davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen.

(5) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn das Verfahren nach vorangegangener vorläufiger Einstellung (§ 153a) endgültig eingestellt wird.