Oberlandesgericht Bamberg Beschluss, 27. Aug. 2018 - 2 Ss OWi 973/18

bei uns veröffentlicht am27.08.2018

Gericht

Oberlandesgericht Bamberg

Tatbestand

Wegen fahrlässigen Führens eines Kfz im Straßenverkehr mit einer Atemalkoholkonzentration (AAK) von 0,25 mg/l oder mehr bzw. einer zu einer solchen AAK führenden Alkoholmenge im Körper (§ 24 a I, III StVG) verurteilte das AG den Betr. am 24.04.2018 zu einer Geldbuße von 500 € und ordnete gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 IIa 1 StVG an. Das AG hat seine Überzeugung davon, dass der im Zeitpunkt der AAK-Messung am 18.02.2017 mit dem Messgerät Dräger Alcotest 9510 eine AAK von 0,54 mg/l aufweisende Betr. am Tattag gegen 14.40 Uhr mit dem verfahrensgegenständlichen Pkw in H. gefahren ist, mit den Aussagen der als Zeugen vernommenen Polizeibeamten K. und L. begründet. Diese hätten den Betr. zwar nicht „fahren sehen“, jedoch habe der Betr. gegenüber den Zeugen angegeben, „dass er mit dem Pkw gefahren sei.“ Mit seiner gegen das vorgenannte Urteil eingelegten Rechtsbeschwerde rügt der Betr. die Verletzung formellen und materiellen Rechts, wobei er mit der Verfahrensrüge beanstandet, dass das AG die Verurteilung auf die Aussagen der Zeugen K. und L. über seine Angaben bei seiner ersten Befragung beim Antreffen an der Wohnung gestützt habe, obwohl er vor der Befragung von den beiden Polizeibeamten nicht über sein Schweigerecht belehrt worden sei. Das Rechtsmittel führte zur Urteilsaushebung und Zurückverweisung des Sache an das AG.

Gründe

I.

Die gemäß § 79 I 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, das AG habe bei der Urteilsfindung rechtsfehlerhaft die Aussagen der Zeugen K. und L. zu den Angaben des Betr. im Rahmen seiner ersten Befragung beim Antreffen an der Wohnung verwertet, obwohl dieser als Betr. hätte vernommen und dementsprechend belehrt werden müssen (§§ 55, 46 I OWiG i.V.m. §§ 136 I 2, 163a IV 2 StPO).

1. Der Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde: Am 18.02.2017 gegen 14.40 Uhr teilte die Ehefrau des Betr. der Polizei telefonisch mit, dass ihr Ehemann alkoholisiert mit dem verfahrensgegenständlichen Pkw Audi A4 weggefahren und unterwegs sei; er wolle zu einem Getränkemarkt fahren. Nachdem „man sich zunächst auf wohnortnahe Getränkemärkte“ konzentriert hatte, suchten die beiden Streifenbeamten und Zeugen die Wohnung des Betr. auf. Dort öffnete ihnen die Ehefrau, sodann kam der nahezu gleichzeitig mit der Polizei eingetroffene bzw. soeben erst nach Hause gekommene Betr. hinzu, bei dem - so der bei der Akte befindliche Aktenvermerk des POM K. vom 02.06.2017 - „deutlicher Alkoholgeruch wahrnehmbar war“. Die Polizeibeamten oder einer von ihnen befragten den Betr., wo er herkomme und wo sich sein Auto befinde. Der Betr. beantwortete diese Fragen „in der Form“, „dass er vom Getränkemarkt komme und sein Auto sodann in der Tiefgarage abgestellt habe“. Im Anschluss hieran fanden ein Atemalkoholvortest und, nachdem der Betr. als Beschuldigter belehrt worden war, ab 15.26 Uhr die AAK-Messung mit dem Messgerät ‚Dräger Alcotest 9510‘ statt. Um 15.34 Uhr erfolgte eine förmliche Betroffenenanhörung, in welcher der Betr. das Führen seines Pkws nach Alkoholgenuss einräumte. In der Hauptverhandlung vom 24.04.2018 wurden die Zeugen K. und L. insbesondere zu den Angaben vernommen, die der Betr. ihnen gegenüber beim Eintreffen an der Wohnadresse gemacht hatte. Ausweislich der Urteilsgründe bekundete der Zeuge K. u.a., dass der Wohnort des Betr. angefahren und an der Wohnadresse geklingelt worden sei. Die Türe sei durch die Ehefrau des Betr. geöffnet worden und der Betr. sei nach kurzer Zeit in Erscheinung getreten, wobei erkennbar gewesen sei, dass der Betr. soeben erst nach Hause gekommen sei. Sodann sei der Betr. befragt worden, wo er herkomme und wo sich sein Auto befinde. Dies habe der Betr. in der Form beantwortet, dass er vom Getränkemarkt komme und sein Auto sodann in der Tiefgarage abgestellt habe. Dabei habe der Zeuge K. keine Ausfallerscheinungen feststellen können. Ferner bekundete der Zeuge K. im Rahmen der Hauptverhandlung zunächst, dass er keinen Alkoholgeruch habe feststellen können, als er mit dem Betr. sprach. Auf Vorhalt des Vermerks vom 02.06.2017 war sich der Zeuge K. insoweit jedoch nicht mehr sicher. Sodann sei nach Durchführung eines freiwilligen Atemalkoholvortests der Betr. „als Beschuldigter belehrt“ worden. Auch der Zeuge L. machte offenbar zumindest ähnliche Angaben, wenn das amtsgerichtliche Urteil, bezogen auf die Zeugen K. und L., ausführt, der Betr. habe „gegenüber den Zeugen“ angegeben, dass er mit dem Pkw gefahren sei. Der Verteidiger widersprach nach der Vernehmung der Zeugen in der Hauptverhandlung […] jeweils der Verwertung der Angaben der Zeugen, da der Betr. vor seiner Befragung beim Antreffen an der Wohnung über seine Aussagefreiheit hätte belehrt werden müssen. Dennoch verwertete das AG die diesbezüglichen Aussagen der Zeugen K. und L. und stützte die Verurteilung des Betr. hierauf. Die förmliche Betroffenenanhörung vom 18.02.2017 hat das AG nicht herangezogen. Ob und wie sich der Betr. ggf. in der Hauptverhandlung […] eingelassen hat, teilt das Urteil nicht mit.

2. Die von der Rechtsbeschwerde in noch zulässiger Weise (§ 344 II 2 StPO i.V.m. § 79 III 1 OWiG) erhobene Verfahrensrüge zeigt auf, dass bei der ersten Befragung des Betr. beim Antreffen an der Wohnung durch die Polizeibeamten in unzulässiger Weise in dessen Recht, sich nicht zur Sache äußern zu müssen (§§ 55, 46 I OWiG i.V.m. §§ 136 I 2, 163a IV 2 StPO), eingegriffen wurde. Bereits bei dieser ersten Befragung kam dem Befragten nämlich die Rolle eines Betroffenen zu, sodass für eine informatorische Befragung (vgl. Göhler/Gürtler OWiG 17. Aufl. § 55 Rn. 24) kein Raum mehr war. Im Einzelnen:

a) Zwar begründet nicht jeder unbestimmte Tatverdacht bereits die Betroffeneneigenschaft mit der Folge einer entsprechenden Belehrungspflicht. Vielmehr kommt es auf die Stärke des Verdachts an. Es obliegt der Verfolgungsbehörde, nach pflichtgemäßer Beurteilung darüber zu befinden, ob sich dieser bereits so verdichtet hat, dass die vernommene Person ernstlich als Täter oder Beteiligter der untersuchten Tat in Betracht kommt. Falls der Tatverdacht aber so stark ist, dass die Verfolgungsbehörde anderenfalls (objektiv) willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn der Betroffene ohne Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht vernommen wird (grundlegend BGH, Beschluss vom 27.02.1992 - 5 StR 190/91 = BGHSt 38, 214 = NJW 1992, 1463 = ZfS 1992, 176 = StV 1992, 212 = NStZ 1992, 294 = NZV 1992, 242 = wistra 1992, 187; vgl. auch BGH, Beschluss vom 09.06.2009 - 4 StR 170/09 = NJW 2009, 3589 = NStZ 2009, 702 = wistra 2009, 482 = StV 2010, 4 = BGHR StPO § 136 Belehrung 16; BGH, Beschluss vom 18.07.2007 - 1 StR 280/07 = NStZ 2008, 48.; BGH, Urt. v. 03.07.2007 - 1 StR 3/07 = BGHSt 51, 367 = NJW 2007, 2706 = StV 2007, 450 = NStZ 2007, 653 = wistra 2007, 433 = BGHR StPO § 136 Beschuldigter 2 = NStZ 2008, 49; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16.08.2010 - 1 Ss Bs 2/10 = VRS 119 [2010], 358 = BA 47 [2010], 420 = OLGSt StPO § 81a Nr 13).

b) Vorliegend wurde diese Grenze des Beurteilungsspielraums durch die ermittelnden Polizeibeamten in objektiv nicht mehr vertretbarer Weise überschritten. Der Tatverdacht des Führens eines Kfz nach Alkoholgenuss in zumindest für das Vorliegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (§ 24a StVG) relevanter Menge hatte sich gegenüber dem Betr. nämlich im Zeitpunkt seiner ersten Befragung an bzw. in seiner Wohnung bereits in solchem Maße verdichtet, dass eine Belehrung des Betr. über die bestehende Aussagefreiheit unumgänglich war. Dies ergeben die vom Senat freibeweislich zu würdigenden Umstände des vorliegenden Falles, wie sie aus der Akte und dem Urteil ersichtlich sind. Die Zeugen K. und L. hatten als ermittelnde Polizeibeamte nach der Mitteilung des gegenüber dem Betr. bestehenden Tatverdachts, der sich darauf gründete, dass ihn seine Ehefrau gegenüber der Polizei einer Trunkenheitsfahrt bezichtigt hatte (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 07.05.2009 - 3 Ss 85/08 = NStZ-RR 2009, 283 = StV 2010, 5), die Wohnung des Betr. aufgesucht. Sie trafen dort den Betr. an, der gerade eingetroffen war […], also - wie von der Ehefrau telefonisch mitgeteilt - unterwegs gewesen war, und von dem - so zumindest der eindeutige Aktenvermerk vom 02.06.2017 - „deutlicher Alkoholgeruch wahrnehmbar war“. Den Polizeibeamten waren damit Umstände bekannt, die den Tatverdacht über einen allgemeinen Tatverdacht hinaus gegenüber dem Betr. signifikant verstärkt hatten. Dem Inhalt des Aktenvermerks in Bezug auf die Wahrnehmung deutlichen Alkoholgeruchs wird […] angesichts seiner Unmissverständlichkeit auch durch die relativierenden Angaben des Zeugen K. in der Hauptverhandlung nicht die Grundlage entzogen. Der Betr. wäre somit ausdrücklich und unmissverständlich auf seine Aussagefreiheit hinzuweisen gewesen. Die Grenzen der informellen bzw. informatorischen Befragung waren im vorliegenden Fall eindeutig überschritten.

3. Der aufgezeigte Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit führt zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich der Angaben des Betr. gegenüber den Polizeibeamten bei seiner ersten Befragung beim Antreffen an der Wohnung.

a) Zwar zieht nicht jedes Verbot, einen Beweis zu erheben, ohne weiteres auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Vielmehr ist je nach den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte und der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Bedeutsam sind dabei insbesondere die Art und der Schutzzweck des etwaigen Beweiserhebungsverbotes sowie das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes, das seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall Betr. Rechtsgüter bestimmt wird. Ein Verwertungsverbot liegt jedoch stets dann nahe, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren zu sichern. So verhält es sich hier. Die von § 136 I 2 StPO geschützten Beschuldigtenrechte gehören zu den wichtigsten verfahrensrechtlichen Prinzipien (BGH, Urt. v. 27.06.2013 - 3 StR 435/12 = BGHSt 58, 301 = NJW 2013, 2769 = NStZ 2013, 604 = wistra 2013, 434 = StV 2013, 737 = BGHR StPO § 136 Aussagefreiheit 3 [Gründe]). Durch sie wird sichergestellt, dass ein Beschuldigter nicht nur Objekt des Strafverfahrens ist, sondern zur Wahrung seiner Rechte auf dessen Gang und Ergebnis Einfluss nehmen kann (vgl. BGH, Urt. v. 29.10.1992 - 4 StR 126/92 = BGHSt 38, 372 = StV 1993, 1 = NJW 1993, 338 = wistra 1993, 69 = NStZ 1993, 142 = BGHR StPO § 136 Abs 1 [Verteidigerbefragung 1]). Die Belehrungspflicht nach §§ 136 I 2, 163a IV 2 StPO schützt mithin die Selbstbelastungsfreiheit, die im Strafverfahren von überragender Bedeutung ist: Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare), zählt zu den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er ist verfassungsrechtlich abgesichert durch die gem. Art. 1, 2 I GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und gehört zum Kernbereich des von Art. 6 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren. Aus diesem Grund wiegt ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht schwer (BGH a.a.O. m.w.N.). Daher führt es jedenfalls im Strafverfahren regelmäßig zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn die Grenzen des den Strafverfolgungsbehörden bei der Beurteilung der Beschuldigteneigenschaft eingeräumten Beurteilungsspielraums überschritten und auf diese Weise die Beschuldigtenrechte umgangen werden (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 07.09.2017 - 1 StR 186/17 = wistra 2018, 91 [unter Hinweis auf BGHSt 37, 48, 51 f. und BGHR StPO § 136 Belehrung 6; vgl. auch BGH StraFo 2005, 27).

b) Das Verwertungsverbot wegen unterbliebener Belehrung eines Betr. gilt nach ganz h.M. im Schrifttum (BeckOK-OWiG/Straßer [19. Ed.-Stand: 15.06.2018] § 55 Rn. 38 ff.; Rebmann/Roth/Herrmann-Hannich OWiG [Stand: Mai 2017] § 55 Rn. 9a; KK-OWiG/Lutz 5. Aufl. § 55 Rn. 16; siehe auch Hecker NJW 1997, 1833 und Brüssow StraFo 1998, 294) auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren. Zwar hat der Bundesgerichtshof die Frage ausdrücklich offen gelassen, ob das im Strafverfahren anzunehmende Verwertungsverbot für Äußerungen, die ein Beschuldigter in der ohne Belehrung durchgeführten Vernehmung gemacht hat, auch im Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten gilt (BGH, Beschluss vom 27.02.1992 - 5 StR 190/91 a.a.O.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 05.10.1994 - Ss 425/94 = VRS 88, 286; KK-OWiG/Lutz a.a.O.). Allerdings kann im Bußgeldverfahren hinsichtlich der unterbliebenen Belehrung eines Betr. über sein Schweigerecht nichts anderes gelten als im Strafverfahren. Zwar mag sich das Problem eines Beweisverwertungsverbotes insbesondere bei den massenhaft auftretenden Verkehrsordnungswidrigkeiten regelmäßig dadurch erübrigen, dass den Betr. in diesen Fällen ein Anhörungsbogen mit einer entsprechenden schriftlichen Belehrung übersandt wird. Auch mag das Anhörungserfordernis im Ordnungswidrigkeitenverfahren teilweise Erleichterungen unterliegen. Dies darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zweck der Belehrung derselbe ist (BeckOK-OWiG/Straßer § 55 Rn. 42). Im Falle einer - wie hier - mündlichen Anhörung ergibt sich für den Betr. dieselbe Situation wie für einen Beschuldigten, so dass auch der für das Bußgeldverfahren geltende Anspruch auf ein faires Verfahren, der den Hinweis auf das Schweigerecht gebietet, bei unterbliebener Belehrung grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot führt (vgl. KK-OWiG/Lutz a.a.O.). Die Gesichtspunkte, die im Strafverfahren für ein Verwertungsverbot sprechen, sind auch im Bußgeldverfahren von Gewicht. Der Betr. befindet sich hier häufig ebenso wie der Beschuldigte im Strafverfahren unvorbereitet und ohne Ratgeber in einer für ihn ungewohnten Lage. Unbeschadet der geringeren Eingriffstiefe im Ordnungswidrigkeitenverfahren besteht vor diesem Hintergrund kein sachlich überzeugender Grund dafür, weshalb die Verletzung gesetzlicher Pflichten durch die Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren weniger schwer wiegt als im Strafverfahren (Blum/Gassner/Seith OWiG [2015] § 55 Rn. 11). Allerdings ist unbestritten, dass ein Beweisverwertungsverbot dann nicht anzunehmen ist, wenn der Betr. sein Schweigerecht auch ohne Belehrung gekannt hat (KK-OWiG/Lutz a.a.O. m.w.N.); der weitergehenden Annahme von Göhler, dass dies im Ordnungswidrigkeitenverfahren in einfachen Fällen bei Betr. mit einem durchschnittlichen Intelligenzgrad, aber auch in bedeutsamen Fällen (so namentlich im Wirtschaftsrecht) bei versierten Betr. „in der Regel“ anzunehmen sei (vgl. Göhler NStZ 1994, 71/72; ihm folgend wohl Göhler/Gürtler OWiG § 55 Rn. 9), ist nicht zu folgen, da diese Annahme letztlich einer tragfähigen und nachvollziehbaren Begründung entbehrt und in der Praxis zu schwierigen Abgrenzungsfragen führt. Daher gebietet es schon die Rechtssicherheit, den Betr. stets über seine Aussagefreiheit zu belehren (BeckOK-OWiG/Straßer Rn. 41 f.; vgl. auch Brüssow a.a.O. S. 295 und Hecker a.a.O. S. 1834). Hinweise darauf, dass der Betr. sein Schweigerecht auch ohne Belehrung gekannt hat, bestehen im vorliegenden Fall jedenfalls nicht.

4. Das […] Urteil beruht auch auf der Verwertung der Aussagen der Zeugen K. und L. über die Angaben, die der Betr. ihnen gegenüber beim Antreffen an seiner Wohnanschrift gemacht hat. Der Tatrichter hat die Aussagen der Zeugen K. und L. insoweit als verwertbar beurteilt und seine Überzeugung von der Täterschaft des Betr. ausdrücklich darauf gestützt. Die förmliche Betroffenenanhörung vom 18.02.2017 um 15.34 Uhr, in der der Betr. nach Belehrung über sein Schweigerecht eingeräumt hat, am 18.02.2017 nach Alkoholgenuss sein Kfz geführt zu haben, zieht das AG für seine Überzeugungsbildung dagegen nicht heran. Lediglich ergänzend ist insoweit anzumerken, dass bei Zugrundelegung der verfahrensgegenständlichen Auffassung des Senats zum Bestehen eines Verwertungsverbotes und einer sodann ggf. erfolgenden Heranziehung der förmlichen Betroffenenanhörung vom 18.02.2017, 15.34 Uhr, sich u.U. die Frage einer qualifizierten Belehrung stellen wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 61. Aufl. § 136 Rn. 9).

II.

Wegen des aufgezeigten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben (§ 79 III 1 OWiG, § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das AG zurückverwiesen (§ 79 VI OWiG). Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, da der Senat nicht ausschließen kann, dass sich das AG ohne die unverwertbaren Erkenntnisse dennoch von einer Täterschaft des Betr. hätte überzeugen können, wenn es weitere Beweismittel ausgeschöpft hätte. So dürften etwa die Angaben der Ehefrau des Betr. verwertbar sein, die sie bei ihrer unaufgeforderten telefonischen Mitteilung an die Polizei gemacht hat, und die jedenfalls durch Vernehmung des den betreffenden Anruf entgegennehmenden Beamten vom AG für eine Gewinnung weiterer Erkenntnisse herangezogen werden können. […]

III. 

Über die ihm gemäß § 80a III 1 OWiG übertragene Rechtsbeschwerde entscheidet der Senat in der Besetzung mit 3 Richtern.

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Straßenverkehrsgesetz - StVG | § 24a 0,5 Promille-Grenze


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Strafprozeßordnung - StPO | § 136 Vernehmung


(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern

Strafprozeßordnung - StPO | § 81a Körperliche Untersuchung des Beschuldigten; Zulässigkeit körperlicher Eingriffe


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Gesetz über Ordnungswidrigkeiten - OWiG 1968 | § 55 Anhörung des Betroffenen


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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 170/09
vom
9. Juni 2009
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
Zur Belehrungspflicht bei sog. Spontanäußerungen eines Verdächtigen
BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 – 4 StR 170/09 – LG Paderborn
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 9. Juni 2009 gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 19. Dezember 2008 wird als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass von der Strafe ein Jahr und drei Monate vor der Unterbringung zu vollziehen sind. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, soweit die Revision mit ihr beanstandet, die Strafkammer habe Angaben des Angeklagten gegenüber der Polizei, insbesondere solche aus Anlass seiner Vernehmung am 22. August 2008, verwertet, ohne dass dieser gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt worden sei.
3
1. Die Revision trägt hierzu folgenden Verfahrensablauf vor:
4
Noch in der Tatnacht habe der Angeklagte in Begleitung seiner Ehefrau die Polizeiwache in D. aufgesucht, um sich zu stellen. Ohne vorherige Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter habe er die Tat zugegeben, woraufhin er wegen des dringenden Verdachts eines Tötungsdelikts vorläufig festgenommen worden sei. Er sei dann mit einem Polizei-Pkw zur Kreispolizeibehörde in H. gebracht worden und habe auf der Fahrt gegenüber den Polizeibeamten Einzelheiten des Tatgeschehens geschildert. Erst dort seien ihm nach ärztlicher Feststellung seiner Vernehmungsfähigkeit von den Kriminalbeamten L. und R. unter erneuter Eröffnung des Tatvorwurfs seine Rechte als Beschuldigter erläutert worden. Der Angeklagte habe daraufhin erklärt, den Polizeibeamten doch schon alles gesagt zu haben; er wolle jetzt keine Aussage mehr machen, sondern alles über seinen Anwalt regeln. Von dem Kriminalbeamten L. sinngemäß darauf hingewiesen, eine mögliche Aussage könne auch seiner Entlastung dienen und entlastende Angaben könnten bei der - zum damaligen Zeitpunkt noch andauernden - Spurensuche am Tatort berücksichtigt werden, habe der Angeklagte geäußert, dann könne er auch jetzt einfach alles erzählen. Die umfangreichen Angaben des Angeklagten wurden sodann von den vernehmenden Beamten in einem Vermerk niedergelegt.
5
Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, er habe den Geschädigten zu keinem Zeitpunkt lebensbedrohlich verletzen wollen, sondern sich lediglich gegen dessen Schläge und Tritte gewehrt, als widerlegt angesehen. Seine Überzeugung, der Angeklagte habe mit seinem Messer zielgerichtet und deshalb zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des Geschädigten eingestochen, hat es auch auf die Bekundungen der in der Hauptverhandlung vernommenen Kriminalbeamtin R. gestützt. Diese hat in der Hauptverhandlung u.a. über die in ihrem Vermerk niedergelegten Angaben des Angeklagten vom 22. August 2008 ausgesagt. Insoweit hat der Angeklagte der Vernehmung widersprochen und einen Gerichtsbeschluss herbeigeführt.
6
2. Allerdings hätte der Angeklagte, wie die Revision zutreffend ausführt, nicht erst durch die Kriminalbeamten L. und R. , sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt werden müssen.
7
Gegen die Verwertung der Aussage der Kriminalbeamtin R. auch hinsichtlich der Angaben des Angeklagten in der Beschuldigtenvernehmung vom 22. August 2008 bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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a) Die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO soll sicherstellen, dass ein Beschuldigter nicht im Glauben an eine vermeintliche Aussagepflicht Angaben macht und sich damit unfreiwillig selbst belastet (vgl. BGHSt [GS] 42, 139, 147; BayObLG NStZ-RR 2001, 49, 51). Für den Fall der von einem Polizeibeamten durchgeführten Befragung von Auskunftspersonen ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum einen die Stärke des Tatverdachts , den der Beamte gegenüber dem Befragten hegt, bedeutsam für die Entscheidung, von welchem Zeitpunkt an die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO erforderlich ist (BGHSt 38, 214, 227 f.). Hierbei hat der Beamte einen Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den Zeitpunkt der erforderlichen Belehrung möglichst weit hinauszuschieben (BGH aaO; vgl. auch BGH NStZ 1983, 86). Daneben ist zum anderen von Bedeutung, wie sich das Verhalten des Beamten aus Sicht des Befragten darstellt. Polizeiliche Verhaltensweisen wie die Mitnahme eines Befragten zur Polizeiwache, die Durchsuchung seiner Wohnung oder seine vorläufige Festnahme belegen dabei schon ihrem äußeren Befund nach, dass der Polizeibeamte dem Befragten als Beschuldigten begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen (BGHSt 38, 214, 228; 51, 367, 370 f.).
9
Ob die vorstehend dargelegten Grundsätze ohne Einschränkung auch dann gelten, wenn der Polizeibeamte keine gezielte Befragung durchführt, sondern lediglich passiv spontane Äußerungen eines Dritten entgegennimmt, mit denen sich dieser selbst belastet, ist in der Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt. Eine Verwertbarkeit solcher Äußerungen trotz fehlender Belehrung über die Beschuldigtenrechte wird in der Regel für zulässig gehalten, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Belehrungspflichten nach § 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a Abs. 2 Satz 2 StPO gezielt umgangen wurden, um den Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verleiten (BGH NStZ 1983, 86; BGH NJW 1990, 461; vgl. auch BayObLG aaO; OLG Oldenburg NStZ 1995, 412; Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 a Rn. 16; Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 136 a Rn. 4).
10
b) Dieses erschiene jedoch zumindest dann bedenklich, wenn sich - wie hier von der Verteidigung behauptet - Polizeibeamte von einem Tatverdächtigen nach pauschalem Geständnis einer schweren Straftat und der unmittelbar darauf erfolgten Festnahme über eine beträchtliche Zeitspanne Einzelheiten der Tat berichten ließen, ohne den von ihnen ersichtlich als Beschuldigten behandelten Täter auf sein Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen. Ein solches Verhalten käme einer gezielten Umgehung zumindest äußerst nahe.
11
Einer näheren Aufklärung des Verhaltens der Polizeibeamten im Freibeweisverfahren bedarf es jedoch nicht, da das Urteil auf einem etwaigen Verfahrensverstoß nicht beruht. Die Angaben des Angeklagten gegenüber den Poli- zeibeamten bis zu seiner Ankunft in der Kreispolizeibehörde H. hat das Landgericht der Urteilsfindung nicht zu Grunde gelegt.
12
3. Gegen die Verwertung der Aussage der Zeugin R. bestehen zumindest im Ergebnis keine Bedenken.
13
a) Zwar hätte der Angeklagte - den Verfahrensverstoß unterstellt - zu Beginn seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Kriminalbeamten L. und R. am 22. August 2008 zusammen mit der Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO darauf hingewiesen werden müssen, dass wegen der bis dahin unterbliebenen Belehrung die zuvor gemachten Angaben unverwertbar seien (sog. qualifizierte Belehrung; vgl. BGH StV 2007, 450, 452, insoweit in BGHSt 51, 369 nicht abgedruckt; Senatsbeschluss NStZ 2009, 281). Daraus, dass dies nicht geschehen ist, würde jedoch nicht ohne Weiteres folgen, dass auch die Angaben, die der Angeklagte nach erfolgter Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter gegenüber den beiden Vernehmungsbeamten gemacht hat, einem Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot unterlagen. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll die in einem solchen Fall erforderliche (qualifizierte) Belehrung verhindern, dass ein Beschuldigter auf sein Aussageverweigerungsrecht nur deshalb verzichtet, weil er möglicherweise glaubt, eine frühere, unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO zustande gekommene Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaffen zu können. Da der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung nicht dasselbe Gewicht wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO hat, ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aussagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu ermitteln (BGH StV 2007, 450, 452; Senatsbeschluss aaO). Die Abwägung ist unter Berücksichtigung des Interesses an der Sachaufklärung einerseits sowie des Gewichts des Verfahrensverstoßes andererseits vorzunehmen (Senatsbeschluss aaO m.w.Nachw.). Sie ergibt hier, dass das Landgericht an einer Verwertung nicht gehindert war.
14
b) Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflichten auf der Polizeiwache in D. sowie auf dem Transport des Angeklagten nach H. ist nicht ersichtlich und wird auch von der Revision nicht behauptet. Es spricht auch nichts dafür, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter annahm, er könne von seinen Angaben gegenüber den im Polizei-Pkw anwesenden Beamten nicht mehr abrücken. Die anfänglich fehlende Aussagebereitschaft des Angeklagten sowie sein Hinweis auf die von ihm gewünschte Einschaltung eines Rechtsanwalts sind für eine solche Annahme ebenso wenig tragfähig wie seine Bemerkung, "dann könne er auch alles erzählen". Vielmehr rechtfertigt das von der Revision mitgeteilte Verfahrensgeschehen die Annahme des Landgerichts, wonach die Vernehmungsbeamten dieser Äußerung des Angeklagten dessen freiwilligen Entschluss entnehmen durften, nunmehr umfassend auszusagen.
15
Zu einer solchen Aussage ist der Angeklagte auch nicht in unzulässiger Weise gedrängt worden. Weder die Strafprozessordnung noch der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz eines fairen Verfahrens verbieten es, eine Vernehmung im Anschluss an eine anfängliche Aussageverweigerung fortzusetzen, solange nicht mit verbotenen Mitteln auf die Willensfreiheit des zu Vernehmenden und die Durchsetzbarkeit seines Aussageverweigerungsrechts eingewirkt wird (BGHSt 42, 170). Solche Mittel haben die Vernehmungsbeamten nicht eingesetzt. Die Bemerkung des Kriminalbeamten L. zur möglicherweise entlastenden Wirkung einer Aussage, verbunden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Verifikation von Einzelheiten während der noch andauernden Spurensuche am Tatort, stellte ersichtlich keine Irreführung dar. Es handelte sich vielmehr um einen neutralen, nach Lage der Dinge zumindest nicht fern liegenden Hinweis auf die möglichen Nachteile des Schweigens. Der Angeklagte, der sich einem schweren Tatvorwurf ausgesetzt sah, war so in der Lage, die möglichen Vorteile einer Verteidigung durch Einlassung zur Sache zu erfassen und zwischen Aussage und Schweigen eine informierte Entscheidung zu treffen (vgl. dazu Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 Rn. 34).
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.

(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.

(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

(5) § 58b gilt entsprechend.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 280/07
vom
18. Juli 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. Juli 2007 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 30. Oktober 2006 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift vom 21. Juni 2007 und den in sachgerechter Weise die prozessualen Abläufe darstellenden Ausführungen der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft München I vom 13. April 2007 bemerkt der Senat: Die Rüge, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft die damalige Zeugenvernehmung des jetzigen Angeklagten vom 16. März 2004 verwertet, bleibt ohne Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob die Rüge in zureichender Weise ausgeführt worden ist; jedenfalls ist die Rüge unbegründet. Rechtsfehlerhaft wäre die Verwertung dann, wenn bei der Vernehmung vom 16. März 2004 der als Zeuge belehrte Vernommene bereits damals die Stellung eines Beschuldigten gehabt hätte und deshalb nicht nach § 55 StPO, sondern nach § 136 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 163a Abs. 4 StPO zu belehren gewesen wäre. Der § 136 StPO zugrunde liegende Beschuldigtenbegriff vereinigt subjektive und objektive Elemente. Die Beschuldigteneigenschaft setzt - subjektiv - den Verfolgungswillen der Strafverfolgungsbehörde voraus, der sich - objektiv - in einem Willensakt manifestiert (vgl. BGHSt 38, 214, 228; BGH NJW 1997, 1591; Rogall in SK-StPO 52. Lfg. Vor § 133 Rdn. 33; vgl. auch § 397 Abs. 1 AO). Wird gegen eine Person ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, liegt darin ein solcher Willensakt. Andernfalls beurteilt sich dessen Vorliegen danach, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des davon Betroffenen darstellt (eingehend: Urteil des Senats vom 3. Juli 2007 - 1 StR 3/07, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Dieser Grundsatz gilt auch für Vernehmungen. Allerdings ergibt sich bereits aus §§ 55, 60 Nr. 2 StPO, dass im Strafverfahren auch ein Verdächtiger im Einzelfall als Zeuge vernommen werden darf, ohne dass er über die Beschuldigtenrechte belehrt werden muss (vgl. BGHSt 10, 8, 10; 17, 128, 133; Urteil des Senats vom 3. Juli 2007 aaO; ferner BVerfG [Kammer], Beschl. vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1513/05). Der Vernehmende darf dabei auch die Verdachtslage weiter abklären; da er mithin nicht gehindert ist, den Vernommenen mit dem Tatverdacht zu konfrontieren, sind hierauf zielende Vorhalte und Fragen nicht zwingend ein hinreichender Beleg dafür, dass der Vernehmende dem Vernommenen als Beschuldigten gegenübertritt. Der Verfolgungswille kann sich jedoch aus dem Ziel, der Gestaltung und den Begleitumständen der Befragung ergeben. Ergibt sich die Beschuldigteneigenschaft nicht aus einem Willensakt der Strafverfolgungsbehörden, kann - abhängig von der objektiven Stärke des Tatverdachts - unter dem Gesichtspunkt der Umgehung der Beschuldigtenrechte gleichwohl ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO vorliegen. Ob die Strafverfolgungsbehörde einen solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie einen Verdächtigen als Beschuldigten vernimmt, unterliegt ihrer pflichtgemäßen Beurteilung. Im Rahmen der gebotenen sorgfältigen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls kommt es dabei darauf an, inwieweit der Tatverdacht auf hinreichend gesicherten Erkenntnissen hinsichtlich Tat und Täter oder lediglich auf kriminalistischer Erfahrung beruht. Falls jedoch der Tatverdacht so stark ist, dass die Strafverfolgungsbehörde andernfalls willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn dennoch nicht zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird (vgl. BGHSt 37, 48, 51 f.; 38, 214, 228; BGH NJW 1994, 2904, 2907; 1996, 2663 f.; 1997, 1591; NStZ-RR 2002, 67 [bei Becker]; 2004, 368; Beschluss vom 25. Februar 2004 - 4 StR 475/03). Andererseits kann der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörde - zumal bei Tötungsdelikten - erst bei einem konkreten und ernsthaften Tatverdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten verpflichtet ist, für ihn auch eine schützende Funktion haben. Denn der Vernommene wird hierdurch nicht vorschnell mit einem Ermittlungsverfahren überzogen, das erhebliche nachteilige Konsequenzen für ihn haben kann (Senat aaO). Unter Berücksichtigung der vorgenannten Kriterien ergibt sich, dass zum Zeitpunkt der Vernehmung am 16. März 2004 der Geschädigte zwar bereits über einen Monat als vermisst gemeldet war, sein Tod war den ermittelnden Beamten jedoch noch nicht bekannt geworden. Vielmehr konnte, wie sich aus dem Vermerk des KHK K. vom 26. Juni 2004 ergibt, auch noch mehr als drei Monate nach der fraglichen Vernehmung mangels weiterer Erkenntnisse weder ein Unglücksfall noch eine Straftat ausgeschlossen werden. Letztlich blieb damals sogar die Möglichkeit offen, dass der Geschädigte noch lebte und lediglich unbekannten Aufenthalts war, da sein Tod den deutschen Ermittlungsbehörden erst im August 2004 bekannt wurde. Nach alledem ist es nicht zu beanstanden, dass bei der Vernehmung am 16. März 2004 keine Beschuldigtenbelehrung erfolgte.
Der Schriftsatz der Verteidigung vom 13. Juli 2007 lag dem Senat bei der Entscheidung vor. Wahl Boetticher Kolz Hebenstreit Graf

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.

(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.

(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

(5) § 58b gilt entsprechend.

(1) Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.

(2) Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) zu. Die Entnahme einer Blutprobe bedarf abweichend von Satz 1 keiner richterlichen Anordnung, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine Straftat nach § 315a Absatz 1 Nummer 1, Absatz 2 und 3, § 315c Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a, Absatz 2 und 3 oder § 316 des Strafgesetzbuchs begangen worden ist.

(3) Dem Beschuldigten entnommene Blutproben oder sonstige Körperzellen dürfen nur für Zwecke des der Entnahme zugrundeliegenden oder eines anderen anhängigen Strafverfahrens verwendet werden; sie sind unverzüglich zu vernichten, sobald sie hierfür nicht mehr erforderlich sind.

(1) Ordnungswidrig handelt, wer im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in der Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr Alkohol im Blut oder eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen Atem- oder Blutalkoholkonzentration führt.

(2) Ordnungswidrig handelt, wer unter der Wirkung eines in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Eine solche Wirkung liegt vor, wenn eine in dieser Anlage genannte Substanz im Blut nachgewiesen wird. Satz 1 gilt nicht, wenn die Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt.

(3) Ordnungswidrig handelt auch, wer die Tat fahrlässig begeht.

(4) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu dreitausend Euro geahndet werden.

(5) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz mit Zustimmung des Bundesrates die Liste der berauschenden Mittel und Substanzen in der Anlage zu dieser Vorschrift zu ändern oder zu ergänzen, wenn dies nach wissenschaftlicher Erkenntnis im Hinblick auf die Sicherheit des Straßenverkehrs erforderlich ist.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 435/12
vom
27. Juni 2013
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
Der hohe Rang der Selbstbelastungsfreiheit gebietet es, dass auch Spontanäußerungen
- zumal zum Randgeschehen - nicht zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen
genommen werden, wenn der Beschuldigte nach Belehrung über seine Rechte
nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO die Konsultation durch einen benannten Verteidiger
begehrt und erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen.
BGH, Urteil vom 27. Juni 2013 - 3 StR 435/12 - LG Lüneburg
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
28. Mai 2013 in der Sitzung am 27. Juni 2013, an denen teilgenommen haben:
Präsident des Bundesgerichtshofs
Prof. Dr. Tolksdorf
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Hubert,
Dr. Schäfer,
Gericke,
Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Spaniol
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof - in der Verhandlung - ,
Bundesanwalt - bei der Verkündung -
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 26. April 2012, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung zweier vorangegangener Urteile zur Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich die Revision des Beschwerdeführers, mit der er eine Verfahrensbeanstandung erhebt und die Verletzung sachlichen Rechts rügt.
2
Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensbeanstandung Erfolg.

I.


3
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
4
Der Angeklagte wurde etwa drei Wochen nach der verfahrensgegenständlichen Tat wegen des dringenden Verdachts des versuchten Totschlags vorläufig festgenommen. Am nächsten Tag wurde er um ca. 13.30 Uhr der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Uelzen vorgeführt, die ihm den Haftbefehl eröffnete und ihn ordnungsgemäß, unter anderem nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, belehrte. Der Angeklagte erklärte, dass er seinen Verteidiger Rechtsanwalt K. beigeordnet bekommen wolle. Die Ermittlungsrichterin unterbrach daraufhin die Vernehmung und versuchte um 13.35 Uhr, den Verteidiger telefonisch zu erreichen. Dort meldete sich ein Anrufbeantworter mit der Ansage, dass das Büro während der Mittagspause von 13.00 bis 15.00 Uhr nicht besetzt sei. Sie kehrte in das Vernehmungszimmer zurück und teilte dem Angeklagten mit, dass sie seinen Verteidiger nicht habe erreichen können. Der Angeklagte erklärte nunmehr, er wolle sich zur Sache nicht äußern, und fügte spontan hinzu , er kenne - den im Haftbefehl genannten, ausschließlich in das Tatvorgeschehen verwickelten - S. , habe mit diesem aber nichts zu tun. Die Ermittlungsrichterin fragte daraufhin, ob er gesehen habe, wie S. auf den Fußweg uriniert habe, was zu einer der Tat vorgelagerten Auseinandersetzung zwischen S. und dem Tatopfer geführt hatte, aus der heraus sich im weiteren das eigentliche Tatgeschehen entwickelte. Der Angeklagte verneinte. Sodann fragte die Ermittlungsrichterin weiter, wie das Tatopfer verletzt worden sei. Der Angeklagte ließ sich im Folgenden umfassend zur Sache ein und räumte auf weitere Nachfragen ein, das Opfer zwei Mal gegen den Kopf getreten zu haben. Im Haftprüfungstermin vom 18. August 2011 revidierte der Angeklagte - nunmehr anwaltlich beraten - sein Geständnis und gab an, er könne sich nicht erinnern, ob er das Opfer getreten habe.
5
In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zum Inhalt seiner Angaben im Ermittlungsverfahren hat das Landgericht die Ermittlungsrichterin und den Protokollführer vernommen; der Verteidiger hat unter Hinweis darauf, dass die Angaben des Angeklagten im Termin zur Haftbefehlsverkündung wegen Belehrungsmängeln unverwertbar seien, sowohl der Vernehmung der Ermittlungsrichterin als auch der Verwertung ihrer Aussage widersprochen. Die Strafkammer hat den Verwertungswiderspruch zurückgewiesen und die Einlassung des Angeklagten anlässlich der Haftbefehlsverkündung im Urteil gegen ihn verwertet.

II.


6
1. Die von der Revision zulässig erhobene Verfahrensrüge zeigt auf, dass bei der Vernehmung des Angeklagten durch die Ermittlungsrichterin in unzulässiger Weise in dessen Rechte, sich nicht zur Sache äußern zu müssen und vor der Vernehmung einen Verteidiger zu befragen (§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), eingegriffen worden ist. Im Einzelnen:
7
a) Nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO ist der Beschuldigte zu Beginn seiner Vernehmung über sein Schweigerecht zu belehren und darauf hinzuweisen, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann. Beide Rechte des Beschuldigten hängen eng zusammen und sichern seine verfahrensmäßige Stellung - als Beteiligter und nicht als Objekt des Verfahrens - in ihren Grundlagen. Die Verteidigerkon- sultation hat dabei insbesondere auch den Zweck, dass sich der Beschuldigte beraten lassen kann, ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch machen will oder nicht (BGH, Urteile vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373 und vom 22. November 2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172, 174).
8
Die Belehrungspflichten des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO schützen mithin die Selbstbelastungsfreiheit, die im Strafverfahren von überragender Bedeutung ist: Der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare), zählt zu den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er ist verfassungsrechtlich abgesichert durch die gemäß Art. 1, 2 Abs. 1 GG garantierten Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde sowie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 - 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43 ff.) und gehört zum Kernbereich des von Art. 6 MRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren (EGMR, Urteil vom 5. November 2002 - 48539/99 - Fall Allan v. Großbritannien , StV 2003, 257, 259; BGH, Beschluss vom 31. März 2011 - 3 StR 400/10, NStZ 2011, 596, 597). Aus diesem Grund wiegt ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht schwer (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 221; Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172, 174).
9
b) Einen Verfahrensverstoß stellt es aber auch dar, wenn der Beschuldigte vor seiner ersten Vernehmung zwar nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt worden ist, ihm die Rechte, die Gegenstand der Belehrung sind, aber verwehrt werden: Entscheidet sich der Beschuldigte, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, ist dies von den Ermittlungsbehörden grundsätzlich zu respektieren (BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 - 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 19); stetige Nachfragen ohne zureichenden Grund können das Schweigerecht ent- werten (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009).
10
Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger zu konsultieren wünscht (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372). Insoweit ist anerkannt, dass die Vernehmung sogleich zu unterbrechen ist, um eine Kontaktaufnahme zu einem Verteidiger zu ermöglichen (BGH, Urteile vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373 und vom 12. Januar 1996 - 5 StR 756/94, BGHSt 42, 15, 18 f.; Geppert in Festschrift Otto, 2007, S. 913, 917 mwN; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 136 Rn. 10 mwN); der Beschuldigte darf nicht bedrängt werden, weitere Angaben zu machen (BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2003 - 1 StR 380/03, NStZ 2004, 450, 451 und vom 10. Januar 2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009 f.).
11
c) Allerdings kann die Vernehmung auch ohne vorherige Konsultation fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte dem in freier Entscheidung zustimmt (BGH, Urteil vom 21. Mai 1996 - 1 StR 154/96, BGHSt 42, 170; LR/Gleß, StPO, 26. Aufl., § 136 Rn. 101; Geppert, aaO, S. 918), wobei eine solche Zustimmung auch durch schlüssiges Verhalten erklärt werden kann (vgl. Klein, Inhalt und Reichweite der Belehrungsvorschrift des § 136 StPO, 2005, S. 145 f.; LR/Gleß aaO; aA BGH, Urteil vom 12. Januar 1996 - 5 StR 756/94, BGHSt 42, 15). Dieses kann grundsätzlich etwa darin zu sehen sein, dass sich der Beschuldigte von sich aus spontan zur Sache äußert, obwohl eine Verteidigerkonsultation noch nicht möglich war.
12
Bei der Prüfung, ob in Spontanäußerungen des Beschuldigten zugleich die eigenverantwortliche und von einem freien Willensentschluss getragene Zustimmung zu einer solchen Fortsetzung der Vernehmung zu sehen ist, muss aber der enge Zusammenhang zwischen dem Schweigerecht und dem Recht auf Verteidigerkonsultation in den Blick genommen werden. Dient die Ermöglichung der Beratung durch einen Verteidiger gerade dazu, eine sachgerechte Entscheidung des Beschuldigten über den Umgang mit seinem Schweigerecht zu ermöglichen, sind an das Vorliegen einer - noch dazu konkludent erklärten - Zustimmung zur Fortsetzung der Vernehmung hohe Anforderungen zu stellen. Insoweit ist die bloße Entgegennahme spontaner Äußerungen regelmäßig unbedenklich ; diese und die spätere Verwertung solcher Angaben sind auch bei einem nicht über seine Rechte belehrten Beschuldigten zulässig, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO - und damit letztlich die dadurch geschützten Beschuldigtenrechte - gezielt umgangen werden sollten, um den Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verleiten (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 4 StR 170/09, NJW 2009, 3589 mwN). Der hohe Rang der Selbstbelastungsfreiheit gebietet es indes , dass auch Spontanäußerungen - zumal zum Randgeschehen - nicht zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen genommen werden, wenn der Beschuldigte nach Belehrung über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO die Konsultation durch einen benannten Verteidiger begehrt und erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen.
13
d) Nach diesen Maßgaben erweist sich das Vorgehen der Ermittlungsrichterin als verfahrensfehlerhaft.
14
aa) Zwar unterbrach sie zunächst prozessordnungsgemäß die Vernehmung , um den vom Angeklagten gewünschten Verteidiger zu erreichen und so eine Konsultation durch diesen zu ermöglichen. Angesichts des kurzen Zeitraums , in dem der Verteidiger wegen der Mittagspause seiner Kanzlei unerreichbar war, bestand indes auch unter Berücksichtigung eines Interesses der Ermittlungsbehörden, möglichst frühzeitig Angaben des Beschuldigten zu erhal- ten (vgl. dazu Geppert, aaO, S. 914) - dem hier angesichts der etwa drei Wochen zurückliegenden Tat und des Umstandes, dass bereits ein Haftbefehl ergangen war, allerdings ohnehin keine hohe Bedeutung zukommt - kein nachvollziehbarer Grund, mit der Vernehmung nicht bis nach der Mittagspause zuzuwarten. Es waren in der Zwischenzeit auch weder weitere Erkenntnisse erlangt worden noch war eine neue prozessuale Situation eingetreten, aufgrund derer zu erwarten gewesen wäre, dass sich die Auffassung des Beschuldigten geändert haben könnte (vgl. zu diesen Kriterien bei der Fortsetzung der Vernehmung eines Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009). Es hätte damit bereits jetzt Veranlassung bestanden, die unterbrochene Vernehmung nicht fortzusetzen.
15
Die Fortführung der Vernehmung ohne vorherige Verteidigerkonsultation war auch nicht deshalb zulässig, weil der Angeklagte dem zugestimmt hätte: Eine ausdrückliche Zustimmung hat er nicht erteilt. Von einer konkludent erklärten kann hier ebenfalls nicht ausgegangen werden, weil er sich nach der Mitteilung über die Versuche, den gewählten Verteidiger zu erreichen, ausdrücklich auf sein Schweigerecht berufen hat. In diesem Moment hätte die Ermittlungsrichterin die Vernehmung nicht fortsetzen dürfen.
16
bb) Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte im Anschluss an seine Erklärung, er wolle nichts zur Sache sagen, spontan erklärte, er kenne S. , habe mit ihm aber nichts zu tun.
17
Diese Äußerung betraf lediglich seine Beziehung zu einer am Vorgeschehen der Tat beteiligten Person; er machte keine Angaben zu deren Verhalten und keine zum eigentlichen Tatgeschehen. Die zu seiner Überführung verwertete Einlassung gab er erst ab, nachdem die Ermittlungsrichterin ihm - von seiner Äußerung ausgehend - gezielte Nachfragen zum Verhalten von S. und zum Tatgeschehen gestellt hatte. Damit ging die Ermittlungsrichterin über die bloße Entgegennahme seiner Äußerung hinaus; dies stellt nach den dargelegten Maßstäben einen unzulässigen Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten dar.
18
Seine Äußerung kann hier auch nicht dahin verstanden werden, dass er in freier Entscheidung seinen unmittelbar zuvor zum Ausdruck gebrachten Entschluss , sich nicht zur Sache einzulassen, revidiert hätte. Seine Angaben waren inhaltlich vom Tatvorwurf so weit entfernt, dass ihnen nicht die konkludente Erklärung entnommen werden konnte, er wolle entgegen seiner zuvor ausdrücklich geäußerten Absicht doch umfassend aussagen.
19
Jedenfalls hätte es der Ermittlungsrichterin in dieser Situation - wollte sie nicht den Eindruck erwecken, die Berufung des Angeklagten auf sein Schweigerecht zu übergehen - aufgrund ihrer verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht oblegen, durch ausdrückliche Befragung zu klären, ob der Angeklagte nunmehr gleichwohl bereit war, Angaben zur Sache zu machen, gegebenenfalls auch ohne vorherige Verteidigerkonsultation (Geppert, aaO, S. 922). Auch dies ist nicht geschehen.
20
2. Der aufgezeigte Verstoß bei der Vernehmung des Angeklagten führt zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich seiner Angaben anlässlich der Haftbefehlsverkündung.
21
Zwar zieht nach ständiger Rechtsprechung nicht jedes Verbot, einen Beweis zu erheben, ohne Weiteres auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Vielmehr ist je nach den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte und der widerstreitenden Interessen zu ent- scheiden. Bedeutsam sind dabei insbesondere die Art und der Schutzzweck des etwaigen Beweiserhebungsverbots sowie das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes, das seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 20. Dezember 2012 - 3 StR 117/12, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen). Ein Verwertungsverbot liegt jedoch stets dann nahe, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren zu sichern (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 219 ff.; Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373 f.).
22
So verhält es sich hier. Die von § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO geschützten Beschuldigtenrechte gehören - wie dargelegt - zu den wichtigsten verfahrensrechtlichen Prinzipien. Durch sie wird sichergestellt, dass der Beschuldigte nicht nur Objekt des Strafverfahrens ist, sondern zur Wahrung seiner Rechte auf dessen Gang und Ergebnis Einfluss nehmen kann (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 374). Der Beschuldigte ist bei seiner ersten Vernehmung in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, sich unbedacht selbst zu belasten. In dieser Situation ist er oft unvorbereitet, ohne Ratgeber und auch sonst von der vertrauten Umgebung abgeschnitten. Nicht selten ist er durch die Ereignisse verwirrt und durch die ungewohnte Umgebung bedrückt oder verängstigt. Seine ersten Angaben entfalten zudem - wie nicht zuletzt der vorliegende Fall zeigt - selbst bei einer späteren Änderung des Aussageverhaltens eine faktische Wirkung, die für den weiteren Verlauf des Verfahrens von erheblicher Bedeutung ist (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 221 f.). Diese zum Schweigerecht des Beschuldigten entwickelten Grundsätze gelten für die Belehrung über das Vertei- digerkonsultationsrecht entsprechend (BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172, 174).
23
Der Annahme eines nach diesen Maßstäben gegebenen Beweisverwertungsverbotes steht nicht entgegen, dass der Angeklagte aufgrund der eingangs der Vernehmung ordnungsgemäß erteilten Belehrung zunächst Kenntnis sowohl von seinem Schweige- als auch von seinem Verteidigerkonsultationsrecht erlangt hatte (vgl. dazu BGH, aaO und BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2003 - 1 StR 380/03, NStZ 2004, 450, 451). Grundsätzlich mag der Beschuldigte , der in Kenntnis seiner Rechte gleichwohl Angaben zu Sache macht, weniger schutzbedürftig sein. Der aufgezeigte enge Zusammenhang zwischen dem Verteidigerkonsultations- und dem Schweigerecht erfordert hier jedoch die Annahme eines hohen Schutzniveaus: Der Angeklagte hatte mit seinem Wunsch nach Verteidigerkonsultation zum Ausdruck gebracht, dass er der Beratung bedurfte. Als diese nicht möglich war, verweigerte er Angaben zur Sache , was zum Abbruch der Vernehmung hätte führen müssen.
24
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen und dem Revisionsvorbringen zum Gang der Vernehmung ist zudem nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt seiner ihn belastenden Einlassung dieser Belehrung noch bewusst war, etwa weil er differenziert damit umgegangen wäre. Vielmehr befand er sich im Unklaren darüber, ob und gegebenenfalls wann sein Verteidiger erreichbar sein würde, und konnte er die wiederholten Nachfragen der Ermittlungsrichterin dahingehend verstehen, dass seinem geäußerten Wunsch, sich jedenfalls nicht ohne vorherige Befragung seines Verteidigers zur Sache einzulassen, nicht entsprochen werden würde. Etwas anderes könnte allenfalls gelten, wenn der Angeklagte erneut über seine Rechte belehrt wor- den wäre (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. Januar 2013 - 1 StR 560/12, NStZ 2013, 299, 300). Das ist indes nicht geschehen.
25
Schließlich sprechen auch die Schwere des Tatvorwurfs und der Grundsatz , dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, nicht gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots; insoweit ist in die Abwägung auch einzustellen, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muss (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 220 mwN).
26
3. Das Urteil beruht auf der Verwertung der Angaben des Angeklagten aus seiner Vernehmung anlässlich der Haftbefehlsverkündung. Ausweislich der Urteilsgründe hat keiner der Zeugen bekundet, dass der Angeklagte auf das Opfer eingetreten habe; die Strafkammer hat sich diese Überzeugung vielmehr aufgrund der Verwertung seiner Einlassung im Ermittlungsverfahren gebildet.
27
Der Verteidiger musste in der Hauptverhandlung nicht auch der Vernehmung des Protokollführers und der Verwertung von dessen Aussage widersprechen. Der erhobene Verwertungswiderspruch bezüglich der Aussage der Ermittlungsrichterin bezog sich nach seiner Begründung eindeutig auf das Beweisthema - Angaben des Angeklagten in seiner Beschuldigtenvernehmung -, so dass für die Verfahrensbeteiligten ungeachtet des protokolliertenWortlauts des Widerspruchs kein Zweifel bestehen konnte, dass auch der Verwertung etwaiger Angaben des später vernommenen Protokollführers zu diesem Beweisthema widersprochen werden sollte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 StR 307/03, BGHR StPO § 136 Abs. 1 Verteidigerbefragung

7).


Tolksdorf Hubert Schäfer Gericke Spaniol

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.

(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.

(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

(5) § 58b gilt entsprechend.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 186/17
vom
7. September 2017
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
ECLI:DE:BGH:2017:070917B1STR186.17.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 7. September 2017
beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 21. November 2016 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat: Der Beschwerdeführer rügt hinsichtlich der Einzeltaten II. 1. und II. 3. der Urteilsgründe, die Strafkammer habe entgegen einem Beweisverwertungsverbot 28 Barquittungen der T. GmbH in ihrer Beweiswürdigung zu Lasten des Angeklagten verwertet, die der Angeklagte der Steuerfahndung als Geschäftsführer der GmbH aufgrund eines Auskunfts- und Vorlageersuchens nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO in dem gegen den anderweit Verfolgten B. geführten Ermittlungsverfahren übersandt hatte. Der Angeklagte sei im Rahmen dieses Ersuchens nur als Zeuge nach §§ 52, 55 StPO und nicht als Beschuldigter (§ 163a Abs. 4, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 399 Abs. 1, § 404 AO) belehrt worden. Damit sei ihm der Beschuldigtenstatus willkürlich vorenthalten worden; er sei als Zeuge in Sicherheit gewogen und insoweit getäuscht worden (§ 136a Abs. 1 Satz 1 StPO).
Die Rüge ist jedenfalls unbegründet.
Die Strafverfolgungsbehörden haben einen Zeugen erst dann als Beschuldigten zu behandeln, wenn sich der Verdacht gegen ihn so verdichtet hat, dass der Zeuge ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt. Die Grenzen des den Strafverfolgungsbehörden eingeräumten Beurteilungsspielraums sind erst dann überschritten, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird (BGH, Urteil vom 31. Mai 1990 – 4 StR 112/90, BGHSt 37, 48, 51 f.) und auf diese Weise die Beschuldigtenrechte umgangen werden (BGH, Urteil vom 21. Juli1994 – 1 StR 83/94, BGHR StPO § 136 Belehrung 6). Das war nach den Urteilsfest- stellungen nicht der Fall (UA S. 11 f., 28 ff.).
Im Übrigen beruht das Urteil nicht auf den Barquittungen. Die Strafkammer hat die sichere Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten inden Fällen II. 1. und II. 3. der Urteilsgründe nicht durch die 28 Barquittungen gewonnen , sondern durch die belastenden Angaben des anderweit Verfolgten B. sowie des Zeugen W. , der dem Angeklagten den B. als Scheinrechnungsschreiber vermittelt hatte. B. hatte dargelegt, dass den Quittungen keine Schrottlieferungen zu Grunde lagen und er regelmäßig ein Drittel der darauf ausgewiesenen Umsatzsteuer erhalten habe (insb. UA S. 22). Die auf den Scheinrechnungen genannten Beträge hatte der Angeklagte in der festgestellten Höhe in seine Buchführung eingebucht (UA S. 31); B. verfügte für seine Buchführung über entsprechende „Gegenrech- nungen“ (UA S. 21), und der Strafkammer standen, soweit die Höheder unrechtmäßig erfolgten Vorsteuererstattungen in Rede steht, als Beweismittel auch die Steuerfahndungsbeamten zur Verfügung, die über das Ergebnis der Durchsuchungen, Betriebsprüfungen und steuerlichen Sonderprüfungen in der Hauptverhandlung berichtet haben. Im Übrigen hat der Angeklagte die Taten in objektiver und subjektiver Hinsicht in vollem Umfang eingeräumt (UA S. 13 und

27).


Raum Jäger Bellay Cirener Fischer

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.

(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.

(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

(5) § 58b gilt entsprechend.

(1) § 163a Abs. 1 der Strafprozeßordnung ist mit der Einschränkung anzuwenden, daß es genügt, wenn dem Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, sich zu der Beschuldigung zu äußern.

(2) Der Betroffene braucht nicht darauf hingewiesen zu werden, daß er auch schon vor seiner Vernehmung einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen kann. § 136 Absatz 1 Satz 3 bis 5 der Strafprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Soweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

(2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird.