Landessozialgericht NRW Beschluss, 16. Nov. 2015 - L 11 KR 342/15
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.04.2015 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Gründe:
2I.
3Die Beteiligten streiten über einen Kostenerstattungsanspruch für ambulant durchgeführte Liposuktionen an Oberschenkeln und Oberarmen der Klägerin.
4Die am 00.00.1978 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Am 01.06.2012 beantragte sie die Kostenübernahme für ambulante Liposuktionen. Wegen der nun gestellten Diagnose "Lipödem" an den seitlichen Hüften, Oberschenkeln und Oberarmen werde sie sich einer konventionellen Therapie unterziehen. Ihr Arzt habe ihr bereits gesagt, dass dies nicht ausreichen werde. Daher werde sie sich wohl für die Operationen entscheiden. Sie bitte um eine Stellungnahme der Beklagten. Dem Antrag war ein Arztbericht des Facharztes für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. D, E, vom 25.05.2012 beigefügt, welcher die Kosten für drei geplante Operationen auf ca. 14.000,00 EUR zuzüglich Anästhesiekosten bezifferte. Die erste ambulante Operation an den Außenseiten der Beine erfolgte am 18.06.2012. Hierfür wurden der Klägerin am 19.06.2012 4.921,36 EUR zzgl. Anästhesiekosten in Rechnung gestellt.
5Nach Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 14.06.2012, der auf die Möglichkeit der komplexen Entstauungstherapie verwies, lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 19.06.2012 ab. Die beantragte Leistung gehöre zu den sogenannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und sei nicht vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) positiv bewertet worden. Sie gehöre nicht zu den vertragsärztlichen Leistungen.
6Hiergegen legte die Klägerin am 11.07.2012 Widerspruch ein. Sie sei mit der Bewertung nicht einverstanden und verwies auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts Chemnitz vom 01.03.2012 - S 10 KR 189/10 -. Am 24.07.2012 ließ die Klägerin die zweite ambulante Liposuktion an den Armen (Rechnung vom 25.07.2012 über 4.921,36 EUR zzgl. Anästhesie) und am 20.08.2012 die dritte ambulante Liposuktion an den Innenseiten der Beine (Rechnung vom 21.08.2012 über 3.900,70 EUR zzgl. Anästhesie) durchführen. Am 06.09.2012 teilte sie der Beklagten mit, dass sie die Operationen habe durchführen lassen.
7Mit Widerspruchsbescheid vom 15.10.2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Bei den beantragten Liposuktionen handele es sich um neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die seitens des GBA nicht positiv bewertet worden seien. Auch liege keine lebensbedrohliche Erkrankung vor, die ausnahmsweise eine Leistungspflicht ohne Empfehlung des GBA rechtfertigen würde. Das Bundessozialgericht habe am 16.12.2008 - B 1 KR 11/08 R - entschieden, dass die Liposuktion nicht zu den Leistungen zähle, die von der gesetzlichen Krankenkasse zu übernehmen seien.
8Die Klägerin hat am 23.10.2012 Klage zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Zur Begründung hat sie sich weiterhin auf das Urteil des SG Chemnitz vom 01.03.2012 - S 10 KR 189/10 - bezogen. Für die bei ihr bestehende Erkrankung stehe keine wirksame Behandlungsalternative zur Verfügung. Da der GBA seiner Pflicht, die Liposuktion als mögliche Behandlungsmethode zu überprüfen, nicht nachgekommen sei, bestehe ein Systemmangel, der zu einer Leistungspflicht der Beklagten führe. Auch habe das Landessozialgericht (LSG) Hessen mit Urteil vom 05.02.2013 - L 1 KR 391/12 - sowie das SG Mainz mit Urteil vom 23.04.2012 - S 14 KR 143/11 - Liposuktionsbehandlungen für übernahmefähig gehalten.
9Die Klägerin hat beantragt,
10den Bescheid der Beklagten vom 19.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Kosten in Höhe von 16.400,00 EUR für die drei durchgeführten ambulanten Liposuktionen zu übernehmen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen und ergänzend auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.01.2014 - L 16 KR 558/13 - hingewiesen.
14Das SG hat zwei Befundberichte eingeholt. Der Facharzt für Innere Medizin T, E, hat unter dem 17.09.2013 ausgeführt, dass die Klägerin vor den Liposuktionen keine konservativen Maßnahmen habe durchführen lassen, da diese nicht erfolgversprechend gewesen seien. Der vorerwähnte Dr. D hat unter dem 18.10.2013 berichtet, dass die Klägerin in der Zeit vom 15.05.2012 bis zu den Operationen komplexe Entstauungstherapien in Form von Lymphdrainagen und Kompressionen durchgeführt habe, die jedoch nicht ausreichend gewesen seien, weil sie den Befund nicht heilten.
15Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 27.04.2015 hat der Vorsitzende ausweislich des Sitzungsprotokolls die Rechtslage erläutert, auf die obergerichtliche Rechtsprechung und darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, der Klägerin nach § 192 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Kosten aufzuerlegen.
16Mit Urteil vom gleichen Tag hat das SG die Klage abgewiesen und der Klägerin Verfahrenskosten in Höhe von 150,00 EUR auferlegt. Ein Kostenerstattungsanspruch für die erste Operation am 18.06.2012 scheitere bereits daran, dass der sogenannte Beschaffungsweg nicht eingehalten worden sei. Denn die Beklagte habe über den Antrag der Klägerin erst mit Bescheid vom 19.06.2012 und damit nach der durchgeführten Behandlung entschieden. Schließlich scheitere ein Kostenerstattungsanspruch der Klägerin daran, dass entsprechend den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 16.12.2008 - B 1 K 11/08 R - kein Naturalleistungsanspruch auf Liposuktionen bestehe. Nichts anderes ergebe sich aus den von der Klägerin angeführten Urteilen. Die Entscheidung des LSG Hessen beziehe sich nicht auf eine ambulante, sondern auf eine - hier nicht erfolgte - stationäre Behandlung. Das SG Mainz habe im Urteil vom 23.04.2012 - S 14 KR 143/11 - eine Leistungspflicht für ambulante Liposuktionen verneint. Der von der Klägerin zitierten Entscheidung des SG Chemnitz mangele es an jeglicher Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BSG. Eine neue Lage habe sich auch nicht daraus ergeben, dass der GBA sich am 22.05.2014 zu einer Bewertung der Liposuktion für den vertragsärztlichen und stationären Sektor entschlossen habe. Selbst eine positive Entscheidung des GBA würde keine Rückwirkung entfalten. Das Gericht habe der Klägerin Kosten nach § 192 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auferlegt, da die Fortsetzung des Verfahrens als rechtsmissbräuchlich anzusehen sei. Der Vorsitzende habe im Rahmen des Verhandlungstermins die Aussichtslosigkeit der Klage im Einzelnen dargelegt und ausführlich darauf hingewiesen, dass die von der Klägerin zitierte Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei und eine höchstrichterliche Entscheidung des Bundessozialgerichts vorliege. Er habe auf die Missbräuchlichkeit der weiteren Rechtsverfolgung und auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen. Die Klägerin habe das Verfahren ohne nachvollziehbare Begründung fortgeführt.
17Gegen das ihr am 19.05.2015 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15.06.2015 Berufung eingelegt. Zur Begründung bezieht sie sich weiter auf das Urteil des SG Chemnitz. Auch das SG Dresden habe am 13.03.2015 entschieden, dass die Krankenkassen zur Kostenübernahme stationär durchgeführter, medizinisch notwendiger Fettabsaugungen verpflichtet seien. Nach Auffassung der Klägerin könne es keinen Unterschied machen, ob die Therapie ambulant oder stationär erfolge. Jedenfalls sei die Rechtsverfolgung nicht rechtsmissbräuchlich.
18Die Klägerin beantragt,
19das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.04.2015 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 19.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2012 zu verurteilen, an sie 16.400,00 EUR zu zahlen.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
23Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 24.08.2015 dazu angehört worden, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen (§ 153 Abs 4 SGG).
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
25II.
26Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 19.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG).
27Zur Begründung verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil des SG Düsseldorf, die er sich nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu Eigen macht (§ 153 Abs. 2 SGG). In seiner Entscheidung hat das SG nicht nur die maßgeblichen Rechtsgrundlagen genannt, sondern auch ausführlich zu den von der Klägerin vorgebrachten Einwänden Stellung genommen.
28Der Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren führt zu keinem anderen Ergebnis. Das BSG hat wenige Tage vor der ersten streitgegenständlichen Liposuktion der Klägerin noch im Beschluss vom 10.05.2012 - B 1 KR 78/11 B - ausgeführt, dass ein Anspruch auf die neue Behandlungsmethode der ambulanten ärztlichen Liposuktion zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht in Betracht komme, solange der GBA die neue Methode der Fettabsaugung nicht positiv empfohlen habe oder ein Ausnahmefall vorliege, in welchem die positive Empfehlung entbehrlich sei. Schon in tatsächlicher Sicht sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher neueren oder schon vorhandenen, aber bislang nicht berücksichtigten medizinischen Erkenntnisse die antragsberechtigten Stellen es versäumt hätten, einen Antrag beim GBA zu stellen.
29Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Klägerin bei ihrer Argumentation die rechtstechnisch unterschiedliche Gestaltung für einen Anspruch auf vertragsärztliche (§ 135 SGB V) oder stationäre (§ 137c SGB V) Behandlung übersieht. Auch wenn eine Leistung im Einzelfall stationär zu Lasten der GKV zu erbringen sein sollte, folgt daraus keine Leistungspflicht für den ambulanten Bereich. Die Krankenkassen sind nicht bereits dann leistungspflichtig, wenn eine begehrte Therapie nach eigener Einschätzung der Klägerin oder des behandelnden Arztes positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte die Therapie befürwortet haben. Vielmehr muss die betreffende Therapie rechtlich von der Leistungspflicht der GKV umfasst sein. Dies ist bei - wie hier - neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V grundsätzlich nur dann der Fall, wenn zunächst der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat und der Bewertungsausschuss sie zudem zum Gegenstand des einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) gemacht hat. Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i.V.m. § 135 Abs. 1 SGB V wird nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte usw.) neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr wird durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt (BSG, Urteile vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R -, 03.07.2012 - B 1 KR 6/11 R - und 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R -). § 137c SGB V normiert hingegen für den stationären Bereich einen bloßen Verbotsvorbehalt (BSG, Urteile vom 18.12.2012 - B 1 KR 34/12 R - und 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R -). § 137c SGB V bewirkt, dass - anders als für den Bereich der vertragsärztlichen Leistungen - der GBA nicht in einem generalisierten, zentralisierten formalisierten Prüfverfahren vor Einführung neuer Behandlungsmethoden im Krankenhaus deren Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit überprüft. Die Prüfung der eingesetzten Methoden im zugelassenen Krankenhaus erfolgt vielmehr bis zu einer Entscheidung des GBA nach § 137c SGB V individuell, grundsätzlich also zunächst präventiv im Rahmen einer Binnenkontrolle durch das Krankenhaus selbst, sodann retrospektiv im Wege der Außenkontrolle lediglich im Einzelfall anlässlich von Beanstandungen ex post durch die Krankenkassen und anschließender Prüfung durch die Gerichte (BSG, Urteil vom 07.05.2013 - B 1 KR 44/12 R -).
30Auch soweit sich die Klägerin gegen die Verhängung von Verschuldenskosten wendet, hat sie mit ihrem Begehren keinen Erfolg. Sie ist in der mündlichen Verhandlung vom Vorsitzenden auf die Aussichtslosigkeit der Fortsetzung des Verfahrens, die Missbräuchlichkeit der weiteren Inanspruchnahme des Gerichts sowie die für den Fall der Fortsetzung des Verfahrens in Betracht kommende Auferlegung von Gerichtskosten hingewiesen worden und hat den Rechtsstreit trotz dieser Hinweise fortgeführt. Dieses Verhalten ist rechtsmissbräuchlich. Eine missbräuchliche Rechtsverfolgung liegt vor, wenn die Weiterführung des Rechtsstreits von jedem Einsichtigen als aussichtslos angesehen werden muss (Senat, Urteil vom 20.01.2010 - L 11 KR 80/07 -; vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 19.12.2002 - 2 BvR 1255/02 -). Dies ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn die zu entscheidenden Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt sind und trotz eindeutiger entsprechender Hinweise des Gerichts der Rechtsstreit fortgeführt wird (LSG Sachsen, Urteil vom 05.12.2013 - L 1 KR 231/12 -; Straßfeld in Jansen, SGG, 4. Auflage, 2012, § 192 Rdn. 9; vgl. auch zu § 34 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz: BVerfG, Beschluss vom 03.07.1995 - 2 BvR 1379/95 -). Vorliegend war kein sachlicher Grund gegeben, das offensichtlich aussichtslose Klageverfahren fortzuführen. Dabei kann im Ergebnis dahin stehen, ob der Klägerin selbst alle Zusammenhänge klar geworden sind. Nach dem Gesetz steht dem Beteiligten sein Bevollmächtigter gleich, § 192 Abs 1 Satz 2 SGG (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.01.2015 - L 18 R 353/12 -; Beschluss vom 27.05.2015 - L 19 AS 778/15 NZB -). Die Klägerin war im Termin zur mündlichen Verhandlung von einem "Fachanwalt für Sozialrecht" vertreten, dem die Zusammenhänge aufgrund seiner besonderen Qualifikation ganz sicher klar waren, jedenfalls aber im Rahmen der Erörterung klar geworden sind. Auch hinsichtlich der Höhe der auferlegten Kosten (Mindestgebühr gemäß § 192 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 184 Abs. 2 SGG) ist die vom SG getroffene Entscheidung nicht zu beanstanden.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
32Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.06.2013 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
1
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die Klägerin gegen die beklagte Krankenkasse Anspruch auf Erstattung der Kosten für stationär durchgeführte Liposuktionen hat.
3Die 1984 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Unter dem 11.07.2011 beantragte sie die Kostenübernahme für eine Liposuktion. Vor ca. neun Jahren sei bei ihr ein Lipödem diagnostiziert worden sei. Sie habe Kompressionsstrümpfe verschrieben bekommen und manuelle Lymphdrainagen durchgeführt, Sport betrieben und auf ihr Gewicht geachtet (bei einer Körpergröße von 178 cm 65 kg). Gleichwohl hätten sich die Beschwerden (Anschwellen der Beine bei Hitze und Schwüle; starke Schmerzen; große Beschwerden bei einer weitgehend stehenden und sitzenden Tätigkeit) verstärkt. Darunter leide sie auch psychisch. Der hierdurch erzeugte Stress wirke sich gesundheitlich negativ aus. Ihre Lebensqualität sei sehr stark eingeschränkt. Die Lymphdrainagen bewirkten nur eine kurzzeitige Entlastung.
4Die Klägerin fügte dem Antrag einen Befundbericht des Arztes für Chirurgie und Gefäßchirurgie H vom 14.02.2011 sowie eine fachärztlich gutachterliche Stellungnahme von Dr. N/I-Klinik GmbH in M (im Folgenden: I-Klinik) vom 09.02.2011 nebst Kostenvoranschlägen der I-Klinik für eine Liposuktion der Oberschenkel außen, innen, Knie beidseits, Unterschenkel außen, innen und Oberschenkel vorne beidseits bei. Während im Bericht des Herrn H nach Untersuchung der Klägerin am 14.02.2011 ein typisches Lymphödem im Stadium II bestätigt und neben konservativer Behandlung eine Liposuktion als sinnvoll erachtet wird, beschreibt die Stellungnahme von Frau Dr. N nach Untersuchung der Klägerin am 07.02.1011 (bei der die Klägerin bereits ihr Einverständnis mit einer Operation erklärte) ein initiales Lymphödem, dessentwegen eine Liposuktion entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie indiziert sei. Bei der Liposuktion handele es sich um eine Behandlungsmethode, bei deren Durchführung unter kurzstationären Bedingungen sich nicht nur eine Entfernung des krankheitstypisch vermehrten Unterhautfettvolumens mit Optimierung und Harmonisierung der disproportionierten Körperform, sondern vor allem auch eine Verminderung bzw. Beseitigung der bestehenden Beschwerden erzielen lasse. Durch den Eingriff erfolge eine dauerhafte Reduktion der übermäßig vermehrten Zellen des Fettgewebes. Es werde in der wissenschaftlichen Literatur davon ausgegangen, dass der Eingriff auch eine prophylaktische Wirkung habe. Dadurch könne der Übergang der Erkrankung in ein volles Stadium I und später in ein Stadium II und III verhindert oder zumindest deutlich verzögert werden. Nach der Liposuktion müsse die konservative Behandlung nur noch in wesentlich geringerem Ausmaß und in größeren Zeitabständen weitergeführt werden. Bei einem Teil der Patienten könne die konservative Behandlung sogar ganz entfallen.
5Der durch die Beklagte beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) gelangte in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 26.07.2011 zu dem Ergebnis, die Liposuktion stelle ein neues Behandlungsverfahren im Sinne des § 135 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) dar, das bisher vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) nicht bewertet worden sei. Gemäß der aktuellen sozialrechtlichen Situation bestehe ein Leistungsanspruch auf neue Methoden grundsätzlich erst dann, wenn der GBA in den jeweiligen Richtlinien eine Anerkennung der neuen Methode ausgesprochen habe. Der Nutzen der Methode sei zudem bisher nicht anhand einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Fällen aufgrund wissenschaftlich einwandfrei geführter Statistiken nachgewiesen. Der Nachweis der Wirksamkeit sei nicht erheblich erschwert; es handele sich um eine gut bekannte Erkrankung. Eine indikationsbezogene breitere Resonanz in der Fachdiskussion könne aktuell nicht festgestellt werden. Im Fall der Klägerin stünden vertragliche therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung, um ein dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechendes Vorgehen sicherzustellen. Diese seien noch nicht ausgeschöpft. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung seien daher nicht erfüllt.
6Noch vor Eingang der Stellungnahme des MDK bei der Beklagten teilte diese der Klägerin telefonisch am 03.08.2011 auf deren Nachfrage unter Hinweis auf einen in zwei Wochen anstehenden Operationstermin in der I-Klinik mit, eine Operation in der I-Klinik könne selbst dann nicht befürwortet werden, wenn der MDK eine medizinische Indikation für eine stationäre Durchführung bestätige. In einem solchen Falle würde die Klägerin an geeignete Vertragskrankenhäuser verwiesen werden. Am 05.08.2011 fragte die Klägerin erneut bei der Beklagten nach, da sie überlege, ob sie die Operation durchführen lasse. Die Sachbearbeiterin riet der Klägerin nach dem Inhalt des über das Telefonat gefertigten Aktenvermerks, das MDK-Gutachten abzuwarten, da sonst die Gefahr bestehe, dass sie auf den Kosten "sitzen bleibe".
7Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK lehnte die Beklagte mit schriftlichem Bescheid vom 10.08.2011 den Antrag der Klägerin ab, nachdem sie die Klägerin vorab über ihre Entscheidung informiert hatte. Zur Begründung führte die Beklagte aus: Eine medizinische Indikation für die beantragte Leistung bestehe nicht. Im ambulanten Bereich sei die Liposuktion keine Kassenleistung. Es werde eine komplexe physikalische Entstauungstherapie empfohlen. Zudem handele es sich bei der I-Klinik um eine Privatklinik , die kein zugelassener Leistungserbringer sei.
8Am 19.08.2011 erfolgte in der I-Klinik die erste Liposuktion an den Oberschenkeln außen, innen und an den Knien. Dabei wurden 1.800 ml reines Fett entfernt. Die reine Absaugzeit betrug 1 Stunde 53 Minuten, die gesamte OP-Zeit einschließlich Infiltration, Pause, Nachinfiltration und Absaugung 5 Stunden 25 Minuten. Die Entlassung erfolgte am 20.08.2011. Am 27.09.2011 erfolgte die zweite Liposuktion an den Oberschenkeln vorne, Unterschenkeln außen und innen sowie eine Korrektur an den Oberschenkeln außen beidseits. Dabei wurden 2.260 ml reines Fett entfernt. Die reine Absaugzeit betrug 2 Stunden 18 Minuten, die gesamte OP-Zeit 6 Stunden 10 Minuten. Die Entlassung erfolgte am 28.09.2011. Mit Schreiben vom 19.08.2011 und 28.09.2011 wurden der Klägerin für die Liposuktionen Kosten in Höhe von 5.545,00 EUR bzw. 5.320,00 EUR pauschal in Rechnung gestellt.
9Unter dem 26.08.2011 legte die Klägerin Widerspruch gegen den (Ablehnungs-) Bescheid vom 10.08.2011 ein. Sie führte aus: Die medizinische Indikation für die Durchführung der Liposuktion habe aufgrund schwerwiegender körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen vorgelegen. Es wäre unzumutbar gewesen zuzuwarten, bis ein Lipödem im Stadium III vorliege, bei dem die Kosten wohl übernommen worden wären. Die von der Beklagten vorgeschlagenen konservativen Therapien böten nur eine kurzzeitige Entlastung.
10Mit Widerspruchsbescheid vom 20.01.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ergänzend zu den bisherigen Ausführungen wies sie darauf hin, eine Verweisung auf ein Vertragskrankenhaus sei nicht relevant gewesen, da die Liposuktion regelmäßig ambulant erbracht werde und eine stationäre Krankenhausbehandlung zur Behandlung des Krankheitsbildes nicht notwendig (gewesen) sei. Auch aus der Begründung der I-Klinik ergebe sich, dass die grundsätzlichen kurzstationären Unterbringungen aus privatklinischer methodenrelevanter Intention erfolgt seien.
11Mit ihrer daraufhin am 16.02.2012 beim Sozialgericht Köln erhobenen Klage hat die Klägerin sich auf ein Systemversagen berufen. Die Klägerin, die eine lange Leidensgeschichte hinter sich habe, habe alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Es sei auch nicht nachvollziehbar, wenn die Beklagte eine stationäre Behandlungsmöglichkeit nicht sehe. Die Stellungnahme des ohnehin parteilichen MDK sei nicht nachvollziehbar. Es liege keine unkonventionelle Behandlungsmethode vor. Auf die gelegentlich anzutreffende Trägheit des GBA werde zudem hingewiesen. Durch dessen Unterlassen sei die Methode nicht in den Leistungskatalog aufgenommen. Das Systemversagen liege darin begründet, dass die Beklagte nicht in der Lage sei, die medizinisch notwendige Behandlung durch einen Vertragsbehandler zur Verfügung zu stellen.
12Die Klägerin hat Bezug genommen auf eine mit der Klage vorgelegte Stellungnahme von Frau Dr. N vom 19.06.2012. Darin legt Dr. N dar, dass sich die I-Klinik auf die Behandlung des Lipödems spezialisiert habe und auf diesem Gebiet praktisch und wissenschaftlich tätig sei. Es gebe keine Klinik, die so viel zu dieser Erkrankung publiziert habe. Es sei keine Klinik mit Versorgungsvertrag bekannt, die sich auf die Diagnostik und die operative Behandlung des Lipödems spezialisiert habe. Alle publizierten, guten Ergebnisse der Liposuktion beim Lipödem seien von erfahrenen Behandlern erzielt worden. Kleinere Reihen kosmetischer Eingriffe könnten rein ambulant durchgeführt werden. Beim Lipödem lägen in der Regel jedoch deutlich größere Fettvermehrungen vor, so dass die Eingriffe trotz Begrenzung nicht ambulant durchführbar seien. Ein kurzstationärer Aufenthalt sei daher fast immer erforderlich. Aufgrund des Fettvolumens sei eine Aufteilung auf mehrere Sitzungen dringend erforderlich. Nur so könne im Hinblick auf die Beschwerdereduktion das maximal mögliche Ergebnis erzielt werden. Gerade beim Lipödem sei die maximale Schonung der umliegenden Gewebestrukturen wichtig. Regelmäßig würden kritische Auswertungen der erzielten Ergebnisse durchgeführt. Hierbei habe die statistische Auswertung gezeigt, dass sich durch die Liposuktion eine ausgeprägte und klinisch relevante Verbesserung von Spontan- und Druckschmerzen, Ödembildung, Neigung zu Hämatomen und Bewegungseinschränkungen ergebe. Dieser Erfolg sei nach einem Zeitraum von einem Jahr identisch mit dem nach fast sieben Jahren. Bei einem Großteil habe nach der Liposuktion ganz oder teilweise auf die Weiterführung der konservativen Maßnahmen verzichtet werden können.
13Auf einen Hinweis des Sozialgerichts hinsichtlich der rechtlichen Qualität der bis dahin vorgelegten Rechnungsschreiben hat die Klägerin korrigierte Rechnungen vorgelegt. Mit auf den 20.08.2011 datiertem Schreiben sind der Klägerin für die erste Liposuktion ein Tagessatz für die Krankenhausbehandlung in Höhe von 3.689,00 EUR und nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) 1.785,93 EUR in Rechnung gestellt worden. Der Aufenthalt anlässlich der zweiten Liposuktion in der I-Klinik ist mit auf den 28.09.2011 datierten Schreiben nunmehr mit einem Tagessatz in Höhe von 3.689,00 EUR für die allgemeinen Krankenhausleistungen und 1.560,93 EUR nach der GOÄ abgerechnet worden.
14Die Klägerin hat beantragt,
15die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2012 zu verurteilen, ihr 10.724,86 EUR zu erstatten.
16Die Beklagte hat beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Sie hat unter Bezugnahme auf die Urteile des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 27.04.2012 (L 4 KR 595/11) und 28.09.2012 (L 4 KR 4054/11) die Auffassung vertreten, Qualität und Wirksamkeit einer stationären Liposuktionsbehandlung müssten den Maßstäben evidenzbasierter Medizin entsprechen. Dies sei bei der Lipsosuktion nicht gegeben, wie sich aus dem Gutachten "Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 des MDK vom 06.10.2011 ergebe. Zur Qualität und Wirksamkeit einer Behandlungsmethode müsse es grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen geben. Erforderlich sei, dass der Erfolg der Behandlungsmethode objektivierbar, also in einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt sei. Ausweislich des vorliegenden Forschungsstandes sei die Methode der Liposuktion zur Therapie eine Lipödems derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen, und es seien weitere randomisierte Studien erforderlich. Das Bundessozialgericht (BSG) habe die Notwendigkeit der evidenzbasierten Medizin für stationär erbrachte Methoden in seinem Urteil vom 21.03.2013 (B 3 KR 2/12 R) bestätigt. Zudem bestehe kein wirksamer Honoraranspruch der I-Klinik gegenüber der Klägerin. Die Rechnungsschreiben seien unrichtig erstellt. Eine nachträgliche Rechnungskorrektur, bei der Pauschalgebühren durch Gebührenordnungsnummern ersetzt worden seien, scheide aus. Ausweislich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21.12.2006 (Az.: III RR 117/06) sei nämlich nachträglich nur eine geringe Korrektur möglich.
19Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von Frau Dr. N (I-Klinik) beigezogen. In dem Bericht ist u.a. ausgeführt, wegen der Größe der Fettvermehrungen, der erforderlichen Vorbereitungen, der Dauer der Fettabsaugung selbst und der erforderlichen Nachsorge seien stationäre Maßnahmen zwingend gewesen. Dem Bericht lagen Kopien der von der Klägerin am 07.02.2012 im Rahmen der Erstvorstellung unterzeichneten Erklärungen vor. Der Kostenvoranschlag benennt pauschale OP-Kosten, Kosten für Miederware und Kosten für eine Übernachtung. Zudem findet sich der folgende Passus: "Wie allgemein üblich werden die erbrachten Kosten am Tage der Operation oder der Entlassung abgerechnet Eine Abrechnung nach der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) erfolgt bei kosmetischen Eingriffen nicht ". Zudem wird darauf hingewiesen, dass bei sehr kurzfristiger Absage (bis zu drei Tage vor der OP) eine Pauschale von 1.500,00 EUR anfalle. Wegen der weiteren Einzelheiten des weitestgehend der Stellungnahme von Frau Dr. N vom 19.06.2012 entsprechenden Inhalts wird auf den Bericht vom 06.02.2012 verwiesen.
20Sodann hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens nach Aktenlage von Dr. G, Leiter der Plastischen Chirurgie des Universitätsklinikums H. Dr. G bestätigt in seinem Gutachten ein behandlungsbedürftiges Lipödemsyndrom mit Hämatombildung und Berührungsempfindlichkeit an beiden Beinen. Konservative Behandlungsmöglichkeiten seien erfolglos ausgeschöpft worden. Die Liposuktionen setzten unmittelbar an dieser Krankheit an und seien erforderlich (ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich) gewesen. Im Vergleich zu konservativen Maßnahmen ergebe sich eine positive Kostenbilanz. Im Fall der Klägerin habe eine stationäre Aufnahme erfolgen müssen wegen der Größe des Eingriffs (ausgedehnte Fettabsaugungen und Gefahr eines Kreislaufstillstandes) und der erforderlichen Vor- und Nachsorge. Es existierten auch Vertragskrankenhäuser, die die streitige Maßnahme stationär durchführten.
21Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 25.06.2013 antragsgemäß verurteilt. Bei der Klägerin habe ein chronisches Lipödemsyndrom beider Beine vorgelegen, das eine Krankheit darstelle, deren Behandlung notwendig gewesen sei. Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. G sei für die Kammer aufgrund dessen umfangreichen "Befundungen" nachvollziehbar. Ebenso sei die Einschätzung des Sachverständigen nachvollziehbar, die Liposuktionen seien geeignet und erforderlich gewesen, um die klägerischen Beschwerden dauerhaft zu verringern bzw. zu beseitigen, und zudem zweckmäßig und wirtschaftlich gewesen. Die Liposuktion entspreche auch den Regeln der ärztlichen Kunst und stelle keine Außenseitermethode im Sinne der Rechtsprechung des BSG dar. Der Methode komme kein experimenteller Charakter zu, sondern sie entspreche nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse. Nach Auffassung des Sachverständigen Dr. G sei die Behandlung unter Hinweis auf zahlreiche Stellen in der medizinischen Literatur wissenschaftlich nachgewiesen. Keine Rolle spiele in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Liposuktion um eine neue Behandlungsmethode handele, für die bis dato keine positive Empfehlung des GBA bezüglich des diagnostischen und therapeutischen Nutzens vorliege. Während für den Bereich der ambulanten Versorgung bezüglich neuer Behandlungsmethoden ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gelte, sei für den stationären Bereich ein Anspruch nur dann ausgeschlossen, wenn der GBA dazu eine negative Stellungnahme abgegeben habe. Der sachliche Grund für diese unterschiedliche rechtliche Behandlung bestehe darin, dass der Gesetzgeber die Gefahr des Einsatzes zweifelhafter oder unwirksamer Maßnahmen wegen der internen Kontrollmechanismen und der anderen Vergütungsstrukturen im Krankenhausbereich geringer einstufe als bei der Behandlung durch einzelne niedergelassene Ärzte. Die stationäre Krankenhausbehandlung der Klägerin sei nach den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. G auch erforderlich gewesen. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft gewesen. Dies ergebe sich aus den glaubhaften Ausführungen der Klägerin und den nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Dr. G. Die Liposuktion sei hiernach das letzte verbleibende Mittel zur Behandlung gewesen. Der Kostenerstattungsanspruch des § 13 Abs. 3 SGB V sei nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Klägerin in einem nicht zugelassenen Krankenhaus habe operieren lassen. Vorliegend hätte es der Beklagten oblegen, auf die Möglichkeit einer stationären Behandlung in einem Vertragskrankenhaus hinzuweisen. Die Klägerin habe nach ihrem glaubhaften Vorbringen nicht über die Kenntnis verfügt, dass eine entsprechende Maßnahme in einem Vertragskrankenhaus durchführbar gewesen sei. Die habe in der mündlichen Verhandlung am 25.06.2013 glaubhaft dargelegt, dass sie bei entsprechender Kenntnis eine Behandlung in einem Vertragskrankenhaus in Betracht gezogen hätte. Der Beklagten hätte es sich aufdrängen müssen, dass es zweckmäßig gewesen wäre, wenn die Klägerin über diese Möglichkeit Kenntnis erlangt hätte. Die Beratung sei nicht hinfällig gewesen, weil die Klägerin auf eine Versorgung durch die I-Klinik von vornherein festgelegt gewesen sei. Die Kammer sei nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin davon überzeugt, dass diese bei entsprechendem Hinweis durch die Beklagte die Behandlung in einem Vertragskrankenhaus durchgeführt hätte. Der Kostenerstattungsanspruch scheitere auch nicht an der fehlenden Kausalität zwischen Leistungsablehnung und Kostenbelastung. Ausweislich der Geschäftsbedingungen der I-Klinik habe für die Klägerin bis vier Tage vor Durchführung der Operation, d.h. noch nach Bekanntgabe des Bescheides vom 10.08.2011, die Möglichkeit bestanden, ohne Kostenbelastung vom Behandlungsvertrag zurückzutreten.
22Schließlich sei die Klägerin einem rechtswirksamen Vergütungsanspruch der I-Klinik ausgesetzt gewesen. Hierbei verkenne die Kammer nicht, dass die nachträglich vorgelegten Rechnungsschreiben korrigiert und rückdatiert worden seien. Dies stehe einer fälligen Vergütungsforderung nach den Regelungen der GOÄ nicht entgegen, sondern sei ausschließlich für den konkreten Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung entscheidend, worauf auch die von der Beklagten zitierte Entscheidung des BGH vom 21.12.2006 (Az.: III ZR 117/06) abstelle.
23Zu Begründung ihrer Berufung vom 07.08.2013 gegen das ihr am 29.07.2013 zugestellte Urteil führt die Beklagte aus:
24Die Klägerin habe sich die Leistung nicht wegen einer unrechtmäßigen Ablehnung durch die Beklagte in der von ihr von vornherein gewünschten Privatklinik selbst verschafft. Die Klägerin habe die Privatklinik ohne vorherige Verordnung konsultiert und erst nachträglich den Gefäßchirurgen H. Dieser habe lediglich attestiert, dass eine Liposuktion sinnvoll sei. Weder die Notwendigkeit einer stationären Behandlung noch die einer Liposuktion seien attestiert worden. Die Liposuktion werde den Kriterien des § 2 Absatz 1 Satz 3 SGB V nicht gerecht. Nach dem "Gutachten Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 vom 6. Oktober 2011 sei die Methode der Liposuktion zur Therapie eines Lipödems derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Es seien weitere randomisierte Studien erforderlich, um sie als eine den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechende Behandlungsmethode qualifizieren zu können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG, Urteil vom 19.02.2002, Az.: B 1 KR 16/00) gelte der Versorgungsstandard des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V für alle Leistungsbereiche der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ohnehin habe der Sachverständige die stationäre Behandlungsbedürftigkeit für die Liposuktion lediglich für die am 27.09.2011 erfolgte Operation bestätigt. Ein Beratungsverstoß liege entgegen der Auffassung des Sozialgerichts schon deshalb nicht vor, weil es sich vorliegend grundsätzlich nicht um eine vertragsübliche Behandlung handele, für die Vertragseinrichtungen genannt werden könnten und müssten. Zudem entfalle bei einer Festlegung des Versicherten auf einen bestimmten Leistungserbringer eine Beratungspflicht seitens der Krankenkasse. Die erstinstanzlichen Ausführungen zur Frage, ob die Klägerin einem Vergütungsanspruch ausgesetzt sei, könnten - wenn überhaupt - nur tragfähig sein, wenn die Forderungen vor den Rechnungskorrekturen noch nicht fällig geworden seien. Die Fälligkeit scheine aber mit den Rechnungslegungen am 19.08.2011 und 28.09.2011 eingetreten zu sein, da in dem Aufklärungsbogen, den die Klägerin am 07.02.2011 unterschrieben habe, über die sofortige Fälligkeit nach Leistungserbringung informiert werde und auf den Rechnungen selbst jeweils vermerkt sei: "Der Betrag wird per Lastschrift von Ihrem Bankkonto abgebucht."
25Die Beklagte beantragt,
26das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 25.06.2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
27Die Klägerin beantragt,
28die Berufung zurückzuweisen,
29hilfsweise, die Revision zuzulassen.
30Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Die Beklagte habe noch immer nicht eindeutig klargestellt, ob sie die stationäre Leistung als Leistung der GKV nun erbringe oder nicht. Die Klägerin habe den Weg des § 135 SGB V eingehalten. Die Ausführungen des Sachverständigen habe die Beklagte nicht widerlegen können. Die Rolle des MDK, die die Beklagte nicht habe aufhellen können, sei nach wie vor unklar, da die Beklagte sich hier im Hinblick auf die durch sie auch angeblich vorliegende Möglichkeit der Vertragserbringung nicht festgelegt habe, sondern wahlweise springe dahingehend, dass die Behandlung der Klägerin medizinisch entweder nicht notwendig gewesen sei oder im Leistungskatalog der GKV nicht enthalten gewesen sein solle, ferner aber durch den MDK als nicht zweckmäßig und nicht erforderlich angesehen werde. Die Beklagte verkenne nach wie vor die Systematik der §§ 135, 92 SGB V sowie des § 108 SGB V. Die Beklagte habe die sie treffende Beratungspflicht - die Möglichkeit der vertraglichen Unterbringung einmal unterstellt - in grober Weise verletzt: Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die Klägerin eben nicht auf eine Versorgung durch die I-Klinik von vornherein festgelegt gewesen und hätte dann, wenn die Beklagte die ihr obliegende Beratungspflicht vollständig, ordnungsgemäß und nachvollziehbar irgendwann einmal wahrgenommen hätte, in Anspruch genommen.
31Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
32Entscheidungsgründe:
33Die statthafte (§§ 143 ff. Sozialgerichtsgesetz) und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist auch begründet.
34Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, der Klägerin die Kosten für die im August und September 2011 in der I-Klinik in M unter stationären Bedingungen durchgeführten Liposuktionen in Höhe von 10.724,86 EUR zu erstatten. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthafte (§ 54 Abs. 1 und 4 i.V.m. § 56 SGG) und in zulässiger Weise erhobene Klage vom 16.02.2012 ist unbegründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid der Beklagten vom 10.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2012 (§ 95 SGG) nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG; die Ablehnung der von der Klägerin beantragten (Sach-) Leistung durch die Beklagte ist rechtlich nicht zu beanstanden, ein Anspruch gemäß § 13 SGB V auf Erstattung der der Klägerin infolge der nach Ablehnung der Leistung gleichwohl in der I-Klinik durchgeführten Eingriffe entstandenen Kosten durch die Beklagte besteht nicht.
35Als Anspruchsgrundlage für einen Kostenerstattungsanspruch kommt - da die Klägerin nicht nach § 13 Abs. 2 SGB V Kostenerstattung anstelle der Sach- und Dienstleistung gewählt hat - nur § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Danach sind Versicherten von der Krankenkasse Kosten für eine selbst beschaffte Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte, oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war.
36Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Dabei kann der Senat dahinstehen lassen, ob der im Rahmen von § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zu verlangende Ursachenzusammenhang zwischen (rechtswidriger) Ablehnung und Kostenlast (vgl. etwa BSG, Urteile vom 14.12.2006 - B 1 KR 8/06 R und 02.11.2007 - B 1 KR 14/07 R) vorliegend nicht bereits deshalb zu verneinen ist, weil die Klägerin - wofür nicht zuletzt die späte Antragstellung sprechen dürfte - ungeachtet des ihr bis wenige Tage vor der stationären Maßnahme möglichen Rücktritts vom (Behandlungs-) Vertrag vom 07.02.2011 zur Durchführung der stationären Behandlungen in der privaten I-Klinik - und damit einem nicht zugelassenen Leistungserbringer - nicht ohnehin unabhängig von der Bescheidung ihres erst am 11.07.2011 bei der Beklagten gestellten Antrages festgelegt war (vgl. dazu Hauck in Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd. 1, 19. Auflage, Stand: 01.03.2008, § 13 SGB V Rn. 260 f.).
37Denn der in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R = BSGE 97, 190-203).
38Die (ursprünglich) begehrte stationäre Durchführung einer Liposuktion an beiden Beinen gehört jedoch nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2012 - L 4 KR 595/11 und Urteil vom 01.03.2013 - L 4 KR 3517/11; SG Neubrandenburg, Urteil vom 18.04.2013 - S 14 KR 11/12 und zuletzt Sächsisches LSG, Urteil vom 16.01.2014 - L 1 KR 229/10; a.A. Hessisches LSG, Urteil vom 05.02.2013 - L 1 KR 391/12).
39Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach Satz 2 Nr. 5 dieser Vorschrift umfasst die Krankenbehandlung unter anderem auch die Krankenhausbehandlung. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.
40Der Senat lässt insoweit dahinstehen, ob auch der Eingriff am 27.09.2011 in seiner Gänze zur Behandlung des vom gerichtlichen Sachverständigen Dr. G bestätigten und auch durch die behandelnden Ärzten (wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung von initial bis Stadium II) dokumentierten behandlungsbedürftigen Lipödemsyndroms mit Hämatombildung und Berührungsempfndlichkeit an beiden Beinen erfolgte. Zweifel daran könnten etwa die Ausführungen im Operationsbericht begründen, soweit (allein) dort ausgeführt wird, es sei eine Korrektur an den Oberschenkeln außen beidseits vorgenommen worden. Eine Krankenbehandlung ist grundsätzlich jedoch nur notwendig, wenn durch sie der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand geheilt, gebessert, vor einer Verschlimmerung bewahrt wird oder Schmerzen gelindert werden können. Eine Krankheit liegt nur vor, wenn der Versicherte in den Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl. etwa BSG, Urteil vom 28.09.2010 - B 1 KR 5/10 R).
41Wie die übrigen Behandlungsformen müssen nämlich auch solche im Krankenhaus den in §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 28 Abs. 1 SGB V für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung festgelegten Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien genügen. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V bestimmt allgemein, dass die Leistungen der Krankenversicherung nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Den Qualitätskriterien des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entspricht eine Behandlung, wenn die "große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler)" die Behandlungsmethode befürwortet und von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Als Basis für die Herausbildung eines Konsenses können alle international zugänglichen einschlägigen Studien dienen; in ihrer Gesamtheit kennzeichnen diese den Stand der medizinischen Erkenntnisse (vgl. zu alledem BSG, Urteil vom 21.03.2013 - B 3 KR 2/12 R m.w.N.).
42Soweit das Sozialgericht - wie das Hessische Landessozialgericht - unter Verweis auf § 137c SGB V wesentlich auch darauf abstellt, dass für den stationären Bereich ein Anspruch nur dann ausgeschlossen sei, wenn der GBA dazu eine negative Stellungnahme abgegeben hat - was vorliegend nicht der Fall ist, werden diese den Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien entnommenen Einschränkungen nicht hinreichend gewürdigt.
43Der Anspruch auf Krankenhausbehandlung erfordert vielmehr auch dann, wenn der GBA nicht über die Zulässigkeit der Behandlungsmethode im Krankenhaus entschieden hat, dass die angewandte Methode zur Zeit der Behandlung dem Qualitätsgebot des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse oder den Voraussetzungen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung genügt. Nur insoweit entspricht der Vergütungsanspruch des Krankenhauses dem Anspruch der Versicherten auf stationäre Behandlung. Sind die praktischen Möglichkeiten erzielbarer Evidenz eingeschränkt, können sich allerdings auch die Anforderungen an das Evidenzniveau des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse vermindern (BSG Urteil vom 17.12.2013 - B 1 KR 70/12 R nach Terminbericht Nr. 64/13 vom 18.12.2013). Die einzige Ausnahme bildet nach § 137c Abs. 2 Satz 2 SGB V die - hier nicht einschlägige - Durchführung klinischer Studien. Behandlungen im Rahmen solcher Studien waren und sind daher zur Förderung des medizinischen Fortschritts stets zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abrechenbar.
44Die rechtstechnisch unterschiedliche Gestaltung einerseits von § 135 Abs. 1 SGB V als "Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" für die ambulante vertragsärztliche Versorgung und andererseits von § 137c Abs. 1 SGB V als "Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt" für die stationäre Versorgung im Krankenhaus sowie Wortlaut und Regelungszweck von § 137c Abs. 1 SGB V gebieten es nicht, bereits im Rahmen der Prüfung, ob Nachweise zur Wirksamkeit der Methode bei der beanspruchten Indikation vorliegen, unterschiedliche Maßstäbe zur Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im ambulanten oder stationären Versorgungsbereich zur Anwendung zu bringen. Trotz der andersartigen Normstruktur und des unterschiedlichen Wortlauts von § 135 Abs. 1, § 137c Abs. 1 SGB V ist die Methodenbewertung im SGB V prinzipiell bereichsübergreifend angelegt (zu alledem BSG, Urteil vom 06.05.2009 - B 6 A 1/08 R = BSGE 103, 106-134).
45Zur Überzeugung des Senats können zur Qualität und Wirksamkeit der Liposuktion im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V - jedenfalls auf den hier maßgeblichen Zeitraum August/September 2011 bezogen - keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen gemacht werden. Es fehlen wissenschaftlich einwandfrei durchgeführte Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem "Gutachten Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7des MDK vom 06.10.2011. Nach eingehender Recherche der einschlägigen Publikationen (unter Einschluss sowohl randomisiert kontrollierter als auch nicht randomisiert kontrollierter Studien) ist die Expertengruppe zu dem zusammenfassenden Ergebnis gelangt, dass die Methode der Liposuktion zur Therapie des Lipödems derzeit noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion ist und weitere randomisierte Studien erforderlich sind, um sie zu einer den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechenden Behandlungsmethode qualifizieren zu können. Evidenzbelege aus klinisch kontrollierten Studien seien nicht vorgefunden worden.
46Dabei hat sich die Expertengruppe explizit auch mit der vom LSG Hessen (a.a.O.) als Nachweis für Qualität und Wirksamkeit in Bezug genommenen aktuellen (Konsensus) Leitlinie der Deutschen Fachgesellschaft für Phlebologie (DGP) auseinandergesetzt und diese als nicht evidenzbasiert bezeichnet. Als Belege für den Nutzen führe die Leitlinie im Wesentlichen Ergebnisse von Registernachbeobachtungen und kleinere Fallserien an.
47Der Senat hat keine Bedenken seiner Entscheidung die überzeugenden Feststellungen im Gutachten vom 06.10.2011 zu Grunde zu legen. Insbesondere steht einer Verwertung nicht entgegen, dass dieses Gutachten im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes unter Federführung des medizinischen Fachbereichs Methodenbewertung des MDK Nordrhein erstellt wurde. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben der sozialmedizinischen Expertengruppen, eine bundesweit einheitliche Begutachtung herzustellen bzw. zu sichern. Die Ärzte des MDK sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen (§ 275 Abs. 5 SGB V). Gutachten des MDK können deshalb auch im gerichtlichen Verfahren verwertet werden (vgl. bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.03.2013 - L 4 KR 3517/11 unter Verweis auf BSG, Beschluss vom 23.12.2004 - B 1 KR 84/04 B sowie Urteil vom 14.12.2000 - B 3 P 5/00 R). Die ohnehin auf die Begutachtung im konkreten Fall bezogenen Ausführungen des Bevollmächtigten der Klägerin zur vermeintlich ungeklärten Rolle des MDK sind angesichts der gesetzlichen Aufgabenzuweisung nicht nachvollziehbar; die Feststellung, der MDK sei immer "parteilich", entbehren einer sachlichen Grundlage.
48Kommt es auf die Anerkennung und Akzeptanz der streitigen Methode in den einschlägigen medizinischen Fachkreisen zum Zeitpunkt der Behandlung bei Fehlen eines wissenschaftlichen Belegs der Wirksamkeit von vornherein nicht an (BSG, Urteil vom 21.03.2013 - B 3 KR 2/12 R), steht zur Überzeugung des Senats fest, dass den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genügende Qualitäts- und Wirksamkeitsnachweise fehlen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2012 - L 4 KR 595/11 und Urteil vom 01.03.2013 - L 4 KR 3517/11; SG Neubrandenburg, Urteil vom 18.04.2013 - S 14 KR 11/12; Sächsisches LSG, Urteil vom 16.01.2014 - L 1 KR 229/10). Die im Ergebnis abweichende Rechtsprechung des Hessisches Landessozialgerichts (Urteil vom 05.02.2013 - L 1 KR 391/12) vermag allein deshalb nicht zu überzeugen, weil dort entgegen der Rechtsprechung aller mit dem SGB V befassten Senate des Bundessozialgerichts unterschiedliche Maßstäbe zur Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im ambulanten oder stationären Versorgungsbereich angelegt werden.
49In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass das Bundessozialgericht in Fortführung seiner Rechtsprechung durch Urteil vom 16.12.2008 (B 1 KR 11/08 R) eine ambulante ärztliche Liposuktion zu Lasten der GKV weiterhin nicht für möglich gehalten hat (Beschluss vom 10.05.2012 - B 1 KR 78/11 B). Es hat explizit darauf hingewiesen, dass bereits in tatsächlicher Sicht nicht ersichtlich sei, aufgrund welcher neueren oder schon vorhandenen, aber bislang nicht berücksichtigten medizinischen Erkenntnisse die antragsberechtigten Stellen es versäumt hätten, einen Antrag zu stellen.
50Scheidet nach alledem ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer stationären Liposuktion (und auch einer ambulanten ärztlichen Liposuktion - wie soeben dargelegt) im Wege der Sachleistung ebenso aus wie eine Erstattung der ihr entstandenen Kosten, erübrigen sich insbesondere Ausführungen dazu, ob und ggf. in welcher Höhe die Klägerin wirksam einem Anspruch der I-Klinik ausgesetzt war.
51Ein Anspruch der Klägerin lässt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Systemversagen, eines Seltenheitsfalles oder einer grundrechtsorientierten Auslegung herleiten. Für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung im Sinne des § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V fehlt jeglicher Anhaltspunkt (vgl. auch BSG, Urteil vom 16.12.2008 a.a.O.). Gleiches gilt angesichts der Häufigkeit der Erkrankung (die, worauf das SG Neubrandenburg, Urteil vom 18.04.2013 a.a.O., zu Recht hinweist, nicht zuletzt durch zahlreiche sozialgerichtliche Klageverfahren dokumentiert wird) auch für einen Seltenheitsfall. Angesichts des fehlenden Qualitäts- und Wirksamkeitsnachweises scheidet die Annahme eines Systemversagens in der vorliegenden Konstellation ebenso von vornherein aus.
52Abschließend weist der Senat darauf hin, dass die Inanspruchnahme einer nicht gemäß § 108 SGB V zugelassenen Privatklinik nicht mit einem Beratungsfehler der Beklagten rechtfertigt werden kann. Die gegenteilige Auffassung des Sozialgerichts vermag vor dem Hintergrund der durch die Beklagte dokumentierten Gespräche mit der Klägerin, deren Inhalt von der Klägerin auch zuletzt in der mündlichen Verhandlung dem Senat gegenüber nicht in Abrede gestellt worden ist, nicht zu überzeugen. Der noch am 03.08.2011 erteilte Hinweis, selbst im Fall der Befürwortung der beantragten Operation durch den MDK könne eine Kostenzusage für die I-Klinik nicht erteilt werden, weil es sich insoweit um kein Vertragskrankenhaus handele, ist eindeutig. Er war nicht deshalb zu wiederholen, weil die Stellungnahme des MDK einen Anspruch der Klägerin ohnehin verneinte.
53Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
54Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), bestehen nicht.
(1) Das Gericht kann im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass
- 1.
durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder - 2.
der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist.
(2) (weggefallen)
(3) Die Entscheidung nach Absatz 1 wird in ihrem Bestand nicht durch die Rücknahme der Klage berührt. Sie kann nur durch eine zu begründende Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden.
(4) Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung ergeht durch gesonderten Beschluss.
(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.
(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.
(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.
(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.
(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.
(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.
(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.
(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.
(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.
(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.
Tenor
-
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. August 2011 wird zurückgewiesen.
-
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
- 1
-
I. Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen eines Lipödem-Syndroms der Beine im Wege der Kostenerstattung von den Kosten einer ambulanten Liposuktion mit vier Behandlungseinheiten freigestellt zu werden, in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat ua ausgeführt, die ambulante Liposuktion sei nicht Gegenstand einer Sachleistung, weil eine positive Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) fehle. Anhaltspunkte für eine grundrechtsorientierte Auslegung, einen Seltenheitsfall oder ein Systemversagen bestünden nicht (Urteil vom 25.8.2011).
- 2
-
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
- 3
-
II. Die Beschwerde ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet. Die Beschwerde ist dementsprechend insgesamt unter Hinzuzuziehung der ehrenamtlichen Richter zurückzuweisen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B). Die Bezeichnung eines Verfahrensfehlers entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen(dazu 1.). Der zulässig geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nicht vor (dazu 2.).
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1. Die Klägerin bezeichnet einen Verfahrensmangel nicht ausreichend. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Gemäß § 160a Abs 2 S 3 SGG muss der Verfahrensfehler bezeichnet werden. Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin rügt zwar die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG), legt aber die erforderlichen Umstände einer Pflichtverletzung nicht dar. Auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht kann die Zulassungsbeschwerde nämlich nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG; BSG Beschluss vom 30.7.2009 - B 1 KR 22/09 B - RdNr 5). Hierzu enthält die Beschwerdebegründung keinen Vortrag.
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2. Die Revision ist nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Klägerin legt dies ausreichend dar (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Hierzu wirft die Klägerin sinngemäß die entscheidungserhebliche, allgemein bedeutsame sowie ursprünglich klärungsbedürftig gewesene Rechtsfrage auf, ob eine KK aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere des Art 6 Abs 1 UN-BRK, eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (eines hierzu Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen. Um dem Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zu entsprechen, muss die aufgeworfene Rechtsfrage im angestrebten Revisionsverfahren indes nicht nur entscheidungserheblich sowie über den Einzelfall hinaus von Bedeutung, sondern auch klärungsbedürftig sein (vgl zB SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN; BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - Juris RdNr 4 ). Der Rechtssache kommt gemessen an diesen Kriterien keine grundsätzliche Bedeutung mehr zu. Die von der Klägerin sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine KK eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (durch einen Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen (vgl § 135 Abs 1 S 1 SGB V iVm 2. Kap, 2. Abschn, § 4 Verfahrensordnung des GBA
vom 18.12.2008, BAnz Nr 84a wirft keinen Klärungsbedarf (mehr) auf.vom 10.6.2009),
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Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt nämlich, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist" (BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38; BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7). Der erkennende Senat hat - wie vom LSG ausgeführt - bereits entschieden, dass ein Anspruch auf die neue Behandlungsmethode der ambulanten ärztlichen Liposuktion zu Lasten der GKV nicht in Betracht kommt, solange der GBA die neue Methode der Fettabsaugung nicht positiv empfohlen hat (§ 135 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V)oder ein Ausnahmefall vorliegt, in welchem die positive Empfehlung entbehrlich ist (BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 19 RdNr 13 ff ). Der hier allein in Betracht kommende Ausnahmefall des Systemversagens setzt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats voraus, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (vgl dazu BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 17 f mwN - LITT). Abgesehen davon, dass schon in tatsächlicher Sicht nicht ersichtlich ist, aufgrund welcher neueren oder schon vorhandenen, aber bislang nicht berücksichtigten medizinischen Erkenntnisse die antragsberechtigten Stellen es versäumt hätten, einen Antrag zu stellen, bestehen keine vernünftigen Zweifel daran, dass eine solche Fürsorgepflicht nicht besteht. Ein Klärungsbedarf ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht (mehr) unter Berücksichtigung des Art 25 (dazu a) oder des Art 6 (dazu b) der UN-BRK, der seit dem 26.3.2009 völkerrechtliche Verbindlichkeit für Deutschland gemäß Art 45 Abs 2 UN-BRK und innerstaatlich der Rang eines Bundesgesetzes zukommt (näher dazu BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 19 f, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).
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a) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist aus Art 25 UN-BRK keine eigenständige, über die Rechtsprechung des BSG zum Systemversagen hinausgehende Pflicht der KK abzuleiten, für die Einleitung eines Bewertungsverfahrens Sorge zu tragen. Ein über das gesetzlich Geregelte hinausgehender Anspruch auf die formelle Einleitung eines ergebnisoffenen GBA-Prüfungsverfahrens ergibt sich weder aus Art 25 S 1 und 2 UN-BRK noch aus Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK.
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Art 25 S 1 und 2 UN-BRK sind nicht unmittelbar anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung durch den Gesetzgeber. Nach Art 25 S 1 UN-BRK erkennen die Vertragsstaaten - wie in der Beschwerdebegründung zitiert - an, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund der Behinderung haben. Zudem haben die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten haben. Hiermit können nach dem für das Übereinkommen verbindlichen englischen und französischen Wortlaut - Art 50 UN-BRK - auch Gesundheitsleistungen gemeint sein ("access … to health services that are gender-sensitive"; "l'accès à des services de santé qui prennent en compte les sexospécificités"), einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation (Art 25 S 2 UN-BRK). Auf Letzteres nimmt die Klägerin inhaltlich insoweit Bezug als sie sinngemäß meint, die von ihr begehrte Liposuktion sei wegen der psychosozialen Auswirkungen des Lipödems bei Frauen eine geschlechtsspezifische Gesundheitsleistung. Der erkennende Senat hat indes zu Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2UN-BRK zwischenzeitlich - nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist - entschieden, dass diese Normen non-self-executing sind. Nichts anderes gilt für die isolierte Betrachtung des Art 25 S 1 und 2 UN-BRK.
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Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK ist demgegenüber zwar self-executing, wird aber durch die gesetzliche Regelung des Antragsverfahrens für Entscheidungen nach § 135 Abs 1 SGB V nicht verletzt. Durch die Rechtsprechung des erkennenden Senats ist geklärt, dass das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK unmittelbar anwendbares Recht ist (BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 29, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Das trifft auch auf Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK zu. Danach verhindern die Vertragsstaaten die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder -leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund von Behinderung. Die rechtliche Reichweite dieses speziellen, auf die Gesundheit bezogenen Diskriminierungsverbots ist ebenfalls - mittelbar durch die Rechtsprechung zum allgemeinen Diskriminierungsverbot - geklärt. Es ergänzt das allgemeine Verbot der Diskriminierung aufgrund von Behinderung des Art 5 Abs 2 UN-BRK und wiederholt es bereichsspezifisch. Das unmittelbar anwendbare allgemeine Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK entspricht für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG (BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 30 f, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Dies ist auf Art 25 S 3 Buchst f UN-BRK übertragbar.
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Sowohl die Regelung des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt für die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden für die vertragsärztliche Versorgung als auch die normative Ausgestaltung seines Verfahrens, insbesondere auch seine Einleitung (vgl § 92 Abs 1 S 2 Nr 1; § 135 Abs 1 S 1 Nr 1; § 140f Abs 2 S 5 SGB V; 2. Kap, 2. Abschn § 4 VerfO), verstoßen nicht gegen das aufgezeigte Diskriminierungsverbot. Die Regelungen knüpfen nicht an eine Behinderung im konventionsrechtlichen Sinne an, sondern an Krankheiten als solche, die weder zu Behinderungen führen müssen noch bereits eingetretene Behinderungen voraussetzen. Allerdings sind noch nicht oder nicht ausreichend diagnostizier- oder therapierbare schwere Erkrankungen faktisch regelmäßig mit daraus resultierenden Behinderungen der Erkrankten assoziiert.
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Soweit die angegriffene Regelung indes zugleich behinderte Menschen iS des Art 3 Abs 3 S 2 GG oder des Art 1 Abs 2 UN-BRK trifft, ist sie wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des GKV-Leistungskatalogs gerechtfertigt. Es ist nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V)unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V),und hierbei grundsätzlich Qualität und Wirksamkeit der Leistungen einem Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)unterwirft, das er durch die Regelungen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden absichert. Auch die Regelungen über die betroffenen Verfahrensvorschriften müssen sich an den unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der UN-BRK messen lassen, weil sie die Möglichkeiten eines geregelten Erkenntnisprozesses mit verbindlichen Folgen für die Gesundheitsversorgung und -leistungen behinderter Menschen beschränken. Hierbei ist die Regelung des Art 2 UN-BRK zu berücksichtigen. Danach erfasst der konventionsrechtliche Begriff der "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" auch die Versagung "angemessener Vorkehrungen". Auch dies hat die Rechtsprechung des erkennenden Senats geklärt (vgl BSG Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 10/11 R - SozR 4-1100 Art 3 Nr 69 RdNr 32 ff, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen).
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Die beteiligten Normgeber haben indessen dem Ziel, Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu vermeiden, bei der Ausgestaltung des Verfahrens Rechnung getragen. Sie haben nämlich neben allen anderen Antragsberechtigten auch dem Deutschen Behindertenrat in Bezug auf Verfahren zur Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ein Antragsrecht zugebilligt (§ 140f Abs 2 S 5 SGB V). Als maßgebliche Organisation für die Wahrnehmung der Interessen behinderter Menschen ist der Deutsche Behindertenrat berechtigt, das Verfahren der Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden einzuleiten (2. Kap, 2. Abschn § 4 Abs 2 Buchst d Spiegelstrich 2 VerfO iVm § 2 Abs 1 Nr 1 Patientenbeteiligungsverordnung). Eine allgemeine Fürsorgepflicht der KK, auf einen Antrag eines Berechtigten hinzuwirken, ist neben dem speziell auf die Belange behinderter Menschen zugeschnittenen Antragsrecht der genannten Patientenorganisation nicht erforderlich.
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b) Die Rechtsfrage, ob eine KK eine Fürsorgepflicht hat, für einen Antrag (durch einen Berechtigten) auf Einleitung eines Verfahrens zur Bewertung der Liposuktion durch den GBA Sorge zu tragen, wirft nach diesen Grundsätzen auch im Hinblick auf die Regelung des geltend gemachten Art 6 UN-BRK keinen Klärungsbedarf (mehr) auf. Nach Art 6 Abs 1 UN-BRK erkennen die Vertragsparteien an, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und in dieser Hinsicht Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können. Die Regelung ist im Zusammenhang mit Art 6 Abs 2 UN-BRK zu sehen, wonach die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen treffen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können. Selbst wenn hiernach dem Konventionstext ein auf Frauen und Mädchen mit Behinderung bezogenes unmittelbar anwendbares bereichsspezifisches Diskriminierungsverbot zu entnehmen sein sollte, hätte der nationale Normgeber für das Verfahren zur Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch das Antragsrecht des Deutschen Behindertenrats eine angemessene Vorkehrung im Sinne von Art 2 UN-BRK getroffen.
(1) Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
- 1.
die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung, - 2.
die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und - 3.
die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.
(1a) Für ein Methodenbewertungsverfahren, für das der Antrag nach Absatz 1 Satz 1 vor dem 31. Dezember 2018 angenommen wurde, gilt Absatz 1 mit der Maßgabe, dass das Methodenbewertungsverfahren abweichend von Absatz 1 Satz 5 erst bis zum 31. Dezember 2020 abzuschließen ist.
(2) Für ärztliche und zahnärztliche Leistungen, welche wegen der Anforderungen an ihre Ausführung oder wegen der Neuheit des Verfahrens besonderer Kenntnisse und Erfahrungen (Fachkundenachweis), einer besonderen Praxisausstattung oder anderer Anforderungen an die Versorgungsqualität bedürfen, können die Partner der Bundesmantelverträge einheitlich entsprechende Voraussetzungen für die Ausführung und Abrechnung dieser Leistungen vereinbaren. Soweit für die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen, welche als Qualifikation vorausgesetzt werden müssen, in landesrechtlichen Regelungen zur ärztlichen Berufsausübung, insbesondere solchen des Facharztrechts, bundesweit inhaltsgleich und hinsichtlich der Qualitätsvoraussetzungen nach Satz 1 gleichwertige Qualifikationen eingeführt sind, sind diese notwendige und ausreichende Voraussetzung. Wird die Erbringung ärztlicher Leistungen erstmalig von einer Qualifikation abhängig gemacht, so können die Vertragspartner für Ärzte, welche entsprechende Qualifikationen nicht während einer Weiterbildung erworben haben, übergangsweise Qualifikationen einführen, welche dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der facharztrechtlichen Regelungen entsprechen müssen. Abweichend von Satz 2 können die Vertragspartner nach Satz 1 zur Sicherung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung Regelungen treffen, nach denen die Erbringung bestimmter medizinisch-technischer Leistungen den Fachärzten vorbehalten ist, für die diese Leistungen zum Kern ihres Fachgebietes gehören. Die nach der Rechtsverordnung nach § 140g anerkannten Organisationen sind vor dem Abschluss von Vereinbarungen nach Satz 1 in die Beratungen der Vertragspartner einzubeziehen; die Organisationen benennen hierzu sachkundige Personen. § 140f Absatz 5 gilt entsprechend. Das Nähere zum Verfahren vereinbaren die Vertragspartner nach Satz 1. Für die Vereinbarungen nach diesem Absatz gilt § 87 Absatz 6 Satz 10 entsprechend.
(3) bis (6) (weggefallen)
(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 überprüft auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Absatz 2 Satz 1, des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder eines Bundesverbandes der Krankenhausträger Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, daraufhin, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode nicht hinreichend belegt ist und sie nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, insbesondere weil sie schädlich oder unwirksam ist, erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie zur Erprobung nach § 137e. Nach Abschluss der Erprobung erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf, wenn die Überprüfung unter Hinzuziehung der durch die Erprobung gewonnenen Erkenntnisse ergibt, dass die Methode nicht den Kriterien nach Satz 1 entspricht. Die Beschlussfassung über die Annahme eines Antrags nach Satz 1 muss spätestens drei Monate nach Antragseingang erfolgen. Das sich anschließende Methodenbewertungsverfahren ist in der Regel innerhalb von spätestens drei Jahren abzuschließen, es sei denn, dass auch bei Straffung des Verfahrens im Einzelfall eine längere Verfahrensdauer erforderlich ist.
(2) Wird eine Beanstandung des Bundesministeriums für Gesundheit nach § 94 Abs. 1 Satz 2 nicht innerhalb der von ihm gesetzten Frist behoben, kann das Bundesministerium die Richtlinie erlassen. Ab dem Tag des Inkrafttretens einer Richtlinie nach Absatz 1 Satz 2 oder 4 darf die ausgeschlossene Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden; die Durchführung klinischer Studien bleibt von einem Ausschluss nach Absatz 1 Satz 4 unberührt.
(3) Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Absatz 1 getroffen hat, dürfen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt und von den Versicherten beansprucht werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt sowohl für Methoden, für die noch kein Antrag nach Absatz 1 Satz 1 gestellt wurde, als auch für Methoden, deren Bewertung nach Absatz 1 noch nicht abgeschlossen ist.
(1) Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
- 1.
die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung, - 2.
die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und - 3.
die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.
(1a) Für ein Methodenbewertungsverfahren, für das der Antrag nach Absatz 1 Satz 1 vor dem 31. Dezember 2018 angenommen wurde, gilt Absatz 1 mit der Maßgabe, dass das Methodenbewertungsverfahren abweichend von Absatz 1 Satz 5 erst bis zum 31. Dezember 2020 abzuschließen ist.
(2) Für ärztliche und zahnärztliche Leistungen, welche wegen der Anforderungen an ihre Ausführung oder wegen der Neuheit des Verfahrens besonderer Kenntnisse und Erfahrungen (Fachkundenachweis), einer besonderen Praxisausstattung oder anderer Anforderungen an die Versorgungsqualität bedürfen, können die Partner der Bundesmantelverträge einheitlich entsprechende Voraussetzungen für die Ausführung und Abrechnung dieser Leistungen vereinbaren. Soweit für die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen, welche als Qualifikation vorausgesetzt werden müssen, in landesrechtlichen Regelungen zur ärztlichen Berufsausübung, insbesondere solchen des Facharztrechts, bundesweit inhaltsgleich und hinsichtlich der Qualitätsvoraussetzungen nach Satz 1 gleichwertige Qualifikationen eingeführt sind, sind diese notwendige und ausreichende Voraussetzung. Wird die Erbringung ärztlicher Leistungen erstmalig von einer Qualifikation abhängig gemacht, so können die Vertragspartner für Ärzte, welche entsprechende Qualifikationen nicht während einer Weiterbildung erworben haben, übergangsweise Qualifikationen einführen, welche dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der facharztrechtlichen Regelungen entsprechen müssen. Abweichend von Satz 2 können die Vertragspartner nach Satz 1 zur Sicherung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung Regelungen treffen, nach denen die Erbringung bestimmter medizinisch-technischer Leistungen den Fachärzten vorbehalten ist, für die diese Leistungen zum Kern ihres Fachgebietes gehören. Die nach der Rechtsverordnung nach § 140g anerkannten Organisationen sind vor dem Abschluss von Vereinbarungen nach Satz 1 in die Beratungen der Vertragspartner einzubeziehen; die Organisationen benennen hierzu sachkundige Personen. § 140f Absatz 5 gilt entsprechend. Das Nähere zum Verfahren vereinbaren die Vertragspartner nach Satz 1. Für die Vereinbarungen nach diesem Absatz gilt § 87 Absatz 6 Satz 10 entsprechend.
(3) bis (6) (weggefallen)
(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; dabei ist den besonderen Erfordernissen der Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen und psychisch Kranker Rechnung zu tragen, vor allem bei den Leistungen zur Belastungserprobung und Arbeitstherapie; er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind; er kann die Verordnung von Arzneimitteln einschränken oder ausschließen, wenn die Unzweckmäßigkeit erwiesen oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist. Er soll insbesondere Richtlinien beschließen über die
- 1.
ärztliche Behandlung, - 2.
zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz sowie kieferorthopädische Behandlung, - 3.
Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten und zur Qualitätssicherung der Früherkennungsuntersuchungen sowie zur Durchführung organisierter Krebsfrüherkennungsprogramme nach § 25a einschließlich der systematischen Erfassung, Überwachung und Verbesserung der Qualität dieser Programme, - 4.
ärztliche Betreuung bei Schwangerschaft und Mutterschaft, - 5.
Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, - 6.
Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege, Soziotherapie und außerklinischer Intensivpflege sowie zur Anwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien im Sinne von § 4 Absatz 9 des Arzneimittelgesetzes, - 7.
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit einschließlich der Arbeitsunfähigkeit nach § 44a Satz 1 sowie der nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a versicherten erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Sinne des Zweiten Buches, - 8.
Verordnung von im Einzelfall gebotenen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und die Beratung über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, - 9.
Bedarfsplanung, - 10.
medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a Abs. 1 sowie die Kryokonservierung nach § 27a Absatz 4, - 11.
Maßnahmen nach den §§ 24a und 24b, - 12.
Verordnung von Krankentransporten, - 13.
Qualitätssicherung, - 14.
spezialisierte ambulante Palliativversorgung, - 15.
Schutzimpfungen.
(1a) Die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 sind auf eine ursachengerechte, zahnsubstanzschonende und präventionsorientierte zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz sowie kieferorthopädischer Behandlung auszurichten. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat die Richtlinien auf der Grundlage auch von externem, umfassendem zahnmedizinisch-wissenschaftlichem Sachverstand zu beschließen. Das Bundesministerium für Gesundheit kann dem Gemeinsamen Bundesausschuss vorgeben, einen Beschluss zu einzelnen dem Bundesausschuss durch Gesetz zugewiesenen Aufgaben zu fassen oder zu überprüfen und hierzu eine angemessene Frist setzen. Bei Nichteinhaltung der Frist fasst eine aus den Mitgliedern des Bundesausschusses zu bildende Schiedsstelle innerhalb von 30 Tagen den erforderlichen Beschluss. Die Schiedsstelle besteht aus dem unparteiischen Vorsitzenden, den zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern des Bundesausschusses und je einem von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen bestimmten Vertreter. Vor der Entscheidung des Bundesausschusses über die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 ist den für die Wahrnehmung der Interessen von Zahntechnikern maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(1b) Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 4 ist den in § 134a Absatz 1 genannten Organisationen der Leistungserbringer auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(2) Die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 haben Arznei- und Heilmittel unter Berücksichtigung der Bewertungen nach den §§ 35a und 35b so zusammenzustellen, daß dem Arzt die wirtschaftliche und zweckmäßige Auswahl der Arzneimitteltherapie ermöglicht wird. Die Zusammenstellung der Arzneimittel ist nach Indikationsgebieten und Stoffgruppen zu gliedern. Um dem Arzt eine therapie- und preisgerechte Auswahl der Arzneimittel zu ermöglichen, sind zu den einzelnen Indikationsgebieten Hinweise aufzunehmen, aus denen sich für Arzneimittel mit pharmakologisch vergleichbaren Wirkstoffen oder therapeutisch vergleichbarer Wirkung eine Bewertung des therapeutischen Nutzens auch im Verhältnis zu den Therapiekosten und damit zur Wirtschaftlichkeit der Verordnung ergibt; § 73 Abs. 8 Satz 3 bis 6 gilt entsprechend. Um dem Arzt eine therapie- und preisgerechte Auswahl der Arzneimittel zu ermöglichen, können ferner für die einzelnen Indikationsgebiete die Arzneimittel in folgenden Gruppen zusammengefaßt werden:
- 1.
Mittel, die allgemein zur Behandlung geeignet sind, - 2.
Mittel, die nur bei einem Teil der Patienten oder in besonderen Fällen zur Behandlung geeignet sind, - 3.
Mittel, bei deren Verordnung wegen bekannter Risiken oder zweifelhafter therapeutischer Zweckmäßigkeit besondere Aufmerksamkeit geboten ist.
(2a) Der Gemeinsame Bundesausschuss kann im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft vom pharmazeutischen Unternehmer im Benehmen mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder dem Paul-Ehrlich-Institut innerhalb einer angemessenen Frist ergänzende versorgungsrelevante Studien zur Bewertung der Zweckmäßigkeit eines Arzneimittels fordern. Absatz 3a gilt für die Forderung nach Satz 1 entsprechend. Das Nähere zu den Voraussetzungen, zu der Forderung ergänzender Studien, zu Fristen sowie zu den Anforderungen an die Studien regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Verfahrensordnung. Werden die Studien nach Satz 1 nicht oder nicht rechtzeitig vorgelegt, kann der Gemeinsame Bundesausschuss das Arzneimittel abweichend von Absatz 1 Satz 1 von der Verordnungsfähigkeit ausschließen. Eine gesonderte Klage gegen die Forderung ergänzender Studien ist ausgeschlossen.
(3) Für Klagen gegen die Zusammenstellung der Arzneimittel nach Absatz 2 gelten die Vorschriften über die Anfechtungsklage entsprechend. Die Klagen haben keine aufschiebende Wirkung. Ein Vorverfahren findet nicht statt. Eine gesonderte Klage gegen die Gliederung nach Indikationsgebieten oder Stoffgruppen nach Absatz 2 Satz 2, die Zusammenfassung der Arzneimittel in Gruppen nach Absatz 2 Satz 4 oder gegen sonstige Bestandteile der Zusammenstellung nach Absatz 2 ist unzulässig.
(3a) Vor der Entscheidung über die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zur Verordnung von Arzneimitteln und zur Anwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien im Sinne von § 4 Absatz 9 des Arzneimittelgesetzes und Therapiehinweisen nach Absatz 2 Satz 7 ist den Sachverständigen der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaft und Praxis sowie den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisationen der pharmazeutischen Unternehmer, den betroffenen pharmazeutischen Unternehmern, den Berufsvertretungen der Apotheker und den maßgeblichen Dachverbänden der Ärztegesellschaften der besonderen Therapierichtungen auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat unter Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Gutachten oder Empfehlungen von Sachverständigen, die er bei Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 zur Verordnung von Arzneimitteln und zur Anwendung von Arzneimitteln für neuartige Therapien im Sinne von § 4 Absatz 9 des Arzneimittelgesetzes sowie bei Therapiehinweisen nach Absatz 2 Satz 7 zu Grunde legt, bei Einleitung des Stellungnahmeverfahrens zu benennen und zu veröffentlichen sowie in den tragenden Gründen der Beschlüsse zu benennen.
(4) In den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 sind insbesondere zu regeln
- 1.
die Anwendung wirtschaftlicher Verfahren und die Voraussetzungen, unter denen mehrere Maßnahmen zur Früherkennung zusammenzufassen sind, - 2.
das Nähere über die Bescheinigungen und Aufzeichnungen bei Durchführung der Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, - 3.
Einzelheiten zum Verfahren und zur Durchführung von Auswertungen der Aufzeichnungen sowie der Evaluation der Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten einschließlich der organisierten Krebsfrüherkennungsprogramme nach § 25a.
(4a) Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt bis zum 31. Dezember 2021 in den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 Regelungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen der ausschließlichen Fernbehandlung in geeigneten Fällen. Bei der Festlegung der Regelungen nach Satz 1 ist zu beachten, dass im Falle der erstmaligen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen der ausschließlichen Fernbehandlung diese nicht über einen Zeitraum von bis zu drei Kalendertagen hinausgehen und ihr keine Feststellung des Fortbestehens der Arbeitsunfähigkeit folgen soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der Regelungen nach Satz 1 über das Bundesministerium für Gesundheit einen Bericht über deren Umsetzung vorzulegen. Bei der Erstellung des Berichtes ist den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. In Ergänzung der nach Satz 1 beschlossenen Regelungen beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss bis zum 31. Januar 2024 in den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 7 Regelungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik vorweisen sowie ausschließlich bezogen auf in der jeweiligen ärztlichen Praxis bekannte Patientinnen und Patienten auch nach telefonischer Anamnese.
(5) Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 8 ist den in § 111b Satz 1 genannten Organisationen der Leistungserbringer, den Rehabilitationsträgern (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 bis 7 des Neunten Buches) sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen. In den Richtlinien ist zu regeln, bei welchen Behinderungen, unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Verfahren die Vertragsärzte die Krankenkassen über die Behinderungen von Versicherten zu unterrichten haben.
(6) In den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 ist insbesondere zu regeln
- 1.
der Katalog verordnungsfähiger Heilmittel, - 2.
die Zuordnung der Heilmittel zu Indikationen, - 3.
die indikationsbezogenen orientierenden Behandlungsmengen und die Zahl der Behandlungseinheiten je Verordnung, - 4.
Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes mit dem jeweiligen Heilmittelerbringer, - 5.
auf welche Angaben bei Verordnungen nach § 73 Absatz 11 Satz 1 verzichtet werden kann sowie - 6.
die Dauer der Gültigkeit einer Verordnung nach § 73 Absatz 11 Satz 1.
(6a) In den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 ist insbesondere das Nähere über die psychotherapeutisch behandlungsbedürftigen Krankheiten, die zur Krankenbehandlung geeigneten Verfahren, das Antrags- und Gutachterverfahren, die probatorischen Sitzungen sowie über Art, Umfang und Durchführung der Behandlung zu regeln; der Gemeinsame Bundesausschuss kann dabei Regelungen treffen, die leitliniengerecht den Behandlungsbedarf konkretisieren. Sofern sich nach einer Krankenhausbehandlung eine ambulante psychotherapeutische Behandlung anschließen soll, können erforderliche probatorische Sitzungen frühzeitig, bereits während der Krankenhausbehandlung sowohl in der vertragsärztlichen Praxis als auch in den Räumen des Krankenhauses durchgeführt werden; das Nähere regelt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach Satz 1 und nach Absatz 6b. Die Richtlinien nach Satz 1 haben darüber hinaus Regelungen zu treffen über die inhaltlichen Anforderungen an den Konsiliarbericht und an die fachlichen Anforderungen des den Konsiliarbericht (§ 28 Abs. 3) abgebenden Vertragsarztes. Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt in den Richtlinien nach Satz 1 Regelungen zur Flexibilisierung des Therapieangebotes, insbesondere zur Einrichtung von psychotherapeutischen Sprechstunden, zur Förderung der frühzeitigen diagnostischen Abklärung und der Akutversorgung, zur Förderung von Gruppentherapien und der Rezidivprophylaxe sowie zur Vereinfachung des Antrags- und Gutachterverfahrens. Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt bis spätestens zum 31. Dezember 2020 in einer Ergänzung der Richtlinien nach Satz 1 Regelungen zur weiteren Förderung der Gruppentherapie und der weiteren Vereinfachung des Gutachterverfahrens; für Gruppentherapien findet ab dem 23. November 2019 kein Gutachterverfahren mehr statt. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat sämtliche Regelungen zum Antrags- und Gutachterverfahren aufzuheben, sobald er ein Verfahren zur Qualitätssicherung nach § 136a Absatz 2a eingeführt hat.
(6b) Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt bis spätestens zum 31. Dezember 2020 in einer Richtlinie nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 Regelungen für eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung, insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit einem komplexen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf. Der Gemeinsame Bundesausschuss kann dabei Regelungen treffen, die diagnoseorientiert und leitliniengerecht den Behandlungsbedarf konkretisieren. In der Richtlinie sind auch Regelungen zur Erleichterung des Übergangs von der stationären in die ambulante Versorgung zu treffen.
(6c) Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt bis spätestens zum 31. Dezember 2023 in einer Richtlinie nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 Regelungen für eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung für Versicherte mit Verdacht auf Long-COVID. Der Gemeinsame Bundesausschuss kann hierzu Regelungen treffen, die insbesondere eine interdisziplinäre und standardisierte Diagnostik und den zeitnahen Zugang zu einem multimodalen Therapieangebot sicherstellen. Er kann den Anwendungsbereich seiner Richtlinie auf die Versorgung von Versicherten erstrecken, bei denen ein Verdacht auf eine andere Erkrankung besteht, die eine ähnliche Ursache oder eine ähnliche Krankheitsausprägung wie Long-COVID aufweist.
(7) In den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 sind insbesondere zu regeln
- 1.
die Verordnung der häuslichen Krankenpflege und deren ärztliche Zielsetzung, - 2.
Inhalt und Umfang der Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes mit dem jeweiligen Leistungserbringer und dem Krankenhaus, - 3.
die Voraussetzungen für die Verordnung häuslicher Krankenpflege und für die Mitgabe von Arzneimitteln im Krankenhaus im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt, - 4.
Näheres zur Verordnung häuslicher Krankenpflege zur Dekolonisation von Trägern mit dem Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA), - 5.
Näheres zur Verordnung häuslicher Krankenpflege zur ambulanten Palliativversorgung.
(7a) Vor der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Richtlinien zur Verordnung von Hilfsmitteln nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 ist den in § 127 Absatz 9 Satz 1 genannten Organisationen der Leistungserbringer und den Spitzenorganisationen der betroffenen Hilfsmittelhersteller auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(7b) Vor der Entscheidung über die Richtlinien zur Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 14 ist den maßgeblichen Organisationen der Hospizarbeit und der Palliativversorgung sowie den in § 132a Abs. 1 Satz 1 genannten Organisationen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(7c) Vor der Entscheidung über die Richtlinien zur Verordnung von Soziotherapie nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 6 ist den maßgeblichen Organisationen der Leistungserbringer der Soziotherapieversorgung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(7d) Vor der Entscheidung über die Richtlinien nach den §§ 135, 137c und § 137e ist den jeweils einschlägigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; bei Methoden, deren technische Anwendung maßgeblich auf dem Einsatz eines Medizinprodukts beruht, ist auch den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisationen der Medizinproduktehersteller und den jeweils betroffenen Medizinprodukteherstellern Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Bei Methoden, bei denen radioaktive Stoffe oder ionisierende Strahlung am Menschen angewandt werden, ist auch der Strahlenschutzkommission Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(7e) Bei den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 9 erhalten die Länder ein Antrags- und Mitberatungsrecht. Es wird durch zwei Vertreter der Länder ausgeübt, die von der Gesundheitsministerkonferenz der Länder benannt werden. Die Mitberatung umfasst auch das Recht, Beratungsgegenstände auf die Tagesordnung setzen zu lassen und das Recht zur Anwesenheit bei der Beschlussfassung. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat über Anträge der Länder in der nächsten Sitzung des jeweiligen Gremiums zu beraten. Wenn über einen Antrag nicht entschieden werden kann, soll in der Sitzung das Verfahren hinsichtlich der weiteren Beratung und Entscheidung festgelegt werden. Entscheidungen über die Einrichtung einer Arbeitsgruppe und die Bestellung von Sachverständigen durch den zuständigen Unterausschuss sind nur im Einvernehmen mit den beiden Vertretern der Länder zu treffen. Dabei haben diese ihr Votum einheitlich abzugeben.
(7f) Bei den Richtlinien nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 13 und den Beschlüssen nach den §§ 136b und 136c erhalten die Länder ein Antrags- und Mitberatungsrecht; Absatz 7e Satz 2 bis 7 gilt entsprechend. Vor der Entscheidung über die Richtlinien nach § 136 Absatz 1 in Verbindung mit § 136a Absatz 1 Satz 1 bis 3 ist dem Robert Koch-Institut Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Das Robert Koch-Institut hat die Stellungnahme mit den wissenschaftlichen Kommissionen am Robert Koch-Institut nach § 23 des Infektionsschutzgesetzes abzustimmen. Die Stellungnahme ist in die Entscheidung einzubeziehen.
(7g) Vor der Entscheidung über die Richtlinien zur Verordnung außerklinischer Intensivpflege nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 ist den in § 132l Absatz 1 Satz 1 genannten Organisationen der Leistungserbringer sowie den für die Wahrnehmung der Interessen der betroffenen Versicherten maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; die Stellungnahmen sind in die Entscheidung einzubeziehen.
(8) Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind Bestandteil der Bundesmantelverträge.
(1) Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
- 1.
die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung, - 2.
die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und - 3.
die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.
(1a) Für ein Methodenbewertungsverfahren, für das der Antrag nach Absatz 1 Satz 1 vor dem 31. Dezember 2018 angenommen wurde, gilt Absatz 1 mit der Maßgabe, dass das Methodenbewertungsverfahren abweichend von Absatz 1 Satz 5 erst bis zum 31. Dezember 2020 abzuschließen ist.
(2) Für ärztliche und zahnärztliche Leistungen, welche wegen der Anforderungen an ihre Ausführung oder wegen der Neuheit des Verfahrens besonderer Kenntnisse und Erfahrungen (Fachkundenachweis), einer besonderen Praxisausstattung oder anderer Anforderungen an die Versorgungsqualität bedürfen, können die Partner der Bundesmantelverträge einheitlich entsprechende Voraussetzungen für die Ausführung und Abrechnung dieser Leistungen vereinbaren. Soweit für die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen, welche als Qualifikation vorausgesetzt werden müssen, in landesrechtlichen Regelungen zur ärztlichen Berufsausübung, insbesondere solchen des Facharztrechts, bundesweit inhaltsgleich und hinsichtlich der Qualitätsvoraussetzungen nach Satz 1 gleichwertige Qualifikationen eingeführt sind, sind diese notwendige und ausreichende Voraussetzung. Wird die Erbringung ärztlicher Leistungen erstmalig von einer Qualifikation abhängig gemacht, so können die Vertragspartner für Ärzte, welche entsprechende Qualifikationen nicht während einer Weiterbildung erworben haben, übergangsweise Qualifikationen einführen, welche dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der facharztrechtlichen Regelungen entsprechen müssen. Abweichend von Satz 2 können die Vertragspartner nach Satz 1 zur Sicherung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung Regelungen treffen, nach denen die Erbringung bestimmter medizinisch-technischer Leistungen den Fachärzten vorbehalten ist, für die diese Leistungen zum Kern ihres Fachgebietes gehören. Die nach der Rechtsverordnung nach § 140g anerkannten Organisationen sind vor dem Abschluss von Vereinbarungen nach Satz 1 in die Beratungen der Vertragspartner einzubeziehen; die Organisationen benennen hierzu sachkundige Personen. § 140f Absatz 5 gilt entsprechend. Das Nähere zum Verfahren vereinbaren die Vertragspartner nach Satz 1. Für die Vereinbarungen nach diesem Absatz gilt § 87 Absatz 6 Satz 10 entsprechend.
(3) bis (6) (weggefallen)
(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 überprüft auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Absatz 2 Satz 1, des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder eines Bundesverbandes der Krankenhausträger Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, daraufhin, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode nicht hinreichend belegt ist und sie nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, insbesondere weil sie schädlich oder unwirksam ist, erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie zur Erprobung nach § 137e. Nach Abschluss der Erprobung erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf, wenn die Überprüfung unter Hinzuziehung der durch die Erprobung gewonnenen Erkenntnisse ergibt, dass die Methode nicht den Kriterien nach Satz 1 entspricht. Die Beschlussfassung über die Annahme eines Antrags nach Satz 1 muss spätestens drei Monate nach Antragseingang erfolgen. Das sich anschließende Methodenbewertungsverfahren ist in der Regel innerhalb von spätestens drei Jahren abzuschließen, es sei denn, dass auch bei Straffung des Verfahrens im Einzelfall eine längere Verfahrensdauer erforderlich ist.
(2) Wird eine Beanstandung des Bundesministeriums für Gesundheit nach § 94 Abs. 1 Satz 2 nicht innerhalb der von ihm gesetzten Frist behoben, kann das Bundesministerium die Richtlinie erlassen. Ab dem Tag des Inkrafttretens einer Richtlinie nach Absatz 1 Satz 2 oder 4 darf die ausgeschlossene Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden; die Durchführung klinischer Studien bleibt von einem Ausschluss nach Absatz 1 Satz 4 unberührt.
(3) Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Absatz 1 getroffen hat, dürfen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt und von den Versicherten beansprucht werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt sowohl für Methoden, für die noch kein Antrag nach Absatz 1 Satz 1 gestellt wurde, als auch für Methoden, deren Bewertung nach Absatz 1 noch nicht abgeschlossen ist.
Tenor
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Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
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Der Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
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Der Streitwert für alle Rechtszüge wird auf 2 500 000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
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Die klagende Krankenhausträgerin und der beklagte Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) streiten über die Erhöhung der Mindestmenge jährlich in Perinatalzentren der obersten Kategorie zu behandelnder sehr geringgewichtiger Früh- und Neugeborener von 14 auf 30 ab 1.1.2011.
- 2
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Der Gesetzgeber übertrug 2004 dem Beklagten die Kompetenz, für zugelassene Krankenhäuser einen Katalog planbarer Leistungen zu beschließen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, sowie Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus und Ausnahmetatbestände (§ 137 SGB V idF durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz
vom 14.11.2003, BGBl I 2190; geändert durch Art 1 Nr 110 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz . Die Spitzenverbände der Krankenkassen (KKn) beantragten deshalb (7.5.2004), eine Mindestmenge von 40 Geburten für die Behandlung von Neugeborenen mit sehr niedrigem Geburtsgewicht festzusetzen (<1500 g; very-low-birth-weight infants, im Folgenden: VLBW-Geburten). Sehr geringgewichtige Früh- und Neugeborene sind besonders gefährdet und bedürfen intensiver Behandlung, um gesund zu überleben. Der Beklagte nahm sehr geringgewichtige Früh- und Neugeborene zunächst nicht in die Mindestmengenvereinbarung (MMV) auf (vgl ua MMV vom 20.12.2005, geändert mit Beschluss vom 21.3.2006, BAnz Nr 143 S 5389 vom 2.8.2006; seit 1.1.2012: "Regelungen des" GBA "gemäß § 137 Abs 3 Satz 1 N 2 SGB V für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser"vom 26.3.2007, BGBl I 378; zuvor abweichende Zuständigkeit, vgl § 137 SGB V idF durch Art 1 Nr 5 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser vom 23.4.2002, BGBl I 1412 mit Wirkung vom 30.4.2002) , Beschluss vom 24.11.2011, BAnz Nr 192 vom 21.12.2011 S 4509). Er beschloss lediglich die "Vereinbarung über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Neugeborenen" (vom 20.9.2005, BAnz Nr 143 vom 28.10.2005 S 15684) . Sie regelt ua ein vierstufiges Versorgungskonzept. Danach versorgen Perinatalzentren der obersten Kategorie - Level 1 - Früh- und Neugeborene mit einem Gewicht <1250 g und/oder <29+0 Schwangerschaftswoche (SSW; im Folgenden: Level-1-Geburten), Perinatalzentren Level 2 Frühgeborene mit einem Gewicht von 1250 - 1499 g und/oder 29+0 bis 32+0 SSW (im Folgenden: Level-2-Geburten), Perinatale Schwerpunkte Kinder mit einem Geburtsgewicht von mindestens 1500 g bei absehbarer postnataler Therapie und Geburtskliniken reife Neugeborene ohne bestehendes Risiko. Das hiermit beauftragte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kam in einem Literaturevidenzbericht zum Ergebnis, es gebe Hinweise auf einen statistischen Zusammenhang, der sich bei steigender Leistungsmenge als Trend zur Risikoreduktion darstelle (14.8.2008). Der Beklagte legte daraufhin fest, dass bei Perinatalzentren Level 1 das Zeitintervall zwischen den Aufnahmen von Level-1-Geburten in den letzten zwölf Monaten durchschnittlich weniger als 30 Tage zu betragen habe (Änderung der NICU-Vereinbarung, Beschluss vom 18.12.2008, BAnz Nr 65 vom 30.4.2009 S 1574). Der Beklagte ersetzte ab 1.1.2010 die Zeitintervallregelung durch eine Mindestmengenregelung (Änderung der NICU-Vereinbarung und der MMV, Beschluss vom 20.8.2009, BAnz Nr 195 vom 24.12.2009 S 4450). Er bestimmte für Perinatalzentren Level 1 und 2 jeweils Mindestmengen von 14 Geburten. Der Beklagte erhöhte mit Wirkung zum 1.1.2011 die Mindestmenge der Level-1-Geburten auf 30 und hob die Mindestmengenregelung für Perinatalzentren Level 2 ersatzlos auf (hier in seinem ersten Teil streitiger, insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzter Beschluss vom 17.6.2010, BAnz Nr 123 vom 18.8.2010 S 2840).
- 3
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Das nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhaus der Klägerin verfügt über eine neonatologische Intensivstation. Dort behandelt es Level-1-Geburten (2006: 8; 2007: 14; 2008: 13; 2009: 16; 2010: 16; 2011: 12; bis einschließlich 11/2012: 19). Das LSG hat auf die unmittelbar gegen die Erhöhung der Mindestmenge auf 30 Level-1-Geburten gerichtete Klage festgestellt, diese Regelung sei nichtig: Es gebe keine durch kontrollierte Studien gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass die Qualität des Behandlungsergebnisses in Form der Reduzierung der Mortalität in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen von Level-1-Geburten abhänge. Eine besondere Kausalität könne dem IQWiG-Bericht nicht entnommen werden. Er beschreibe lediglich eine statistische Assoziation zwischen Ergebnisqualität und Menge (Urteil vom 21.12.2011).
- 4
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Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung des Art 19 Abs 4 GG, des § 55 SGG und des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V. Die Klage sei schon unzulässig, weil anderweitiger Rechtsschutz im Rahmen von Entscheidungen nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und nach § 109 Abs 1 S 5 SGB V zumutbar sei. Die Klage sei auch unbegründet. Die angegriffene Mindestmengenregelung sei als Maßnahme der vorsorglichen Risikominimierung durch § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V gedeckt.
- 5
-
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Dezember 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Dezember 2011 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
- 6
-
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 7
-
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
- 8
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Die zulässige Revision des beklagten GBA ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Der erkennende, für Angelegenheiten der Krankenversicherung zuständige Senat ist zur Entscheidung in der Sache berufen, die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt (dazu 1.). Das LSG hat im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass die Erhöhung der Mindestmenge für Perinatalzentren der obersten Kategorie (Level 1) mit Wirkung vom 1.1.2011 von 14 auf 30 Fälle pro Jahr und Einrichtung nichtig ist (dazu 2. - 7.).
- 9
-
1. a) Der erkennende 1. Senat des BSG ist geschäftsplanmäßig zuständig, den Rechtsstreit zu entscheiden. Die Sache betrifft eine Angelegenheit der Sozialversicherung (§ 10 Abs 1, § 12 Abs 2 S 1, § 31 Abs 1 S 1, § 40 S 1 SGG), nämlich der Krankenversicherung, und nicht eine solche des Vertragsarztrechts (§ 10 Abs 2, § 12 Abs 2, § 31 Abs 2, § 40 S 2 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG erfasst § 10 Abs 1 SGG auch Klagen, die sich unmittelbar gegen Entscheidungen des Beklagten richten, wenn sie die Regelung von Mindestmengen nach § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V betreffen. Der Gesetzgeber hat die hier einschlägige Gruppe der Klagen gegen Entscheidungen und Richtlinien (RL) des GBA lediglich in den Ausnahmefällen dem Vertragsarztrecht zugeordnet, in denen diese ausschließlich die vertragsärztliche Versorgung betreffen, nicht aber zumindest auch die stationäre Versorgung (vgl § 10 Abs 2 S 2 Nr 1 SGG idF durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011, BGBl I 3057, und hierzu BT-Drucks 17/6764 S 26, entsprechend der bereits zuvor vertretenen Rechtsauffassung des erkennenden 1. und des 3. Senats, BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 139 Nr 4, RdNr 12; BSG SozR 4-1500 § 10 Nr 3 RdNr 9 f, abweichend von der damaligen Rechtsauffassung des 6. Senats, vgl BSGE 103, 106 = SozR 4-2500 § 94 Nr 2, RdNr 19 ff; BSGE 105, 243 = SozR 4-2500 § 116b Nr 2, RdNr 15 ff; zur inzwischen übereinstimmenden Auslegung vgl zusammenfassender Standpunkt des 1., 3. und 6. Senats des BSG zu § 10 Abs 2 SGG unter B.II.1. Buchst b Nr 3, abgedruckt in SGb 2012, 495 ff).
- 10
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b) Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Die unmittelbar gegen die Erhöhung der Mindestmenge (Beschluss des Beklagten vom 17.6.2010, BAnz Nr 123 vom 18.8.2010 S 2840) erhobene Normenfeststellungsklage ist statthaft (dazu aa) und auch im Übrigen zulässig (dazu bb).
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aa) Die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG gebietet es, die Feststellungsklage gegen untergesetzliche Rechtsnormen als statthaft zuzulassen, wenn die Normbetroffenen ansonsten keinen effektiven Rechtsschutz erreichen können, etwa weil ihnen nicht zuzumuten ist, Vollzugsakte zur Umsetzung der untergesetzlichen Norm abzuwarten oder die Wirkung der Norm ohne anfechtbare Vollzugsakte eintritt (stRspr zur Überprüfung von Rechtsnormen des Beklagten und des Bundesausschusses der Ärzte und KKn: vgl BSGE 96, 261 = SozR 4-2500 § 92 Nr 5, RdNr 27; BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 3 RdNr 14; BSGE 105, 243 = SozR 4-2500 § 116b Nr 2, RdNr 22; BVerfGE 115, 81, 92 f und S 95 f = SozR 4-1500 § 55 Nr 3 RdNr 42 und 49 ff; vgl dazu BSGE 110, 20 = SozR 4-2500 § 92 Nr 13, RdNr 20 f).
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Die Mindestmengenbestimmungen des Beklagten sind untergesetzliche Rechtsnormen im genannten Sinne. Der Beklagte regelt hierdurch nach abstrakt-generellem Maßstab, welche zugelassenen Krankenhäuser gegenüber den KKn welche planbaren Leistungen erbringen dürfen. Denn der Beklagte bestimmt für zugelassene Krankenhäuser grundsätzlich einheitlich für alle Patienten einen Katalog planbarer Leistungen nach den §§ 17 und 17b KHG, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist sowie Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus und Ausnahmetatbestände(§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V).
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Die Regelungen über die planbaren Leistungen und die ihnen zugeordneten Mindestmengen sind auch außenwirksam. Sie ergehen als Beschluss (§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V idF durch Art 3 Nr 7a Buchst b Gesetz zum ordnungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung ab dem Jahr 2009 - Krankenhausfinanzierungsreformgesetz -
vom 17.3.2009, BGBl I 534). Die Beschlüsse des Beklagten sind für seine Träger, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich (vgl § 91 Abs 6 SGB V idF durch Art 2 Nr 14 GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378 mit Wirkung vom 1.7.2008; zur Anwendbarkeit vgl Roters, KasselerKomm, Stand 1.10.2012, § 137 SGB V RdNr 27; vgl dementsprechend zur Rechtsnormqualität der RL des Beklagten als untergesetzliche Rechtsnormen zB BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 33; BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 21; BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 32; vgl auch Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Entwurf eines GKV-WSG - BT-Drucks 16/3100 S 180 zu Nr 14 <§ 91 SGB V> Abs 6).
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§ 137 Abs 3 S 6 SGB V (idF durch Art 1 Nr 110 GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378; bis 30.6.2008: § 137 Abs 2 S 1 SGB V idF durch Art 1 Nr 54 GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000, BGBl I 1999, 2626) schließt die umfassende Bindungswirkung iS von § 91 Abs 6 SGB V nicht aus, indem er die unmittelbare Verbindlichkeit der Mindestmengenbeschlüsse des Beklagten ausdrücklich nur für Krankenhäuser anordnet. Die Regelung galt - mit dem Ziel umfassender Bindungswirkung der genannten Beschlüsse - in der Sache bereits vor Einführung der allgemeinen Vorschrift über die Verbindlichkeit von Beschlüssen des Beklagten in das SGB V (vgl bis 30.6.2008 § 91 Abs 9 SGB V idF durch Art 1 Nr 70 GMG vom 14.11.2003, BGBl I 2190, anknüpfend an bereits zuvor ergangene Rechtsprechung des BSG, zB BSGE 78, 70, 75 = SozR 3-2500 § 92 Nr 6 S 30; BSGE 81, 73, 81 ff = SozR 3-2500 § 92 Nr 7 S 56 ff; BSGE 85, 36, 44 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 45; BSGE 87, 105, 110 = SozR 3-2500 § 139 Nr 1 S 7). Der Gesetzgeber sah lediglich von einer redaktionellen Klarstellung des § 137 Abs 3 S 6 SGB V ab.
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bb) Die Klägerin ist klagebefugt für die begehrte Feststellung, dass die Erhöhung der Mindestmenge auf 30 Level-1-Geburten nichtig ist (§ 55 Abs 1 Halbs 1 Nr 1 iVm § 54 Abs 1 S 2 SGG; dazu (1)). Die Klägerin hat ein berechtigtes Interesse an dieser baldigen Feststellung (§ 55 Abs 1 Halbs 2 SGG; dazu (2)).
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(1) Zur Vermeidung einer Popularklage ist auch bei der Feststellungsklage der Rechtsgedanke des § 54 Abs 1 S 2 SGG heranzuziehen, nach dem bei einer zulässigen Rechtsverfolgung "eigene" Rechte betroffen sein müssen(vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 14 mwN; siehe auch BSGE 105, 243 = SozR 4-2500 § 116b Nr 2, RdNr 25). Hierfür genügt es, dass eine Rechtsverletzung der Klägerin möglich ist (vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 14 mwN). Die Klägerin ist in diesem Sinne klagebefugt, weil nicht ausgeschlossen ist, dass die Mindestmengenregelung eigene Rechte der Klägerin verletzt. Die begehrte Feststellung ist auf ein Rechtsverhältnis gerichtet (§ 55 Abs 1 Halbs 1 Nr 1 SGG), in dem die Klägerin eigene, grundrechtlich (Art 3 Abs 1, Art 12 Abs 1 GG) und einfachrechtlich (§ 108 iVm § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V) geschützte Belange geltend machen kann. Die Klägerin kann als nach § 108 SGB V zugelassenes Krankenhaus durch die Erhöhung der Mindestmenge beschwert sein. Die Prognose ist aufgrund ihrer bislang erbrachten Leistungen negativ, dass sie voraussichtlich die Mindestmenge von 30 Level-1-Geburten erreichen bzw überschreiten wird. Nach § 137 Abs 3 S 2 SGB V darf sie dann - unabweisbare Notfälle ausgenommen - weder zulasten der KKn noch gegenüber sonstigen Kostenträgern und Selbstzahlern bei Level-1-Geburten Leistungen erbringen(vgl zum Grund für die Anknüpfung an den "Patienten" die Begründung zu Art 1 Nr 5 Buchst a im Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser, BT-Drucks 14/6893 S 30, und die Begründung zu Art 3 Nr 7a der Beschlussempfehlung zum Entwurf eines Gesetzes zum ordnungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung ab dem Jahr 2009, BT-Drucks 16/11429 S 47).
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Die Beschwer entfällt auch nicht deswegen, weil der Beklagte die Erhöhung der Mindestmenge bis zu einer weiteren Entscheidung außer Vollzug gesetzt hat. Insoweit handelt es sich nur um eine vorläufige Außervollzugsetzung, weil der Beklagte sich zugleich vorbehalten hat, nach der Entscheidung des BSG erneut zu entscheiden, ob und in welcher Höhe eine Mindestmenge festgelegt bleibt. Hieraus erwächst der Klägerin weder eine gesicherte Rechtsposition noch ist damit geklärt, ob der Beklagte eine höhere Mindestmenge als 14 Level-1-Geburten festsetzen darf.
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Auch sind ansonsten keine Gründe ersichtlich, die das Feststellungsinteresse der Klägerin entfallen lassen. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Feststellungsinteresse nicht entgegen, dass das LSG offengelassen hat, dass die Klägerin die Voraussetzungen der Anlage 1 der NICU-Vereinbarung (idF des Beschlusses vom 20.8.2009 BAnz Nr 195 vom 24.12.2009 S 4450) erfüllt. Insoweit genügt es, dass die Klägerin tatsächlich Level-1-Geburten versorgt, die KKn bislang die Leistungen vergüten und es jedenfalls nicht ausgeschlossen ist, dass die Klägerin die Qualitätssicherungsanforderungen erfüllt. Die Klägerin ist schließlich auch nicht aufgrund eines Bescheides der zuständigen Landesbehörde nach § 137 Abs 3 S 3 SGB V zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung berechtigt, trotz (voraussichtlichen) Nichterreichens der Mindestmenge gleichwohl Level-1-Geburten zu behandeln.
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(2) Die Klägerin kann - entgegen der Auffassung des Beklagten - nur durch eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit der Erhöhung der Mindestmenge effektiven Rechtsschutz erlangen. Hieraus erwächst ihr berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung. Die Erhöhung der Mindestmenge auf der Grundlage des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V, die grundsätzlich einheitlich für alle Patienten gilt(vgl dazu BT-Drucks 14/6893 S 30 und BT-Drucks 16/11429 S 47), ist für die Klägerin nach § 137 Abs 3 S 6 SGB V in der oben dargelegten Weise "unmittelbar verbindlich". Das normativ angeordnete Verbot, bei Level-1-Geburten keine Leistungen zu erbringen (§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2, S 2 und S 6 SGB V iVm dem Erhöhungsbeschluss),bedarf keines Vollzugsaktes. Dies folgt schon aus der klaren Binnensystematik des § 137 Abs 3 SGB V. Einem Krankenhaus kann aber nicht zugemutet werden, vorzuleisten und erst im Rahmen eines Abrechnungsstreits die Nichtigkeit der erhöhten Mindestmengenregelung einzuwenden. Dies gilt namentlich bei einem Krankenhaus, das - wie hier der Klägerin - deutlich unterhalb der Mindestmenge von 30 Level-1-Geburten liegt.
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2. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht die Nichtigkeit der Erhöhung der Mindestmenge festgestellt. Die Rechtmäßigkeit der Heraufsetzung der jährlichen Mindestmenge für Level-1-Geburten von 14 auf 30 Behandlungsfälle je Krankenhaus mit ausgewiesenem Level 1 ist nicht isoliert, sondern - als deren untrennbarer Teil - zusammen mit der vollständigen Mindestmengenregelung für Level-1-Geburten zwecks Vermeidung einer unzulässigen Elementenfeststellungsklage zu überprüfen (zu den Grenzen vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 35 f; zutreffend deshalb das Vorgehen des LSG). Der Prüfmaßstab des Gerichts hat der Funktion des Beklagten als untergesetzlicher Normgeber Rechnung zu tragen (dazu 3.). Der Beklagte entschied formal korrekt über die streitige Mindestmengenregelung (dazu 4.). Er machte rechtmäßig zunächst 14 Level-1-Geburten pro Krankenhauseinheit und nicht pro Arzt zum Gegenstand des mindestmengenabhängigen Katalogtatbestands (dazu 5.). Dies verletzt die Klägerin nicht in ihren Grundrechten (dazu 6.). Hingegen ist die Heraufsetzung der jährlichen Mindestmenge für Level-1-Geburten auf 30 Behandlungsfälle nichtig, weil der Beklagte seinen Gestaltungsspielraum überschritt. Denn die Studienlage rechtfertigt nicht uneingeschränkt die Einschätzung, dass die Güte der Versorgung Frühgeborener durch eine Erhöhung der Mindestmenge in relevanter Weise zusätzlich gefördert werden kann (dazu 7.).
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3. Die Rechtmäßigkeit der Erhöhung der Mindestmenge ist unter Berücksichtigung der Funktion des Beklagten als Normgeber an der Mindestmengenregelung des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V iVm mit dem vorgreiflichen, rechtmäßig gesetzten untergesetzlichen Recht zu messen. Die im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden Beschlüsse des Beklagten sind hierbei gerichtlich in der Weise zu prüfen, wie wenn der Bundesgesetzgeber derartige Regelungen in Form einer untergesetzlichen Norm - etwa einer Rechtsverordnung - selbst erlassen hätte (BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 14 - LITT; BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 26; Schlegel, MedR 2008, 30, 32; Hauck, NZS 2010, 600, 611 f). § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V gibt dem Beklagten ein rechtlich voll überprüfbares Programm vor: In tatsächlicher Hinsicht ist die Ermittlung planbarer Leistungen, die Feststellung, dass die Qualität des Behandlungsergebnisses einer planbaren Leistung in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist und die konkrete Eignung von festgesetzten Mindestmengen zur Verbesserung der Qualität der Behandlungsergebnisse sowie in rechtlicher Hinsicht die zutreffende Erfassung der Tatbestandsmerkmale durch den Beklagten vom Gericht uneingeschränkt zu überprüfen. Der Gesetzgeber belässt dem Beklagten bei der Auslegung dieser Regelungselemente des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V keinen Gestaltungsspielraum. Das gilt auch für die Vollständigkeit der vom Beklagten zu berücksichtigenden Studienlage. Erst bei Erfüllung dieser Voraussetzungen ist er befugt, als Normgeber zu entscheiden. Soweit diese letztere Kompetenz reicht, darf allerdings die sozialgerichtliche Kontrolle ständiger Rechtsprechung des BSG zufolge ihre eigenen Wertungen nicht an die Stelle der vom Beklagten getroffenen Wertungen setzen. Vielmehr beschränkt sich die gerichtliche Prüfung in diesen Segmenten darauf, ob die Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen sowie die gesetzlichen Vorgaben nachvollziehbar und widerspruchsfrei Beachtung gefunden haben, um den Gestaltungsspielraum auszufüllen (stRspr, vgl zB BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 38; BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 25, beide mwN). Die Entscheidungen über die Auswahl und den Zuschnitt der Leistungen für den Katalog planbarer Leistungen sowie die genaue Festlegung der Mindestmenge innerhalb der Bandbreite geeigneter Mengen unterliegen in diesem Sinne dem normativen Gestaltungsspielraum des Beklagten. Der Beklagte kann dabei in einem zeitlich gestreckten Verfahren vorgehen, um den Katalog planbarer Leistungen allmählich zu entwickeln, um insbesondere weitere Erkenntnisse zu sammeln und zu bewerten und um Mindestmengen je nach Erkenntnisfortschritt neu zu justieren.
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Der Beklagte ist zur Konkretisierung des sich aus § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V ergebenden Regelungsprogramms ermächtigt, außenwirksame Normen im Range untergesetzlichen Rechts zu erlassen. Das BSG zieht die Verfassungsmäßigkeit dieser Art der Rechtsetzung nicht mehr grundlegend in Zweifel (dazu und insbesondere zur hinreichenden demokratischen Legitimation des Bundesausschusses vgl BSGE 96, 261 = SozR 4-2500 § 92 Nr 5, RdNr 57 ff mit ausführlicher Darstellung der Rspr des BVerfG; BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 14; BSGE 104, 95 = SozR 4-2500 § 139 Nr 4, RdNr 18; BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 33; Neumann, NZS 2010, 593 ff; Hauck, NZS 2010, 600 ff; aA Vießmann, Die demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Entscheidungen nach § 135 Abs 1 S 1 SGB V, 2009, S 127 ff).
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4. Der Beklagte beachtete die formellen Voraussetzungen für den Erlass der untergesetzlichen Normen. Wie auch das LSG nicht in Zweifel zieht, wahrte er die im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Betroffenenpartizipation durch Gesetz und seine eigenen Verfahrensvorgaben ausgestalteten und abgesicherten Beteiligungsrechte. Dieses Vorgehen stellt sicher, dass alle sachnahen Betroffenen selbst oder durch Repräsentanten auch über eine unmittelbare Betroffenheit in eigenen Rechten hinaus Gelegenheit zur Stellungnahme haben, wenn ihnen nicht nur marginale Bedeutung zukommt (vgl dazu BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 34 mwN; Hauck, NZS 2010, 600, 604). Der dokumentierte Ablauf der Beratungen, die Einbeziehung des IQWiG, die Diskussion der Auswirkungen unterschiedlicher Mindestmengen-Schwellenwerte für die Versorgung sowie die Einholung von Stellungnahmen bei betroffenen Fachverbänden belegen anschaulich das formal korrekte Vorgehen. Es bedurfte verfahrensrechtlich - über das Dokumentierte und die tatsächlich erfolgte Veröffentlichung der tragenden Gründe entsprechend § 7 Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses(VerfO idF vom 18.12.2008, BAnz Nr 84a vom 10.6.2009
, in Kraft getreten am 1.4.2009, geändert am 17.12.2009, BAnz Nr 38 vom 10.3.2010 S 968, in Kraft getreten am 12.2.2010) hinaus - keiner gesonderten Begründung. Für Normgeber besteht grundsätzlich keine Begründungspflicht (stRspr, vgl zB BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, RdNr 44; BSGE 96, 53 = SozR 4-2500 § 85 Nr 23, RdNr 29 mwN).
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Eine Ausnahme im Sinne einer materiell-rechtlichen Begründungspflicht besteht nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 82)insofern, als der Gesetzgeber darauf abzielt, durch Einbindung des IQWiG in die Zuarbeit für den GBA den dynamischen Prozess der Fortentwicklung der medizinischen und pflegerischen Leistungen zu sichern und die kontinuierliche Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine qualitativ gesicherte Leistungserbringung zu gewährleisten (BT-Drucks 15/1525 S 127). Das IQWiG leitet deshalb seine Arbeitsergebnisse dem GBA als Empfehlungen zu (vgl § 139b Abs 4 S 1 SGB V). Dieser hat die Empfehlungen im Rahmen seiner Aufgabenstellung "zu berücksichtigen", wird also nur mit besonderer Begründung davon abweichen (vgl Hauck, NZS 2007, 461, 464). Insbesondere hat er zu prüfen, ob das IQWiG seine Feststellungen ausgehend von einem zutreffenden Rechtsverständnis der zugrunde gelegten Begriffe auf der Basis einer umfassenden Einbeziehung der relevanten Studien nachvollziehbar und widerspruchsfrei getroffen hat. Für die Umsetzung von Handlungsempfehlungen des IQWiG - hier etwa die Durchführung einer Begleitevaluation - verbleibt ihm indes grundsätzlich sein gesetzgeberisches Ermessen.
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Es hielt sich auch im Rahmen des - wie aufgezeigt - grundsätzlich zulässigen schrittweisen Vorgehens, dass der Beklagte zunächst die "NICU-Vereinbarung" ohne Mindestmengen beschloss (20.9.2005) und später - nach Einführung einer "Regelmäßigkeitszahl" (vgl II.3 Buchst k des Beschlusses über eine Änderung der NICU-Vereinbarung vom 18.12.2008, BAnz Nr 65 vom 30.4.2009 S 1574, in Kraft getreten am 1.4.2009) - diese durch eine Mindestmenge ersetzte (vgl II. des Beschlusses zur Versorgung von Früh- und Neugeborenen vom 20.8.2009, BAnz Nr 195 vom 24.12.2009 S 4450).
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Unerheblich ist schließlich, dass in der streitigen Mindestmengenregelung keine Angabe von OPS-Ziffern enthalten ist. Denn die Regelung ist einerseits inhaltlich klar. Der OPS-Katalog umfasst andererseits keine spezifischen, eindeutigen Ziffern für diese Behandlung. Für eine Verletzung formeller Voraussetzungen (vgl dazu auch § 3 MMV; zur materiellen Reichweite s sogleich, unter 5.b), die die Nichtigkeit der zu prüfenden Mindestmengenregelung (s - wie dargelegt - Beschluss über eine Änderung der Anlage 1 der MMV: Mindestmengen bei Früh- und Neugeborenen, vom 17.6.2010, BAnz Nr 123 vom 18.8.2010 S 2840, und Beschluss vom 20.8.2009, BAnz Nr 195 vom 24.12.2009 S 4450) begründen könnte, ist insgesamt nichts ersichtlich.
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5. Der Beklagte machte rechtmäßig zunächst 14 Level-1-Geburten pro Krankenhauseinheit und nicht pro Arzt zum Gegenstand des mindestmengenabhängigen Katalogtatbestands. Er bejahte ausgehend von einem zutreffenden Verständnis der gesetzlichen Vorgaben einer planbaren Leistung (dazu a), deren Ergebnisqualität in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist (dazu b), rechtmäßig für die Gruppe der Level-1-Geburten die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V(dazu c). Der Beklagte durfte auch eine Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten in Krankenhäusern mit ausgewiesenem Level 1 festsetzen, ohne Ausnahmen hiervon vorzusehen (dazu d).
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a) Eine "planbare" Krankenhausleistung iS von § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V ist eine Leistung, welche die dafür vorgesehenen Krankenhaus-Zentren in der Regel medizinisch sinnvoll und für die Patienten zumutbar erbringen können. Erforderlich ist, dass die Aufnahme und Durchführung gebotener stationärer Behandlung in einem Zentrum - trotz ggf längerer Anfahrt - unter Berücksichtigung zu überwindender räumlicher und zeitlicher Distanzen ohne unzumutbares Risiko für die Patienten erfolgen kann. Dies folgt aus Regelungssystem und Normzweck in Einklang mit der Entstehungsgeschichte, ohne dass der Wortlaut entgegensteht.
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Der Wortlaut "planbare Leistungen" lässt es zu, den Begriff im aufgezeigten Sinne im Interesse der angestrebten Versorgungsqualität zu verstehen. Entstehungsgeschichtlich harmoniert hiermit, dass der Gesetzgeber die Fixierung von zu erbringenden "Mindestfallmengen" als Teil einer Vielzahl von Qualitätssicherungsinstrumenten vorsah, um ein Gegengewicht gegen Fehlanreize eines festen Preissystems bei Einführung von Fallpauschalen zu schaffen, etwa gegen den Anreiz der Versorgungsqualitätsminderung in Form von medizinisch nicht indizierter "Fallvermehrung" sowie der verfrühten Entlassung (vgl Bericht des Ausschusses für Gesundheit <14. Ausschuss> zu dem Gesetzentwurf eines FPG, BT-Drucks 14/7862 S 3). Diese Zielrichtung gilt erst recht für eine Tätigkeitsausdehnung der Krankenhäuser auf Felder unzureichender Qualitätskompetenz.
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Nach dem Regelungssystem ergänzt die Festlegung von Mindestmengen die anderen, weiteren Maßnahmen des Gesetzgebers zur Qualitätssicherung wie verpflichtende durch die Kliniken vorzulegende Qualitätsberichte, bundeseinheitliche Kriterien für die Prüfdienste, sowie eine stetige Begleitforschung. Vor allem entspricht das Auslegungsergebnis dem Normzweck, die Ergebnisqualität zu verbessern (vgl dazu Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines FPG, BT-Drucks 14/6893 S 31 zu Nr 5 Buchst b). Der Regelungsgehalt des Begriffs der Planbarkeit erschließt sich insbesondere auch aus den von den Mindestmengen ausgelösten Verteilungswirkungen. Die Einführung von Mindestmengen hat die Umverteilung von Behandlungsfällen und in Abhängigkeit von den absoluten Fallzahlen eine damit einhergehende Regionalisierung oder gar Zentralisierung der für die planbaren Leistungen noch zur Verfügung stehenden Krankenhäuser zur Folge. Dies bewirkt jedoch nur insoweit eine Verbesserung der Ergebnisqualität im stationären Bereich, als die Patienten den Zugewinn an Qualität im stationären Bereich nicht durch Transport- und Verlegungsrisiken wieder einbüßen. Zur Verbesserung der Ergebnisqualität ist es vor diesem Hintergrund erforderlich, die Transport- und Zentralisierungsrisiken zu ermitteln. Wollte man dagegen unter "planbare" "vorhersehbare" Krankenhausleistungen verstehen, wäre der Begriff sinnentleert. Ähnlich zweckwidrig wäre es, ihn auf elektive Leistungen zu reduzieren.
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b) Die Qualität des Behandlungsergebnisses der planbaren Leistungen ist jedenfalls bereits dann in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig, wenn eine Studienlage besteht, die nach wissenschaftlichen Maßstäben einen Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und -qualität wahrscheinlich macht. Hierbei ist nicht die Struktur- oder Prozessqualität, sondern allein die Qualität des Behandlungsergebnisses maßgeblich. Regelmäßig wird es um hochkomplexe medizinische Leistungen gehen, bei denen die mit wissenschaftlichen Belegen untermauerte Erwartung berechtigt ist, dass die Güte der Leistungserbringung in besonderem Maße auch von der Erfahrung und Routine des mit der jeweiligen Versorgung betrauten Behandlers - Krankenhauseinheit und/oder Arzt - beeinflusst ist.
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Schon der Wortlaut des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V verdeutlicht, dass die vom Beklagten zu treffende Mindestmengenregelung nicht darauf ausgerichtet ist, umfassend sektorenübergreifend für alle vertragsärztlichen und stationären Leistungen zusätzliche Qualitätsanforderungen aufzustellen. Vielmehr fasst der Beklagte danach lediglich für einen Teilbereich, für zugelassene Krankenhäuser - grundsätzlich einheitlich für alle Patienten - auch Beschlüsse über einen "Katalog" planbarer Leistungen nach §§ 17 und 17b KHG. Das Gesetz schränkt diesen Teilausschnitt aus dem Gesamtbereich der Leistungen nach §§ 17 und 17b KHG weiter spezifisch ein: Es muss um planbare Leistungen nach den §§ 17 und 17b KHG gehen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist.
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Der erkennende Senat vermag dem LSG allerdings nicht zu folgen, soweit es hierfür den wissenschaftlichen Beleg einer "besonderen" Kausalität zwischen Leistungsmenge und Ergebnisqualität fordert. Vielmehr genügt ein nach wissenschaftlichen Maßstäben wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und -qualität. Dafür spricht nicht nur der aufgezeigte Wortlaut. Auch die Entstehungsgeschichte belegt, dass es um einen durch Studien untermauerten wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit durchgeführter Leistungen und der Qualität des Behandlungsergebnisses geht (vgl dazu Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eines FPG, BT-Drucks 14/6893 S 31 zu Nr 5 Buchst b). Die in den Gesetzesmaterialien angesprochenen "Studien" sind in aller Regel nicht im naturwissenschaftlichen Sinne für einen Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsmenge und -qualität voll beweisend, sondern darauf hinweisend. Andernfalls könnte die Regelung kaum ihren Zweck erfüllen, der "herausgehobene(n) Bedeutung" einer "gute(n) Ergebnisqualität" Rechnung zu tragen, wie es im Rahmen der "bisher eingeführten Qualitätssicherungsmaßnahmen" … "noch zu wenig" erfolgte (vgl ebenda, BT-Drucks 14/6893 S 31 zu Nr 5 Buchst b). Hierfür genügt nicht schon die landläufige Erfahrung, dass routinierte Praxis im Allgemeinen eine bessere Ergebnisqualität sichert als deren Fehlen.
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Das Auslegungsergebnis entspricht auch dem Regelungssystem. Die in § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V angesprochenen "Leistungen nach den §§ 17 und 17b KHG" müssen nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats grundsätzlich bereits dem Qualitätsgebot(§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)genügen, um überhaupt zulasten der GKV abrechenbar zu sein (vgl grundlegend BSGE 101, 177 = SozR 4-2500 § 109 Nr 6, RdNr 52 f unter Aufgabe von BSGE 90, 289 = SozR 4-2500 § 137c Nr 1, auch zur Berücksichtigung grundrechtskonformer Auslegung; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 23; aA Felix, SGb 2009, 367 und öfter, zB NZS 2012, 1, 7 mwN in Fn 91). Die Anforderungen integrieren in wesentlichem Maße das Krankenhausplanungs- und das ärztliche Weiterbildungsrecht. Diese Regelungskomplexe erfordern bereits ein ausreichendes Maß an Erfahrung und Routine als Voraussetzung von Facharztqualifikationen, an die wiederum die Strukturvorgaben in der stationären Versorgung anknüpfen (vgl zutreffend Bohle, GesR 2010, 587). Der Mindestmengenkatalog (§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V)stellt demgegenüber zusätzliche Qualitätsanforderungen auf im Interesse einer weiteren Risikominimierung.
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Die Rechtsordnung begnügt sich auch in vergleichbaren Regelungsbereichen mit einer durch wissenschaftliche Belege untermauerten Annahme eines Zusammenhangs. So ist für die Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten (
§ 9 Abs 1 S 2 SGB VII)ein ursächlicher Zusammenhang zwischen besonderen Einwirkungen, denen bestimmte Personengruppen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung bei versicherter Tätigkeit ausgesetzt sind, und der Erkrankung erforderlich. Der generelle Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Krankheit bei der Prüfung der Voraussetzungen einer BK-Bezeichnung unterscheidet sich aufgrund der allgemeinen und abstrakten Prüfungsebene von dem Ursachenzusammenhang bei der Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität beim einzelnen Arbeitsunfall oder der Listen-BK im Einzelfall. Dennoch gilt auch insofern die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 18 RdNr 29). Jedenfalls für den Parallelbereich einer Entschädigung wie eine Berufskrankheit (§ 9 Abs 2 SGB VII) kann die erforderliche gruppenspezifische Risikoerhöhung im Ausnahmefall eines seltenen Leidens ohne - wie üblich - gesicherte epidemiologische Erkenntnisse auf der Grundlage der im Allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung betroffener Krankheitsbilder zum Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen bejaht werden, wenn infolge der Seltenheit des Leidens medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können. In einem solchen Ausnahmefall kann die "generelle Geeignetheit" der Einwirkungen für die Entstehung der betroffenen Krankheit aus Einzelfallstudien, Erkenntnissen und Anerkennungen in ausländischen Prüfverfahren und Ähnlichem abgeleitet werden (vgl BSGE 79, 250, 252 = SozR 3-2200 § 551 Nr 9 S 21). Es würde die Anforderungen regelmäßig überspannen, den wissenschaftlich geführten Vollbeweis eines ursächlichen Zusammenhangs auf der Grundlage epidemiologischer Studien zu fordern.
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Das Auslegungsergebnis trägt insbesondere auch dem Regelungszweck und -anlass für die Einführung von Mindestmengen Rechnung: Es fehlt teilweise an einer ausreichenden Menge zu erbringender Leistungen für die betroffenen Behandler, um eine Routine und Erfahrung zu erlangen und aufrechtzuerhalten, die zu dem rechtlich geforderten Standard der Ergebnisqualität führt. Nur der Umstand, dass zu geringe Fallzahlen keine qualitativ hinreichende Behandlungspraxis für bestimmte Leistungen in allen Krankenhäusern gewährleisten, die nach ihrer personellen und sächlichen Ausstattung zur Leistungserbringung grundsätzlich in der Lage sind, rechtfertigt die Festsetzung von Mindestmengen. Denn gäbe es hinsichtlich sämtlicher planbarer Leistungen jeweils ausreichende Fallmengen, könnten Mindestmengen keine Anhebung der Ergebnisqualität erreichen. Die Regelung soll in ihrem Kern im Interesse gebotener Ergebnisqualität einen Fallzahlenmangel steuern.
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Der Regelungszweck steht ebenfalls - wie das -system - einem Normverständnis entgegen, das Mindestmengen auf bloße (fach-)ärztliche Grundfertigkeiten oder eine Grundversorgung im Krankenhausbereich erstreckt. Festsetzungen von Mindestmengen sind ebenfalls kein Instrument, um Behandler von der Versorgung auszuschließen, die trotz ausreichender Fallzahl nur eine durchschnittliche oder gar eine unterdurchschnittliche Ergebnisqualität oberhalb einer berufs-, gewerbe- oder schadensersatzrechtlichen Interventionsschwelle erreichen. Die Regelung betrifft dagegen - unter Berücksichtigung des aufgezeigten Auslegungsergebnisses - insbesondere Krankheitsbilder, deren Behandlung mehr als bloße (fach-)ärztliche Grundfertigkeiten erfordert. Hierbei wird es regelmäßig um hoch komplexe Leistungen gehen, die standardisierbar und unter Berücksichtigung des Verhältnisses von erforderlicher Fallzahl zu Ergebnisqualität relativ selten sind.
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Regelungszweck und -system sprechen schließlich dafür, eine bloße, nach wissenschaftlichen Maßstäben belegte Wahrscheinlichkeit für den Zusammenhang zwischen Ergebnisqualität und Leistungsmenge genügen zu lassen. Dies entspricht dem mit § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V verfolgten Zweck der Risikominimierung in einem nennenswerten Bereich. Anforderungen nach Art eines statistisch sauber geführten vollständigen Kausalitätsbeweises würden den Anwendungsbereich der Norm auf ein vernachlässigbares Minimum reduzieren. Der erforderliche Zusammenhang zwischen Steigerung der Ergebnisqualität und Festsetzung einer Mindestmenge besteht zwar unproblematisch, wenn er statistisch bewiesen ist. Das wird aber nur in höchst seltenen Ausnahmefällen möglich sein. Vergleichende Studien mit unterschiedlichen Mengenansätzen sind regelmäßig aus praktischen oder ethischen Gründen schon im Ansatz undurchführbar, ganz abgesehen davon, dass etwa unter Berücksichtigung der international unterschiedlichen Versorgungssituationen kaum eine statistisch hinreichende Fallzahl zur Verfügung stehen wird. Die Probleme potenzieren sich, wenn ein Beleg für die Mengenabhängigkeit der Ergebnisqualität bei Kombination mehrerer ergebnisqualitätsbezogener Parameter zu erbringen ist, wie das Gutachten des IQWiG zeigt. Es würde die Anforderungen überspitzen, für den Nachweis des genannten Zusammenhangs mehr zu verlangen, als dass auf der Grundlage einer umfassend ermittelten, mittels statistisch anerkannter Methoden metaanalytisch überprüften und zutreffend ausgewerteten Studienlage mehr für eine Verbesserung der Behandlungsergebnisse durch Einführung einer Mindestmenge spricht als dagegen.
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Ist der genannte Zusammenhang allerdings - wie regelmäßig der Fall - nicht statistisch bewiesen, ist er anhand medizinischer Erfahrungssätze ergänzend zu untermauern. Mit statistischen Methoden ermittelte und risikoadjustiert bewertete Korrelationen allein reichen nämlich beim Fehlen eines statistischen Kausalitätsbeweises nicht aus, um einen Fallzahlenmangel als Ursache schlechterer Behandlungsergebnisse zu identifizieren (vgl rechtsähnlich stRspr zur Wirtschaftlichkeitsprüfung im Vertragsarztrecht, zB BSG Urteil vom 9.3.1994 - 6 RKa 16/92 - Juris RdNr 22 = USK 94131; BSG Urteil vom 21.3.2012 - B 6 KA 18/11 R - Juris RdNr 23 mwN, zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 106 Nr 34 vorgesehen).
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Entgegen der Auffassung des LSG ist der Maßstab dagegen nicht sinngemäß nach einem "Goldstandard" der evidenzbasierten Medizin abzuleiten. Dies widerspräche dem mit § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V verfolgten Zweck der Risikominimierung. Ist eine Verschlechterung der Ergebnisqualität durch die Einführung einer Mindestmenge nicht zu erwarten, sondern besteht die Wahrscheinlichkeit einer Ergebnisqualitätsverbesserung, könnte das Erfordernis der Beachtung eines evidenzbasierten "Goldstandards" für den Nachweis des Zusammenhangs zwischen der Steigerung der Ergebnisqualität und einer Mindestmenge den Patienten möglicherweise dauerhaft Versorgungsstandards vorenthalten, die - jeweils nach dem Stand der aktuellen Erkenntnis - geeignet sind, zu einer relevanten Reduzierung von Versorgungsrisiken beizutragen. In diesem Sinne fordert auch § 3 Abs 2 Nr 1 MMV mit einem "evidenzbasierten Verfahren" nur eine praktisch verfügbare, den dargelegten Maßstäben genügende Evidenz.
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c) Der Beklagte bejahte - ausgehend von der dargelegten Auslegung - rechtmäßig für die Gruppe der Level-1-Geburten (dazu aa) die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V(dazu bb - cc).
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aa) Der Beklagte durfte rechtmäßig für die Mindestmengenbestimmung von der Gruppe der Level-1-Geburten ausgehen. Er knüpfte hierbei an die rechtswirksamen Bestimmungen der NICU-Vereinbarung über ein vierstufiges Versorgungskonzept an. Das SGB V gibt dem Beklagten auf, ua Mindestanforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität für zugelassene Krankenhäuser grundsätzlich einheitlich für alle Patienten festzulegen (vgl § 137 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB V). Der Beklagte ist dieser Pflicht durch den Beschluss der NICU-Vereinbarung nachgekommen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz war es nicht willkürlich, sondern im Gegenteil sachgerecht, die Mindestmengenbestimmung mit Blick auf das vierstufige Versorgungskonzept der NICU-Vereinbarung zu treffen. Die Verwendung gegriffener metrischer Größen bei internationalen Vergleichsstudien, die teilweise fehlende und zum Teil von der NICU-Vereinbarung abweichende nationale Versorgungskonzepte zu berücksichtigen haben, steht dem nicht entgegen.
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bb) Der Beklagte durfte die erfasste Gruppe der Level-1-Geburten als - im dargelegten Rechtssinne - "planbare Leistungen" ansehen. Die dafür vorgesehenen Perinatalzentren der obersten Kategorie können Level-1-Geburten nach den allgemein anerkannten medizinischen Erkenntnissen in der Regel medizinisch sinnvoll und zumutbar versorgen. Die gebotene stationäre Behandlung in einem Zentrum kann trotz ggf längerer Anfahrt ohne unzumutbares Risiko für die Patienten erfolgen. Das belegen sowohl die internationalen Studien etwa über Australien und Neuseeland (vgl Cust et al, Outcomes for high risk New Zealand newborn infants in 1998-1999, Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2003 [88<1>], F15-F22; Lui et al, Improved Outcomes of Extremly Premature Outborn Infants, Pediatrics 2006 [118<5>], 2076-2083) als auch nationale Publikationen (vgl zB Heller, Krankenhaus-Report 2008/2009, S 183 ff; Pohlandt et al, Regionalisierung bei Frühgeburtsbestrebungen im ländlichen Raum? Yes we can!, Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2009 [213], 135-137). In diesem Sinne äußert sich auch der Bericht des IQWiG (Abschlussbericht des IQWiG "Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Ergebnis bei der Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit sehr geringem Geburtsgewicht", Stand 14.8.2008; im Folgenden: Abschlussbericht). Frühgeborene werden danach in der Regel nicht notfallmäßig, sondern erst nach abgeschlossener, medikamentös bewirkter Lungenreife geboren (vgl Abschlussbericht S 2 f). Die Versorgung Frühgeborener - die schon im pränatalen Stadium beginnt - scheint umso weniger risikobehaftet zu sein, je eher die werdende Mutter sich bei nahendem Geburtstermin in ein Perinatalzentrum Level 1 begibt (vgl Abschlussbericht S 53 zum in-utero-Transfer; zu Portugal vgl auch Abschlussbericht S 52). Diese Schlussfolgerung ist plausibel, weil auftretende Komplikationen dort besser und schneller behandelt werden können, als dies während eines Transports oder bei Aufnahme in eine Einrichtung niedrigerer Versorgungsstufe der Fall sein dürfte. Der ambulante und der stationäre Sektor müssen und können hierzu effektiv miteinander verzahnt sein, um Fehlplatzierungen zu vermeiden und das relativ enge antenatale Zeitfenster zum Transport in ein Perinatalzentrum Level 1 zu nutzen. Die genannte Literatur zeigt, dass dies in Deutschland ebenso wie in vielen ausländischen Staaten möglich ist.
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Der Senat sieht keine Gründe, die gegen die Verwertbarkeit des Abschlussberichts des IQWiG sprechen. Denn das IQWiG ist als fachlich unabhängiges, rechtsfähiges wissenschaftliches Institut, dessen Träger der Beklagte ist (§ 139a Abs 1 S 1 SGB V), nach § 139a Abs 3 Nr 1 SGB V von Gesetzes wegen ausdrücklich zur Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei ausgewählten Krankheiten berufen. Es stellt ein Expertengremium dar, das in seiner persönlichen und fachlichen Integrität und Qualität durch Transparenz und Unabhängigkeit gesetzlich und institutionell abgesichert ist (vgl zum Ganzen BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 76 ff; BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 74 ff). Es gibt keine Hinweise darauf, dass das IQWiG nicht alle zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren relevanten Studien ausgewertet haben könnte. Die Auswertung selbst ist sorgfältig. Die darauf gestützten Folgerungen sind in ihren vorsichtig formulierten Aussagen wohlabgewogen.
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cc) Der Beklagte konnte auch rechtmäßig davon ausgehen, dass die Qualität des Behandlungsergebnisses der Level-1-Geburten, hier insbesondere mit Blick auf die Mortalität, in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist. Denn es besteht - im dargelegten Sinne - eine Studienlage, die nach wissenschaftlichen Maßstäben einen Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und Qualität des Behandlungsergebnisses wahrscheinlich macht.
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Der Beklagte durfte - ausgehend von der Studienlage (vgl dazu Abschlussbericht S V) - die Qualität des Behandlungsergebnisses als Ausgangspunkt an der zu erwartenden Reduzierung des Mortalitätsrisikos messen. Er musste nicht alle Morbiditätsvariablen einbeziehen, zumal die hierfür verfügbaren Daten spärlich sind (vgl dazu Abschlussbericht S V). Das Vorgehen ist vertretbar, da die Zusammenhänge zwischen Leistungsmenge und Mortalitätsrisiko am besten untersucht sind und andererseits eine gleiche Tendenz wie beim Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Morbiditätsrisiko aufweisen.
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Ein Zusammenhang zwischen der Erhöhung der Leistungsmenge und der Reduzierung des Mortalitätsrisikos ist auch wahrscheinlich. Davon ist der Senat - der dies als generelle Tatsache selbst zu bewerten hat (vgl nur BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 31; s ferner Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 163 RdNr 7 mwN)- aufgrund der zur Beurteilung vorliegenden wissenschaftlichen Studien und Aussagen überzeugt. Er folgt den Erkenntnissen des IQWiG, das in nicht zu beanstandender Weise zu folgender Einschätzung gelangt ist: "Die Ergebnisse der eingeschlossenen Publikationen weisen bezüglich eines statistischen Zusammenhangs zwischen der Leistungsmenge und der Ergebnisqualität bei der Versorgung von Frühgeborenen mit sehr geringem Geburtsgewicht kein völlig einheitliches und eindeutiges Bild auf. Allerdings geben die Daten der Gesamtschau bezüglich der primären Zielgröße "Mortalität" unter Berücksichtigung der Studien- und Publikationsqualität sowie ihres Populationsbezugs deutliche Hinweise auf einen statistischen Zusammenhang, der sich als Trend einer Risikoreduktion mit steigender Leistungsmenge darstellt" (Abschlussbericht S 59).
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Dem steht nicht entgegen, dass das IQWiG aus den zwölf Beobachtungsstudien, insbesondere auch aus den vier Studien mit einem geringen Verzerrungspotential, zwei davon zur Behandlungssituation in Deutschland, keine expliziten Schwellenwerte für Mindestmengen ableiten konnte (vgl Abschlussbericht S 59). Eine Ergebnisverbesserung ist durch Festsetzung einer Mindestmenge wahrscheinlich, die typischerweise Behandlungskontinuität ermöglicht. Hierfür streitet maßgeblich der Erfahrungssatz, dass eine laufende Befassung eines Level-1-Zentrums mit der Behandlung sehr geringgewichtiger Früh- und Neugeborener durch das ganze Jahr hindurch notwendig ist, um eine Festigung der Behandlungsabläufe als Teamleistung zu gewährleisten. Es ist hingegen nicht plausibel, dass bloß zeitweilige Behandlungsepisoden das Qualitätsniveau der Versorgung in gleicher Weise zu sichern vermögen.
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d) Der Beklagte überschritt nicht den ihm eingeräumten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, indem er vertretbar eine Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten für Krankenhäuser festsetzte, ohne weitere Ausnahmen vorzusehen. Diese festgesetzte Mindestmenge ist regelmäßig geeignet, die Behandlungskontinuität als eine (Mindest-)Voraussetzung für ein gutes Behandlungsergebnis zu gewährleisten.
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Die ausgewählte Versorgung von Level-1-Geburten in Krankenhäusern mit ausgewiesenem Level 1 betrifft kategorial eine Versorgung, die einen hoch komplexen, relativ seltenen Behandlungsaufwand auslöst. Die Versorgung von Level-1-Geburten stellt ganz erheblich über dem Durchschnitt liegende Anforderungen an Können und Erfahrung des behandelnden ärztlichen und nichtärztlichen Personals, um als Team über einen längeren Zeitraum je Behandlungsfall eine bestmögliche Versorgung zu erbringen. Dies folgt aus dem in der Unreife dieser Kinder begründeten, ausgeprägten multifaktoriellen Mortalitätsrisiko (vgl Abschlussbericht S 1 f) und der Notwendigkeit intensivmedizinischer Maßnahmen über einen längeren Zeitraum unter Einsatz eines ständig verfügbaren, in herausgehobener Weise spezialisierten Behandlungsteams. Letzteres belegt schon die in der Anlage 1 der NICU-Vereinbarung an ein Perinatalzentrum Level 1 gestellten Anforderungen. Bei diesen Vorgaben verbietet es sich von selbst, eine Mindestmenge an die Behandlungstätigkeit eines einzelnen Arztes anzuknüpfen.
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Die Mindestmenge von 14 Level-1-Geburten gefährdet nach der vertretbaren Einschätzung des Beklagten nicht die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung. Nach den ermittelten Daten verblieben bei einer Mindestmenge von 14 Level-1-Geburten in den Jahren 2005 und 2006 bundesweit zwischen rund 130 und 150 Krankenhäuser, die zur Versorgung zur Verfügung standen (Krankenhäuser mit 20 und mehr VLBW-Geburten, 2005: 151; 2006: 153, wobei Level-1-Geburten etwa 2/3 aller VLBW-Geburten ausmachen). Dies deckt sich mit den Angaben des Spitzenverbandes Bund der KKn, wonach ab 2010 mehr als 128 Krankenhäuser die Mindestmenge für Level-1-Geburten erreichen dürften (Präsentation am 17.6.2010 in der Plenumssitzung des Beklagten mit Übersichtskarte zur räumlichen Verteilung). Im Übrigen kann jeweils die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde, um einer danach etwa noch verbleibenden regionalen Unterversorgung zu begegnen, Ausnahmegenehmigungen erteilen (§ 137 Abs 3 S 3 SGB V).
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Der Beklagte musste unter Berücksichtigung der Datenlage auch keine weiteren sachlichen Ausnahmebestimmungen von der Mindestmenge 14 vorsehen, um Sonderfällen Rechnung zu tragen. Anlage 2 Nr 3 und 4 MMV räumen beim Aufbau neuer Leistungsbereiche Übergangszeiträume von 36 Monaten und bei personeller Neuausrichtung bestehender Leistungsbereiche Übergangszeiträume von maximal 24 Monaten ein. Konflikte, die aus dem Leistungsverbot erwachsen, wenn die erforderliche Mindestmenge voraussichtlich nicht erreicht wird (§ 137 Abs 3 S 2 SGB V), bedürfen keiner weiteren Regelung in der MMV. Die Regelung verbietet nicht bei punktuellen Unterschreitungen der erforderlichen Mindestmenge, dass die Betroffenen künftig Leistungen erbringen. Die geforderte Prognose, dass die erforderliche Mindestmenge voraussichtlich nicht erreicht wird, greift erst ein, wenn eine valide Einschätzung auf der Grundlage eines hinreichend langen Zeitraums möglich ist.
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6. Sowohl die gesetzliche Regelung des § 137 Abs 3 S 2 iVm § 137 Abs 3 S 1 SGB V als auch die untergesetzliche Bestimmung der Nr 8 Anlage 1 MMV(idF des Beschlusses des Beklagten vom 20.8.2009) verletzen die Klägerin nicht in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art 12 Abs 1 GG. Die Klägerin ist Trägerin dieses Grundrechts. Es erstreckt sich nach Art 19 Abs 3 GG auch auf juristische inländische Personen, zu denen die Klägerin zählt (vgl nur Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art 12 RdNr 13 mwN).
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Art 12 Abs 1 S 1 GG schützt - neben der Freiheit der Berufswahl - die Freiheit der Berufsausübung. Zu den Rahmenbedingungen der Berufsausübung gehört für Krankenhäuser auch, dass sie bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen müssen, um einzelne Operationen und Prozeduren, aber auch um eine aus einer Vielheit von Einzelmaßnahmen bestehende Behandlung eines bestimmten Krankheitsbildes erbringen zu dürfen. Von einer bloßen Berufsausübungsregelung ist dann auszugehen, wenn sie nur einen Ausschnitt aus einer fachärztlichen Tätigkeit betrifft (vgl zu § 135 SGB V iVm untergesetzlichen Vorschriften als Berufsausübungsregelungen: BVerfG
SozR 4-2500 § 135 Nr 2 RdNr 22; BVerfGK 17, 381, 385 f = SozR 4-2500 § 135 Nr 16 RdNr 13 f; vgl auch BVerfGE 33, 125, 161, das offen lässt, ob der Facharzt iS von Art 12 Abs 1 GG ein eigener Beruf oder nur eine Form der Berufsausübung ist) . Die Geburtshilfe durch Gynäkologen und die Behandlung von Level-1-Geburten durch Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neonatologie stellt jeweils nur einen kleineren Teil der jeweiligen gesamten fachärztlichen Tätigkeit dar. Nichts anders gilt für die Schwerpunktbezeichnungen Kinderchirurgie, Kinderkardiologie, Kinderradiologie und Neuropädiatrie sowie auf nichtärztlicher Seite für die Hebammen, Kinderschwestern und Kinderkrankenpfleger. Insoweit macht es keinen Unterschied, wenn ein einer Qualitätssicherungsregelung unterworfener Teil einer fachärztlichen Tätigkeit nicht ambulant erbracht wird, sondern der zentrale Teil einer umfassenderen Versorgungsleistung eines Krankenhauses ist. Dies gilt umso mehr, als die Ermächtigungsgrundlage für die Qualitätssicherungsregelung (§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V) erlaubt, an die Versorgung entweder vom Krankenhaus oder vom Arzt anzuknüpfen. Sie ist letztlich aber auch bei der Anknüpfung an das Krankenhaus darauf ausgerichtet, bloß einen begrenzten Teil der gesamten Tätigkeit der ärztlichen, aber auch der nichtärztlichen Therapeuten in ihrem Verbund als Gemeinschaftsleistung zu regeln.
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§ 137 Abs 3 S 1 SGB V und Nr 8 Anlage 1 Mindestmengenvereinbarung greifen in die Berufsausübung ein. Werden ihre Voraussetzungen nicht erfüllt, darf die Leistung gegenüber keinem Patienten erbracht werden. Die Regelung erfüllt das Erfordernis, dass ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit nach Art 12 Abs 1 S 2 GG einer gesetzlichen Grundlage bedarf, die ihrerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen an grundrechtseinschränkende Gesetze genügen muss (stRspr, vgl BVerfGE 94, 372, 389 f; BVerfGE 111, 366, 373). Gesetzliche Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung sind nur dann mit Art 12 Abs 1 GG vereinbar, wenn sie durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sind (vgl nur BVerfGE 106, 181, 192 = SozR 3-2500 § 95 Nr 35 S 172). Die aus Gründen des Gemeinwohls unumgänglichen Beschränkungen des Grundrechts stehen unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit (vgl BVerfGE 19, 330, 336 f; 54, 301, 313). Eingriffe in die Berufsfreiheit dürfen deshalb nicht weitergehen, als es die sie rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern (vgl BVerfGE 101, 331, 347). Eine sowohl den Freiheitsanspruch des Berufstätigen wie die Schutzbedürftigkeit der Gemeinschaft berücksichtigende Lösung kann nur in Abwägung der Bedeutung der einander gegenüberstehenden und möglicherweise einander widerstreitenden Interessen gefunden werden (vgl BVerfGE 7, 377, 404 f).
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Die Abwägung der Bedeutung des Interesses der Kinderkliniken, uneingeschränkt Kinder von Level-1-Geburten zu versorgen, mit dem Interesse an einer besseren Versorgungsqualität für Frühgeborene ergibt einen Vorrang der Qualitätssicherung zugunsten der hiervon betroffenen Individual- und Gemeinwohlbelange. Die Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten sichert eine (Mindest-)Erfahrung des Behandlungsteams, die mit Wahrscheinlichkeit nach der aufgezeigten Studienlage die besonders hohe Mortalität bei Level-1-Geburten reduzieren kann. Die Studienlage belegt, wie dringlich solche Qualitätssicherung ist. So betrug zB im Jahr 2011 in Deutschland der Anteil der VLBW-Geburten an allen Lebendgeburten 1,233 %, ihr Anteil an den Todesfällen der lebend geborenen Kinder im ersten Lebensjahr dagegen 41,32 % (Quelle: Statistisches Bundesamt). Die Mortalität von Level-1-Geburten war bezogen auf die Jahre 2004 bis 2008 im Vergleich zu Level-2-Geburten sogar um den Faktor 10,12 höher (Angabe nach Ausführungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft in der Plenumssitzung am 17.6.2010 unter Auswertung von aufgrund der NICU-Vereinbarung erhobenen Ergebnisdaten).
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7. Die Heraufsetzung der jährlichen Mindestmenge für Level-1-Geburten von 14 auf 30 Behandlungsfälle je Krankenhaus mit ausgewiesenem Level 1 (Beschluss vom 17.6.2010) ist indes nichtig. Der Beklagte ermittelte den zugrunde liegenden Sachverhalt unzureichend, als er die jährliche Mindestmenge für Level-1-Geburten erhöhte. Er gelangte dadurch fehlerhaft zur Überzeugung, dass die neue höhere Mindestmenge die Mortalität bei der Behandlung von Level-1-Geburten bundesweit einheitlich stärker reduzieren könne.
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Der Beklagte ist - wie dargelegt - grundsätzlich nicht gehindert, im Rahmen eines gestuften Verfahrens eine zunächst niedriger festgesetzte Mindestmenge anzuheben, wenn die Studienlage eine Bandbreite von gleichermaßen geeigneten Mindestmengen aufzeigt. Der Beklagte konnte von einer solchen Datenlage für die Erhöhung der Mindestmenge nicht ohne Weiteres ausgehen. So sah sich das IQWiG in seinem Abschlussbericht nachvollziehbar außerstande, Schwellenwerte, eine bestimmte Mindestmenge oder auch nur einen Mindestmengenkorridor vorzuschlagen. Während für die Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten wie dargelegt ergänzend zu den statistischen Grundlagen der Erfahrungssatz streitet, dass eine kontinuierliche Befassung eines Level-1-Zentrums mit der Behandlung sehr geringgewichtiger Früh- und Neugeborener durch das ganze Jahr hindurch notwendig ist, konnte der Beklagte hierauf für die Erhöhung der Mindestmenge auf 30 Level-1-Geburten nicht zurückgreifen.
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Der Rechtsgedanke einer Beweiserleichterung (vgl dazu allgemein zB BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 5 RdNr 15; BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 11 S 17 ff mwN; Hauck in Hennig, SGG, Stand Dezember 2012, § 103 RdNr 75 ff)kommt schon im Ansatz zu Gunsten des Beklagten nicht (mehr) in Betracht. Er verfügt nämlich zur Beschaffung und Auswertung der hierfür erforderlichen Daten inzwischen über ein umfassendes Rechtsinstrumentarium (§§ 137a, 299 SGB V, § 21 Abs 3a Krankenhausentgeltgesetz). Er muss das ihm verfügbare Instrumentarium indes auch nutzen, um sich nach Einführung von Mindestmengen bei einer Datenlage wie der vorliegenden bessere Erkenntnisse zu verschaffen (vgl zur Beobachtungspflicht bei RL BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 74 ff mwN). Der Beklagte strebt zu Recht in diesem Sinne grundsätzlich selbst eine wissenschaftliche Begleitung der Auswirkungen von Mindestmengen an (vgl § 3 Abs 3 Mm-R). In diesem Sinne empfahl auch das IQWiG, im Falle der Festsetzung einer Mindestmenge deren Auswirkungen anhand einer differenzierten Begleitevaluation auszuwerten (vgl Abschlussbericht S 56 ff).
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Der Beklagte setzte eine solche Begleitevaluation seit Festsetzung einer Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten nicht ins Werk. Auch sonst konnte sich der Beklagte nicht auf neuere Studien stützen, die geeignet gewesen wären, die Anhebung der letztlich auf Plausibilitätserwägungen gestützten Mindestmenge auf jährlich 30 Level-1-Geburten in der erforderlichen Qualität zu begründen. Die im Abschlussbericht des IQWiG als "Trend zur Risikoreduktion" bezeichnete statistische Korrelation zwischen Mengenzunahme und Mortalitätsabnahme, welchen auch zwischenzeitlich erschienene Studien belegen, genügt allein hierfür nicht. Sie müsste ergänzend durch weitere medizinische Erfahrungssätze untermauert sein, an denen es aber fehlt. Im Gegenteil kommt bei der umstrittenen Erhöhung der Mindestmenge in Betracht, dass in einzelnen Regionen Deutschlands durch den Ausschluss von Abteilungen mit überdurchschnittlicher Qualität die Behandlungsqualität insgesamt mit der Folge sinkt, dass den in einer Region zusätzlich überlebenden Kindern, solche in nennenswerter Zahl gegenüberstehen, die in einer anderen Region zusätzlich sterben.
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Bereits der mit Daten unterlegte Vortrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (17.6.2010) deutete an, dass sich jenseits der Mindestmenge 14 eine mengenunabhängige erhebliche Variabilität der Behandlungsergebnisse ergibt. Dies deckt sich mit der auch im Abschlussbericht des IQWiG als valide angesehenen Studie von Rogowski et al (JAMA 2004 <291>, 202, 208) und der dort dargestellten Auffassung, dass eine Steuerung über die beobachtete Mortalität deutlich effektiver sein kann als eine Steuerung über die Menge. Die inzwischen veröffentlichte Studie von Kutschmann et al (DÄBl 2012 <109>, 519) bestätigt den Befund eines hohen Prozentsatzes falschpositiver Ergebnisse bei Krankenhäuser mit Fallzahlen von ≥ 30 Level-1-Geburten und falschnegativer Ergebnisse bei Krankenhäusern mit Fallzahlen von 14 bis 29 Level-1-Geburten. Die Autoren der Studie werteten den vollständigen Datensatz der Neonatalerhebungen 2007 bis 2009 der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen aus. Sie kamen wie auch schon andere Studien, die zum Teil im Abschlussbericht des IQWiG ausgewertet sind, zum Teil aber auch neueren Datums sind (Trotter/Pohlandt, Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2010 <214>, 55; Chung et al, Med Care 2010 <48>, 635), zwar zum Ergebnis, dass die risikoadjustierte Mortalität in der Gruppe der Abteilungen mit höheren Fallzahlen (hier von mindestens 30) signifikant niedriger ist als in der Gruppe kleinerer Abteilungen (Kutschmann et al, aaO, S 525). Zugleich konstatierten sie aber, dass die Mortalitätsrate bei Level-1-Geburten nicht linear mit steigender Zahl behandelter Kinder sank. Vielmehr behandelten mit überdurchschnittlicher Qualität unter Berücksichtigung risikoadjustierter Mortalität 56 % der Abteilungen mit einer Fallzahl von jährlich mindestens 30 Frühgeborenen, aber auch immerhin 44 % der Abteilungen mit einer Fallzahl von 14 bis 29 Frühgeborenen (Kutschmann et al, aaO, S 525). Auch Trotter/Pohlandt (aaO S 58) kommen zu vergleichbaren Schlüssen.
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Der Beklagte schuf anlässlich der angegriffenen Erhöhung der Mindestmenge auch keine Ausnahmetatbestände, die die drohenden Folgen einer regionalen Qualitätsminderung bei einer Erhöhung der Mindestmenge auf 30 verhindern. Ein solches Vorgehen auf der Basis einer validen Begleitevaluation könnte eine Erhöhung der Mindestmenge rechtmäßig machen. Der Beklagte kann auf der Grundlage spezifischerer Erkenntnisse eine Veränderung der Mindestmengenregelung beschließen, die eine Qualitätsverbesserung ohne Gefahr regionaler Qualitätsminderung erwarten lässt. Hierbei muss er auch berücksichtigen, dass eine Regelung, die ein überdurchschnittlich leistungsfähiges Krankenhaus von der Leistungserbringung durch eine Mindestmenge ausschließt, als erheblicher Eingriff in die durch Art 12 Abs 1 S 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit nur dann - wie dargelegt - gerechtfertigt ist, wenn dieser Eingriff in die Berufsfreiheit nicht weiter geht, als es die sie rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern.
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8. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO, diejenige über den Streitwert aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1 und Abs 3 S 1, § 52 Abs 1 und 4 sowie § 47 Abs 1 und Abs 2 S 1 GKG.
(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 91 überprüft auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Absatz 2 Satz 1, des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder eines Bundesverbandes der Krankenhausträger Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, daraufhin, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode nicht hinreichend belegt ist und sie nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, insbesondere weil sie schädlich oder unwirksam ist, erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf. Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie zur Erprobung nach § 137e. Nach Abschluss der Erprobung erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der Krankenkassen erbracht werden darf, wenn die Überprüfung unter Hinzuziehung der durch die Erprobung gewonnenen Erkenntnisse ergibt, dass die Methode nicht den Kriterien nach Satz 1 entspricht. Die Beschlussfassung über die Annahme eines Antrags nach Satz 1 muss spätestens drei Monate nach Antragseingang erfolgen. Das sich anschließende Methodenbewertungsverfahren ist in der Regel innerhalb von spätestens drei Jahren abzuschließen, es sei denn, dass auch bei Straffung des Verfahrens im Einzelfall eine längere Verfahrensdauer erforderlich ist.
(2) Wird eine Beanstandung des Bundesministeriums für Gesundheit nach § 94 Abs. 1 Satz 2 nicht innerhalb der von ihm gesetzten Frist behoben, kann das Bundesministerium die Richtlinie erlassen. Ab dem Tag des Inkrafttretens einer Richtlinie nach Absatz 1 Satz 2 oder 4 darf die ausgeschlossene Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden; die Durchführung klinischer Studien bleibt von einem Ausschluss nach Absatz 1 Satz 4 unberührt.
(3) Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Absatz 1 getroffen hat, dürfen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt und von den Versicherten beansprucht werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt sowohl für Methoden, für die noch kein Antrag nach Absatz 1 Satz 1 gestellt wurde, als auch für Methoden, deren Bewertung nach Absatz 1 noch nicht abgeschlossen ist.
Tenor
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Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 2011 und des Sozialgerichts Aachen vom 29. September 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2009 aufgehoben.
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Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den Kosten der ambulant durchgeführten hyperbaren Sauerstofftherapie in Höhe von 6994,44 Euro freizustellen.
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Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die Freistellung von Kosten einer ambulant durchgeführten hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO-Therapie).
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Die am 1.5.1960 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin leidet unter Diabetes mellitus Typ I mit Verschluss aller originären Unterschenkelgefäße im Bereich des oberen Sprunggelenks. Deshalb bildeten sich bei ihr im Februar 2009 trockene Nekrosen an Zehen des linken Fußes (pAVK im Stadium IV links, ischämisches diabetisches Fußsyndrom). Die Klinik für Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums Aachen diagnostizierte massive arteriosklerotische Veränderungen. Eine geplante Bypassimplantation fand daraufhin nicht statt. Eine Wunde im OP-Bereich tendierte auch nach Antibiotikagabe nicht zur Heilung. Die Klägerin beantragte über das nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene HBO-Zentrum E (HBO-Zentrum), die Kosten für eine HBO-Therapie im Rahmen ambulanter Behandlung zu übernehmen (ärztliches Schreiben vom 2.5.2009). Die HBO-Therapie (Einatmung von 100 % medizinisch reinem Sauerstoff unter erhöhtem Umgebungsdruck für definierte Zeiträume und Intervalle) erfolgt in der Regel in HBO-Zentren mit erforderlichen Druckkammern und ärztlich geleitetem Behandlungsteam. Die Klägerin führte aus, die HBO-Therapie stelle für sie - nach Ausschöpfung aller gefäßchirurgischen Möglichkeiten - die letzte Chance dar, eine Abheilung der OP-Wunde zu erreichen und eine Amputation im Unterschenkelbereich zu vermeiden. Das diabetische Fußsyndrom befinde sich im Übergang zum Stadium Wagner III, wobei lediglich die begleitende Knochenbeteiligung für das Stadium III noch nicht radiologisch nachgewiesen sei, sich aber innerhalb der nächsten Tage einstellen werde. Sie bedürfe keiner stationären Behandlung, da sie sich in einem guten Allgemeinzustand befinde und noch relativ jung sei. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 8.5.2009; Widerspruchsbescheid vom 3.7.2009). Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) habe entschieden, dass die HBO-Therapie nicht als ambulante vertragsärztliche Leistung erbracht werden dürfe. Die Klägerin unterzog sich 20 ambulanten HBO-Behandlungen im HBO-Zentrum (25.5.2009 bis 22.6.2009, Rechnung vom 10.7.2009 über 3885,80 Euro). Die Klinik für Plastische Chirurgie, Hand- und Verbrennungschirurgie des Universitätsklinikums Aachen behandelte die Klägerin wegen zweier nekrotisierender Zehenglieder stationär (23.6.2009 bis 6.7.2009). Sie führte die HBO-Therapie in 9 Sitzungen im HBO-Zentrum als Teil der stationären Behandlung fort. Die Klägerin ließ anschließend im HBO-Zentrum 16 weitere Behandlungen ambulant durchführen (7.7.2009 bis 31.7.2009, Rechnung vom 15.8.2009 über 3108,64 Euro). Das HBO-Zentrum stundet ihr seitdem die Rechnungsbeträge bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Freistellungsanspruch.
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Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.9.2009). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Die ambulante HBO-Therapie gehöre nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Der GBA habe sie nicht für die vertragsärztliche Versorgung empfohlen. Er habe die HBO-Therapie im Krankenhaus nur unter einschränkenden Kriterien als zu Lasten der GKV erbringbare Leistung qualifiziert (Beschluss vom 13.3.2008). Die erneute Einleitung eines Prüfverfahrens sei nicht rechtswidrig unterblieben (Urteil vom 6.10.2011).
- 4
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Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung aus Art 20 Abs 3 GG. Eine stationäre Behandlung sei in ihrem Falle nicht medizinisch notwendig. Ihr sei auch ein Abwarten nicht zuzumuten, bis eine Verschlimmerung eingetreten sei, die eine stationäre Behandlung erfordere. § 226 Abs 1 StGB belege, dass der drohende Verlust eines Fußes - als wichtiges Körperglied - wertungsmäßig mit einer drohenden Erblindung gleichzustellen sei, die zu einer grundrechtsorientierten Auslegung führe.
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Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 2011 und des Sozialgerichts Aachen vom 29. September 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin von den Kosten der ambulant durchgeführten hyperbaren Sauerstofftherapie in Höhe von 6994,44 Euro freizustellen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 2011 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 7
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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
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Der Senat hat Beweis erhoben durch eine Auskunft des GBA. Der GBA hat ausgeführt, die in Rede stehende Ausnahme von einem Verbot nach § 137c SGB V für die adjuvante Anwendung der HBO-Therapie bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom im Stadium größer/gleich Wagner III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie führe nach § 137c SGB V zur Erlaubnis im stationären Bereich, nicht aber nach § 135 SGB V für die vertragsärztliche Versorgung. Dies sei Folge des gesetzlichen Regelungsansatzes.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide der beklagten KK sind aufzuheben. Die Vorinstanzen haben die - zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG)verfolgte - Klage auf Freistellung zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf Freistellung von 6994,44 Euro Kosten der in der Zeit vom 25.5. bis 22.6.2009 und vom 7. bis 31.7.2009 ambulant im HBO-Zentrum durchgeführten adjuvanten HBO-Therapie.
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Rechtsgrundlage des Kostenfreistellungsanspruchs ist § 13 Abs 3 S 1 Fall 2 SGB V(hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 5 Buchst b Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung
vom 21.12.1992, BGBl I 2266) . Die Rechtsnorm bestimmt: "Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war." Ein Anspruch auf Kostenerstattung ist demnach nur gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind (vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 25; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, 19. Aufl, Stand 1.1.2012, § 13 SGB V RdNr 233 ff): Bestehen eines Primärleistungs-(Naturalleistungs-)anspruchs der Versicherten und dessen rechtswidrige Nichterfüllung, Ablehnung der Naturalleistung durch die KK (dazu insgesamt 1.), Selbstbeschaffung einer entsprechenden Leistung durch die Versicherte (dazu 2.), Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung, Notwendigkeit der selbst beschafften Leistung (dazu insgesamt 3.) und (rechtlich wirksame) Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung (dazu 4.).
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1. Der Kostenfreistellungsanspruch nach § 13 Abs 3 S 1 Fall 2 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSGE 111, 137 = SozR 4-2500 § 13 Nr 25, RdNr 15; vgl zum Ganzen: E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 1, 19. Aufl, 78. Lfg, Stand: 1.1.2012, § 13 SGB V RdNr 233 ff). Die Klägerin hatte 2009 Anspruch gegen die Beklagte auf eine ambulante Behandlung ihres diabetischen Fußsyndroms im Stadium Wagner III mit HBO (zum Individualanspruch Versicherter vgl BSG Beschluss vom 7.11.2006 - B 1 KR 32/04 R - RdNr 54, GesR 2007, 276; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 1, 19. Aufl, Stand 1.1.2012, § 13 SGB V RdNr 53 f).
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a) Die Beklagte war nach § 27 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB V der Klägerin zur Gewährung ärztlicher Behandlung verpflichtet, die vom Anspruch auf Krankenbehandlung umfasst ist. Versicherte wie die Klägerin haben gemäß § 27 Abs 1 S 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit - hier das diabetische Fußsyndrom im Stadium Wagner III - zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
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Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch einer Versicherten unterliegt allerdings den sich aus § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Die KKn sind nicht bereits dann leistungspflichtig, wenn eine begehrte Therapie nach eigener Einschätzung der Klägerin oder des behandelnden Arztes positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte die Therapie befürwortet haben. Vielmehr muss die betreffende Therapie rechtlich von der Leistungspflicht der GKV umfasst sein. Dies ist bei - wie hier - neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs 1 S 1 SGB V grundsätzlich nur dann der Fall, wenn zunächst der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat und der Bewertungsausschuss sie zudem zum Gegenstand des einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM) gemacht hat(vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 17 RdNr 14; BSGE 88, 126, 128 = SozR 3-2500 § 87 Nr 29; Hauck, NZS 2007, 461, 464 mwN). Durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 5 iVm § 135 Abs 1 SGB V wird nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte usw) neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der KKn erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr wird durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den KKn geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt (vgl BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 12 - LITT; BSGE 111, 137 = SozR 4-2500 § 13 Nr 25, RdNr 16, stRspr).
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Die Richtlinien des GBA sind in der Rechtsprechung des BSG seit Langem als untergesetzliche Rechtsnormen anerkannt. Ihre Bindungswirkung gegenüber allen Systembeteiligten steht außer Frage (vgl § 91 Abs 9 SGB V idF des Art 1 Nr 70 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung
vom 14.11.2003, BGBl I 2190; jetzt § 91 Abs 6 SGB V idF des Art 2 Nr 14 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung . Das BSG zieht die Verfassungsmäßigkeit dieser Art der Rechtsetzung nicht mehr grundlegend in Zweifel. Es behält sich aber vor, die vom GBA erlassenen, im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden normativen Regelungen formell und auch inhaltlich in der Weise zu prüfen, wie wenn der Bundesgesetzgeber derartige Regelungen in Form einer untergesetzlichen Norm - etwa einer Rechtsverordnung - selbst erlassen hätte, wenn und soweit hierzu aufgrund hinreichend substantiierten Beteiligtenvorbringens konkreter Anlass besteht (stRspr; vgl grundlegend BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 14 ff mwN - LITT; siehe auch zB BSGE 107, 261 = SozR 4-2500 § 35 Nr 5, RdNr 26 mwN).vom 26.3.2007, BGBl I 378)
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Die Behandlung mit hyperbarem Sauerstoff beim diabetischen Fußsyndrom ist eine ärztliche "Behandlungsmethode" im Sinne der GKV. Ärztliche "Behandlungsmethoden" im Sinne der GKV sind nämlich medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zugrunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll (vgl zB BSGE 82, 233, 237 = SozR 3-2500 § 31 Nr 5 - Jomol; vgl auch BSGE 88, 51, 60 = SozR 3-2500 § 27a Nr 2 mwN; BSG SozR 3-5533 Nr 2449 Nr 2 S 9 f; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 17; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 21 mwN). Die Methode ist auch "neu", weil sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM enthalten war (vgl zum Merkmal "neu" BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 21 mwN). Als nicht vom GBA empfohlene neue - sogar durch Beschluss vom 10.4.2000 (BAnz Nr 128 vom 12.7.2000, S 13396, und BAnz Nr 22 vom 1.2.2001, S 1505) explizit von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossene - Methode ist die ambulante HBO-Therapie grundsätzlich kein Leistungsgegenstand der GKV (vgl Anlage II Nr 16 der Richtlinie
Methoden vertragsärztliche Versorgung in der seinerzeit geltenden Fassung vom 17.1.2006, BAnz Nr 48 vom 9.3.2006, S 1523, geändert am 19.6.2008/1.12.2008, BAnz Nr 124 vom 19.8.2008, S 3018 und Nr 197 vom 30.12.2008, S 4749).
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b) Die ambulante adjuvante Behandlung des diabetischen Fußsyndroms im Stadium ab Wagner III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie mit HBO im Jahre 2009 ist aber als Ausnahmefall wegen Systemversagens in den GKV-Leistungskatalog einbezogen, ohne dass es einer positiven Empfehlung des GBA und einer Aufnahme der Methode in den EBM bedarf. Der GBA verstieß gegen höherrangiges Recht (vgl zu dieser Voraussetzung zB BSGE 88, 62, 67 f = SozR 3-2500 § 27a Nr 3), weil er objektiv willkürlich das sektorenübergreifende Prüfverfahren 2008 nicht auf eine Empfehlung dieser Methode bei der genannten Indikation für die vertragsärztliche Versorgung erstreckte. In solchen Fällen gibt § 13 Abs 3 S 1 SGB V Versicherten ua das Recht, von ihrer KK zu verlangen, von den Kosten der betreffenden Leistung freigestellt zu werden, wenn sie notwendig ist(vgl dazu BSGE 88, 62, 74 f = SozR 3-2500 § 27a Nr 3; Hauck, NZS 2007, 461, 464). Die Grundsätze, die die Rechtsprechung für ein Systemversagen entwickelt hat, greifen ergänzend zur gesetzlichen Regelung bei verzögerter Bearbeitung eines Antrags auf Empfehlung einer neuen Methode ein (vgl § 135 Abs 1 S 4 und 5 SGB V idF des Art 1 Nr 105 Buchst b GKV-WSG, BGBl I 378; Hauck, NZS 2007, 461, 464). Der erkennende Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von der Rechtsprechung des 6. Senats des BSG zur HBO ab (vgl hierzu BSGE 110, 245 = SozR 4-1500 § 55 Nr 12, unzulässige Klage betreffend die Aufnahme der HBO-Therapie in die Anlage I der RL Methoden vertragsärztliche Behandlung des GBA für die Indikationen "akutes Knalltrauma" und "Hörsturz mit/ohne Tinnitus").
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aa) Eine Leistungspflicht der KK wegen Systemversagens kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ausnahmsweise ungeachtet des in § 135 Abs 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde. Diese Durchbrechung beruht darauf, dass in solchen Fällen die in § 135 Abs 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtswidrig unterblieben ist und deshalb die Möglichkeit bestehen muss, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf andere Weise zu überwinden(vgl BSGE 81, 54, 65 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 S 21; BSG SozR 3-2500 § 92 Nr 12 S 70: "rechtswidrige Untätigkeit des Bundesausschusses"; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 - Neuropsychologische Therapie; BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 18 f mwN - LITT).
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Zu einem Systemversagen kann es kommen, wenn das Verfahren vor dem GBA von den antragsberechtigten Stellen oder dem GBA selbst überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß betrieben wird und dies auf eine willkürliche oder sachfremde Untätigkeit oder Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist (vgl BSGE 81, 54, 65 f = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 - Immunbiologische Therapie; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 - Neuropsychologische Therapie; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 16 RdNr 12 - ICL, jeweils mwN). In einem derartigen Fall widersprechen die einschlägigen RL einer den Anforderungen des Qualitätsgebots (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)genügenden Krankenbehandlung. Es fordert, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen haben, welche sich wiederum in zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen niedergeschlagen haben, und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen müssen (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 18 f mwN - LITT).
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bb) Ein solcher Fall des Systemversagens liegt hier vor. Der GBA führte das Prüfverfahren 2008 mit Wirkung vom 13.11.2008 objektiv willkürlich nicht zu einer Empfehlung der ambulanten adjuvanten HBO-Therapie als neue Methode für die vertragsärztliche Versorgung bei diabetischem Fußsyndrom im Stadium ab Wagner III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie.
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Der Bundesausschuss überprüfte rechtmäßig auf Antrag der Spitzenverbände der KK (5.11.2001) zunächst im Ausschuss Krankenhaus gemäß § 137c SGB V und ab 2004 als GBA die HBO-Therapie. Rechtmäßig ließ der GBA den Nutzen und die medizinische Notwendigkeit der HBO-Therapie sektorenübergreifend von der Themengruppe "HBO" bewerten (vgl zur Entwicklung § 7 Verfahrensordnung
GBA idF vom 20.9.2005, BAnz Nr 244 vom 24.12.2005, S 16998, geändert mit Beschluss vom 18.4.2006, BAnz Nr 124 vom 6.7.2006, S 4876; Kap 1 § 7 und Kap 2 § 7 Abs 1 Buchst a VerfO GBA idF vom 18.12.2008, BAnz Nr 84a . Im Ergebnis beschloss er rechtmäßig, § 4 der RL zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus(RL Methoden Krankenhausbehandlung) zu ergänzen. Die Regelung bestimmt Methoden, die von der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen von Krankenhausbehandlung grundsätzlich ausgeschlossen sind. Der GBA fügte folgende Nummer 2.6 an (Beschluss des GBA vom 13.3.2008, BAnz Nr 172 vom 12.11.2008 S 4072, mit Wirkung vom 13.11.2008): "Hyperbare Sauerstofftherapie beim diabetischen Fußsyndrom als alleinige Therapie oder in Kombination. Unberührt von diesem Ausschluss bleibt die adjuvante Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom in Stadium Wagner ≥ III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie."vom 10.6.2009, zuletzt geändert am 18.10.2012, BAnz AT 5.12.2012 B3)
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Der Beschluss erfolgte auf der Grundlage eines ordnungsgemäßen Verfahrens und einer umfassenden Recherche und Auswertung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Er stützte sich vertretbar auf die Beurteilung, dass eine HBO bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom bis zum Stadium Wagner kleiner oder gleich II nicht erforderlich ist, aber nach Ausschöpfung der Standardtherapie ab einem höheren, über Wagner II hinausgehenden Stadium ohne angemessene Heilungstendenz in der adjuvanten Anwendung zu Lasten der GKV angemessen ist. Vergleichbar entschied für die USA das Center for Medicare & Medicaid Services (vgl zum Ganzen die zusammenfassende Dokumentation des GBA vom 13.11.2008, S A-4). Der Beschluss besagt nach seinem objektiven Gehalt, dass die adjuvante HBO-Anwendung nach generellen Kriterien im genannten Indikationsbereich dem Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)genügt. Der Aussagegehalt des Beschlusses ergibt sich insbesondere aus dem Zusammenspiel des Qualitätsgebots mit § 137c Abs 1 SGB V und der Dokumentation des GBA.
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Nach der Regelung in § 137c Abs 1 SGB V(hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 106 GMG vom 14.11.2003, BGBl I 2190 mWv vom 1.1.2004 und idF durch Art 1 Nr 112 GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378 mWv 1.7.2008; seit 1.1.2012 idF durch Art 1 Nr 54 Buchst a DBuchst aa Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung
vom 22.12.2011, BGBl I 2983) überprüft der GBA nach § 91 SGB V auf Antrag Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der KKn im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden oder angewandt werden sollen, daraufhin, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind. Ergibt die Überprüfung, dass die Methode nicht den Kriterien nach Satz 1 entspricht, erlässt der GBA eine entsprechende Richtlinie. Ab dem Tag des Inkrafttretens einer Richtlinie darf die ausgeschlossene Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zu Lasten der KKn erbracht werden; die Durchführung klinischer Studien bleibt unberührt (vgl § 137c Abs 2 S 2 SGB V).
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Diese Regelung des § 137c SGB V darf nicht über ihren Wortlaut hinaus im Sinne einer generellen Erlaubnis aller beliebigen Methoden für das Krankenhaus bis zum Erlass eines Verbots nach § 137c SGB V ausgelegt werden. Sie normiert vielmehr einen bloßen Verbotsvorbehalt (stRspr, vgl unter Berücksichtigung aller Auslegungsmethoden grundlegend BSGE 101, 177 = SozR 4-2500 § 109 Nr 6, RdNr 51 ff; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 23; BSG Urteil vom 18.12.2012 - B 1 KR 34/12 R - RdNr 34 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 137 Nr 2 vorgesehen; Clemens, MedR 2012, 769; aA Felix, SGb 2009, 367 und öfter, zB NZS 2012, 1, 7 mwN in Fn 91; dieselbe/Deister, NZS 2013, 81, 87 f). Sie setzt die Geltung des alle Naturalleistungsbereiche erfassenden Qualitätsgebots (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V) auch im stationären Bereich nicht außer Kraft. Gegenteiliges bedeutete, unter Missachtung des Zwecks der GKV (vgl § 1 S 1 SGB V)die Einheit der Rechtsordnung zu gefährden. Eine Krankenhausbehandlung, die nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt und deshalb für den Patienten Schadensersatzansprüche sowie für den Krankenhausarzt strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht, muss nicht von den KKn bezahlt werden (vgl näher Hauck, NZS 2007, 461, 466 ff; rechtspolitisch kritisch zum Regelungskonzept der §§ 135, 137c SGB V: GBA, Stellungnahme zum GKV-WSG, 14. BT-Ausschuss, Ausschuss-Drucks 0129(9), S 9; Hess, KrV 2005, 64, 66 f).
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§ 137c SGB V bewirkt vor diesem Hintergrund lediglich, dass - anders als für den Bereich der vertragsärztlichen Leistungen - der GBA nicht in einem generalisierten, zentralisierten formalisierten Prüfverfahren vor Einführung neuer Behandlungsmethoden im Krankenhaus deren Eignung, Erforderlichkeit und Wirtschaftlichkeit überprüft. Die Prüfung der eingesetzten Methoden im zugelassenen Krankenhaus erfolgt vielmehr bis zu einer Entscheidung des GBA nach § 137c SGB V individuell, grundsätzlich also zunächst präventiv im Rahmen einer Binnenkontrolle durch das Krankenhaus selbst, sodann retrospektiv im Wege der Außenkontrolle lediglich im Einzelfall anlässlich von Beanstandungen ex post durch die KK und anschließender Prüfung durch die Gerichte. Erst ein generalisiertes, zentralisiertes und formalisiertes Verfahren nach § 137c SGB V schafft über den Einzelfall hinaus Regelungsklarheit im Interesse der Gleichbehandlung der Versicherten. Das GKV-VStG hat an dieser Grundkonzeption, die der Senat in ständiger Rechtsprechung anwendet, nichts geändert. Es schafft lediglich Raum für den GBA, Richtlinien zur Erprobung nach § 137e SGB V zu beschließen, wenn die Überprüfung im Rahmen des § 137c SGB V ergibt, dass der Nutzen einer Methode noch nicht hinreichend belegt ist, sie aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet. Nach Abschluss der Erprobung erlässt der GBA eine Richtlinie, wonach die Methode im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht mehr zulasten der KKn erbracht werden darf, wenn die Überprüfung unter Hinzuziehung der durch die Erprobung gewonnenen Erkenntnisse ergibt, dass die Methode nicht den Kriterien nach § 137c Abs 1 S 1 SGB V entspricht(vgl § 137c Abs 1 S 4 SGB V). Abgesehen von der speziell geregelten, vorübergehenden Modifizierung durch die Erprobung (§ 137e SGB V)verbleibt es auch im stationären Sektor beim Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V; aA Felix/Deister, NZS 2013, 81, 87 f).
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Die Erkenntnisse aus Verfahren nach § 135 und § 137c SGB V können geeignet sein, sektorenübergreifend zu wirken. So hat der erkennende Senat bereits betont, dass es keinen durchgreifenden Bedenken begegnet, Beurteilungen des GBA aus dem Bereich der vertragsärztlichen Versorgung im Rahmen des § 135 Abs 1 SGB V auch für die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Bereich der stationären Behandlung heranzuziehen, wenn diese Beurteilungen gebietsübergreifende Aussagen beinhalten. Sie sind mithin zu berücksichtigen, wenn sie sachliche Geltung nicht nur für die Behandlung in ambulanter, sondern auch in stationärer Form beanspruchen, etwa weil das aufbereitete wissenschaftliche Material generelle Bewertungen enthält (vgl BSGE 101, 177 = SozR 4-2500 § 109 Nr 6, RdNr 50). Das muss naturgemäß auch in umgekehrter Richtung gelten: Einschlägige Erkenntnisse aus einem Verfahren nach § 137c SGB V sind auch im Rahmen des § 135 Abs 1 SGB V zu nutzen.
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Die Erkenntnisse aus dem Verfahren des GBA nach § 137c SGB V zur HBO - mündend in dessen Beschluss vom 13.3.2008 - haben in diesem Sinne zunächst zur Folge, dass gegenüber dem Vergütungsanspruch der Krankenhäuser, die die HBO-Therapie adjuvant bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom in Stadium Wagner größer oder gleich III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie bei Versicherten anwenden, jedenfalls bei unveränderter Erkenntnislage der medizinischen Wissenschaft nicht mehr der Einwand durchgreift, sie hätten das Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 S 3 SGB V)verletzt. Zweifel an der Erfüllung der Voraussetzungen des Qualitätsgebots hätten im Zeitpunkt der Entscheidung des GBA im Jahr 2008 nach § 137c SGB V zum vollständigen Ausschluss der Methode aus dem stationären Sektor führen müssen. Stattdessen hat der GBA die Ausnahmebestimmung in § 4 Nr 2.6 S 2 RL Methoden Krankenhausbehandlung aufgenommen und damit eine Übereinstimmung mit den Anforderungen des Qualitätsgebots insoweit generell bejaht. Entsprechendes gilt für das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs 1 SGB V).
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Diese Erkenntnisse aus dem Verfahren nach § 137c SGB V sind zusätzlich auch im Rahmen des § 135 Abs 1 SGB V zu nutzen. Der GBA hätte insoweit folgerichtig eine Empfehlung nach § 135 Abs 1 SGB V aussprechen müssen. Er hätte berücksichtigen müssen, dass es nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft keine durchgreifenden Gründe dafür gibt, die HBO bei dem genannten Indikationsspektrum lediglich stationär anzuwenden (vgl Auskunft des GBA im Revisionsverfahren). Zugleich hätte er in den Blick nehmen müssen, dass er ohne die Empfehlung nach § 135 Abs 1 SGB V eine mit dem Qualitätsgebot unvereinbare Therapielücke schafft. Denn Krankenhausbehandlung ist nicht bereits deshalb erforderlich iS von § 39 SGB V, weil eine bestimmte Leistung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zwar ambulant erbracht werden kann, vertragsärztlich aber mangels positiver Empfehlung des GBA nicht zu Lasten der GKV geleistet werden darf(vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 19).
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Das Unterlassen der Empfehlung nach § 135 Abs 1 SGB V mit Inkrafttreten der Änderung der RL Methoden Krankenhausbehandlung am 13.11.2008 widerspricht höherrangigem Recht, nämlich dem Willkürverbot (Art 3 Abs 1 GG). Der GBA handelt willkürlich, wenn er grundlos untätig bleibt und jede andere Entscheidung als die des Tätigwerdens unvertretbar wäre (vgl BSGE 111, 155 = SozR 4-2500 § 31 Nr 21, RdNr 29). Weder der medizinische Forschungsstand noch das gesetzliche Regelungssystem rechtfertigen die Beschränkung des HBO-Einsatzes bei der betroffenen Indikation auf den Krankenhaussektor. Vielmehr ist es im Rahmen des Freistellungsanspruchs nach den aufgezeigten Grundsätzen geboten, die Klägerin so zu stellen, als sei die adjuvante HBO-Therapie bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom im Stadium Wagner größer oder gleich III ohne angemessene Heilungstendenz nach Ausschöpfung der Standardtherapie in den EBM aufgenommen worden. Die Beklagte lehnte mit den angegriffenen Bescheiden den hieraus erwachsenden Primärleistungsanspruch der Klägerin rechtswidrig ab und leistete das danach Gebotene nicht.
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2. Die Klägerin beschaffte sich eine der geschuldeten entsprechende Leistung selbst. Sie litt nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG)an einem diabetischen Fußsyndrom im Stadium Wagner III ohne angemessene Heilungstendenz und ließ sich nach Ausschöpfung der Standardtherapie im betroffenen Zeitraum 2009 adjuvant ambulant privatärztlich mit der HBO versorgen.
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3. Die Klägerin beschaffte sich die HBO-Therapie auch wesentlich deshalb privatärztlich selbst, weil die Beklagte zuvor die Leistung abgelehnt hatte. Es handelte sich nach den dargelegten generellen Kriterien und den individuellen ärztlichen Zeugnissen um eine indikationsgerechte, notwendige Leistung. Das HBO-Zentrum war das für die Klägerin praktikabel erreichbare. Es behandelte sie dementsprechend auch während ihrer stationären Aufnahme. Es stellte den Leistungsantrag nach den Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) namens und in Vollmacht der Klägerin (vgl § 13 Abs 1 S 1 SGB X; vgl auch BSGE 109, 122 = SozR 4-2500 § 42 Nr 1, RdNr 12 f). Darüber hinaus bedurfte es auch keines weiteren Leistungsantrags vor dem zweiten Behandlungsintervall. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, beantragte die Klägerin Kostenübernahme "initial" (dh anfänglich) für 25 Behandlungen. Sie beschränkte ihren Antrag nicht auf 25 Behandlungen (zur Auslegung von Willenserklärungen und zur revisionsrechtlichen Überprüfung vgl zB BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 12 ff; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 133 Nr 6 RdNr 36). Nach dem Gesamtablauf war es für die Klägerin auch mit Blick auf die GBA-Beschlüsse sinnvoll und zweckmäßig, ihren Antrag ärztlich fachkundig vom HBO-Zentrum untermauern zu lassen. Das LSG hat im Übrigen keine Tatsachen im Sinne einer Vorfestlegung der Klägerin festgestellt, die den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Leistungsablehnung und der Selbstbeschaffung in Zweifel ziehen.
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4. Die Klägerin ist aufgrund der Selbstbeschaffung der ambulanten HBO-Leistungen auch einer rechtsgültigen Zahlungsverpflichtung ausgesetzt (vgl zur Notwendigkeit zB BSGE 97, 6 = SozR 4-2500 § 13 Nr 9, RdNr 24 mwN; Hauck, Brennpunkte des Sozialrechts 2009, 1, 24 f, 26). Beide ihr für die betroffene Behandlung gestellten Rechnungen entsprechen den Anforderungen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ neugefasst durch Bekanntmachung vom 9.2.1996, BGBl I 210; zuletzt geändert durch Art 17 des Gesetzes über den Beruf der Podologin und des Podologen und zur Änderung anderer Gesetze vom 4.12.2001, BGBl I 3320 mWv 2.1.2002) als für alle Ärzte geltendes zwingendes Preisrecht (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 116b Nr 1 RdNr 20 mwN).
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Angesichts der dem Informationsbedürfnis der Klägerin Rechnung tragenden detaillierten Auflistung der einzelnen Positionen nach der GOÄ liegt kein unzulässiges Pauschalhonorar vor (vgl hierzu BVerfG
Beschluss vom 19.4.1991 - 1 BvR 1301/89 - NJW 1992, 737 = Juris RdNr 4 f; BSG SozR 4-2500 § 116b Nr 1 RdNr 22; BGH Urteil vom 23.3.2006 - III ZR 223/05 - NJW 2006, 1879, 1880 f = Juris RdNr 15).
(1) Das Gericht kann im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass
- 1.
durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder - 2.
der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist.
(2) (weggefallen)
(3) Die Entscheidung nach Absatz 1 wird in ihrem Bestand nicht durch die Rücknahme der Klage berührt. Sie kann nur durch eine zu begründende Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden.
(4) Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung ergeht durch gesonderten Beschluss.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 2.3.2012 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt Gerichtskosten in Höhe von EUR 225. Im Übrigen sind Kosten auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Streitig ist Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung.
3Die im April 1954 geborene, verheiratete Klägerin ist im November 1969 ins Erwerbsleben eingetreten und hat zunächst Aushilfstätigkeiten verrichtet. Eine Berufsausbildung als Verkäuferin (im Lebensmittelhaus N, S) hat sie 1971 nach wenigen Monaten wegen der Geburt ihrer Tochter abgebrochen. Nachdem sie im Jahre 1974 kurzzeitig als Putzkraft gearbeitet hatte, war sie zuletzt seit 1997 (zunächst in Teilzeit, ab Februar 2000 in Vollzeit) als Lagerarbeiterin und Verkäuferin bei der Firma N Discount in S beschäftigt. Nach ihren Angaben handelte es sich dabei um einen sogenannten "1-Euro-Laden". Inhaber sei ein X, und außer ihr noch eine weitere Kraft beschäftigt gewesen, deren Vorgesetzte sie gewesen sei. Seit 2006 war die Klägerin arbeitsunfähig krank wegen erheblicher Beschwerden im Bereich des linken Vorfußes, die trotz mehrfacher Operationen verblieben. Die Tätigkeit im Discountladen nahm sie in der Folge nicht mehr auf. Das Arbeitsverhältnis endete zum 30.11.2009. Seither ist die Klägerin beschäftigungslos.
4Im November 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung verwies sie auf die Beschwerden im Bereich des linken Fußes, außerdem auf Rückenbeschwerden und Magenprobleme. Insbesondere die Beschwerden im Bereich des linken Fußes halte sie nicht aus.
5Die Beklagte schaltete als Gutachterin die Internistin Dr. H aus E ein, die als wesentliche, die Leistungsfähigkeit beeinträchtigende Krankheiten "Persistierende Schmerzen und Bewegungseinschränkung linker Vorfuß nach dreimaliger Operation bei Ballenbildung; Wirbelsäulenverschleißerkrankung; beginnender Hüftgelenkverschleiß beidseits" vorfand und daneben "Meniskusschädigung linkes Kniegelenk; Sehnenansatzreizung beider Ellenbogen; Daumengrundgelenkverschleiß links" diagnostizierte. Die Klägerin könne als Verkäuferin oder Lageristin nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten. Eine Besserung sei unwahrscheinlich. Von einer weitergehenden, abschließenden Beurteilung der Leistungsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben nahm sie wegen der noch andauernden Therapie zur Behandlung des linken Vorfußes zunächst Abstand (Gutachten vom 23.1.2007). Anfang 2008 veranlasste die Beklagte eine weitere Untersuchung durch den Chirurgen T1 aus E. Dieser bezeichnete die im Vordergrund stehende Erkrankung des linken Fußes als: "Mehrfach operierter Hallux valgus linke Großzehe mit folgenden Heilungsstörungen, Rezidivneigungen und letztendlich Versteifung des Großzehengrundgelenkes bei persistierender Schmerzsymptomatik" und äußerte den Verdacht auf eine (zusätzliche) somatoforme Schmerzstörung, weil der Untersuchungsbefund mit den Beschwerdeangaben der Klägerin nicht in Einklang zu bringen sei. Zusammenfassend führte er aus, dass der Klägerin zwar nicht mehr die Tätigkeit als Verkäuferin/Lageristin, jedoch weiterhin leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in wechselnder Körperhaltung - hauptsächlich im Sitzen - 6 Stunden und mehr (vollschichtig) zumutbar seien (Gutachten vom 13.2.2008). Dem folgend lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 19.2.2008; Widerspruchsbescheid vom 21.8.2008). Offenbar danach ging bei der Beklagten eine Antwort der "Firma X" (auf eine Anfrage der Beklagten vom 2.5.2008) ein, aus der sich ergab, dass die Klägerin dort seit dem 1.5.1997 laufend schwere Lagerarbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichtete und ihr der Lohn einer ungelernten Arbeiterin gezahlt werde.
6Mit ihrer Klage vom 3.9.2008 hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass in Anbetracht des geäußerten Verdachts auf eine somatoforme Schmerzstörung eine psychiatrische Begutachtung erforderlich sei. Die Auswirkungen ihrer Gesundheitsstörungen auf die Erwerbsfähigkeit seien überdies insgesamt gravierender als von der Beklagten angenommen. Aufgrund der zahlreichen qualitativen Leistungseinschränkungen liege eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, so dass die Beklagte eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen habe. Sie sei zuletzt als Facharbeiterin tätig gewesen. Den 1-Euro-Discounter habe sie mit Herrn X und ihrem Mann quasi aufgebaut, sie habe alles gemacht, was eine erste Verkäuferin tue. Sie habe Kassiererinnen angelernt und die Inventur eigenverantwortlich gemacht, Leute und Ware ausgesucht und habe auch die Ware selbsttätig kalkuliert.
7Die Klägerin hat beantragt,
8den Bescheid vom 19.2.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.8.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1.1.2007 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
9Die Beklagte hat beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie hat ihre Auffassung weiter für zutreffend gehalten, und dazu im Laufe des Verfahrens zahlreiche ärztliche Äußerungen ihrer beratenden Ärzte vorgelegt.
12Das Sozialgericht (SG) hat als Sachverständige Orthopäden Dr. I, Nervenarzt Dr. Q, Anästhesistin C, alle aus E, und als (zusammenfassend beurteilenden) Hauptgutachter Internisten Dr. L aus N eingeschaltet. Dr. I hat ein HWS-Syndrom mit endgradiger Bewegungseinschränkung, ein LWS-Syndrom mit mittelgradiger Bewegungseinschränkung, eine Epicondylitis mit lokalisiertem Druckschmerz sowie beginnende Cox- und Gonarthrose mit endgradiger Bewegungsschmerzhaftigkeit sowie einen "Zustand nach multipler Voroperation des linken Vorfußes mit Osteomyelitis, Weichteilinfektion und postoperativer Belastungsinsuffizienz" festgestellt. Es liege eine fortschreitend zu nennende Minderbelastbarkeit des linken Fußes wie auch eine Minderbelastbarkeit der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie beginnend der Hüftgelenke und des linken Knies vor. Der Summe nach seien körperlich leichte Tätigkeiten, bis zu 5 % der Arbeitszeit mittelschwere Tätigkeiten zumutbar. Sämtliche Arbeiten sollten wegen der im linken Fuß vorherrschenden Beschwerden vornehmlich im Sitzen durchführbar sein; ein Wechsel zwischen Stehen und Gehen müsse jedoch gewährleistet sein. Monotone Zwangshaltungen seien ebenso wie dauerhaftes Heben und Tragen mittelschwerer Lasten nicht mehr zumutbar. Auch häufiges Knien und hockende Tätigkeiten sollten ausgeschlossen werden. Gerüst- und Leiterarbeiten seien nicht mehr abzuverlangen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen sei noch ein regelmäßiger vollschichtiger Arbeitseinsatz möglich; zwar bestehe eine Gehbehinderung, diese sei jedoch nicht so stark, dass die Wegefähigkeit beeinträchtigt sei. Fußwege von über 500 Meter Länge könne sie noch zurücklegen, öffentliche Verkehrsmittel und ein Kraftfahrzeug benutzen (Gutachten vom 9.1.2009). Nervenarzt Dr. Q hat ausgeführt, bei der Klägerin lägen Schmerzen im Rahmen wiederholter Operationen im Bereich des linken Vorfußes sowie Schmerzen bei degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates, insbesondere der Wirbelsäule und der Hüftgelenke vor, sowie eine Migräne mit Aura. Die Diagnose einer depressiven Störung könne nicht gestellt werden. Aus neurologischer Sicht könnten leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, vornehmlich im Sitzen, durchgeführt werden. Ein vollschichtiger Arbeitseinsatz sei möglich (Gutachten vom 7.4.2009). Anästhesistin C hat unter anderem ausgeführt, dass eine somatoforme Schmerzstörung nicht bestätigt werden könne. Die Sachverständige ist vom Vorliegen einer regionalen (nämlich auf den linken Fuß begrenzten) chronischen Schmerzkrankheit (synonym: CRPS, Morbus Sudeck) ausgegangen und hat außerdem Schmerzen auf der Grundlage der Migräne, des degenerativen LWS-Leidens und der Coxalgie berücksichtigt. Aus schmerzmedizinischer Sicht seien der Klägerin lediglich leichte körperliche Tätigkeiten zuzumuten. Relevante Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit fanden sich nicht. Es sollten lediglich Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, bevorzugt im Sitzen mit der Möglichkeit kurzfristiger Positionswechsel angeboten werden. Eine Reduktion der täglichen Arbeitszeit sei nicht erforderlich, ebenso nicht betriebsunübliche Pausen. Öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden, auch ein Kraftfahrzeug könne grundsätzlich gesteuert werden (Gutachten vom 5.2.2009). Hauptgutachter Internist Dr. L hat zusätzlich eine chronisch-obstruktive Bronchitis gefunden, die ebenfalls eine Einschränkung auf nur noch körperlich leichte Tätigkeiten begründe. Unter Berücksichtigung aller Gutachten und Funktionseinschränkungen lasse sich eine Reduktion der täglichen Arbeitszeit nicht begründen, so dass von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten auszugehen sei (Gutachten vom 22.5.2009).
13Das SG hat beim früheren Arbeitgeber der Klägerin X eine Arbeitgeberauskunft angefordert, die für diesen der Steuerberater F aus S erstellt hat. Darin heißt es, die Klägerin sei vom 1.2.2000 bis zum 30.11.2009 im Rahmen einer ungelernten Tätigkeit beschäftigt gewesen, die durch betriebsbedingte Kündigung geendet habe (Auskunft vom 5.8.2009).
14Der behandelnde Internist T aus S hat auf Nachfrage des SG von einem insuffizient eingestellten Schmerzsyndrom berichtet, das die Leistungsfähigkeit deutlich einschränke. Die Klägerin könne maximal 3 bis 4 Stunden täglich leichte Tätigkeiten verrichten (Bericht vom 24.9.2009). Chirurg Dr. L1, Chefarzt des Sankt K Hospitals in N, hat von einer Schwellneigung des linken Fußes berichtet mit Beschwerden bei längerer Belastung. Es liege eine Einschränkung der Gehfähigkeit, insbesondere auf unebener Strecke oder bei längerem Gehen vor (Bericht vom 17.11.09). Zur Beurteilung der Schmerzproblematik hat das SG als weiteren Sachverständigen den Orthopäden und Rheumatologen Prof. Dr. I1 aus F eingeschaltet, der als leistungseinschränkende Diagnosen ein chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom bei multiplen umformenden Veränderungen, einen Zustand nach mehrfachen Großzehenoperationen links mit verkürztem 1. Strahl sowie ein hochgradig psychogen überlagertes sog. weichteilrheumatisches Beschwerdebild diagnostiziert hat. Es handele sich um ein Beschwerdebild aufgrund einer fehlerhaften Verarbeitung von tatsächlich vorhandenen Beschwerden oder aufgrund einer psychosozialen Lebenssituation, das er "schon vor 30 Jahren als psychosomatischen bzw. psychogenen Weichteilrheumatismus bezeichnet" habe. Im Bereich des linken Fußes sei objektiv keine Verschlimmerung, sondern mit Sicherheit eine Besserung eingetreten. Die Klägerin könne noch leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten ausführen, in wechselnder Körperhaltung, auch mit vorübergehendem Stehen und Gehen. Arbeiten unter besonderem Zeitdruck seien auszuschließen. Die Klägerin könne noch ohne betriebsunübliche Pausen vollschichtig arbeiten, ein eigenes Kraftfahrzeug steuern und öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Sie könne mehrfach täglich Wegstrecken von 1000 Metern zurücklegen (Gutachten vom 30.3.2010 mit ergänzender Stellungnahme vom 28.11.2010). Im Folgenden haben Anästhesistin C und Nervenarzt Dr. Q - nach erneuten ambulanten Untersuchungen der Klägerin - weitere Gutachten erstattet. Anästhesistin C hat eine Einschränkung der täglichen Arbeitszeit auf unter 8 Stunden angenommen, eine Reduzierung auf unter 6 Stunden lasse sich allerdings nicht begründen. Dr. Q hat zusätzlich Synkopen unklarer Genese festgestellt, hieraus eine signifikante weitergehende Einschränkung der Leistungsfähigkeit aber nicht hergeleitet (Gutachten vom 6.4. und 13.6.2011). Hauptgutachter Dr. L hat im Rahmen einer (erneuten) ergänzenden Stellungnahme eine geringe Verschlimmerung der Leistungsfähigkeit festgestellt (ab 03/2011) und dies dahingehend bewertet, dass die tägliche Arbeitszeit zwar auf unter 8 Stunden, nicht jedoch auf unter 6 Stunden reduziert sei (Stellungnahme auf 1.12.2011).
15Das SG hat die Klage abgewiesen: Die Klägerin sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme noch fähig, körperlich leichte Tätigkeiten mindestens 6 Stunden täglich vornehmlich im Sitzen mit einer Möglichkeit des Positionswechsels und weiteren qualitativen Einschränkungen zu verrichten. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liege nicht vor. Die Klägerin sei auch nicht berufsunfähig, da sie für sich keinen Berufsschutz in Anspruch nehmen könne. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit entspreche allenfalls dem Leitbild der angelernten Tätigkeit, so dass die Klägerin auf sämtliche angelernte oder ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne (Urteil vom 2.3.2012, dem Klägerbevollmächtigen zugestellt am 4.4.2012).
16Mit ihrer noch im April 2012 eingelegten Berufung hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass ihr eine vollschichtige Tätigkeit nicht mehr möglich sei. Wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen müsse die Beklagte eine Verweisungstätigkeit benennen. Die Sachverständige Nervenärztin Dr. Q1 habe bestätigt, dass sie nur noch weniger als 3 Stunden arbeiten könne.
17In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin den Antrag gestellt, die Sachverständige Dr. Q1 zu beeidigen.
18Die Klägerin beantragt,
19das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 2.3.2012 zu ändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 19.2.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.8.2008 zu verurteilen, ihr ab Dezember 2006, jedenfalls ab April 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und sieht sich durch die Beweisaufnahme bestätigt. Dem Gutachten der Sachverständigen Dr. Q1 sei nicht zu folgen. Insbesondere die von dieser Sachverständigen gestellte Diagnose einer gegenwärtig mittelgradig ausgeprägten depressiven Episode könne nicht nachvollzogen werden.
23Der Senat hat als Sachverständigen den Orthopäden Dr. H1 aus L eingeschaltet Dieser hat bei der Klägerin als Krankheiten / Behinderungen gefunden:
24- Cervicocephalgie, - Dorsolumbalgie, - Periarthritis humeroscapularis beider Schultern ohne funktionelle Defizite, - Arthralgie der Ellenbogen beidseitig ohne Funktionsdefizite, - Polyarthralgie der Handgelenke und Finger beidseitig ohne Funktionsdefizite, - Coxalgie beidseitig ohne Funktionsdefizite, - Gonalgie beidseitig mit positiver Innenmeniskussymptomatik ohne weitere Funktionsdefizite, - Arthralgie der Sprunggelenke beidseitig ohne funktionelle Defizite. - Funktionelle Beschwerden bei Senkspreizfuß beidseitig, beginnende Hammerzehenbildung beidseitig D2-5, leichter Hallux valgus beidseitig, verkleinerte Großzehe links nach mehrfacher Operation und letztendlich Resektion des Grundglieds und der Gelenksfläche MFK 1, kein Hinweis auf Morbus Sudeck.
25Die Hauptdiagnose sei eine somatoforme Schmerzstörung. Eine Veränderung im Vergleich zu den Vorgutachten sei nicht festzustellen. Bedingt durch die Ganzkörperschmerzsymptomatik seien körperliche Leistungsfähigkeit und psychische Belastbarkeit eingeschränkt. Körperlich lasse sich lediglich eine verringerte Belastbarkeit des linken Fußes nach mehrfachen und letztlich verstümmelnden Operationen am linken großen Zeh nachvollziehen. Nicht mehr möglich seien oftmalige oder dauerhafte gehende und/oder stehende Tätigkeiten, Steigen, Klettern, Kriechen, Bücken, Heben und Tragen von Lasten. Weitere spezifische Einschränkungen seien nicht erkennbar. Die Klägerin sei noch in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung 6 Stunden arbeitstäglich auszuüben. Die Körperhaltung müsse sich zwangsläufig frei wählen lassen, ein gelegentlicher Haltungswechsel reiche prinzipiell aus. Tätigkeiten unter Zeitdruck, in Wechselschicht, in Zwangshaltung, auf Gerüsten und Leitern, an laufenden Maschinen oder unter thermischen Einflüssen seien nicht mehr möglich. Die Klägerin sei noch wegefähig (Gutachten vom 21.10.2012).
26Anschließend hat der Senat auf Antrag der Klägerin als Sachverständige Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. Q1 aus T und Orthopäden Dr. N aus E gehört. Dr. Q1 hat ausgeführt, bei der primär eher somatisch fixierten Probandin habe sich seit 1999 eine Schmerzstörung entwickelt, die schwierige Begleitumstände und früh eine ungünstige Chronifizierungstendenz gezeigt habe. Ungünstig seien gewesen der Arbeitsplatzverlust, eine kränkende Kündigung sowie ferner mindestens 7 bis 8 Operationen des Hallux valgus mit nicht befriedendem Erfolg und Zunahme der Funktionsstörung. Im Laufe der Jahre habe sich neben der chronischen Schmerzstörung eine rezidivierende, mindestens mittelgradige Depression entwickelt, die den Verlauf der Schmerzerkrankung ungünstig beeinflusst habe. Ferner bestehe eine zumindest akzentuierte Persönlichkeit mit ängstlichen und ein wenig autonomen Zügen. Auch diese Akzentuierung habe zur Chronifizierung der somatoformen Schmerzstörung beigetragen. Wegen einer "anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, einer mittelgradigen depressiven Episode und einer akzentuierten Persönlichkeit mit ängstlichen und abhängigen Zügen" bestehe auch im Alltag eine deutliche Einschränkung durch ständige Schmerzen, relativ hohe Schmerzmedikation, fixiertes Vermeidungsverhalten und Ängste. Andererseits sei eine gewisse Tagesstrukturierung und Tagesaktivität überwiegend aber über Fremdmotivation noch möglich und werde geleistet. Die Belastbarkeit sei signifikant eingeschränkt. Die Klägerin könne als Dauerbelastung nur noch leichte Tätigkeiten verrichten. Die Belastbarkeit allgemein, die Stressbelastbarkeit insbesondere, die Umstellungsfähigkeit und auch die ständige Beeinträchtigung durch Schmerzen, Ängste, Nebenwirkungen von Medikamenten ließen eine Beschäftigung über 3 Stunden täglich nicht mehr zu (Gutachten vom 30.8.2013). Orthopäde N hat leichte Tätigkeiten als Dauerbelastung noch für möglich gehalten. Die Arbeiten sollten wechselweise im Gehen, Stehen und Sitzen verrichtet werden und seien in geschlossenen Räumen, mit Witterungsschutz auch im Freien möglich. Grundsätzlich sei nur ein gelegentlicher Haltungswechsel notwendig, welcher unregelmäßig möglich ist. Ungelernte Tätigkeiten seien 6 Stunden und mehr bis zur Vollschichtigkeit möglich (Gutachten vom 25.11.2013).
27Das danach von Dr. Q erstellte dritte Gutachten fußt auf erneuter ambulanter Untersuchung der Klägerin und zusätzlich auf einer testpsychologischen Untersuchung. Als Krankheiten hat Dr. Q eine "anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine Migräne mit Aura" festgestellt. Der Sachverständige geht aufgrund der Angaben der Klägerin davon aus, dass sich nach dem Tod des gemeinsamen Hundes die Außenaktivitäten des Ehepaares deutlich erhöht haben. Es bestünden vielseitige, regelmäßige und gegenseitige soziale Kontakte zu der großen Familie. Es liege weiter ein mäßig strukturierter Tagesablauf vor; die Klägerin führe im Laufe des Tages unterstützt durch den Ehemann die notwendigen Hausarbeiten durch, z.B. hygienische Maßnahmen, sie koche, führe aushäusige Termine durch und schaue fern. Die Stimmung sei euthym bis subdepressiv, die affektive Schwingungsfähigkeit gut ausgebildet. Aufgrund ihrer Angaben habe eine Verdeutlichungstendenz festgestellt, eine bewusstseinsnahe Aggravation nicht sicher ausgeschlossen werden können. In der aktuellen Begutachtung habe eine deutliche Diskrepanz zwischen den Angaben zur Schmerzstärke, den erhobenen Untersuchungsbefunden, der fehlenden vegetativen Reaktion im Ausdrucksverhalten und den Schilderungen des Tagesablaufes bestanden. Im erhobenen psychopathologischen Befund seien keine wesentlichen Unterschiede zu den Vorbegutachtungen festzustellen. Es habe eine ausgeprägte gute Schwingungsfähigkeit bestanden und sehr schnell ein guter emotionaler Kontakt hergestellt werden können. Nach eigenem Bekunden empfinde sich die Klägerin nicht als depressiv. In dem durchgeführten Fremdbeurteilungsverfahren erreiche sie den Wert einer leichten depressiven Störung. Die Kriterien einer Depression würden nicht erfüllt. Unter Berücksichtigung der einschlägigen Diagnosekriterien könne selbst die Diagnose einer leichten depressiven Störung nicht gestellt werden. Der im Gutachten von Dr. Q1 geschilderte psychopathologische Befund habe weder in den Vorbegutachtungen noch in der aktuellen Begutachtung nachvollzogen werden können. In ihrer Einschätzung beziehe sich Frau Dr. Q1 auf die von ihr im Gutachten wiedergegebene Anamnese. Auch hier bestehe ein Unterschied zu den Angaben, die die Klägerin jeweils bei den Vorbegutachtungen und der jetzigen Begutachtung gemacht habe. Zusammenfassend müsse festgestellt werden, dass die Diagnose der mindestens mittelgradig depressiven Störung weder aufgrund des psychopathologischen Befundes noch aufgrund der Anamnese nachvollzogen werden könne. Es bestehe nicht ansatzweise ein Leidensdruck. Es würden auch keine therapeutischen Hilfen in Anspruch genommen. Im Vergleich zu seinen Vorgutachten könne er keine Verschlimmerung feststellen. Aufgrund der somatoformen Schmerzstörung bestehe eine Einschränkung der psychomentalen Belastbarkeit. Arbeiten mit längeren oder häufigen oder gelegentlich einseitigen körperlichen Belastungen bzw. Zwangshaltungen sollten nicht mehr durchgeführt werden. Die wesentlichen Einschränkungen bestünden auf orthopädischem Gebiet. Danach seien leichte Arbeiten als Dauerbelastung möglich, und zwar Arbeiten wechselweise im Gehen, Stehen und Sitzen. Aufgrund der somatoformen Schmerzstörung sollten keine Arbeiten unter Zeitdruck, im Nachtschichtbetrieb oder mit forderndem Publikumsverkehr durchgeführt werden. Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit oder Übersicht seien nicht krankheitsbedingt eingeschränkt. Im Rahmen akuter Schmerzen könnten jedoch Einschränkungen der Reaktionsfähigkeit und der Aufmerksamkeit bestehen, so dass an diese Qualitäten nur noch geringe Anforderungen gestellt werden sollten. Öffentliche Verkehrsmittel und ein Pkw mit Automatikgetriebe könnten geführt werden. Unter den genannten Einschränkungen sei ein vollschichtiger Arbeitseinsatz möglich (Gutachten vom 11.7.2014 mit ergänzender Stellungnahme vom 4.9.2014).
28Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsakten der Beklagten und die Vorprozessakten SG Duisburg (Aktenzeichen (Az) S 23 SB 459/08), die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
29Entscheidungsgründe:
30A. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 19.2.2008 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2008, § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) beschwert die Klägerin nicht, § 54 Abs 2 Satz 1 SGG. Die Beklagte hat zu Recht abgelehnt, der Klägerin Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.
31I. Gemäß § 43 Abs 2 S 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind zunächst Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs 2 S 2 SGB VI.
32Voll erwerbsgemindert ist außerdem, wer (nur) teilweise erwerbsgemindert ist, wenn ihm außerdem ein Teilzeitarbeitsplatz nicht zu Verfügung steht und auch vom Rentenversicherungsträger nicht angeboten werden kann. Das Bundessozialgericht (BSG) hat insoweit die gesetzlichen Vorgaben durch Richterrecht ergänzt (BSGE 43,75 = SozR 2200 § 1246 Nr 13). Diese Rechtsprechung betrifft Versicherte, die gesundheitsbedingt in einem zumutbaren Beruf nicht mehr mindestens 6 Stunden einsetzbar, aber zu Teilzeitarbeit von drei bis unter 6 Stunden täglich fähig sind. Für diesen Personenkreis hat das BSG den Versicherungsschutz der gesetzlichen Rentenversicherung erweitert und neben das gesetzlich versicherte Gut der Berufsfähigkeit (Erwerbsfähigkeit) dasjenige der Berufsmöglichkeit (Erwerbsmöglichkeit) gestellt. Es hat damit die gesetzlich versicherten Risiken der Krankheit und Behinderung um dasjenige der Unvermittelbarkeit auf dem (Teilzeit-)Arbeitsmarkt im jeweiligen Anspruchszeitraum (sog Arbeitsmarktlage) ergänzt. Voll erwerbsgemindert kann danach schon sein, wer einen zumutbaren Beruf in zeitlicher Hinsicht nur weniger als 6 Stunden arbeitstäglich verrichten kann. Die Anspruchsschwelle ist überschritten, wenn dem Versicherten binnen eines Jahres kein geeigneter und freier (Teilzeit-)Arbeitsplatz in einem zumutbaren Beruf angeboten wird; dann ist eine Arbeitsmarktrente in der Form und (im Übrigen) nach den Regeln einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu bewilligen (BSGE 78, 207 ff = SozR 3-2600 § 43 Nr 13; BSG SozR 3-2200 § 1276 Nr 3). Teilweise erwerbsgemindert ist, wer aus den zur vollen Erwerbsminderung angeführten Gründen außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs 1 S 2 SGB VI. Nicht (einmal teilweise) erwerbsgemindert ist dagegen, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, § 43 Abs 3 1. Hs SGB VI.
33Nach dem Beweisergebnis ist nicht erwiesen, dass die Klägerin zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Antragstellung und mündlicher Verhandlung vor dem Senat wenigstens teilweise erwerbsgemindert war. Im Gegenteil bestand danach durchweg ein Leistungsvermögen für (zumindest) leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts von mindestens 6 Stunden arbeitstäglich (im Folgenden 1.). Mit diesem (Rest-)Leistungsvermögen kann die Klägerin noch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es nicht (2.). Die Klägerin kann auch noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten (3.).
341. Das Leistungsvermögen im allgemeinen Erwerbsleben ist bei der Klägerin durch zahlreiche Krankheiten und/oder Behinderungen eingeschränkt. Gleichwohl kann sie noch 6 Stunden arbeitstäglich körperlich leichte Tätigkeiten verrichten, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch in ausreichender Zahl vorhanden sind.
35Im Vordergrund der körperlichen (somatischen) Beeinträchtigungen steht eine Krankheit/Behinderung im Bereich des linken Vorfußes, die von den Sachverständigen unterschiedlich als "Zustand nach multipler Voroperation des linken Vorfußes mit Osteomyelitis, Weichteilinfektion und postoperativer Belastungsinsuffizienz" (Sachverständiger Dr. I), "Zustand nach mehrfacher Großzehenoperationen links mit verkürztem 1. Strahl" (Sachverständiger Pro. Dr. I1), "Verkleinerte Großzehe links nach mehrfacher Operation und letztendlich Resektion des Grundglieds und der Gelenksfläche MFK 1" (Sachverständiger Dr. H1) bezeichnet wird. Daneben bestehen auf orthopädischem Fachgebiet ein Hals- und Lendenwirbelsäulenleiden sowie von allen Sachverständigen als funktionell gering bzw belanglos eingeordnete Verschleißerscheinungen verschiedener Gelenke. Auf internistischem Gebiet besteht eine chronisch-obstruktive Bronchitis (Sachverständiger Dr. L), auf nervenärztlichem Gebiet eine Migräne mit Aura (Sachverständiger Dr. Q). Daneben besteht eine generalisierte (Ganzkörper-)Schmerzstörung, die von den Sachverständigen der verschiedenen Fachgebiete unterschiedlich bezeichnet wird. Nervenarzt Dr. Q ist zuletzt wie Dr. Q1 von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren ausgegangen, Prof. Dr. I1 von einem hochgradig psychogen überlagerten sog. weichteilrheumatischen Beschwerdebild und Anästhesistin C (lediglich) von einer regionalen (nämlich auf den linken Fuß begrenzten) chronischen Schmerzkrankheit. Unabhängig von der zutreffenden Diagnose liegt wegen der (ganzheitlichen) Schmerzen bei der Klägerin zusätzlich eine den ganzen Körper betreffende Schmerzstörung vor, die über die allein aufgrund der körperlichen Befunde zu erwartende Schmerzsymptomatik hinausreicht.
36Die von Dr. Q1 genannten weiteren psychiatrischen Krankheiten "mittelgradige depressiven Episode und akzentuierte Persönlichkeit mit ängstlichen und abhängigen Zügen" sind dagegen nicht erwiesen. Die entsprechenden Diagnosen lassen sich durch festgestellte Tatsachen nicht erhärten. Insoweit ist die Längsschnittbeurteilung durch Dr. Q überzeugend, der im Verlauf des Verfahrens 3 Gutachten jeweils aufgrund ambulanter Untersuchungen der Klägerin (zuletzt mit testpsychologischer Zusatzuntersuchung) erstattet hat. Nach den von ihm (jeweils) festgestellten Tatsachen fehlt es an objektiven Kriterien für die Annahme einer signifikanten depressiven Störung oder einer Persönlichkeitsstörung. Dies beruht im Kern darauf, dass die Lebensführung kaum eingeschränkt, sondern von zahlreichen strukturierten Aktivitäten geprägt ist, die zuletzt (nach dem Tod des Hundes) sogar noch zugenommen haben.
37Auf der Grundlage der festgestellten Krankheiten/Behinderungen ist die Klägerin zusammengefasst (Sachverständige Dr. L und Dr. Q) im allgemeinen Erwerbsleben stark eingeschränkt. Vornehmlich wegen der im linken Fuß vorherrschenden Beschwerden, aber auch wesentlich wegen der (gemischt somatisch-psychischen) Schmerzstörung sollte sie unter Berücksichtigung der Auswirkungen aller Krankheiten/Behinderungen in wechselnder Körperhaltung, jedoch vornehmlich im Sitzen arbeiten. Ein gelegentlicher Wechsel der Körperhaltung (zum Stehen und Gehen) muss gewährleistet sein. Oftmalige oder dauerhaft gehende und/oder stehende Tätigkeiten, Steigen, Klettern, Kriechen, Bücken sind nicht mehr möglich. Monotone Zwangshaltungen sind ebenso wie dauerhaftes Heben und Tragen mittelschwerer Lasten nicht mehr zumutbar. Auch häufiges Knien und hockende Tätigkeiten sowie Gerüst- und Leiterarbeiten sind ausgeschlossen. Tätigkeiten unter Zeitdruck, in Wechselschicht, an laufenden Maschinen, unter thermischen Einflüssen oder und mit forderndem Publikumsverkehr sind ebenfalls nicht mehr möglich.
38Nachdem die Klägerin zu Beginn des Verfahrens mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch in der Lage war, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes "vollschichtig" (iS von 8 Stunden arbeitstäglich) zu versehen, ist es im Laufe des Verfahren zu einer graduellen Verringerung des Leistungsvermögens gekommen. Seit etwa 2011 ist sie nur noch in der Lage, arbeitstäglich weniger als 8, aber immer noch mindestens 6 Stunden zu arbeiten. Sie kann insbesondere leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wie Zureichen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen noch mindestens an 6 Stunden arbeitstäglich verrichten. Der Senat stützt sich bei dieser Einschätzung des Leistungsvermögens auf die nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. I, C, Prof. Dr. I1, Dr. H1, Dr. N und insbesondere die zusammenfassenden, sämtliche Leistungseinschränkungen berücksichtigenden Beurteilungen von Dr. L und Dr. Q. Soweit Dr. Q1 eine weitgehende Leistungseinschränkung annimmt, stützt sie diese darauf, dass bei der Klägerin neben der chronifizierten somatoformen Schmerzstörung eine mittelgradige depressiven Episode und eine akzentuierte Persönlichkeit mit ängstlichen und abhängigen Zügen vorliegen sollen. Solche Störungen sind jedoch nach dem zuvor Gesagten nicht erwiesen. Daraus folgt, dass auch die von ihr auf dieser Basis behauptete (weitergehende) Leistungseinschränkung nicht erwiesen ist.
392. Für den Senat bestehen nach dem Beweisergebnis keine Zweifel daran, dass die Klägerin mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein kann. Die Vermutung, dass es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch genügend körperlich leichte Tätigkeiten gibt, die die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen ausüben kann, ist vorliegend nicht widerlegt. Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist nicht erforderlich. Eine solche Benennungspflicht (der Beklagten) kommt in Betracht, wenn aufgrund erheblicher Leistungseinschränkungen auch das Spektrum der leichten Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiter eingeschränkt sein könnte, also Zweifel bestehen, ob dort noch ausreichend leichte Tätigkeiten zur Verfügung stehen, die der Versicherte mit seinem Restleistungsvermögen wettbewerbsfähig verrichten kann (vgl dazu BSGE 80, 24ff = SozR 3-2600 § 44 Nr 8; BSGE 109, 189ff = SozR 4-2600 § 43 Nr 16 und insbesondere BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 18). Solche Zweifel hat der Senat nicht. Insbesondere liegt keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Alle Funktionseinschränkungen zusammen genommen begründen (lediglich) die Einschränkung auf in wechselnder Körperhaltung (überwiegend im Sitzen mit gelegentlichem Haltungswechsel) zu verrichtende, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes; hinzu kommt eine Einschränkung der psychomentalen Belastbarkeit im Rahmen akuter Schmerzen, die Tätigkeiten unter Zeitdruck oder mit forderndem Publikumsverkehr ausschließt. Es handelt sich - zusammen genommen - lediglich um eine Summierung gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die für die Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf (nur noch) körperlich leichte Tätigkeiten ursächlich sind. Eine weitergehende signifikante Einschränkung des Spektrums leichter Tätigkeiten lässt sich daraus nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dres. L und Q gerade nicht herleiten.
403. Die Klägerin kann nach dem einhelligen Beweisergebnis auch noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten. Sie benötigt weder betriebsunübliche Pausen, noch ist ihre Fortbewegungsfähigkeit rentenrechtlich bedeutsam eingeschränkt. Vielmehr kann sie trotz der Behinderung im Bereich des linken Vorfußes noch übliche Fußwege von etwas mehr als 500 Metern 4 mal täglich in weniger als 20 Minuten zurücklegen; die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und (sofern vorhanden) eines Automatik-Pkws sind möglich.
41II. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, § 240 Abs 1 SGB VI. Anspruch auf eine solche Rente haben Versicherte, die vor dem 2.1.1961 geboren und berufsunfähig sind. Die Klägerin ist vor dem 2.1.1961 geboren, jedoch nicht berufsunfähig.
42Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als 6 Stunden gesunken ist. Dabei umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können, § 240 Abs 2 S 1 und 2 SGB VI. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens 6 Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen, § 240 Abs 2 S 4 SGB VI. Nach diesen Vorschriften ergibt sich eine im Vergleich zum Anspruch auf volle Erwerbsminderung abweichende Beurteilung nur dann, wenn der Versicherte den zuletzt ausgeübten Beruf objektiv (d.h. wegen Krankheit oder Behinderung) nicht mehr 6 Stunden oder mehr arbeitstäglich ausüben und wegen eines besonderen qualifizierten Berufsschutzes nicht (pauschal) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann. Dann ist (mindestens) eine konkret zumutbare, meist berufsnahe Verweisungstätigkeit zu benennen, in die sich der Versicherte zeitnah einarbeiten kann (binnen 3 Monaten, sog. "Überforderungsklausel". Ein derartiger Berufsschutz liegt nach der mittlerweile zu Richterrecht erstarkten ständigen Rechtsprechung des BSG vor, wenn es sich bei der letzten versicherungspflichtigen Tätigkeit mindestens um die Tätigkeit eines Angelernten im oberen Bereich handelte (vgl. Nazarek in: Schlegel/Voelzke. jurisPK-SGB VI. 2. Aufl. 2013. § 240 Rdnrn 53ff; insb. 94ff; KassKomm/Gürtner. SGB VI. § 240 Rdnrn 24-42 ). Das ist bei der Klägerin nicht der Fall.
43Die Klägerin hat zuletzt den Beruf einer Lagerarbeiterin und Verkäuferin bzw. Mitarbeiterin in einem Discountladen ("Mädchen für alles") ausgeübt. Diesen Beruf kann sie schon deshalb nicht mehr ausüben, weil diese Tätigkeit überwiegend im Stehen ausgeübt wird und zumindest gelegentlich auch schwere Tätigkeiten anfallen. Qualifizierter Berufsschutz, der zu einer Beschränkung des Verweisungsspektrums führte und deshalb die Benennung einer konkret (subjektiv) zumutbaren Berufstätigkeit durch die Beklagte begründete, besteht jedoch nicht. Die durch Beklagte und SG eingeholten Arbeitgeberauskünfte bescheinigen, dass es sich bei der maßgeblichen letzten Tätigkeit der Klägerin (Lagerarbeiterin/Verkäuferin) um eine ungelernte Tätigkeit gehandelt hat. Dass die zweite Auskunft vom Steuerberater der "Firma X" erteilt wurde, spricht nach Auffassung des Senats nicht gegen ihre Richtigkeit, zumal sie inhaltlich mit der bei der Beklagten eingegangenen Auskunft der "Firma X" übereinstimmt. Auch die daneben bekannten Umstände (erwiesenen Hilfstatsachen) lassen keinen abweichenden Schluss zu. Die Klägerin hat die (zweijährige) Ausbildung als Verkäuferin nicht abgeschlossen und in diesem Beruf auch nicht lange gearbeitet. Sie ist erst knapp 25 Jahre später wieder (zunächst als Lagerarbeiterin) in das Berufsleben eingestiegen, um mit ihrem Ehemann und Herrn X den Discoutladen aufzubauen, war dort zunächst als Lageristin und später ca. 6 Jahre (auch) als Verkäuferin tätig. Der Erwerb zusätzlicher, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbarer Qualifikationen ist weder behauptet noch sonst ersichtlich. Selbst wenn man davon ausginge, es habe sich entgegen der Auskünfte seit ca. 2000 bereits um eine angelernte Tätigkeit gehandelt, wäre das Verweisungsspektrum nicht eingeschränkt, sondern die Klägerin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
44III. Der Rechtsstreit ist entscheidungsreif. Soweit die Klägerin früher beantragt hatte, den Zeugen X zu hören, hat sie diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung nicht aufrechterhalten.
45Die Sachverständige Dr. Q1 ist nicht zu beeidigen.
46Der Antrag der Klägerin, die Sachverständige Q1 zu beeidigen, geht ins Leere. § 410 Abs 1 S 1 ZPO regelt entgegen dem ersten Anschein keine Beeidigungspflicht, sondern nur die Modalitäten der Beeidigung (BGH NJW 1998, 3355). Der Senat unterstellt, dass die Sachverständige das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet hat. Ob der Senat die sozialmedizinischen Schlussfolgerungen für überzeugend hält, muss er bei der Beweiswürdigung entscheiden. Die sozialmedizinische Wertung kann durch einen Eid nicht überzeugender werden. Deshalb liegt die Beeidigung grundsätzlich im Ermessen des Prozessgerichts und gehört zur freien Beweiswürdigung, §§ 402, 391 ZPO (vgl dazu Zöller. ZPO. Kommentar. § 391 Rdnrn 2f). Eine Beeidigung kommt etwa in Betracht, wenn das Gericht sich auf das Gutachten stützen und ihm durch die Beeidigung größeres Gewicht verschaffen möchte. So liegt der Fall hier gerade nicht.
47B. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 S 1, 193 Abs 1 S 1 SGG und, soweit die Klägerin Gerichtskosten trägt, auf § 192 Abs 1 S 1 Nr 2 SGG. Nach dieser Regelung kann das Gericht im Urteil einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor.
48Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung vom Vorsitzenden auf die Aussichtslosigkeit der Fortsetzung des (Berufungs-)Verfahrens, die Missbräuchlichkeit der weiteren Inanspruchnahme des Gerichts sowie die für den Fall der Fortsetzung des Verfahrens in Betracht kommende Auferlegung von Gerichtskosten hingewiesen worden und hat den Rechtsstreit trotz dieser Hinweise fortgeführt.
49Dieses Verhalten ist rechtsmissbräuchlich. Eine missbräuchliche Rechtsverfolgung liegt vor, wenn die Weiterführung des Rechtsstreits von jedem Einsichtigen als aussichtslos angesehen werden muss (vgl Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19.12.2002, Az 2 BvR 1255/02, juris RdNr 3). Die Berufung der Klägerin war in diesem Sinn offensichtlich aussichtslos, weil die Voraussetzungen des streitigen Anspruchs nach dem klaren Ergebnis der äußerst umfangreichen Beweisaufnahmen in zwei Rechtszügen offenbar nicht erwiesen waren. Wenn die Klägerin in Kenntnis des eindeutigen Ergebnisses der Beweisaufnahme und trotz vielfacher Hinweise auf die Rechtslage nicht bereit ist, die prozessuale Konsequenz zu ziehen, sondern stattdessen ohne Angabe der dafür (noch) maßgeblichen Gründe ein Urteil erstreiten will, zeigt sie damit ein sehr hohes Maß an Uneinsichtigkeit. Ein solches Verhalten stellt typischerweise ein (rechts )missbräuchliches Verhalten dar (vgl dazu Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer. SGG. 11. Aufl 2014. § 192 RdNr 9 mwN). Dabei kann im Ergebnis dahin stehen, ob der Klägerin selbst alle Zusammenhänge klar geworden sind. Nach dem Gesetz steht dem Beteiligten sein Bevollmächtigter gleich, § 192 Abs 1 Satz 2 SGG. Die Klägerin war im Termin zur mündlichen Verhandlung von einem "Fachanwalt für Sozialrecht" vertreten, dem die Zusammenhänge aufgrund seiner besonderen Qualifikation ganz sicher klar waren, jedenfalls aber im Rahmen der umfänglichen Erörterung klar geworden sind.
50Zur Höhe der auferlegten Gerichtskosten bedarf es keiner Begründung, da es sich um den gesetzlichen Mindestbetrag handelt, §§ 192 Abs 1 S 3, 184 Abs 2 SGG.
51C. Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG. Maßgeblich für die Entscheidung sind die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 26.03.2015 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
1
Gründe:
2I.
3Durch Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 18.07.2014 hob die Stadt S die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an drei Kläger für April 2014 teilweise wegen Anrechnung eines Erwerbseinkommens auf und forderte insgesamt 158,56 EUR zurück. Hiergegen legten die Kläger, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Widerspruch ein. Sie machten geltend, dass die Erstattungsforderung wegen der Berücksichtigung eines weiteren Absetzbetrages um 16,61 EUR zu reduzieren sei.
4Am 24.11.2014 haben die Kläger Untätigkeitsklage erhoben.
5Mit Bescheid vom 11.12.2014 half der Beklagte dem Widerspruch ab. Er minderte die Erstattungsforderung unter Änderung des Bescheides vom 18.07.2014 um 16,61 EUR und übernahm die Kosten des Widerspruchsverfahrens dem Grunde nach.
6Mit Schriftsatz vom 11.12.2014 hat der Beklagte dem Sozialgericht eine Kopie des Bescheides vom 11.12.2014 übersandt und hat ein Kostengrundanerkenntnis abgegeben.
7Auf Nachfrage des Sozialgerichts, ob das Verfahren für erledigt erklärt wird, hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schriftsätzen vom 13.01.2015 und vom 22.01.2015 erklärt, dass eine Erledigungserklärung ausdrücklich nicht abgegeben werde. Der Beklagte habe mit Erlass des Widerspruchsbescheides den Widerspruch beschieden, so dass sich die darauf gerichtete Untätigkeitsklage erledigt habe. In der bloßen Bescheidung des Widerspruchs liege jedoch nach Auffassung der 27. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen kein (inzidentes) Anerkenntnis. Der Beklagte habe nicht eingeräumt, dass der prozessuale Anspruch auf Bescheidung nach Untätigkeit bestanden habe. Nach Auffassung der 27. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen hänge das Bestehen des prozessualen Anspruchs davon ab, ob Untätigkeit i.S.v. § 88 Abs. 1 S. 1 SGG vorläge. Eine solche habe der Beklagte im vorliegenden Fall bislang aber nicht eingeräumt. Er habe die Kläger klaglos gestellt. Die Hauptsache sei im vorliegenden Fall auch nicht gemäß § 88 Abs. 1 S. 3 SGG für erledigt zu erklären. Eine solche Erklärung müsse nur dann abgegeben werden, wenn ein Bescheid innerhalb der nach § 88 Abs. 1 S. 2 SGG gesetzten Frist erlasse werde. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Der Beklagte solle zunächst erklären, ob ein zureichender Grund für seine Untätigkeit vorgelegen habe oder nicht. Alternativ könne der Beklagte ausdrücklich den klageweise geltend gemachten Anspruch anerkennen. Die 38. Kammer des Sozialgerichts Gelsenkirchen habe in einem Beschluss ausgeführt, dass es sich, wenn auf eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG der begehrte Bescheid erlassen und die Klage daraufhin für erledigt erklärt werde, um ein angenommenes Anerkenntnis handele, wenn die Frist des § 88 Abs. 1 bzw. des § 88 Abs. 2 SGG abgelaufen gewesen sei und ein zureichenden Grund für die verspätete Entscheidung nicht vorläge. Die Abgabe einer Erledigungserklärung zum jetzigen Zeitpunkt werde auf Klägerseite lediglich dazu führen, dass die entstandenen Gebühren gekürzt würden. Denn nach Rechtsauffassung des Sozialgerichts Gelsenkirchen werde eine (fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG bei Abgabe der Erledigungserklärung zum jetzigen Zeitpunkt nicht anfallen. Wenn eine Erledigungserklärung gemäß § 88 Abs. 1 S. 3 SGG betreffend die Hauptsache nicht abzugeben sei, sei zunächst zu klären, ob ein zureichender Grund für die verspätete Entscheidung vorliege. Diese sei nach der Rechtsprechung des Sozialgerichts Gelsenkirchen im Hinblick auf die zu treffende Kostenentscheidung von ausschlaggebender Bedeutung. Es sei weder für die Kläger noch für ihn hinnehmbar, dass er sich freiwillig seiner Gebührenansprüche (teilweise) begebe.
8Das Sozialgericht hat die Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheides angehört und einen Hinweis zur Verhängung von Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erteilt.
9Durch Gerichtsbescheid vom 26.03.2015 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage abgewiesen, dem Beklagten die Kosten der Kläger auferlegt und den Klägern anteilige Gerichtskosten nach § 192 SGG in Höhe von insgesamt 150,00 EUR auferlegt. Die Klage sei unzulässig, weil nach Erlass des Widerspruchsbescheides kein Rechtschutzbedürfnis mehr bestehe. Auf die weiteren Gründe wird Bezug genommen.
10Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 28.03.2015 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 28.04.2015 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben. Sie tragen vor, dass mit Erlass eines mit der Untätigkeitsklage begehrten Widerspruchsbescheides keine automatische Erledigung des Rechtstreites eintrete. Ein Gericht können zwar das Verfahren unter Fristsetzung für die Bescheidung entsprechend § 88 Abs. 1 S. 2 SGG aussetzen. Erlasse eine Behörde nach Anhängigkeit der Untätigkeitsklage den Bescheid und lege keinen hinreichenden Grund für die Nichtbescheidung dar, erkenne die Behörde konkludent die Untätigkeitsklage als begründet an. Dies stelle ein Anerkenntnis dar, welches durch die Annahme angenommen werde. Die von § 88 Abs. 1 S. 3 SGG geforderte Erledigungserklärung beziehe nur auf die Fallgestaltung, dass ein Gericht bei Vorliegen eines zureichenden Grundes das Verfahren unter Fristsetzung aussetze und die Behörde innerhalb der Frist des § 88 Abs. 1 S. 2 SGG den begehrten Verwaltungsakt erlasse. Soweit eine Behörde - wie im vorliegenden Fall - keinen zureichenden Grund für ihre Untätigkeit geltend mache, seien sie nicht zur Abgabe einer Erledigungserklärung nach § 88 Abs. 1 S. 3 SGG verpflichtet. Die Rechtsprechung der einzelnen Kammern der Sozialgerichte divergiere in vergleichbaren Angelegenheiten völlig. Einzelne Kammern sehen im Erlass des begehrten Verwaltungsaktes ein konkludentes Anerkenntnis, andere Kammern gingen von einer Erledigung des Verfahrens aus.
11Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
12II.
13Die Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet.
14Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nach §§ 145 Abs. 1 S. 1 SGG statthaft. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts bedarf nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes einen Betrag von 750,00 EUR nicht übersteigt. Bei einer Untätigkeitsklage bestimmt sich der Beschwerdewert i.S.v. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG allein nach dem Geldbetrag, über den durch den Erlass des begehrten Verwaltungsaktes entscheiden werden soll (BSG Beschluss vom 06.11.2011 - B 9 SB 45/11 B). Die Kläger haben mit dem Widerspruch die Minderung der im Bescheid vom 18.07.2014 festgestellten Erstattungsforderung um 16,61 EUR begehrt. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht erhoben worden.
15Nach § 144 Abs. 2 SGG ist eine Berufung zuzulassen, wenn
161. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht oder 3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
17Zulassungsgründe in diesem Sinn liegen nicht vor.
181.) Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine bisher ungeklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Individualinteresse genügt nicht (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 144 Rn. 28; BSG Beschluss vom 24.09.2012 - B 14 AS 36/12 B zu § 160 SGG; Beschluss des Senats vom 07.10.2013 - L 19 AS 1101/13 NZB). Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (Leitherer, a.a.O., § 160 Rn. 9 m.w.N.)
19Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob sich eine Untätigkeitsklage sich durch den Erlass des begehrten Bescheides automatisch erledige bzw. sich die Pflicht zur Abgabe einer Erledigungserklärung nach § 88 Abs. 1 S. 3 SGG nur auf die Fallgestaltung des § 88 Abs. 1 S. 2 SGG beziehe, ist nicht klärungsbedürftig. Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, ist nach § 88 Abs. 1 S. 1 SGG die Untätigkeitsklage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes zulässig. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann (Satz 2). Wird innerhalb dieser Frist dem Antrag stattgegeben, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären. Das gleiche gilt nach § 88 Abs. 2 SGG, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten ist (Satz 3).
20Ist die Untätigkeitsklage nach Ablauf der Sperrfrist (im Falle eines Widerspruches von drei Monaten) erhoben und ergeht ein Bescheid (im Falle eines Widerspruches ein Widerspruchsbescheid), der dem Antrag (Widerspruch) stattgibt, ist die Hauptsache, einerlei ob vom Gericht eine Frist nach § 88 Abs. 1 S. 2 SGG gesetzt worden ist oder nicht, für erledigt zu erklären (vgl. Leitherer, a.aO., § 88 Rn 11; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, 3. Aufl., § 88 Rn 21; Binder in Lüdtke, SGG, 3.Aufl., § 88 Rn 19; Ulmer in Henning, SGG, Stand 10/2014, § 88 Rn 20; Jaritz in Roos/Wahrendorf, SGG, § 88 Rn 80f; Eschner in Jansen, SGG, 4.Aufl., § 88 Rn 21; vgl. zur Erledigung einer Untätigkeitsklage durch Erlass des begehrten Bescheides: BSG Urteil vom 18.05.2011 - B 3 P 5/10 R - SozR 4-3300 § 71 Nr. 2 und Beschluss vom 04.11.2009 - B 8 SO 38/09 B). Denn ein gerichtliches Verfahren wird nur durch eine instanzbeendende Entscheidung des Gerichts oder durch eine prozessbeendende Erklärung der Beteiligten beendet. Dabei ist die einseitige Erledigungserklärung eines Klägers in einem nach § 183 SGG gerichtskostenfreien Verfahren - wie im vorliegenden Verfahren - ausreichend. Das SGG gibt einem Kläger in diesen Verfahren die Möglichkeit, seine Klage einseitig (§ 102 SGG; vgl. zur Auslegung einer einseitigen Erledigungserklärung in Verfahren nach § 183 SGG: BSG, Beschluss vom 29.12.2005 - B 7a AL 92/05 B und Urteil vom 20.12.1995 - 6 RKa 18/95 - USK 95155) mit der Folge zurückzunehmen, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache ohne für den Kläger nachteilige Kostenfolgen erledigt ist. Denn auch bei einer Kostenentscheidung nach § 102 Abs. 3 S. 1 SGG ist in gerichtskostenfreien Verfahren nach § 183 SGG eine Entscheidung nach billigem Ermessen entsprechend § 193 zu treffen. Einen Kläger trifft anders als in Verfahren nach § 197a SGG und in anderen Verfahrensordnungen nicht ohne weiteres die Kostenlast (Leitherer, a.a.O., § 102 Rn 9a). Gibt der Kläger eine solche Erledigungserklärung nicht ab (und nimmt auch seine Untätigkeitsklage nicht zurück), ist die Klage als unzulässig abzuweisen, weil das Rechtsschutzbedürfnis wegen der Änderung der Sachlage während des gerichtlichen Verfahrens entfallen ist (BSG Urteil vom 08.12.1993 - 14a RKa 1/93 - BSGE 73, 244). Denn Gegenstand einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ist grundsätzlich nur die Bescheidung eines Antrags bzw. eines Widerspruchs und nicht die Prüfung der materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs oder die Bewilligung einer Leistung. Verurteilt werden kann daher nur zur Bescheidung, nicht aber zur Gewährung der beantragten Leistung oder des sonstigen materiellen Gegenstands des Antrags bzw. auf Erlass eines Verwaltungsakts mit einem bestimmten Inhalt (BSG Beschluss vom 16.10.2014 - B 13 R 282/14 B -). Mit Erlass des (stattgebenden/begünstigenden) Verwaltungsaktes hat ein Kläger sein durch die Erhebung der Untätigkeitsklage erstrebtes Ziel - Bescheidung eines Antrags oder Widerspruchs - erreicht, so dass ein Rechtschutzbedürfnis an der Weiterführung des Verfahrens nicht mehr erkennbar ist. Soweit vertreten wird, dass ein Kläger unter Umständen in einem solchen Fall zu einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG, gerichtet auf die Feststellung eines zureichenden Grundes für die Überschreitung der gesetzlichen Regelbearbeitungsfrist, übergehen kann (BSG Urteil vom 08.12.1993, a.a.O.; Jaritz, a.a.O., § 88 Rn 82; kritisch Ulmer, a.a.O., § 88 Rn 20), ist das für eine Fortsetzungsfeststellungsklage geforderte berechtigte Feststellungsinteresse nicht gegeben, wenn das Verfahren erkennbar nur zu Erreichung einer weiteren Gebühr des Prozessbevollmächtigten geführt wird. Welche Gebühren in einem gerichtlichen Verfahren angefallen sind, ist im Kostenfestsetzungsverfahren zu klären (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.11.2014 - L 29 As 1552/14 B -).
21Ist die Untätigkeitsklage nach Ablauf der Sperrfrist erhoben werden und ergeht ein ungünstiger Bescheid bzw. Widerspruchsbescheid, ist die Hauptsache ebenfalls vom Kläger für erledigt zu erklären oder er kann die Klage zurücknehmen. Der Kläger kann aber auch innerhalb der Klagefrist des § 87 Abs. 1 SGG zur Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage übergehen (BSG Urteil vom 18.05.2011, a.a.O., Leitherer, a.a.O. § 88 Rn. 12a). Macht ein Kläger davon keinen Gebrauch, wird also die Untätigkeitsklage weiterverfolgt, ist sie mangels Rechtsschutzbedürfnisses ebenfalls als unzulässig abzuweisen. Denn den mit der Untätigkeitsklage begehrten Bescheid hat er erhalten (vgl. Leitherer, a.a.O., § 88 Rn 12f; Wolff-Dellen, a.a.O. § 88 Rn 22; Binder, a.a.O., § 88 Rn 20; Ulmer, a.a.O., § 88 Rn 21; Jaritz, a.a.O., § 88 Rn 84f; Eschner a.a.O., § 88 Rn 22).
22Soweit die Kläger anscheinend die Klärung der Frage anstreben, unter welchen Voraussetzungen in einem Verfahren nach § 88 SGG eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV RVG anfallen kann, ist diese Frage nicht klärungsfähig. Ob und ggf. in welcher Höhe Gebühren eines Rechtsanwalts, der in einem gerichtlichen Verfahren tätig geworden ist, zu erstatten sind, ist in den Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG bzw. §§ 55, 56 RVG zu klären. Ergänzend weist der Senat daraufhin, dass nach überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV RVG nicht entsteht, wenn eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG durch den Erlass des begehrten Verwaltungsaktes bzw. Widerspruchsbescheides und der darauffolgenden einseitigen Erledigungserklärung beendet wird, unabhängig davon, ob ein zureichender Grund i.S.v. § 88 Abs. 1 S. 1 SGG vorgelegen hat oder nicht (LSG NRW, Beschlüsse vom 07.01.2015 - L 12 SO 302/14 B -, vom 08.09.2014 - L 20 SO 5/14 B -, vom 09.03.2011 - L 7 B 255/09 AS und vom 05.05.2008 - L 19 B 24/08 AS, LSG Thüringen, Beschluss vom 25.10.2010 - L 6 SF 652/10 B ; LSG Sachsen, Beschluss vom 18.10.2013 - L 8 AS 1254/12 B KO; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.11.2014 - L 32 AS 1145/14 B zum Charakter des Erlasses eines Widerspruchsbescheides als Realakt und nicht als Willenserklärung; a. A. LSG Hessen, Beschluss vom 13.01.2104 - L 2 As 250713 B). Soweit sich die Kläger im erstinstanzlichen Verfahren dahingehend eingelassen haben, das weder für sie noch für ihren Prozessbevollmächtigten hinnehmbar sei, dass dieser sich durch die Abgabe einer Erledigungserklärung freiwillig seiner Gebührenansprüche (teilweise) begebe, weist der Senat auf die einem Beteiligten obliegende Kostenminderungspflicht hin. Jeder Verfahrensbeteiligte ist gehalten, die Kosten nach Möglichkeit so niedrig zu halten, wie sich dies mit der Wahrung ihrer berechtigten Belange vereinbaren lässt (BAG, Beschluss vom 14.11.2007 - 3 AZB 36/07 - NJW 2008,1340; BGH, Beschlüsse vom 11.09.2012 - VI ZB 59/11 - NJW 2013, 66 und vom 02.05.2007 - XII ZB 156/06 - NJW 2007, 2257 m.w.N.). Nach dem Konzept des RVG ist der Anfall von mindestens zwei Gebühren in einem sozialgerichtlichen Verfahren - wovon anscheinend die Kläger und ihr Prozessbevollmächtigter ausgehen - nicht vorgesehen, auch ist eine Terminsgebühr i.S.v. § 3106 VV RVG nicht schon mit Einleitung des Verfahrens entstanden.
23Ebenso ist im Hinblick auf das vom Beklagten abgegebene Kostengrundanerkenntnis nicht erforderlich gewesen, Feststellungen zum Vorlegen eines zureichenden Grundes i.S.v. § 88 Abs. 1 S. 1 SGG im Rahmen der Kostengrundentscheidung nach § 193 SGG zu treffen. Soweit das Sozialgericht dem Beklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt hat, wird im Kostenfestsetzungsverfahren zu prüfen sein, ob die durch den Erlass des Gerichtsbescheides entstandene Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 2 VV RVG als notwendigen Kosten i.S.v. § 193 Abs. 2 SGG vom Beklagten zu erstatten sind (vgl. zu den Folgen der Verletzung der Kostenminderungspflicht bei der Beurteilung der Notwendigkeit von Kosten: BAG, Beschluss vom 14.11.2007 - 3 AZB 36/07 - NJW 2008, 1340; BGH, Beschlüsse vom 11.09.2012 - VI ZB 59/11 - NJW 2013, 66 und vom 02.05.2007 - XII ZB 156/06 - NJW 2007, 2257 m. w. N.). Die Kläger haben im vorliegenden Verfahren selbst schriftsätzlich eingeräumt, dass sie klaglos gestellt sind und trotzdem auf eine gerichtliche Entscheidung bestanden. Zuvor hatte der Beklagte schon ein Kostengrundanerkenntnis abgegeben.
24Ebenfalls sind die Voraussetzungen für die Verhängungen von Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG geklärt. Für die Annahme des Missbrauchs des kostenfreien sozialgerichtlichen Rechtsschutzes genügt, dass die Erhebung oder Fortführung der Klage von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden müsste. Dabei ist auf die (objektivierte) Einsichtsfähigkeit eines vernünftigen Verfahrensbeteiligten abzustellen. Ist ein Beteiligter durch einen Rechtsanwalt, einen Rechtssekretär oder eine sonstige rechtskundige Person vertreten, ist auf deren Einsichtsfähigkeit abzustellen (LSG Bayern, Urteil vom 09.11.2005 - L 1 R 4140/04 -; LSG NRW, Urteil vom 20.05.2009 - L 17 U 91/07). Für sie gelten erhöhte Anforderungen (LSG Sachsen, Urteil vom 31.03.2005 - L 2 U 124/04). Von einem rechtskundigen Bevollmächtigten, insbesondere einem Rechtsanwalt, ist zu verlangen, dass er sich mit der Rechtsmaterie auseinandersetzt, die Rechtsprechung zu den aufgeworfenen Fragen prüft und die Erfolgsaussichten eingehend abwägt und sich entsprechend den Ergebnissen seiner Prüfung verhält (BVerfG, Beschlüsse vom 03.07.1995 - 2 BvR 1379/95 - NJW 1996, 1273 und vom 17.01.2013 - 1 BvR 1578/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.11.2010 - L 22 LW 1/09). Ein Beteiligter muss sich das Verhalten seines Bevollmächtigten zurechnen lassen (§ 192 Abs. 1 Satz 2).
25Da das Sozialgericht mit seiner Entscheidung auch nicht von höherinstanzlicher Rechtsprechung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG abweicht und Verfahrensmängel im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG von den Klägern nicht gerügt worden sind, ist die Beschwerde zurückzuweisen.
26Mit der Zurückweisung der Beschwerde wird der angefochtene Gerichtsbescheid rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 S. 4 SGG).
27Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
(1) Kläger und Beklagte, die nicht zu den in § 183 genannten Personen gehören, haben für jede Streitsache eine Gebühr zu entrichten. Die Gebühr entsteht, sobald die Streitsache rechtshängig geworden ist; sie ist für jeden Rechtszug zu zahlen. Soweit wegen derselben Streitsache ein Mahnverfahren (§ 182a) vorausgegangen ist, wird die Gebühr für das Verfahren über den Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids nach dem Gerichtskostengesetz angerechnet.
(2) Die Höhe der Gebühr wird für das Verfahren
vor den Sozialgerichten auf | 150 Euro, |
vor den Landessozialgerichten auf | 225 Euro, |
vor dem Bundessozialgericht auf | 300 Euro |
festgesetzt.
(3) § 2 des Gerichtskostengesetzes gilt entsprechend.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.