Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 19. Dez. 2013 - L 6 SB 1436/13

bei uns veröffentlicht am19.12.2013

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Januar 2013 und der Bescheid des Beklagten vom 1. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2010 abgeändert und der Beklagte verurteilt, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich RF ab dem 23. November 2010 festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt 3/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF (Rundfunkgebührenbefreiung bzw. -ermäßigung).
Bei dem 1954 geborenen Kläger mit langer Suchtkarriere und schwerem Motorradunfall im 17. Lebensjahr, der seit 2005 eine vorgezogene Rente wegen Erwerbsminderung in Höhe von 399,11 EUR bezieht, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 25.11.1998 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 anerkannt. Das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) wurde am 06.02.2002 festgestellt.
Aufgrund eines Antrages des Klägers vom 23.07.2009, auch die Merkzeichen B (Berechtigung einer ständigen Begleitung) und RF festzustellen, zog der Beklagte unter anderem einen Rehabilitationsentlassungsbericht der Rehaklinik B. (stationärer Aufenthalt vom 22.07.2008 bis 14.10.2008) bei (psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen: Abhängigkeitssyndrom, posttraumatische Belastungsstörung, Depersonalisations- und Derealisationssyndrom, alkoholische Fettleber, chronische obstruktive Lungenkrankheit nicht näher bezeichnet: FEV 1 35 % des Sollwertes). Der Versorgungsarzt Dr. E. stellte in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme unter Auswertung der beigezogenen Berichte als funktionsbeeinträchtigende Gesundheitsstörungen Alkohol- und Suchtkrankheit und Suchtkrankheit (Teil-GdB 50), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Beinverkürzung rechts nach Politrauma, Funktionsbehinderung beider Sprunggelenke, Kalksalzminderung des Knochens (Osteoporose), chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 40), Lungenfunktionseinschränkung, Lungenblähung (Teil-GdB 40), Gebrauchseinschränkung des rechten Armes, Gebrauchseinschränkung der rechten Hand (Teil-GdB 30) fest und bewertete den bei dem Kläger vorliegenden Gesamt-GdB mit 100. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen B und RF verneinte er. Mit Bescheid vom 01.10.2009 änderte der Beklagte den Bescheid vom 25.11.1998 ab und stellte unter Wiederholung der in der versorgungsärztlichen Stellungnahme genannten GdB-relevanten Funktionsbeeinträchtigungen den GdB bei dem Kläger mit 100 seit dem 23.07.2009 sowie (weiterhin) das Merkzeichen G fest. Die Feststellung der Merkzeichen B und RF lehnte er ab. Bezüglich des Merkzeichens RF führte er aus, bei dem Kläger liege zwar ein GdB von wenigstens 80 vor, der Besuch öffentlicher Veranstaltungen sei ihm jedoch möglich und zumutbar.
Im Rahmen des anschließend durchgeführten Widerspruchsverfahrens zog der Beklage Berichte des behandelnden HNO-Arztes Dr. L. (Tinnitus aurium) bei. In einer daraufhin eingeholten Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr. A. schätzte diese den Teil-GdB für die Lungenfunktionseinschränkung und die Lungenblähung mit einem Teil-GdB von 50 höher als ursprünglich ein und stellte als neue GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigung Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung [PTBS] (Teil-GdB 30) sowie Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (Teil-GdB 15) fest, verneinte jedoch weiterhin das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF. Ausreichende Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen könne bei dem vorliegenden Leidensbild zugemutet werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2010 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, bei dem Kläger liege weder eine Seh- noch eine Hörminderung in berechtigendem Ausmaße vor. Im Übrigen sei er nach versorgungsärztlicher Feststellung trotz der Schwere seiner Behinderungen durchaus noch in der Lage, zumindest gelegentlich öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 07.04.2010 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte mehrfach als sachverständige Zeugen befragt und sodann von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt.
In einer ersten sachverständigen Zeugenaussage hat der Allgemeinarzt Dr. L. am 19.10.2010 mitgeteilt, er behandele den Kläger seit 1996. Der Kläger leide unter einer schweren Politoxikomanie mit Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit und in diesem Rahmen unter einer Persönlichkeitsstörung mit PTBS, erheblicher Depression und zeitweise auch mit suizidaler Tendenz. Daneben bestehe eine erhebliche Lungenfunktionseinschränkung mit chronischer COPD (chronische obstruktive Lungenerkrankung) und Nikotinabusus. Es bestünden bekannte Schädigungen des gesamten Skelettsystems, insbesondere ein Zustand nach Fersenbeintrümmerfraktur beidseits, Beinverkürzung rechts, Osteoporose, Funktionsbehinderungen beider Sprunggelenke, erhebliche Funktionseinschränkung der rechten Hand und des rechten Armes und schwere COPD mit rezidivierenden Infekten. Nach den Angaben des Klägers habe dieser mehrfach versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen, dabei sei es jedoch aufgrund der psychischen Situation zu Angst, Luftnot und Panikzuständen gekommen. Der Tinnitus habe bei diesen Veranstaltungen zusätzlich seine Teilnahmefähigkeit beeinträchtigt. Dr. L. hat die Voraussetzungen des Merkzeichens RF bejaht.
Der Chirurg W. vom Medizinischen Versorgungszentrum des Landkreises L. hat in seiner Stellungnahme vom 29.10.2010 mitgeteilt, er behandele den Kläger seit 1996. Da er selbst an der Behandlung des Kläger nur marginal beteiligt gewesen sei, könne er zusammenfassend im Wesentlichen nur aus seinen Unterlagen zitieren. Die Funktionsbeeinträchtigungen hat er in Bezug auf die Wirbelsäule, die Beinverkürzung, beide Sprunggelenke sowie das chronische Schmerzsyndrom gesehen und ebenso wie die Gebrauchseinschränkung des rechten Armes und der rechten Hand mit einem GdB von 40 bewertet. Der Kläger sei durch die Gesundheitsstörungen am Besuch öffentlicher Veranstaltungen nicht gehindert.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. R. hat in seiner ersten sachverständigen Zeugenaussage vom 30.11.2010 mitgeteilt, der Kläger befinde sich seit dem 26.01.2004 in seiner Behandlung (letzte Behandlung 23.11.2010). Es liege eine PTBS sowie eine Opiatabhängigkeitsproblematik vor dem Hintergrund der chronischen Schmerzen vor. Aufgrund der PTBS leide der Kläger unter Ängsten und Intrusionen sowie Déja-vues und Alpträumen. Den schmerzbedingten Opiatabusus versuche er zwar einzuschränken, was aufgrund der mittlerweile vorliegenden Suchtproblematik jedoch schwierig sei. Weiterhin bestehe ein depressives Syndrom, welches aufgrund der Chronizität und der fehlenden Remission am ehesten der Dysthymia zuzuordnen sei. Daneben resultierten Ängste im Rahmen der PTBS sowie chronische Verunsicherung, Traurigkeit, Affektlabilität, Antriebsprobleme und Konzentrationsstörungen. Aufgrund der Problematik bestehend aus Ängsten vor dem Alleinsein, Überforderung und Reizüberflutung in Gruppen bereits im Wartezimmer könne der Kläger nur vierzehntägig in Begleitung kommen, sei nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Auch mit einer Begleitperson sei eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht denkbar. Die Gründe hierfür seien das ausgeprägte Vermeidungsverhalten im Rahmen der PTBS und den damit assoziierten Ängsten, nun deutlich zugespitzt aufgrund der chronifizierten depressiven Entwicklung.
In einer im Anschluss vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme hat Dr. G. ausgeführt, weder die von Dr. L. und Dr. R. angegebene (Gang-) Unsicherheit noch eine Angstsymptomatik seien in einer entsprechenden Ausprägung nachvollziehbar, als dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen B und RF bestätigt werden könnten. Es könne insoweit auf den ausreichend detaillierten Befund in dem Entlassungsbericht der Rehaklinik B. vom 07.08.2009 zurückgegriffen werden. Dem psychotherapeutischen Behandlungsverlauf lasse sich keine entsprechend ausgeprägte Angstsymptomatik oder sonstige seelische Problematik entnehmen, die es dem Kläger unmöglich mache, sich in einer Gruppe aufzuhalten. So habe der Kläger an der therapeutischen Gruppe in der Rehaklinik aktiv und aufmerksam teilgenommen. Auch die Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit unter dem Einfluss starker Schmerzmittel sei anhand des Entlassungsberichtes nicht belegt. Geistig-seelische Teilnahmehindernisse würden die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich RF in der Regel ohnehin nicht erfüllen und es sei dabei unerheblich, ob der Behinderte überhaupt im Stande sei, die Darbietungen zu erfassen bzw. ihnen bis zum Ende zu folgen.
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In diesem Zusammenhang hat die Klägervertreterin darauf hingewiesen, dass sich seit dem Rehabilitationsaufenthalt in B. die gesundheitliche Situation des Klägers gravierend verschlechtert habe. Man habe zwar die psychotherapeutische Behandlung zwischenzeitlich beendet, aber nicht wegen eingetretener Heilung, sondern weil eine solche für ausgeschlossen gehalten werde und weitere Fortschritte nicht mehr zu erwarten seien. Der Kläger bedürfe jedoch weiterhin medizinischer Behandlung durch Psychopharmaka. Die vorliegenden Erkrankungen eines chronisch depressiven Syndroms, einer schweren Persönlichkeitsstörung und einer PTBS würden nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit führen, sondern mit physischen Symptomen einhergehen, so dass dem Kläger kein Aufenthalt unter fremden Personen mehr möglich sei. Bei öffentlichen Veranstaltungen, sogar beim Zusammensitzen mit fremden Personen in einem Warteraum, komme es beim Kläger zu Angst, Luftnot und Panikzuständen. Die Teilnahme an Gruppensitzungen während der Rehabilitation stehe dazu nicht im Widerspruch, da er auf die Gruppentherapie therapeutisch vorbereitet worden sei und Gelegenheit gehabt habe, die weiteren Teilnehmer und den Leitenden Therapeuten langsam in Gesprächen kennenzulernen sowie die Sicherheit, dass ärztliche Betreuung und Hilfestellung bei Problemsituationen jederzeit gewährleistet sei. Dies sei in keiner Weise mit einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen vergleichbar, bei welcher der Kläger mit einer größeren Anzahl ihm völlig fremder Personen außerhalb einer therapeutischen Vorbereitung, Betreuung und Begleitung konfrontiert würde.
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Zur weiteren Aufklärung bezüglich des Krankheitsverlaufes hat das SG erneut die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt.
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Der Chirurg Dr. D. (Nachfolger von Herrn W. vom Medizinischen Versorgungszentrum des Landkreises L. [Chirurgie und Unfallchirurgie]) hat mittgeteilt, der Kläger leide unter einem Zustand nach Calcaneustrümmerfraktur mit schwerster OSG-Arthrose rechts sowie einem Zustand nach komplizierter Oberarmverletzung rechts mit funktioneller Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes. Er sei aufgrund seiner Behinderung auf die Benutzung einer Unterarmgehstütze links ständig angewiesen, da der rechte Arm durch partielle Lähmung nicht einsetzbar sei. Er sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge seiner Behinderung auch regelmäßig auf Hilfe angewiesen, könne jedoch an öffentlichen Veranstaltungen noch teilnehmen.
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Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. R. hat am 21.12.2011 angegeben, leider hätten sich keine Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers ergeben. Bezüglich der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen verbleibe es bei der Aussage vom November 2010.
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Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. L. hat am 15.11.2011 mitgeteilt, es sei aus seiner Sicht keine Verbesserung eingetreten. Der Kläger könne weiterhin nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, da es zu erheblichen Angstzuständen in diesen Situationen komme.
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Gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. hat der Beklagte am 12.03.2012 ein Vergleichsangebot dahingehend abgegeben, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens B ab Oktober 2010 erfüllt seien. Dieses Vergleichsangebot hat der Kläger nicht angenommen.
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Sodann hat das Gericht den Kläger durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. von Amts wegen untersuchen und begutachten lassen. Im Rahmen der Untersuchung vom 30.07.2012 hat der Kläger gegenüber dem Gutachter angegeben, seine Suchtkarrieren vom 16. bis 47. Lebensjahr seit 11 Jahren beendet zu haben, seitdem sei er clean. Seine wesentliche soziale Anbindung bestehe in den Kontakten zur Institution „Drehscheibe“ (Einrichtung der Drogenhilfe des Baden-Württembergischen Landesverbandes für Prävention und Rehabilitation gGmbH mit Drogenberatung und Kontaktcafé) und den daraus resultierten Bekanntschaften, wobei es sich nicht um intensive Beziehungen handele. Er sei nur kurz verheiratet gewesen, jetzt aber geschieden. Er lebe allein und müsse niemanden betreuen. Er habe Schmerzen im Bereich von Armen und Beinen nach seinen Verletzungen. Er könne sich nur schlE.end vorwärts bewegen. Außerdem habe sich in letzter Zeit die COPD sehr verschlechtert und er benötige ein mobiles Sauerstoffgerät. Von seelischer Seite komme es immer wieder zu Angstattacken. Er sei in der Stimmung immer etwas herabgestimmt, schlafe schlecht und neige zu SchW.ausbrüchen. Bei längeren Filmen im Fernsehen müsse er wegen seiner Beschwerden häufig aufstehen, sich bewegen und die Toilette aufsuchen. An Medikamenten gab er an, Tilidin in der Retardform zu nehmen, außerdem mehrere Medikamente als Spray im Rahmen der COPD und im Bedarfsfall Diazepam. Zusätzlich nehme er Amitriptylin. Zu der Untersuchung ist der Kläger von der Sozialpädagogin Frau B. von der Drogenberatungsstelle „Drehscheibe“ begleitet worden. Diese hat während der Untersuchung fremdanamnestisch angegeben, der Kläger könne nur in Begleitung außer Haus gehen, da er starke Kontaktängste habe. Der Kläger lebe völlig zurückgezogen. Dies gelte auch für das Landratsamt, wo er und von sich aus auf die Grundsicherung verzichtet habe, da er die damit verbundene ständige Notwendigkeit des persönlichen Erscheinens nicht wolle. Zum psychiatrischen Befund hat Dr. H. ausgeführt, der Kläger könne sich nicht im Wartezimmer aufhalten, sondern müsse in einen Nebenraum gesetzt werden. Er wirke dabei blass, schwitzig und deutlich ängstlich. Die Untersuchung habe sich dann schwierig gestaltet. Der Kläger sei sehr konzentrationsgestört gewesen und habe teilweise dem Verlauf der Unterhaltung nicht folgen können. Die Angaben seien an sich sonst stimmig und es fänden sich keine umschriebenen formalen oder inhaltlichen Denkstörungen. Der Kläger sei bewusstseinsklar und orientiert, jedoch rasch irritierbar und emotional kaum schwingungsfähig. Während der Untersuchung sei es zu einem starken Konzentrationsabfall ohne umschriebene kognitive Defizite gekommen. Zusammenfassend hat Dr. H. ausgeführt, bei dem Kläger handele es sich um einen komplexen Erkrankungsfall mit einer über vierzigjährigen Drogenanamnese, schwierigen sozialen Bedingungen und einer zusätzlich überlagernden ängstlich depressiven Symptomatik. Er könne die Ansicht der behandelnden Nervenärzte bestätigen, dass der Kläger nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Ausdrücklich schließe dies nicht aus, dass in sehr seltenen Ausnahmefällen auch einmal der Kläger außerhalb seiner vier Wände sein könne. Es gehe darum, dass er allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit an solchen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Neben seiner vorgebrachten Ängste und der psychisch bedingten Unruhe sei auch relevant, dass er ständig Bewegung brauche, da er mit seinen multiplen Schmerzen aufgrund seiner Verletzungsfolgen nicht in der Lage sei, in einer konstanten Körperhaltung länger zu verweilen. Außerdem gebe er häufigen Harndrang an, der noch dazukomme. Diagnostiziert hat Dr. H. bei dem Kläger eine hirnorganisch bedingte generalisierte Angststörung auf dem Boden einer langjährigen Drogenanamnese. Von körperlicher Seite kämen eine Belastungseinschränkung des rechten Beines und eine komplexe Nervenschädigung des rechten Armes nach Unfall mit weitgehender Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes hinzu.
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In einer vom Beklagten daraufhin vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme hat der Versorgungsarzt Dr. H. ausgeführt, zwar könnten die Voraussetzungen für das Merkzeichen B festgestellt werden, die Kriterien für das Merkzeichen RF erfülle der Kläger jedoch nicht. Er sei weder hochgradig sehgemindert noch hochgradig schwerhörig, auch eine schwere Herzleistungs- oder Lungenfunktionsstörung sei nicht erkennbar. Bei chronischer obstruktiver Bronchitis werde nunmehr ein mobiles Sauerstoffgerät benutzt. In der letzten bekannten Lungenfunktionsprüfung aus dem Jahr 2008 habe die Vitalkapazität 73 % der Norm und die Einsekundenausatemkapazität 48 % der Norm betragen. Eine Partialinsuffizienz oder Globalinsuffizienz hätten nicht vorgelegen und von daher würden die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht erfüllt. Es lägen auch keine Entstellungen oder Geruchsbelästigungen oder hirnorganische Anfälle oder eine ansteckungsfähige Krankheit vor. Aufgrund der körperlichen Behinderungen sollte der Kläger in der Lage sein, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Bei geistig oder seelisch behinderten Menschen seien die Voraussetzungen des Merkzeichens RF nur dann erfüllt, wenn bei ihnen befürchtet werden müsse, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören würden. Dieser Sachverhalt sei nicht erfüllt. Zudem sei es dem Kläger möglich gewesen, zur fachärztlichen Begutachtung zu erscheinen und bestehe ein regelmäßiger Kontakt zur Institution „Drehscheibe“. Fremdanamnestisch werde auch berichtet, dass der Kläger das Haus in Begleitung verlasse.
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Der Beklagte hat am 05.12.2012 ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens B ab Oktober 2010 erfüllt seien. Dieses Teilanerkenntnis wurde vom Kläger angenommen, die Klage jedoch bezüglich des Merkzeichens RF aufrecht erhalten. Die Klägervertreterin hat in der mündlichen Verhandlung vom 15.01.2013 eine Bescheinigung zum Betreuungsverlauf durch die Sozialpädagogin Frau B. von der Drogenhilfe „Drehscheibe“ sowie ein ärztliches Attest des Urologen Dr. W. über eine nur begrenzt behandelbare Drangblasensymptomatik vorgelegt. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Klägerbevollmächtigte weiterhin mitgeteilt, dass der Kläger seit Anfang 2010 keine Grundsicherung mehr beziehe und durch seine Erwerbsminderungsrente und eine kleine Heimarbeit seinen Lebensunterhalt finanziere.
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Mit Urteil vom 15.01.2013 hat das SG die Klage abgewiesen, aber dem Beklagten 1/3 der außergerichtlichen Kosten auferlegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Rechtsschutzbedürfnis für die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens RF könne allenfalls bis 31.01.2010 wegen des Bezuges von Grundsicherungsleistungen verneint werden. Für die Zeit ab dem 01.02.2010 habe der Kläger aber auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens RF. Das Gericht habe sich nicht davon überzeugen können, dass der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens RF erfülle. Unstreitig sei der Kläger erheblich behindert und infolge seiner Behinderungen sei die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auch erheblich erschwert, aber nicht allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Im Vordergrund stehe eine hirnorganisch bedingte Angststörung auf dem Boden einer langjährigen Drogenanamnese. Soweit ein Depersonalisationssyndrom und eine Derealisationssyndrom geltend gemacht werde, könnten diese das Merkzeichen nicht begründen, da es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hierfür nicht auf den Grad der geistigen Aufnahmefähigkeit ankomme. Die körperlichen Beschwerden seien ausweislich der Aussagen der Chirurgen W. und Dr. D. nicht so ausgeprägt, als dass der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei. Der Kläger könne auch nicht einwenden, dass die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen durchgehend stillsitzen oder stillstehen über mehr als 30 Minuten erfordere, was ihm aufgrund seiner Bewegungseinschränkungen, des chronischen Schmerzsyndroms und wegen der von Dr. W. attestierten Drangblasensymptomatik nicht möglich sei. Denn es verbleibe insoweit ein nennenswerter Bereich öffentlicher Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer auch aufstehen und herumgehen könnten. Gleiches gelte für die Schwerhörigkeit und den attestierten Tinnitus, welche es nach dem Vortrag des Klägers diesem teilweise unmöglich machten, einem Vortrag, Konzert oder ähnlichem zu folgen. Denn er gehöre nicht zu den hörgeschädigten Menschen, die gehörlos seien oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich sei und die bereits deshalb die Voraussetzungen des Merkzeichens RF erfüllten. Auch die angeführten Angstzustände bzw. die Angsterkrankung könnten nicht die Überzeugung begründen, dass der Kläger allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei. Dr. R. habe in seinen beiden Aussagen ausgeführt, dass der Kläger wegen Ängsten vor dem Alleinsein und Überforderung und Reizüberflutungen in Gruppen bereits im Wartezimmer nicht in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies könne jedoch nicht überzeugen, da der Kläger selbst in seiner Klagebegründung als Grund für die fehlende Möglichkeit der Teilnahme nicht etwa die Ängste, sondern eine komplexe PTBS, die mit Depersonalisationsyndromen, also Entfremdungserlebnissen, einhergehe, angegeben habe. Er empfinde sich losgelöst von seinen Gefühlen und seinem Körper. Es sei daher nicht nachvollziehbar, wie in diesem Falle zugleich eine Angststörung eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unmöglich machen sollte. Die Angsterkrankung habe der Kläger bezeichnenderweise erst nach Vorliegen der Aussagen von Dr. L. und Dr. R. in einer ergänzenden Klagebegründung geltend gemacht. Auch die Ausführungen von Dr. H. könnten nicht überzeugen. Der Kläger selbst habe angegeben, dass er an den seltenen Tagen mit keinen oder nur geringen Beschwerden mit einer Begleitperson an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne, dass dies jedoch durch seine psychische Erkrankung, die Ohrgeräusche und starke Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule und des rechten Beines überwiegend nicht der Fall sei. Er verlasse phasenweise das Haus nicht und nehme Arzttermine in Begleitung wahr. Dies alles lasse jedoch den Rückschluss zu, dass es dem Kläger jedenfalls phasenweise möglich sei, tatsächlich das Haus zu verlassen - wenn auch in Begleitung -, und es ihm möglich sei, bestimmte öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Bei Würdigung dieser Angaben des Klägers könne sich das Gericht auch in Zusammenschau mit dem Gutachten und den Zeugenaussagen nicht davon überzeugen, dass der Kläger in dem von der Rechtsprechung geforderten Maße faktisch an das Haus gebunden sei. Auch der Stellungnahme der Sozialpädagogin Frau B. lasse sich entnehmen, dass der Kläger, wenn auch unregelmäßig, das Kontaktcafé besuche, was zeige, dass er eben nicht faktisch an das Haus gebunden sei.
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Gegen das am 20.02.2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20.03.2013 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, das Gericht habe die Verschlechterung der gesundheitlichen Lage und die Zunahme und Vertiefung der Funktionsbeeinträchtigungen in dem Zeitraum zwischen Antragstellung und gerichtlicher Entscheidung nicht berücksichtigt, sondern dem klageabweisenden Urteil teilweise durch neue medizinische Befunde inzwischen überholte ärztliche Einschätzungen aus früheren Jahren zugrunde gelegt. Man habe seine konkrete Situation nicht berücksichtigt. Übersehen habe man auch, dass die Funktionsbeeinträchtigungen auf körperlichem Gebiet ein „gelegentliches Herumgehen“ kaum zuließen. Er sei auf die Nutzung von Unterarmgehstützen sowie auf ein Sauerstoffgerät angewiesen. Eine Fortbewegung außerhalb seiner Wohnung ohne Hilfsperson sei nahezu unmöglich und selbst mit Hilfe Dritter noch äußerst beschwerlich, zudem er angesichts seiner Drangblasensymptomatik teilweise mehrmals in der Stunde die Toilette aufsuchen müsse. Bereits der Gedanke daran, bei öffentlichen Veranstaltungen gegenüber einer Vielzahl ihm unbekannter Personen in der beschriebenen Fortbewegungsweise aufzufallen und dort in eine hilflose oder völlig überfordernde Lage zu geraten, würde bei ihm starke Angstgefühle und Panik auslösen, so dass er nicht imstande sei, angesichts dieser Vorstellung sich überhaupt noch zu einer öffentlichen Veranstaltung zu begeben.
21 
Der Kläger beantragt,
22 
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Januar 2013 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 1. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2010 zu verurteilen, bei ihm ab dem 1. Februar 2010 die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ festzustellen.
23 
Der Beklagte beantragt,
24 
die Berufung zurückzuwiesen.
25 
Der Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
26 
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 06.12.2013 mitgeteilt, die gesundheitliche Situation des Klägers habe sich weiter verschlechtert, da er nun auf ein größeres Sauerstoffgerät angewiesen sei. Sie hat einen vorläufigen Ambulanzbericht der Pneumologischen Ambulanz der Universitätsklinik F. vom 29.11.2013 vorgelegt, wo der Kläger sich am 07.11.2013 und 21.11.2013 vorgestellt hat (COPD Stadium IV, Barrett Ösophagus, Z.n. Soorösophagitis, Polytoxikomanie, Z.n. multiplen Operationen bei diversen Traumata, Z.n. ChE). Ausweislich des Berichts hat der Kläger bei einer am 07.11.2012 durchgeführten Ganzkörperplethysmografie unter anderem einen Lungenfunktionswert FEV 1 von 0,78 l (21% des Sollwerts) erreicht.
27 
In einer hierauf vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme hat Dr. W. unter anderem ausgeführt, dass der Kläger trotz deutlicher Lungenfunktionseinschränkung im 6-Minuten-Gehtest immerhin noch 454 m habe gehen können. Die Lungenfunktionsstörung sei daher nicht so ausgeprägt, dass man in Zusammenschau mit den übrigen Gesundheitsstörungen davon ausgehen müsse, dass ein Besuch öffentlicher Veranstaltungen zumutbar unmöglich sei. Der Kläger sei auch mit einem leicht auffüllbaren transportablen Tank für unterwegs ausgestattet. Zur Harndrangsymptomatik sei zu sagen, dass es dem Kläger für den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zumutbar sei, Windelhosen zu tragen.
28 
Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
29 
Die Berufung ist gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Sie wurde nach § 151 Abs. 1 SGG auch form- und fristgemäß erhoben. Ausweislich des Fax-Empfangsvermerks des Sozialgerichts Freiburg ging der Berufungsschriftsatz dort am 20.03.2013, also fristgemäß ein.
30 
Nachdem der Rechtsstreit durch ein angenommenes Teilanerkenntnis bezüglich des Merkzeichens B erledigt wurde, ist streitbefangen allein die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF ab dem 01.02.2010. Im Übrigen wurde die erstinstanzliche Entscheidung nicht angefochten.
31 
Die Berufung ist auch insoweit begründet, als dem Kläger ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF ab dem 23.11.2010 zusteht. Insoweit waren das klageabweisende Urteil des SG und die Bescheide des Beklagten abzuändern, da der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Im Übrigen ist die Berufung jedoch unbegründet. Zu einem früheren Zeitpunkt steht die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens nicht zu.
32 
Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX). Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF besteht, ist in § 69 Abs. 5 SGB IX geregelt, wonach auf Antrag des behinderten Menschen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die gesundheitlichen Merkmale ausstellen.
33 
Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF besteht, ist in § 69 Abs. 5 SGB IX i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg für die Zeit bis 31.12.2012 in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gilt. Für die Zeit ab dem 01.01.2013 regelt dies nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen haben sich im Vergleich zu den nach § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 RGebStV geltenden Voraussetzungen jedoch nicht geändert. So besteht nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 7a RGebStV) ein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF für blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von (wenigstens) 60 allein wegen der Sehbehinderung, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 7b RGebStV) für hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist und nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 8 RGebStV) für behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
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Zur Überzeugung des Senates sind bei dem Kläger die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV erfüllt. Unstreitig liegt ihm zunächst nicht nur ein GdB von 80, sondern wie mit Bescheid vom 01.10.2009 festgestellt, ein GdB von 100 vor. Er kann auch wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen.
35 
Der Kläger leidet unter einer hirnorganisch bedingten generalisierten Angststörung auf dem Boden einer langjährigen Drogenanamnese sowie einer zusätzlich überlagernden ängstlich depressiven Symptomatik. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. H. und der sachverständigen Zeugenaussage des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. R.. Übereinstimmend haben beide Ärzte mitgeteilt, dass der Kläger nicht in der Lage ist, während er auf die Untersuchung wartet, im normalen Wartezimmer mit den anderen Patienten Platz zu nehmen. Dr. H. hat hierzu ausgeführt, der Kläger habe dabei blass, schwitzig und deutlich ängstlich gewirkt. Dr. H. hat in Bezug auf die Untersuchung, welche sich nach seinen Angaben sehr schwierig gestaltet hat, mitgeteilt, der Kläger sei sehr konzentrationsgestört und könne teilweise dem Verlauf der Unterhaltung nicht folgen. Er sei sehr rasch irritierbar und emotional kaum schwingungsfähig. Ebenso hat Dr. R. mitgeteilt, dass der Kläger aufgrund seiner Ängste schnell überfordert und reizüberflutet sei, was zu dem von Dr. H. erhobenen Befund passt. Soweit die Beratungsärzte des Beklagten das Vorliegen einer Angsterkrankung nicht als nachgewiesen angesehen haben, so ist dem entgegen zu halten, dass die beiden Fachärzte, welche den Kläger in der persönlichen Situation untersucht und begutachtet haben, eine solche Angstsymptomatik diagnostiziert haben. Der Senat misst hier dem Eindruck aufgrund der persönlichen Untersuchung einen höheren Wert bei, als demjenigen, welcher allein auf die Aktenlage gestützt ist. Ebenso wie Dr. H. hat auch Dr. R. bei dem Kläger eine chronische Verunsicherung, Traurigkeit, Affektlabilität, Antriebsprobleme und Konzentrationsstörungen festgestellt. Soweit das SG in der Entscheidung sich nicht davon überzeugen konnte, dass eine solche Angstsymptomatik vorliegt, sondern dem Kläger vorhält, er habe anfangs angegeben, er leide unter einem Depersonalisations- und Derealisationssyndrom, so vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Die Entscheidung über das vorliegende Leiden ist nicht auf die laienhafte Auffassung des Klägers zu gründen, sondern das Gericht hat sich zur Aufklärung des Sachverhaltes des medizinischen Sachverstandes der behandelnden Ärzte oder Gutachter zu bedienen. Soweit die Beratungsärzte des Beklagten Bezug nehmen auf den Rehabilitationsentlassungsbericht der Klinik B. vom 07.08.2009, wo der Kläger sich in der Zeit von Juli 2008 bis Oktober 2008 aufgehalten hat, hat sich die psychische Situation des Klägers seither geändert. Dies ist eindeutig dem Gutachten von Dr. H. zu entnehmen. Hatte der Kläger damals noch eine Partnerschaft, so ist diese mittlerweile gescheitert und er von seiner Ehefrau geschieden. Der Kläger hatte damals auch eine Ausbildung als Suchthelfer absolviert und auf 400-EUR-Basis beim Caritasverband L. gearbeitet (siehe Rehabilitationsentlassungsbericht Seite 4). Mittlerweile hat sich auch ausweislich des Berichtes des Dr. R. durch das Vorliegen der überlagernden depressiven Symptomatik die Angstsymptomatik deutlich zugespitzt, so dass eine Änderung in der psychischen Situation des Klägers für den Senat nachvollziehbar ist (siehe sachverständige Zeugenaussage Dr. R. vom 30.11.2010 zur Frage 9).
36 
Mit diesem psychischen Leiden, welches nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auch geeignet ist, die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF zu erfüllen (BSG, Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R, SozR 4-3250, § 69 Nr. 4 und ihm folgend LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.10.2012 - L 13 SB 56/12), ist der Kläger nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
37 
Generell gilt, dass der Betroffene wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein muss, welche in diesem Sinne Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wirtschaftlicher, sportlicher, kirchlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art sein können (BSG, Urteil vom 11.09.1991 - 9 a/9 RVS 15/98). Eine Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist dann unmöglich, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann (BSG, Urteil vom 10.08.1993 - 9/9a RVs 7/91).
38 
Der Kläger kann aufgrund des bei ihm bestehenden psychischen Leidens allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit der öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen und ist damit faktisch von der Teilnahme ausgeschlossen. Der Senat stützt sich auf die Einschätzung des Gutachters Dr. H. und des behandelnden Facharztes Dr. R.. Beide sind aufgrund einer persönlichen Untersuchung und Begutachtung zu dem Schluss gekommen, dass es dem Kläger aufgrund seiner Angst und depressiven Symptomatik nicht möglich ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dem Kläger ist es noch nicht einmal möglich, im Wartezimmer des behandelnden Arztes zu sitzen. Er muss in einem separaten Wartezimmer untergebracht werden. Das geht so weit, dass er sogar auf Grundsicherungsleistungen verzichtet hat, weil er den Gang zum Amt nicht machen kann und ihm das persönliche Erscheinen unmöglich ist. Er hat im Rahmen der Begutachtung auch keine sozialen Kontakte angegeben, was von seiner Betreuerin, der Sozialarbeiterin Frau B., bestätigt wird. Soweit der Kläger noch zum Arzt geht, ergibt sich daraus nichts anderes, denn der Arztbesuch ist keine öffentliche Veranstaltung und mit dieser nicht vergleichbar. Die Arzt-Patienten-Beziehung findet in einem geschützten und langjährig bekannten Raum statt, wie dies die dem Kläger behandelnde Ärzte bestätigt haben und basiert auf einem Vertrauensverhältnis zwischen Therapeuten und Patienten, in dem auf die Bedürfnisse des Klägers eingegangen werden kann, was für den Kläger im Rahmen seiner Angsterkrankung sehr wichtig ist. Nicht einmal in dieser behüteten Situation ist es dem Kläger möglich, sich mit anderen, ihm fremden Menschen im Wartezimmer zu konfrontieren. Nach Ansicht des Senates steht der Annahme der Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch nicht entgegen, dass der Kläger ausweislich des Berichtes von Dr. R. nach Beendigung der einzeltherapeutischen Psychotherapie erwägt hat, eine Gruppentherapie zu machen. Hier gilt das für die Arzt-Patienten-Beziehung Gesagte. Eine Gruppentherapie stellt keine öffentliche Veranstaltung im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dar. Ähnlich verhält es sich nach Überzeugung des Senats mit der unregelmäßigen Teilnahme des Klägers am Kontaktcafé der Drogenberatungsstelle „Drehscheibe“. Zum einen stellt dies nur einen ganz unwesentlichen Teil an Veranstaltungen dar und zum anderen handelt es sich hier wieder um eine behütete Beziehung in einem festen und für den Kläger berechenbaren Rahmen. So hat die Sozialpädagogin Frau B. ausgeführt, dass er dort den Kontakt mit den Mitarbeitern sucht und auch Beratungsgespräche wahrnimmt. Eine Kontaktaufnahme mit dort anwesenden Fremden findet nicht statt. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht mehr möglich ist, an öffentlichen Veranstaltungen in einem Mindestmaß allein wegen seines psychischen Leidens teilzunehmen. Der Kläger erfüllt damit die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens RF. Daher kann offenbleiben, ob im Fall des Klägers in der Zusammenschau aller Gesundheitsstörungen nicht ohnehin ausnahmsweise diese Voraussetzungen vorliegen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.01.2013 - L 3 SB 3862/12).
39 
Allerdings sind die Voraussetzungen nicht bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung im Juli 2009 nachgewiesen. Wie bereits oben dargestellt, ist der Senat davon überzeugt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers nach Entlassung aus der Rehabilitationsmaßnahme im Oktober 2008 verschlechtert hat. 2008 war dem Kläger eine Tätigkeit als Suchthelfer und eine Partnerschaft noch möglich. Der behandelnde Arzt Dr. R. hat auch darauf hingewiesen, dass sich gerade durch die Veränderung in der Depression die Situation zugespitzt hat. In seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 30.11.2010 hat Dr. R. den 23.11.2010 als letztes Untersuchungsdatum genannt und darauf hingewiesen, dass sich das ausgeprägte Vermeidungsverhalten im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung und den damit assoziierten Ängsten aufgrund der sich chronifizierten depressiven Entwicklung deutlich zugespitzt hat. Der Senat geht daher davon aus, dass im Rahmen der Verschlechterung nach 2008 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF am 23.11.2010 nachgewiesen sind und der Kläger ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllt. Zu einem früheren Datum ist der Nachweis dieser Voraussetzungen nicht erfolgt. Aus den im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundberichten ergibt sich eine solche massive Angstsymptomatik nicht. Im Berufungsverfahren war die Zuerkennung ohnehin erst ab dem 1. Februar 2010 beantragt.
40 
Das klageabweisende Urteil war daher insoweit abzuändern, als es die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF auch ab dem 23.11.2010 verneint. Im Übrigen ist die Entscheidung nicht zu beanstanden.
41 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es ist in der Regel billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt. Bei teilweisem Erfolg wird eine Quotelung angemessen sein (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 10. Aufl., § 193 Rz. 12a). Der Kläger konnte insgesamt mit dem Schwerpunkt seiner Berufung durchdringen, wenn auch nicht für den gesamten beantragten Zeitraum. Der Beklagte hat zunächst die Voraussetzungen zu Recht verneint, dann aber auf eine eingetretene Änderung nicht adäquat reagiert. Es ist daher billig, dass der Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers nicht ganz, sondern nur zu drei Vierteln zu tragen hat.
42 
Die Revision war nicht zuzulassen, da kein Grund des § 160 Abs. 2 SGG vorliegt.

Gründe

 
29 
Die Berufung ist gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Sie wurde nach § 151 Abs. 1 SGG auch form- und fristgemäß erhoben. Ausweislich des Fax-Empfangsvermerks des Sozialgerichts Freiburg ging der Berufungsschriftsatz dort am 20.03.2013, also fristgemäß ein.
30 
Nachdem der Rechtsstreit durch ein angenommenes Teilanerkenntnis bezüglich des Merkzeichens B erledigt wurde, ist streitbefangen allein die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF ab dem 01.02.2010. Im Übrigen wurde die erstinstanzliche Entscheidung nicht angefochten.
31 
Die Berufung ist auch insoweit begründet, als dem Kläger ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF ab dem 23.11.2010 zusteht. Insoweit waren das klageabweisende Urteil des SG und die Bescheide des Beklagten abzuändern, da der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Im Übrigen ist die Berufung jedoch unbegründet. Zu einem früheren Zeitpunkt steht die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens nicht zu.
32 
Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX). Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF besteht, ist in § 69 Abs. 5 SGB IX geregelt, wonach auf Antrag des behinderten Menschen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die gesundheitlichen Merkmale ausstellen.
33 
Unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF besteht, ist in § 69 Abs. 5 SGB IX i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg für die Zeit bis 31.12.2012 in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gilt. Für die Zeit ab dem 01.01.2013 regelt dies nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen haben sich im Vergleich zu den nach § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 RGebStV geltenden Voraussetzungen jedoch nicht geändert. So besteht nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 7a RGebStV) ein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF für blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von (wenigstens) 60 allein wegen der Sehbehinderung, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 7b RGebStV) für hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist und nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV (früher § 6 Abs. 1 Nr. 8 RGebStV) für behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
34 
Zur Überzeugung des Senates sind bei dem Kläger die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV erfüllt. Unstreitig liegt ihm zunächst nicht nur ein GdB von 80, sondern wie mit Bescheid vom 01.10.2009 festgestellt, ein GdB von 100 vor. Er kann auch wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen.
35 
Der Kläger leidet unter einer hirnorganisch bedingten generalisierten Angststörung auf dem Boden einer langjährigen Drogenanamnese sowie einer zusätzlich überlagernden ängstlich depressiven Symptomatik. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. H. und der sachverständigen Zeugenaussage des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. R.. Übereinstimmend haben beide Ärzte mitgeteilt, dass der Kläger nicht in der Lage ist, während er auf die Untersuchung wartet, im normalen Wartezimmer mit den anderen Patienten Platz zu nehmen. Dr. H. hat hierzu ausgeführt, der Kläger habe dabei blass, schwitzig und deutlich ängstlich gewirkt. Dr. H. hat in Bezug auf die Untersuchung, welche sich nach seinen Angaben sehr schwierig gestaltet hat, mitgeteilt, der Kläger sei sehr konzentrationsgestört und könne teilweise dem Verlauf der Unterhaltung nicht folgen. Er sei sehr rasch irritierbar und emotional kaum schwingungsfähig. Ebenso hat Dr. R. mitgeteilt, dass der Kläger aufgrund seiner Ängste schnell überfordert und reizüberflutet sei, was zu dem von Dr. H. erhobenen Befund passt. Soweit die Beratungsärzte des Beklagten das Vorliegen einer Angsterkrankung nicht als nachgewiesen angesehen haben, so ist dem entgegen zu halten, dass die beiden Fachärzte, welche den Kläger in der persönlichen Situation untersucht und begutachtet haben, eine solche Angstsymptomatik diagnostiziert haben. Der Senat misst hier dem Eindruck aufgrund der persönlichen Untersuchung einen höheren Wert bei, als demjenigen, welcher allein auf die Aktenlage gestützt ist. Ebenso wie Dr. H. hat auch Dr. R. bei dem Kläger eine chronische Verunsicherung, Traurigkeit, Affektlabilität, Antriebsprobleme und Konzentrationsstörungen festgestellt. Soweit das SG in der Entscheidung sich nicht davon überzeugen konnte, dass eine solche Angstsymptomatik vorliegt, sondern dem Kläger vorhält, er habe anfangs angegeben, er leide unter einem Depersonalisations- und Derealisationssyndrom, so vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Die Entscheidung über das vorliegende Leiden ist nicht auf die laienhafte Auffassung des Klägers zu gründen, sondern das Gericht hat sich zur Aufklärung des Sachverhaltes des medizinischen Sachverstandes der behandelnden Ärzte oder Gutachter zu bedienen. Soweit die Beratungsärzte des Beklagten Bezug nehmen auf den Rehabilitationsentlassungsbericht der Klinik B. vom 07.08.2009, wo der Kläger sich in der Zeit von Juli 2008 bis Oktober 2008 aufgehalten hat, hat sich die psychische Situation des Klägers seither geändert. Dies ist eindeutig dem Gutachten von Dr. H. zu entnehmen. Hatte der Kläger damals noch eine Partnerschaft, so ist diese mittlerweile gescheitert und er von seiner Ehefrau geschieden. Der Kläger hatte damals auch eine Ausbildung als Suchthelfer absolviert und auf 400-EUR-Basis beim Caritasverband L. gearbeitet (siehe Rehabilitationsentlassungsbericht Seite 4). Mittlerweile hat sich auch ausweislich des Berichtes des Dr. R. durch das Vorliegen der überlagernden depressiven Symptomatik die Angstsymptomatik deutlich zugespitzt, so dass eine Änderung in der psychischen Situation des Klägers für den Senat nachvollziehbar ist (siehe sachverständige Zeugenaussage Dr. R. vom 30.11.2010 zur Frage 9).
36 
Mit diesem psychischen Leiden, welches nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes auch geeignet ist, die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF zu erfüllen (BSG, Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R, SozR 4-3250, § 69 Nr. 4 und ihm folgend LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.10.2012 - L 13 SB 56/12), ist der Kläger nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
37 
Generell gilt, dass der Betroffene wegen seiner Leiden allgemein und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein muss, welche in diesem Sinne Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wirtschaftlicher, sportlicher, kirchlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art sein können (BSG, Urteil vom 11.09.1991 - 9 a/9 RVS 15/98). Eine Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist dann unmöglich, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann (BSG, Urteil vom 10.08.1993 - 9/9a RVs 7/91).
38 
Der Kläger kann aufgrund des bei ihm bestehenden psychischen Leidens allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit der öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen und ist damit faktisch von der Teilnahme ausgeschlossen. Der Senat stützt sich auf die Einschätzung des Gutachters Dr. H. und des behandelnden Facharztes Dr. R.. Beide sind aufgrund einer persönlichen Untersuchung und Begutachtung zu dem Schluss gekommen, dass es dem Kläger aufgrund seiner Angst und depressiven Symptomatik nicht möglich ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dem Kläger ist es noch nicht einmal möglich, im Wartezimmer des behandelnden Arztes zu sitzen. Er muss in einem separaten Wartezimmer untergebracht werden. Das geht so weit, dass er sogar auf Grundsicherungsleistungen verzichtet hat, weil er den Gang zum Amt nicht machen kann und ihm das persönliche Erscheinen unmöglich ist. Er hat im Rahmen der Begutachtung auch keine sozialen Kontakte angegeben, was von seiner Betreuerin, der Sozialarbeiterin Frau B., bestätigt wird. Soweit der Kläger noch zum Arzt geht, ergibt sich daraus nichts anderes, denn der Arztbesuch ist keine öffentliche Veranstaltung und mit dieser nicht vergleichbar. Die Arzt-Patienten-Beziehung findet in einem geschützten und langjährig bekannten Raum statt, wie dies die dem Kläger behandelnde Ärzte bestätigt haben und basiert auf einem Vertrauensverhältnis zwischen Therapeuten und Patienten, in dem auf die Bedürfnisse des Klägers eingegangen werden kann, was für den Kläger im Rahmen seiner Angsterkrankung sehr wichtig ist. Nicht einmal in dieser behüteten Situation ist es dem Kläger möglich, sich mit anderen, ihm fremden Menschen im Wartezimmer zu konfrontieren. Nach Ansicht des Senates steht der Annahme der Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch nicht entgegen, dass der Kläger ausweislich des Berichtes von Dr. R. nach Beendigung der einzeltherapeutischen Psychotherapie erwägt hat, eine Gruppentherapie zu machen. Hier gilt das für die Arzt-Patienten-Beziehung Gesagte. Eine Gruppentherapie stellt keine öffentliche Veranstaltung im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dar. Ähnlich verhält es sich nach Überzeugung des Senats mit der unregelmäßigen Teilnahme des Klägers am Kontaktcafé der Drogenberatungsstelle „Drehscheibe“. Zum einen stellt dies nur einen ganz unwesentlichen Teil an Veranstaltungen dar und zum anderen handelt es sich hier wieder um eine behütete Beziehung in einem festen und für den Kläger berechenbaren Rahmen. So hat die Sozialpädagogin Frau B. ausgeführt, dass er dort den Kontakt mit den Mitarbeitern sucht und auch Beratungsgespräche wahrnimmt. Eine Kontaktaufnahme mit dort anwesenden Fremden findet nicht statt. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht mehr möglich ist, an öffentlichen Veranstaltungen in einem Mindestmaß allein wegen seines psychischen Leidens teilzunehmen. Der Kläger erfüllt damit die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens RF. Daher kann offenbleiben, ob im Fall des Klägers in der Zusammenschau aller Gesundheitsstörungen nicht ohnehin ausnahmsweise diese Voraussetzungen vorliegen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.01.2013 - L 3 SB 3862/12).
39 
Allerdings sind die Voraussetzungen nicht bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung im Juli 2009 nachgewiesen. Wie bereits oben dargestellt, ist der Senat davon überzeugt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers nach Entlassung aus der Rehabilitationsmaßnahme im Oktober 2008 verschlechtert hat. 2008 war dem Kläger eine Tätigkeit als Suchthelfer und eine Partnerschaft noch möglich. Der behandelnde Arzt Dr. R. hat auch darauf hingewiesen, dass sich gerade durch die Veränderung in der Depression die Situation zugespitzt hat. In seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 30.11.2010 hat Dr. R. den 23.11.2010 als letztes Untersuchungsdatum genannt und darauf hingewiesen, dass sich das ausgeprägte Vermeidungsverhalten im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung und den damit assoziierten Ängsten aufgrund der sich chronifizierten depressiven Entwicklung deutlich zugespitzt hat. Der Senat geht daher davon aus, dass im Rahmen der Verschlechterung nach 2008 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF am 23.11.2010 nachgewiesen sind und der Kläger ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllt. Zu einem früheren Datum ist der Nachweis dieser Voraussetzungen nicht erfolgt. Aus den im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundberichten ergibt sich eine solche massive Angstsymptomatik nicht. Im Berufungsverfahren war die Zuerkennung ohnehin erst ab dem 1. Februar 2010 beantragt.
40 
Das klageabweisende Urteil war daher insoweit abzuändern, als es die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF auch ab dem 23.11.2010 verneint. Im Übrigen ist die Entscheidung nicht zu beanstanden.
41 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es ist in der Regel billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt. Bei teilweisem Erfolg wird eine Quotelung angemessen sein (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 10. Aufl., § 193 Rz. 12a). Der Kläger konnte insgesamt mit dem Schwerpunkt seiner Berufung durchdringen, wenn auch nicht für den gesamten beantragten Zeitraum. Der Beklagte hat zunächst die Voraussetzungen zu Recht verneint, dann aber auf eine eingetretene Änderung nicht adäquat reagiert. Es ist daher billig, dass der Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers nicht ganz, sondern nur zu drei Vierteln zu tragen hat.
42 
Die Revision war nicht zuzulassen, da kein Grund des § 160 Abs. 2 SGG vorliegt.

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 19. Dez. 2013 - L 6 SB 1436/13 zitiert 9 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 69 Kontinuität der Bemessungsgrundlage


Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnun

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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 16. Jan. 2013 - L 3 SB 3862/12

bei uns veröffentlicht am 16.01.2013

Tenor 1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei

Bundessozialgericht Urteil, 16. Feb. 2012 - B 9 SB 2/11 R

bei uns veröffentlicht am 16.02.2012

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeiche

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(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens RF.

2

Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München II/Außenstelle Regensburg - Versorgungsamt - vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt - vom 18.2.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, Bl, H, RF, Gl, 1. Kl. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach Schleswig-Holstein bat der Kläger das dortige Landesamt für soziale Dienste im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 SGB X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 SGB X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 abgelehnt wurde.

3

Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF gerichteten Klage hat das Sozialgericht Itzehoe (SG) - nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem GdB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):

4

Das Gutachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen Grundlage das SG den GdB des Klägers mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen sozialen Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

5

Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8ÄndG SH) vom 3.1.2005 (GVBl S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer Kraft getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF jedoch gleich geblieben. Befreit würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.

6

Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF von einem Mindest-GdB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.

7

Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die Grundvoraussetzung eines GdB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des Klägers ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich RF unabhängig von einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-GdB von 80 die Grundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die Grundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des Klägers erweise sich dagegen die Grundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die Gewährung von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.

8

Zur Begründung seiner vom Bundessozialgericht (BSG) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: Gerügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 Nr 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RdFunkGebStVtr) idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8. Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen RF nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein GdB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LSG verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 RdFunkVtr8ÄndG SH sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-GdB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht zwingend ausschließen.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13.4.2010 und des SG Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

11

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunkGebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der Gebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen.

14

In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichens RF dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des LSG ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 SGB IX).

15

Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006) beschiedenen Antrag des Klägers handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 SGB X enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 als rechtmäßig erweist, in der Zeit danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das LSG - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers in der Zeit ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des Klägers von Bayern nach Schleswig-Holstein - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.

16

Der insoweit einschlägige § 44 SGB X bestimmt in seinen Abs 1 und 2:

(1)     

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2)     

Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

17

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 5.1.2005 erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 SGB X. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 SGB X nicht anwendbar ist(vgl Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 SGB X ist(vgl BSGE 69, 14, 16 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von bayerischen Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).

18

§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl BSGE 88, 75, 81 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 136; BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84).

19

Bei Bekanntgabe des in Bayern erlassenen Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 richtete sich die Zuerkennung des Merkzeichens RF nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606) treffen die (für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX). Nach § 70 SGB IX ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

20

Seinerzeit galt in Bayern noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RdFunkGebBefrV BY) vom 21.7.1992 (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 Nr 3 wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien(§ 2 RdFunkGebBefrV BY). Der vom LSG im Hinblick auf Umzug des Klägers nach Schleswig-Holstein angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8 vom 15.10.2004, dem Schleswig-Holstein durch das RdFunkVtr8ÄndG SH vom 3.1.2005 (GVBl S 14) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer Kraft getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der RdFunkGebBefrV BY kann der Senat als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 102).

21

§ 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum RdFunkÄndVtr8, LT-Drucks BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum RdFunkVtr8ÄndG SH, LT-Drucks SH 15/3747 S 57) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die AHP ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.

22

Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der Mindest-GdB von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des Mindest-GdB grundsätzlich entfallen kann.

23

Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 RdFunkGebBefrV BY eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen(vgl dazu allgemein auch BVerfG <2. Kammer des Ersten Senats> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu BSG SozR 3-3100 § 89 BVG Nr 3 S 8; BSGE 59, 111, 115 f = SozR 1300 § 48 Nr 19 S 39 f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris RdNr 25).

24

Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 RdFunkGebBefrV BY die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen(§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY, sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 RdFunkGebBefrV BY erfüllte.

25

Die für die Zuerkennung des Merkzeichens RF im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des BSG (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 3 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 103 f) -gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl II 2008, 1419), das seit dem 26.3.2009 in Deutschland in Kraft ist (vgl Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen Telefontarifen (zB Sozialtarif der Deutschen Telekom) ermöglicht (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 104; BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 RdNr 29 ff).

26

Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das Merkzeichen RF zustand, vermag der erkennende Senat nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des LSG zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Das LSG hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 S 65 f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der Senat die hier erforderlichen, vom LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 SGG), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

27

Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006. Auch auf diesem Wege gelangt der Senat nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der Zeit zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 und dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die RdFunkGebBefrV BY gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am 9.2.2005 in Bayern bekannt gemachten Art 5 Nr 10 RdFunkÄndVtr8 (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des Klägers nach Schleswig-Holstein dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des RdFunkVtr8ÄndG SH anzuwenden war. § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 RdFunkGebBefrV BY. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 SGB X, die bei der Bescheiderteilung im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 SGB X zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.

28

Sollte das LSG bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die Zeit ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu BSG SozR 1300 § 48 Nr 31) beschränkt wäre oder sich - wie das SG angenommen hat - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom Ersten des Monats an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der Landesrundfunkanstalt (bzw bei der von den Landesrundfunkanstalten beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird(vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.

29

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. Verringerung der Rundfunkbeitragspflicht) festzustellen.

2. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Der am … 1957 geborene Kläger hatte am 15.02.2010 die Erhöhung des bei ihm bislang anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 100 sowie die Zuerkennung diverser Merkzeichen, darunter „RF“, beantragt. Als Behinderungen waren damals anerkannt eine Colitis ulcerosa (Einzel-GdB 70), eine posttraumatische Belastungsstörung mit Persönlichkeitsstörung und Depression (Einzel-GdB 30) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (20). Den Antrag lehnte das Versorgungsamt beim Landratsamt Göppingen (LRA) mit Bescheid vom 08.06.2010 insgesamt ab. Im Widerspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die psychische Erkrankung des Klägers als Folge einer Inhaftierung in der früheren DDR nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt und als solche mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 (insgesamt 50 unter Einschluss einer Erhöhung um 10 Punkte wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) bewertet worden war. Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 29.07.2010 einen Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid, mit dem er den Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 auf 90 anhob und den Widerspruch im Übrigen, auch hinsichtlich der Merkzeichen, zurückwies. In dem anschließenden Klageverfahren (S 14 SB 2936/10) holte das Sozialgericht Ulm (SG) schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärztinnen Dr. B. vom 21.02.2011 und Dr. v. A. vom 10.03.2011 ein. Dr. B. sagte dort aus, der Kläger könne nicht zwischen Stuhl- und Luftdrang unterscheiden, er sei daher ständig darauf bedacht, dass eine Toilette unmittelbar erreichbar sei und folge dem nicht differenzierbaren Drang panisch. Insbesondere nach Durchfall-Episoden mit Stuhlinkontinenz und Erbrechen habe sich bei ihm eine sehr krankhafte phobische Zwang- und Angstreaktion entwickelt. Er habe sein Leben um erreichbare Toiletten herum organisiert. Er vermeide Aktivitäten mit unklarer Erreichbarkeit von Toiletten. Oft rufe schon der Gedanke, eine Toilette sei nicht in kürzester Zeit erreichbar, massiven Stuhldrang hervor. Im Nachgang hierzu verglichen sich die Beteiligten dahin, dass der Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 100 betrage, jedoch keine Merkzeichen beständen. Dem entsprechenden Angebot des beklagten Landes hatte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C. vom 29.03.2011 zu Grunde gelegen, worin bei gleichbleibenden Einzel-GdB ein Gesamt-GdB von 100 vorgeschlagen und zum Merkzeichen „RF“ ausgeführt worden war, bei öffentlichen Veranstaltungen sei „in der Regel“ eine Toilette ständig erreichbar. Den Ausführungsbescheid zu diesem Vergleich erließ das LRA am 07.06.2011. Darin ist auch ausgeführt, das bereits zuvor zuerkannte Merkzeichen „G“ (gehbehindert) bleibe zuerkannt.
Am 25.07.2011 beantragte der Kläger bei dem LRA erneut die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“. Er berief sich auf die schriftlichen Aussagen seiner behandelnden Ärzte in dem vorangegangenen Klageverfahren. Er trug vor, Dr. C.s Annahmen zum Merkzeichen „RF“ in der Stellungnahme vom 29.03.2011 seien völlig lebensfremd. Mit Bescheid des LRA vom 28.07.2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts des beklagten Landes vom 16.08.2011 wurde der Antrag abgelehnt.
Am 28.08.2011 hat der Kläger Klage zum SG erhoben. Er wolle sich selbst nicht zumuten, in einem Konzert neben sich zu sitzen. Nicht immer sei eine Toilette unmittelbar erreichbar. Es komme vor, dass er auf dem Weg zur Toilette ungewollt Stuhl oder stinkende Luft verliere. Dr. B. und Dr. v. A. hätten eindeutig bestätigt, dass ihm - dem Kläger - das Merkzeichen „RF“ zuerkannt werden müsse.
Das SG hat die beiden genannten Ärztinnen erneut als Zeugen vernommen. Dr. B. hat unter dem 12.12.2011 bekundet, sie behandle den Kläger seit 1990 hausärztlich; der Kläger wirke auf seine Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend, z. B. durch Geruchsbelästigungen durch Stuhlinkontinenz und unkontrollierten Abgang von Blähungen; es beständen eine schwere Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung und zwanghafte Phobien; der Kläger erscheine in ihrer Praxis allein. Dr. v. A. hat in ihrer Aussage vom 27.12.2011 angegeben, sie behandle den Kläger seit 2004 psychotherapeutisch, die Sitzungen fänden wegen des Gesundheitszustandes des Klägers in größeren Abständen statt; der Kläger habe Stuhlinkontinenzen und unkontrollierten Abgang von Luft, ferner unter anderem eine zwanghafte Phobie vor öffentlichen Toiletten, er komme zu den therapeutischen Sitzungen allein.
Die Angabe der Zeugin Dr. B., er sei - immer - allein in ihrer Praxis erschienen, hat der Kläger unter dem 05.01.2012 bestritten, er komme regelmäßig mit seinem Lebenspartner, der ebenfalls bei Dr. B. in Behandlung sei.
Auf Nachfrage des SG haben die beiden Ärztinnen erneut ausgesagt. Dr. v. A. hat unter dem 27.02.2012 bekundet, der Kläger warte in der Wartezone für durchschnittlich fünf bis zehn Minuten; eine Toilette sei in der Praxis frei zugänglich; er begegne in der Praxis sowohl Mitarbeitern als auch Mitpatienten; eine Sitzung dauere 50 min, der Kläger halte diese Zeit oft nicht durch und müsse zwischendurch zur Toilette gehen; der Kläger unterliege dem Zwang, dass eine Toilette ständig erreichbar sein müsse, ansonsten entwickelten sich massive Ängste, die ihn dazu brächten, die Veranstaltung zu verlassen oder gar nicht erst hinzugehen. Dr. B. hat mit Schreiben vom 01.03.2012 mitgeteilt, der Kläger warte durchschnittlich 15 min im Wartezimmer; die Toilette sei frei zugänglich; er begegne Mitarbeitern und anderen Patienten; die Termine dauerten 15 bis 20 min; der Kläger gehe zur Toilette, wenn er in die Praxis komme und bevor er sie verlasse, zum Teil auch zwischendurch; er könne wegen seiner Phobien an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen; die Colitis ulcerosa werde richtlinienkonform mit Imurek, Azulfidine und während eines Schubs mit Cortison behandelt.
Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 02.05.2012 ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Das Merkzeichen „RF“ sei nicht zuzuerkennen, dies gelte auch im Hinblick auf die Benutzung von Windelhosen; eine diesbezügliche Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch den Sozialstaatsgrundsatz.
Diesen Ausführungen Dr. D. ist der Kläger unter dem 22.05.2012 entgegengetreten. Insbesondere hat er ausgeführt, auch Windelhosen hielten gegen Gerüche und ggfs. Fäkalien nicht dicht.
10 
Mit Urteil im schriftlichen Verfahren vom 15.08.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt:
11 
Die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ seien nach § 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gelte. Die Voraussetzungen des § 6 Nr. 7 RGebStV (Blindheit, Hörbehinderung) lägen nicht vor. Der Nachteilsausgleich stehe nach § 6 Nr. 8 RGebStV aber auch schwerbehinderten Menschen zu, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen sei; er müsse praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen könne, sei er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (Verweis u. a. auf BSG, Urt. v. 11.01.1991, 9a/9 RVs 15/89, Juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2011, L 8 SB 2294/10, Juris Rn. 35 ff.).
12 
Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Die wesentliche Beeinträchtigung folge insoweit aus der Colitis ulcerosa. Der Kläger könne zwar Stuhl- und Luftabgänge nicht unterscheiden. Auch leide er an Phobien. Er sei daher zwar in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Jedoch sei er nicht vollends an seine Wohnung gebunden. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen benutze der Kläger in den Praxen die dortigen Toiletten, die auch andere Patienten benutzt hätten. Auch könnten diese Toiletten aktuell von anderen Patienten besetzt sein. Trotzdem könne der Kläger mehr als 30 min in den Praxen verbringen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen seien Toiletten (in gleichem Maße) jederzeit erreichbar. Ferner stehe der unkontrollierte Abgang von Luft oder Stuhl der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegen. Beide Ärztinnen hätten insoweit keine Beeinträchtigungen durch den Kläger bekundet. Die Sitzungen bei Dr. v. A. dauerten sogar 50 min. Die Ärztinnen hätten lediglich diesbezügliche Befürchtungen des Klägers geschildert, jedoch kein tatsächliches Auftreten. Im Übrigen sei es behinderten Menschen mit Inkontinenzen stets zumutbar, Hilfsmittel zu verwenden, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Damit sei nicht zwingend eine Geruchsbelästigung verbunden. Der Kläger könne auch auf Veranstaltungen eine Toilette aufsuchen und die Einlagen bzw. Windelhosen wechseln. Dies sei zwar bei Veranstaltungen, auf denen längere Zeit gesessen werde, nur eingeschränkt möglich. Bei Zoo- oder Museumsbesuchen, Sport- oder Stadtfesten könne ein solcher Wechsel der Hilfsmittel aber zugemutet werden (Verweis auf Bayerisches LSG, Urt. v. 19.04.2011, L 15 SB 95/08, Juris Rn. 41 m.w.N.). Diese Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch das Sozialstaatsprinzip (Verweis auf BSG, Urt. v. 09.08.1995, 9 RVs 3/95, Juris Rn. 12). Die funktionsgerechte Benutzung eines üblichen Hilfsmittels mildere im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen der Behinderung.
13 
Gegen dieses Urteil, das ihm am 17.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.09.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe vor 2001 versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen und dabei Stuhlinkontinenzen gehabt. Es sei ihm als 55-jährigem nicht zumutbar, Windelhosen zu benutzen; diese schützen ohnehin nicht vor Gestank. Er behauptet, er habe seit Anfang Juli einen akuten Schub der seit 1991 bekannten Colitis ulcerosa mit 35 Stuhlabgängen, davon 10 des nachts, und ungewollten Urinabgängen, vermischt mit Blut und Schleim, sehr dünnflüssig, gehabt. Hinzu kämen starke Schmerzen bei Stuhl- und Luftabgängen mit Erbrechen. Er habe - ausgehend von 95 kg bei 190 m Körpergröße - in kurzer Zeit 15 kg Körpergewicht verloren. Er habe zunächst täglich 280 mg Cortison, 400 mg Imurek, 4 x 2 Azulfidine und Ferro Sanol genommen. Seit dem 08.09.2012 nehme er 55 mg Cortison täglich. Er habe zwischenzeitlich wieder 5 kg zugenommen. Hierzu legt der Kläger Arztbriefe des Gastroenterologen Dr. E. vom 24.09.2012 und des Pathologen Dr. O. vom 20.09.2012 vor. Der Kläger trägt weiter vor, wegen des Imureks sei er extrem infektanfällig, auch deswegen müsse er öffentliche Veranstaltungen meiden. Er verweist auf die Urteile der Landessozialgerichte Rheinland-Pfalz (L 4 SB 224/05 v. 29.03.2006) und Niedersachsen-Bremen (L 9 SB 97/99 v. 18.12.2001).
14 
Der Kläger beantragt,
15 
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 zu verpflichten, bei ihm ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festzustellen.
16 
Der Beklagte beantragt,
17 
die Berufung zurückzuweisen.
18 
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
19 
Der Kläger hat sich zuletzt mit Schriftsatz vom 26.09.2012, der Beklagte unter dem 25.10.2012 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Gründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens RF.

2

Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München II/Außenstelle Regensburg - Versorgungsamt - vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt - vom 18.2.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, Bl, H, RF, Gl, 1. Kl. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach Schleswig-Holstein bat der Kläger das dortige Landesamt für soziale Dienste im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 SGB X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 SGB X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 abgelehnt wurde.

3

Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF gerichteten Klage hat das Sozialgericht Itzehoe (SG) - nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem GdB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):

4

Das Gutachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen Grundlage das SG den GdB des Klägers mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen sozialen Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

5

Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8ÄndG SH) vom 3.1.2005 (GVBl S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer Kraft getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF jedoch gleich geblieben. Befreit würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.

6

Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF von einem Mindest-GdB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.

7

Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die Grundvoraussetzung eines GdB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des Klägers ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich RF unabhängig von einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-GdB von 80 die Grundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die Grundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des Klägers erweise sich dagegen die Grundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die Gewährung von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.

8

Zur Begründung seiner vom Bundessozialgericht (BSG) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: Gerügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 Nr 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RdFunkGebStVtr) idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8. Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen RF nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein GdB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LSG verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 RdFunkVtr8ÄndG SH sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-GdB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht zwingend ausschließen.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13.4.2010 und des SG Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

11

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunkGebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der Gebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen.

14

In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichens RF dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des LSG ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 SGB IX).

15

Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006) beschiedenen Antrag des Klägers handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 SGB X enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 als rechtmäßig erweist, in der Zeit danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das LSG - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers in der Zeit ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des Klägers von Bayern nach Schleswig-Holstein - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.

16

Der insoweit einschlägige § 44 SGB X bestimmt in seinen Abs 1 und 2:

(1)     

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2)     

Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

17

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 5.1.2005 erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 SGB X. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 SGB X nicht anwendbar ist(vgl Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 SGB X ist(vgl BSGE 69, 14, 16 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von bayerischen Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).

18

§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl BSGE 88, 75, 81 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 136; BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84).

19

Bei Bekanntgabe des in Bayern erlassenen Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 richtete sich die Zuerkennung des Merkzeichens RF nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606) treffen die (für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX). Nach § 70 SGB IX ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

20

Seinerzeit galt in Bayern noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RdFunkGebBefrV BY) vom 21.7.1992 (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 Nr 3 wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien(§ 2 RdFunkGebBefrV BY). Der vom LSG im Hinblick auf Umzug des Klägers nach Schleswig-Holstein angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8 vom 15.10.2004, dem Schleswig-Holstein durch das RdFunkVtr8ÄndG SH vom 3.1.2005 (GVBl S 14) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer Kraft getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der RdFunkGebBefrV BY kann der Senat als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 102).

21

§ 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum RdFunkÄndVtr8, LT-Drucks BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum RdFunkVtr8ÄndG SH, LT-Drucks SH 15/3747 S 57) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die AHP ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.

22

Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der Mindest-GdB von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des Mindest-GdB grundsätzlich entfallen kann.

23

Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 RdFunkGebBefrV BY eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen(vgl dazu allgemein auch BVerfG <2. Kammer des Ersten Senats> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu BSG SozR 3-3100 § 89 BVG Nr 3 S 8; BSGE 59, 111, 115 f = SozR 1300 § 48 Nr 19 S 39 f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris RdNr 25).

24

Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 RdFunkGebBefrV BY die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen(§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY, sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 RdFunkGebBefrV BY erfüllte.

25

Die für die Zuerkennung des Merkzeichens RF im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des BSG (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 3 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 103 f) -gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl II 2008, 1419), das seit dem 26.3.2009 in Deutschland in Kraft ist (vgl Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen Telefontarifen (zB Sozialtarif der Deutschen Telekom) ermöglicht (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 104; BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 RdNr 29 ff).

26

Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das Merkzeichen RF zustand, vermag der erkennende Senat nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des LSG zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Das LSG hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 S 65 f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der Senat die hier erforderlichen, vom LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 SGG), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

27

Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006. Auch auf diesem Wege gelangt der Senat nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der Zeit zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 und dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die RdFunkGebBefrV BY gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am 9.2.2005 in Bayern bekannt gemachten Art 5 Nr 10 RdFunkÄndVtr8 (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des Klägers nach Schleswig-Holstein dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des RdFunkVtr8ÄndG SH anzuwenden war. § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 RdFunkGebBefrV BY. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 SGB X, die bei der Bescheiderteilung im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 SGB X zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.

28

Sollte das LSG bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die Zeit ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu BSG SozR 1300 § 48 Nr 31) beschränkt wäre oder sich - wie das SG angenommen hat - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom Ersten des Monats an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der Landesrundfunkanstalt (bzw bei der von den Landesrundfunkanstalten beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird(vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.

29

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. Verringerung der Rundfunkbeitragspflicht) festzustellen.

2. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Der am … 1957 geborene Kläger hatte am 15.02.2010 die Erhöhung des bei ihm bislang anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 100 sowie die Zuerkennung diverser Merkzeichen, darunter „RF“, beantragt. Als Behinderungen waren damals anerkannt eine Colitis ulcerosa (Einzel-GdB 70), eine posttraumatische Belastungsstörung mit Persönlichkeitsstörung und Depression (Einzel-GdB 30) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (20). Den Antrag lehnte das Versorgungsamt beim Landratsamt Göppingen (LRA) mit Bescheid vom 08.06.2010 insgesamt ab. Im Widerspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die psychische Erkrankung des Klägers als Folge einer Inhaftierung in der früheren DDR nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt und als solche mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 (insgesamt 50 unter Einschluss einer Erhöhung um 10 Punkte wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) bewertet worden war. Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 29.07.2010 einen Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid, mit dem er den Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 auf 90 anhob und den Widerspruch im Übrigen, auch hinsichtlich der Merkzeichen, zurückwies. In dem anschließenden Klageverfahren (S 14 SB 2936/10) holte das Sozialgericht Ulm (SG) schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärztinnen Dr. B. vom 21.02.2011 und Dr. v. A. vom 10.03.2011 ein. Dr. B. sagte dort aus, der Kläger könne nicht zwischen Stuhl- und Luftdrang unterscheiden, er sei daher ständig darauf bedacht, dass eine Toilette unmittelbar erreichbar sei und folge dem nicht differenzierbaren Drang panisch. Insbesondere nach Durchfall-Episoden mit Stuhlinkontinenz und Erbrechen habe sich bei ihm eine sehr krankhafte phobische Zwang- und Angstreaktion entwickelt. Er habe sein Leben um erreichbare Toiletten herum organisiert. Er vermeide Aktivitäten mit unklarer Erreichbarkeit von Toiletten. Oft rufe schon der Gedanke, eine Toilette sei nicht in kürzester Zeit erreichbar, massiven Stuhldrang hervor. Im Nachgang hierzu verglichen sich die Beteiligten dahin, dass der Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 100 betrage, jedoch keine Merkzeichen beständen. Dem entsprechenden Angebot des beklagten Landes hatte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C. vom 29.03.2011 zu Grunde gelegen, worin bei gleichbleibenden Einzel-GdB ein Gesamt-GdB von 100 vorgeschlagen und zum Merkzeichen „RF“ ausgeführt worden war, bei öffentlichen Veranstaltungen sei „in der Regel“ eine Toilette ständig erreichbar. Den Ausführungsbescheid zu diesem Vergleich erließ das LRA am 07.06.2011. Darin ist auch ausgeführt, das bereits zuvor zuerkannte Merkzeichen „G“ (gehbehindert) bleibe zuerkannt.
Am 25.07.2011 beantragte der Kläger bei dem LRA erneut die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“. Er berief sich auf die schriftlichen Aussagen seiner behandelnden Ärzte in dem vorangegangenen Klageverfahren. Er trug vor, Dr. C.s Annahmen zum Merkzeichen „RF“ in der Stellungnahme vom 29.03.2011 seien völlig lebensfremd. Mit Bescheid des LRA vom 28.07.2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts des beklagten Landes vom 16.08.2011 wurde der Antrag abgelehnt.
Am 28.08.2011 hat der Kläger Klage zum SG erhoben. Er wolle sich selbst nicht zumuten, in einem Konzert neben sich zu sitzen. Nicht immer sei eine Toilette unmittelbar erreichbar. Es komme vor, dass er auf dem Weg zur Toilette ungewollt Stuhl oder stinkende Luft verliere. Dr. B. und Dr. v. A. hätten eindeutig bestätigt, dass ihm - dem Kläger - das Merkzeichen „RF“ zuerkannt werden müsse.
Das SG hat die beiden genannten Ärztinnen erneut als Zeugen vernommen. Dr. B. hat unter dem 12.12.2011 bekundet, sie behandle den Kläger seit 1990 hausärztlich; der Kläger wirke auf seine Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend, z. B. durch Geruchsbelästigungen durch Stuhlinkontinenz und unkontrollierten Abgang von Blähungen; es beständen eine schwere Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung und zwanghafte Phobien; der Kläger erscheine in ihrer Praxis allein. Dr. v. A. hat in ihrer Aussage vom 27.12.2011 angegeben, sie behandle den Kläger seit 2004 psychotherapeutisch, die Sitzungen fänden wegen des Gesundheitszustandes des Klägers in größeren Abständen statt; der Kläger habe Stuhlinkontinenzen und unkontrollierten Abgang von Luft, ferner unter anderem eine zwanghafte Phobie vor öffentlichen Toiletten, er komme zu den therapeutischen Sitzungen allein.
Die Angabe der Zeugin Dr. B., er sei - immer - allein in ihrer Praxis erschienen, hat der Kläger unter dem 05.01.2012 bestritten, er komme regelmäßig mit seinem Lebenspartner, der ebenfalls bei Dr. B. in Behandlung sei.
Auf Nachfrage des SG haben die beiden Ärztinnen erneut ausgesagt. Dr. v. A. hat unter dem 27.02.2012 bekundet, der Kläger warte in der Wartezone für durchschnittlich fünf bis zehn Minuten; eine Toilette sei in der Praxis frei zugänglich; er begegne in der Praxis sowohl Mitarbeitern als auch Mitpatienten; eine Sitzung dauere 50 min, der Kläger halte diese Zeit oft nicht durch und müsse zwischendurch zur Toilette gehen; der Kläger unterliege dem Zwang, dass eine Toilette ständig erreichbar sein müsse, ansonsten entwickelten sich massive Ängste, die ihn dazu brächten, die Veranstaltung zu verlassen oder gar nicht erst hinzugehen. Dr. B. hat mit Schreiben vom 01.03.2012 mitgeteilt, der Kläger warte durchschnittlich 15 min im Wartezimmer; die Toilette sei frei zugänglich; er begegne Mitarbeitern und anderen Patienten; die Termine dauerten 15 bis 20 min; der Kläger gehe zur Toilette, wenn er in die Praxis komme und bevor er sie verlasse, zum Teil auch zwischendurch; er könne wegen seiner Phobien an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen; die Colitis ulcerosa werde richtlinienkonform mit Imurek, Azulfidine und während eines Schubs mit Cortison behandelt.
Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 02.05.2012 ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Das Merkzeichen „RF“ sei nicht zuzuerkennen, dies gelte auch im Hinblick auf die Benutzung von Windelhosen; eine diesbezügliche Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch den Sozialstaatsgrundsatz.
Diesen Ausführungen Dr. D. ist der Kläger unter dem 22.05.2012 entgegengetreten. Insbesondere hat er ausgeführt, auch Windelhosen hielten gegen Gerüche und ggfs. Fäkalien nicht dicht.
10 
Mit Urteil im schriftlichen Verfahren vom 15.08.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt:
11 
Die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ seien nach § 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gelte. Die Voraussetzungen des § 6 Nr. 7 RGebStV (Blindheit, Hörbehinderung) lägen nicht vor. Der Nachteilsausgleich stehe nach § 6 Nr. 8 RGebStV aber auch schwerbehinderten Menschen zu, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen sei; er müsse praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen könne, sei er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (Verweis u. a. auf BSG, Urt. v. 11.01.1991, 9a/9 RVs 15/89, Juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2011, L 8 SB 2294/10, Juris Rn. 35 ff.).
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Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Die wesentliche Beeinträchtigung folge insoweit aus der Colitis ulcerosa. Der Kläger könne zwar Stuhl- und Luftabgänge nicht unterscheiden. Auch leide er an Phobien. Er sei daher zwar in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Jedoch sei er nicht vollends an seine Wohnung gebunden. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen benutze der Kläger in den Praxen die dortigen Toiletten, die auch andere Patienten benutzt hätten. Auch könnten diese Toiletten aktuell von anderen Patienten besetzt sein. Trotzdem könne der Kläger mehr als 30 min in den Praxen verbringen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen seien Toiletten (in gleichem Maße) jederzeit erreichbar. Ferner stehe der unkontrollierte Abgang von Luft oder Stuhl der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegen. Beide Ärztinnen hätten insoweit keine Beeinträchtigungen durch den Kläger bekundet. Die Sitzungen bei Dr. v. A. dauerten sogar 50 min. Die Ärztinnen hätten lediglich diesbezügliche Befürchtungen des Klägers geschildert, jedoch kein tatsächliches Auftreten. Im Übrigen sei es behinderten Menschen mit Inkontinenzen stets zumutbar, Hilfsmittel zu verwenden, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Damit sei nicht zwingend eine Geruchsbelästigung verbunden. Der Kläger könne auch auf Veranstaltungen eine Toilette aufsuchen und die Einlagen bzw. Windelhosen wechseln. Dies sei zwar bei Veranstaltungen, auf denen längere Zeit gesessen werde, nur eingeschränkt möglich. Bei Zoo- oder Museumsbesuchen, Sport- oder Stadtfesten könne ein solcher Wechsel der Hilfsmittel aber zugemutet werden (Verweis auf Bayerisches LSG, Urt. v. 19.04.2011, L 15 SB 95/08, Juris Rn. 41 m.w.N.). Diese Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch das Sozialstaatsprinzip (Verweis auf BSG, Urt. v. 09.08.1995, 9 RVs 3/95, Juris Rn. 12). Die funktionsgerechte Benutzung eines üblichen Hilfsmittels mildere im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen der Behinderung.
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Gegen dieses Urteil, das ihm am 17.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.09.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe vor 2001 versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen und dabei Stuhlinkontinenzen gehabt. Es sei ihm als 55-jährigem nicht zumutbar, Windelhosen zu benutzen; diese schützen ohnehin nicht vor Gestank. Er behauptet, er habe seit Anfang Juli einen akuten Schub der seit 1991 bekannten Colitis ulcerosa mit 35 Stuhlabgängen, davon 10 des nachts, und ungewollten Urinabgängen, vermischt mit Blut und Schleim, sehr dünnflüssig, gehabt. Hinzu kämen starke Schmerzen bei Stuhl- und Luftabgängen mit Erbrechen. Er habe - ausgehend von 95 kg bei 190 m Körpergröße - in kurzer Zeit 15 kg Körpergewicht verloren. Er habe zunächst täglich 280 mg Cortison, 400 mg Imurek, 4 x 2 Azulfidine und Ferro Sanol genommen. Seit dem 08.09.2012 nehme er 55 mg Cortison täglich. Er habe zwischenzeitlich wieder 5 kg zugenommen. Hierzu legt der Kläger Arztbriefe des Gastroenterologen Dr. E. vom 24.09.2012 und des Pathologen Dr. O. vom 20.09.2012 vor. Der Kläger trägt weiter vor, wegen des Imureks sei er extrem infektanfällig, auch deswegen müsse er öffentliche Veranstaltungen meiden. Er verweist auf die Urteile der Landessozialgerichte Rheinland-Pfalz (L 4 SB 224/05 v. 29.03.2006) und Niedersachsen-Bremen (L 9 SB 97/99 v. 18.12.2001).
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 zu verpflichten, bei ihm ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festzustellen.
16 
Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
18 
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
19 
Der Kläger hat sich zuletzt mit Schriftsatz vom 26.09.2012, der Beklagte unter dem 25.10.2012 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Gründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
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Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
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bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
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Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
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Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
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cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
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Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
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Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
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Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
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Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
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dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
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c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
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2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
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3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.