vorgehend
Landgericht Cottbus, 4 O 328/06, 25.02.2009

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X Z R 7 6 / 1 3 Verkündet am:
3. Februar 2015
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Stabilisierung der Wasserqualität

a) Ob eine Erfindung so deutlich und vollständig offenbart ist, dass ein Fachmann
sie ausführen kann, ist ebenso eine Rechtsfrage wie die Frage, ob
dem Gegenstand eines Patents Patentfähigkeit zukommt.

b) Die Ausführbarkeit der in einem Patentanspruch umschriebenen technischen
Lehre darf nicht mit der Erreichbarkeit derjenigen Vorteile gleichgesetzt werden
, die der Erfindung in der Beschreibung zugeschrieben werden.
BGH, Urteil vom 3. Februar 2015 - X ZR 76/13 - OLG Brandenburg
LG Cottbus
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 3. Februar 2015 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck,
die Richter Dr. Grabinski, Dr. Bacher und Hoffmann sowie die Richterin
Dr. Kober-Dehm

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. April 2013 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage in Höhe von 25.143,45 € sowie hinsichtlich des Feststellungsantrages abgewiesen worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten Schadensersatz wegen Schlechterfüllung eines zwischen den Parteien geschlossenen Patentanwaltsvertrages.
2
Die Klägerin war Inhaberin des deutschen Patents 100 44 261, das der Beklagte am 7. September 2000 in ihrem Auftrag anmeldete und dessen Ertei- lung am 9. Januar 2003 veröffentlicht wurde. Patentanspruch 1, dem fünf weitere Sachansprüche nachgeordnet sind, hat folgenden Wortlaut: Vorrichtung zur Stabilisierung der Wasserqualität fremdwassergefluteter Restlochseen von Braunkohlentagebauen, dadurch gekennzeichnet , dass im Kippengelände (2) in Grundwasserfließrichtung (F) vor dem zu schützenden Gewässer (S) in einer quer zur Grundwasserfließrichtung verlaufenden Reihe eine Anzahl von Einrichtungen zum Eintrag von alkalischen Flüssigkeiten in den Grundwasserbereich angeordnet sind, deren Auslassöffnungen (41) im Bereich der Grundwasserschichten angeordnet sind, deren Zulauf über eine Pumpe (3) und Rohrleitungen (4) mit einem Behälter (1) oder einer Lösestation für Kalkmilch verbunden ist.
3
Das Patent ist ferner mit fünf Verfahrensansprüchen erteilt worden, die wie folgt lauten: 7. Verfahren zur Stabilisierung der Wasserqualität fremdwassergefluteter Restlochseen von Braunkohlentagebauen, dadurch gekennzeichnet, dass schwefel-saure Kippen-Grundwässer im angrenzenden Kippengelände (2) saniert werden, indem quer zur Grundwasserfließrichtung (F) in ein flächiges Volumen zur Immobilisierung von im Grundwasser vorhandenen und im Restlochsee schädigend wirkenden Substanzen ein geeignetes Neutralisationsmittel in angemessener Menge als wässrige Lösung oder Suspension eingepresst wird. 8. Verfahren nach Anspruch 7, dadurch gekennzeichnet, dass als Neutralisationsmittel kalziumhydroxid- und/oder kalziumkarbonathaltige wässrige Lösungen oder Suspensionen verwendet werden. 9. Verfahren nach Anspruch 7 und/oder 8, dadurch gekennzeichnet , dass die Einpressung der neutralisierenden Substanzen kontinuierlich über einen längeren Zeitraum bis zum Abschluss der Flutung oder bis zur Stabilisierung der Seewasserqualität erfolgt.
10. Verfahren nach Anspruch 7 und/oder 8, dadurch gekennzeichnet , dass die Einpressung der neutralisierenden Substanzen als Depot erfolgt, indem bei der Verdichtung der rutschungsgefährdeten Zonen der späteren Uferbereiche mittels Rütteldruckverdichtung über die verwendeten Rüttellanzen Suspensionen von langsam löslichen, zur Neutralisation geeigneten Substanzen in die durchströmten Schichten eingelagert werden. 11. Verfahren nach einem oder mehreren der voranstehenden Ansprüche 7 bis 10, dadurch gekennzeichnet, dass sowohl bei der Eigenwasser- als auch bei der Fremdwasserflutung von Tagebaurestlochseen nach Einstellung der für die Sulfatreduktion erforderlichen Redoxpotential-Bereiche die Kippen-Grundwasserleiter über die vorhandenen Injektionseinrichtungen mit sulfatreduzierenden Bakterien geimpft werden.
4
Infolge eines Versehens bezahlte der Beklagte die Jahresgebühr für das Jahr 2002 auch innerhalb der Nachfrist nicht, weshalb das Patent mit Wirkung vom 1. April 2003 erlosch. Einen Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in die versäumte Zahlungsfrist wies das Deutsche Patent- und Markenamt bestandskräftig zurück. Gegen das Patent war am 7. April 2003 unmittelbar beim Bundespatentgericht Einspruch erhoben worden. Im Hinblick auf das Erlöschen des Patents behandelte das Bundespatentgericht das Einspruchsverfahren als in der Hauptsache für erledigt.
5
Im Frühjahr 2004 veranlasste die Klägerin, die von dem Beklagten vom Erlöschen des Patents nicht unterrichtet worden war, die praktische Erprobung der Erfindung in einer Versuchsanlage.
6
Die Klägerin hat vom Beklagten die Erstattung für Arbeiten Dritter gezahlter 7.980,13 € zuzüglich Umsatzsteuer sowie eigener Kosten in Höhe von 15.599,50 € begehrt, die sie nutzlos für die Erprobung aufgewandt habe. Ferner hat sie Schadensersatz für entgangene Lizenzgebühren in Höhe von 25.143,45 € sowie die Feststellung begehrt, dass der Beklagte zum Ersatz sämtlicher weiterer Schäden durch das Erlöschen des ihr erteilten Patents verpflichtet ist.
7
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat nur insoweit Erfolg gehabt, als das Berufungsgericht den Beklagten zur Zahlung von 7.980,13 € verurteilt hat.
8
Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die Anträge auf Verurteilung des Beklagten zur Zahlung weiterer 25.143,45 €, die sie in erster Linie auf entgangene Lizenzgebühren, hilfsweise in Höhe von 15.599,50 € auf die geltend gemachten nutzlosen Aufwendungen stützt, sowie auf Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten weiter. Der Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe:


9
I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
10
Die Klage sei nur begründet, soweit die Klägerin vom Beklagten die Erstattung von 7.980,13 € für vergebliche Entwicklungskosten verlange. Denn der Beklagte sei der Klägerin nach den auf den Fall anwendbaren Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung unter dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung des zwischen den Parteien bestehenden Geschäftsbesorgungsvertrages zum Ersatz verpflichtet. Der Beklagte habe es versäumt, die Klägerin unverzüglich über das Erlöschen des Patents zu unterrichten. Wäre der Beklagte dieser Pflicht rechtzeitig nachgekommen, hätte die Klägerin nach ihrem vom Beklagten nicht wi- derlegten Vorbringen die praktische Erprobung der patentgemäßen Lehre nicht mehr in Auftrag gegeben und die diesbezüglichen Aufwendungen erspart. Da die Klägerin vorsteuerabzugsberechtigt sei, könne sie indessen lediglich Ersatz des Nettobetrages verlangen. Soweit sie die Erstattung von Personalkosten in Höhe von 15.599,50 € geltend gemacht habe, sei diese Schadensposition nicht hinreichend substantiiert dargetan worden.
11
Eine Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz weiterer Schäden bestehe nicht. Insbesondere seien der Klägerin keine Lizenzgebühren oder sonstige Verwertungserlöse entgangen. Denn es stehe aufgrund des schriftlichen Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen und dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die durch das Patent geschützte Erfindung weder ausführbar noch neu sei und das Patent im Einspruchsverfahren widerrufen worden wäre, wenn sich das Verfahren nicht infolge seines Erlöschens erledigt hätte.
12
II. Diese Beurteilung hält, soweit sie angefochten wird, der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
13
1. Die Annahme des Berufungsgerichts, das vom Beklagten verschuldete vorzeitige Erlöschen des Patents habe deshalb nicht zum Verlust von Lizenzgebühren geführt, weil das Patent andernfalls in dem anhängigen Einspruchsverfahren zu widerrufen gewesen wäre, ist in mehrfacher Hinsicht nicht rechtsfehlerfrei.
14
a) Ohne Erfolg rügt die Revision allerdings, das Berufungsgericht habe den entscheidungserheblichen Umstand übergangen, dass der Einspruch hätte verworfen werden müssen, da er an das Patentgericht gerichtet und nicht beim Deutschen Patent- und Markenamt eingegangen sei.
15
aa) Zutreffend ist der Ausgangspunkt der Revision. Für das am 9. Januar 2003 erteilte Patent und den am 7. April 2003 beim Patentgericht eingegangenen Einspruch galt § 147 PatG in der Fassung vom 19. Juli 2002. Nach § 147 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 PatG dieser Fassung hatte zwar das Patentgericht über Einsprüche zu entscheiden, wenn die Einspruchsfrist wie hier nach dem 1. Januar 2002 begonnen hat und der Einspruch vor dem 1. Januar 2005 eingelegt worden ist. Eingelegt werden musste der Einspruch aber nach § 147 Abs. 3 Satz 3 PatG beim Deutschen Patent- und Markenamt. Dies ist ausweislich des Einspruchsschreibens, auf das das Berufungsurteil Bezug nimmt, nicht geschehen.
16
bb) Wegen der Einreichung unmittelbar beim Patentgericht hätte der Einspruch aber schon deshalb nicht als unzulässig verworfen werden dürfen, weil die Einspruchsfrist bei Eingang des Einspruchs noch zwei Tage lief. Der Einspruch hätte in dieser Zeit an das Patentamt weitergeleitet werden können und müssen.
17
In Fällen offensichtlich fehlender eigener Zuständigkeit stellt es für die Funktionsfähigkeit des Gerichts keine übermäßige Belastung dar, in Fürsorge für die Verfahrensbeteiligten einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten (BVerfG, NJW 2006, 1579). Ist eine Rechtsbehelfsschrift an das mit dem Ausgangsrechtsstreit befasste Gericht statt an das zuständige Rechtsmittelgericht gesendet worden, gebietet es die nachwirkende prozessuale Fürsorgepflicht generell, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten, da die Ermittlung des richtigen Adressaten mit keinen Schwierigkeiten verbunden ist (BVerfG, NJW 1995, 3173, 3175). Im Anschluss an diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof eine Pflicht zur Weiterleitung insbesondere für den Fall bejaht, dass Ausgangs- und Berufungsgericht über eine gemeinsame Posteingangsstelle verfügen, sodass eine Weiterleitung im normalen Geschäftsgang unproblematisch möglich ist (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1997 - II ZR 85/97, NJW 1998, 908).
18
Danach hätte es die prozessuale Fürsorgepflicht im Streitfall geboten, den Einspruch im normalen Geschäftsgang an das Patentamt weiterzuleiten. Für das Patentgericht wäre aufgrund der durch die mit der Übergangsregelung des § 147 PatG geschaffenen Rechtslage zweifelsfrei erkennbar gewesen, dass für die Entgegennahme eines Einspruchs nach wie vor das Amt zuständig war. Einer Ermittlung des für die Entgegennahme der Einspruchsschrift zuständigen Adressaten hätte es nicht bedurft. Die Weiterleitung hätte die Ressourcen des Patentgerichts auch deshalb nicht in unzumutbarer Weise belastet, weil die Weiterleitung aufgrund der örtlichen Nähe des Patentgerichts und des Patentamtes sowie des zwischen ihnen für den Postverkehr eingerichteten Pendelverkehrs ohne weiteres noch innerhalb der verbleibenden Frist möglich gewesen wäre.
19
cc) Es kann deshalb offenbleiben, ob, wie die Revision meint, die sich auf eine zu dieser Frage ergangene Entscheidung des Bundespatentgerichts (Beschluss vom 15. September 2008 - 17 W (pat) 303/06, juris) beruft, eine Einreichung beim Patentgericht zur Unzulässigkeit eines Einspruchs geführt hat.
20
b) Mit Erfolg greift die Revision die Annahme des Berufungsgerichts an, das Patent sei zu widerrufen gewesen, weil die Erfindung mangels Neuheit nicht patentfähig und ferner nicht so deutlich und vollständig offenbart gewesen sei, dass ein Fachmann sie habe ausführen können (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 und 2 PatG).
21
aa) Das Patent betrifft eine Vorrichtung und ein Verfahren zur Sanierung des Landschaftswasserhaushalts in Gebieten, in denen der Braunkohletagebau zu einer Absenkung des Grundwasserspiegels geführt hat.
22
Wie die Beschreibung erläutert, liegen die Sohlen der nach Aufgabe des Tagebaus entstehenden Seen, deren Uferböschungen abgeflacht und durch Verdichtung gegen Abrutschen gesichert werden müssen, in der Regel unter dem Grundwasserspiegel der Umgebung. Die durch Eigenwasseraufgang gefluteten Seen seien infolge der in den tertiären Sedimenten weit verbreiteten Eisendisulfide, die bei Sauerstoffzutritt - mikrobiell katalysiert - zu Schwefelsäure oxidierten, in der Regel äußerst sauer und mit Schwermetallen kontaminiert. Die gängigen Methoden zur Alkalisierung solcher Gewässer durch Kalk seien aus verschiedenen Gründen problematisch. Die aus der Eisendisulfidoxidation und dem Eintrag schwefelsaurer Sickerwässer in die Kippengrundwasserleiter resultierenden Belastungen seien solange von wasserwirtschaftlicher Bedeutung , wie sie nicht durch immobilisierende Prozesse, vorzugsweise durch Eisen - und Schwefelreduktion sowie die Bildung von Eisensulfiden, kompensiert werden könnten. Dies sei jedoch zumeist ein sehr langwieriger Prozess, bedingt durch sehr niedrige pH-Werte, hohe Redoxpotentiale und sehr niedrige Lebendzellzahlen sulfatreduzierender Bakterien.
23
Als Aufgabe der Erfindung nennt die Beschreibung, eine Vorrichtung und ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, mit denen möglichst mit Beginn der Flutung ein für eine wasserwirtschaftliche Nutzung verwendbares Oberflächenwasser bereitgestellt wird.
24
Die "Vorrichtung zur Stabilisierung der Wasserqualität fremdwassergefluteter Restlochseen von Braunkohlentagebauen", die hierzu in Patentanspruch 1 vorgeschlagen wird, weist folgende Merkmale auf: 1. Es ist eine Anzahl von Einrichtungen zum Eintrag von alkalischen Flüssigkeiten in den Grundwasserbereich vorgesehen. 2. Die Einrichtungen sind 2.1 im Kippengelände (2) in Grundwasserfließrichtung (F) vor dem zu schützenden Gewässer (S) und 2.2 in einer quer zur Grundwasserfließrichtung verlaufenden Reihe angeordnet, 3. Die Einrichtungen 3.1 weisen im Bereich der Grundwasserschichten angeordnete Auslassöffnungen (41) auf und 3.2 haben einen Zulauf, der über eine Pumpe (3) und Rohrleitungen (4) mit einem Behälter (1) oder einer Lösestation für Kalkmilch verbunden ist.
25
Patentanspruch 5 lehrt, dass bei einer solchen Vorrichtung zusätzlich 4. durch den Eintrag von langsam löslichen Substanzen zur Neutralisierung passive hydrogeochemische Barrieren im durchströmten Untergrundquerschnitt angeordnet werden.
26
Nach Patentanspruch 6 können die passiven Barrieren durch aktive aus kontinuierlich arbeitenden Injektionseinrichtungen ergänzt werden.
27
Die Patentansprüche 7 bis 10 geben den Gegenstand der vorangehenden Ansprüche im Wesentlichen in Form eines entsprechenden Verfahrens wieder. Patentanspruch 7 stellt demgemäß ein "Verfahren zur Stabilisierung der Wasserqualität fremdwassergefluteter Restlochseen von Braunkohlentagebauen" unter Schutz, das sich wie folgt gliedern lässt: [a] Schwefel-saure Kippen-Grundwässer werden im angrenzenden Kippengelände (2) saniert. [b] Hierzu wird quer zur Grundwasserfließrichtung (F) in ein flächiges Volumen ein Neutralisationsmittel eingepresst, [ba] das zur Immobilisierung von im Grundwasser vorhandenen und im Restlochsee schädigend wirkenden Substanzen geeignet ist, [bb] in angemessener Menge [bc] als wässrige Lösung oder Suspension.
28
Patentanspruch 8 lehrt: [c] Als Neutralisationsmittel werden kalziumhydroxid- und/oder kalziumkarbonathaltige wässrige Lösungen oder Suspensionen verwendet.
29
Patentanspruch 9 sieht vor: [d] Die Einpressung der neutralisierenden Substanzen erfolgt kontinuierlich über einen längeren Zeitraum bis zum Abschluss der Flutung oder bis zur Stabilisierung der Seewasserqualität.
30
In Analogie zu den Patentansprüchen 5 und 6 gibt Patentanspruch 10 Folgendes an: [e] Die neutralisierenden Substanzen werden als Depot eingepresst , das dadurch angelegt wird, dass bei der Verdichtung der abrutschgefährdeten Zonen der späteren Uferbereiche mittels Rütteldruckverdichtung über die verwendeten Rüttellanzen Suspensionen von langsam löslichen, zur Neutralisation geeigneten Substanzen in die durchströmten Schichten eingelagert werden.
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Patentanspruch 11 lehrt schließlich, dass in Ergänzung mindestensder Verfahrensmerkmale a und b, gegebenenfalls aber auch der weiteren Verfahrensmerkmale c bis e der Patentansprüche 8 bis 10 - sowohl bei der Eigenwasser - als auch bei der Fremdwasserflutung - das Potential zur Sulfatreduzierung verbessert wird: [f] Nach Einstellung der für die Sulfatreduktion erforderlichen Redoxpotentialbereiche werden die Kippengrundwasserleiter über die vorhandenen Injektionseinrichtungen mit sulfatreduzierenden Bakterien geimpft.
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bb) Das Berufungsgericht hat die Erfindung als nicht ausführbar offenbart angesehen, weil sie voraussetze, dass eine ausreichende Menge organischer Kohlenstoff als "chemischer Treibstoff" vorhanden sei, um das Ziel der kurzfris- tigen Stabilisierung der Wasserqualität erreichen zu können. Dies sei aber nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht zwingend gewährleistet, sondern hänge von der Beschaffenheit des zu sanierenden Grundwassers ab. Zudem sei nicht praktisch nachgewiesen und durch die Patentschrift nicht belegt, sondern allenfalls theoretisch möglich, dass mit dem patentgeschützten Verfahren tatsächlich eine Verbesserung der Wasserqualität in einem kurzfristigen Zeitraum erreicht werden könne. Auf die Geschwindigkeit der Sulfatreaktion durch den als vorhanden vorausgesetzten organischen Kohlenstoff werde nicht eingegangen.
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Diese Ausführungen rechtfertigen die Annahme des Berufungsgerichts nicht, die Erfindung sei nicht ausführbar offenbart.
34
(1) Ob eine Erfindung so deutlich und vollständig offenbart ist, dass ein Fachmann sie ausführen kann, ist ebenso eine Rechtsfrage wie die Frage, ob dem Gegenstand eines Patents Patentfähigkeit zukommt (vgl. zur erfinderischen Tätigkeit: BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2011 - X ZB 6/12, GRUR 2012, 378 Rn. 16 - Installiereinrichtung II). Die Prüfung dieser Rechtsfrage darf daher nicht einem gerichtlichen Sachverständigen überlassen werden (vgl. im Hinblick auf die Auslegung eines Patentanspruchs: BGH, Urteil vom 11. Oktober 2005 - X ZR 76/04, BGHZ 164, 261 - Seitenspiegel; Urteil vom 22. Dezember 2009 - X ZR 56/08, BGHZ 184, 49 - Kettenradanordnung II). Die Inanspruchnahme sachverständiger Beratung kann vielmehr nur dazu dienen, das Gericht in die Lage zu versetzen, den für die Bejahung oder Verneinung der Ausführbarkeit maßgeblichen (technischen) Sachverhalt festzustellen und zu verstehen. Welche Sachverhaltselemente insoweit von Bedeutung sind, hängt davon ab, was Gegenstand der Patentansprüche ist. Denn es ist die in den Ansprüchen in ihrer allgemeinsten Form umschriebene technische Lehre, welche dem Fachmann in der Patentschrift so deutlich und so detailliert offenbart sein muss, wie er dies benötigt, um mit Hilfe seiner als vorhanden vorausgesetzten Fachkenntnisse diese technische Lehre der Erfindung zumindest auf einem praktisch gangbaren Weg auszuführen und hierdurch den technischen Erfolg der Erfindung zu erzielen (BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06, GRUR 2010, 901, 903 - polymerisierbare Zementmischung). Die Ermittlung des Inhalts der Patentansprüche ist ihrerseits Rechtserkenntnis, denn sie setzt voraus, dass die Patentansprüche unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen (§ 14 PatG) ausgelegt werden.
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(2) Die Beurteilung der Ausführbarkeit durch das Berufungsgericht leidet zunächst daran, dass das Berufungsurteil sich nicht im Einzelnen mit dem Inhalt der Patentansprüche und der Beschreibung befasst und nicht ermittelt, was hiernach Gegenstand des Patents ist. Das Berufungsgericht unterscheidet auch nicht zwischen der Lehre der Verfahrens- und der Sachansprüche des Patents. Schon weil dem Berufungsurteil damit nicht zu entnehmen ist, was der Fachmann überhaupt ausführen muss, um den Gegenstand eines der Sachansprüche herzustellen oder ein Verfahren anzuwenden, das in Patentanspruch 7 oder einem der ihm nachgeordneten weiteren Patentansprüche unter Schutz gestellt ist, fehlt den Ausführungen des Berufungsgerichts zu den nicht nachgewiesenen und ungeprüften Voraussetzungen der "für die Ausführung des Patents erforderlichen komplizierten chemischen Reaktionen" der unerlässliche Bezugspunkt.
36
(3) Das Berufungsgericht beachtet auch nicht, dass die Ausführbarkeit der in einem Patentanspruch umschriebenen technischen Lehre nicht mit der Erreichung derjenigen Vorteile gleichgesetzt werden darf, die dieser Lehre in der Beschreibung zugeschrieben werden. Kann ein solcher Vorteil - grundsätzlich oder unter den in der Praxis zu erwartenden Bedingungen - nicht erreicht werden, bedeutet dies jedenfalls nicht notwendigerweise, dass die technische Lehre der Erfindung nicht ausführbar offenbart ist. Dies ist sie vielmehr grundsätzlich bereits dann, wenn der Fachmann mit Hilfe seines Fachwissens in der Lage ist, den in den Sachansprüchen beschriebenen Gegenstand herzustellen und diejenigen Verfahrensschritte auszuführen, die in den Verfahrensansprüchen bezeichnet sind (BGH, Beschluss vom 28. April 1999 - X ZB 12/98, GRUR 1999, 920, 922 - Flächenschleifmaschine). Ergibt die Auslegung des Patentanspruchs , dass eine bestimmte Wirkung nicht nur ein Vorteil ist, der der Befolgung der technischen Lehre der Erfindung zugeschrieben wird, sondern notwendiger Bestandteil dieser Lehre ist und deshalb erzielt werden muss, soll die Erfindung als ausgeführt gelten, kann es gleichwohl genügen, wenn die Wirkung nur in geringem Maße oder nur unter bestimmten Bedingungen eintritt, sofern der erzielbare Erfolg noch praktisch erheblich ist. Nur wenn sich aus der Auslegung des Patentanspruchs auch ein oberhalb dieser Untergrenze praktischer Relevanz angesiedeltes qualitatives oder quantitatives Minimum ergibt, kann dieses den Maßstab für die Prüfung auf Ausführbarkeit bilden.
37
(a) Das Berufungsgericht hat seine Beurteilung der Ausführbarkeit im Wesentlichen darauf gestützt, dass es ohne Prüfung ihrer patentrechtlichen Erheblichkeit der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen gefolgt ist. Dieser hat - aus wissenschaftlicher Sicht - an der Beschreibung des Ausführungsbeispiels 1 Anstoß genommen. Dort wird ausgeführt, die Kalkmilchgabe führe zunächst zur Neutralisierung von Schwefelsäure unter Gipsbildung. Überschüssiger Kalk werde in den grundwasserabstromigen Bereich verlagert und allmählich stiege auch hier der pH-Wert. Nach einer gewissen Zeit würden sich die für die mikrobiell katalysierte Reduktion von drei- zu zweiwertigem Eisen und in der Folge sukzessiv von Sulfaten zu Schwefelwasserstoff notwendigen Redoxpotentiale einstellen, und es komme zur Sulfidbildung. Diese Reduktionsprozesse würden durch Bakterien vermittelt, die nahezu ubiquitär seien und sich vermehrten, sobald sich für ihre Stoffwechselaktivität geeignete Redoxpo- tentialbereiche eingestellt hätten. Das wichtigste Reduktionsmittel sei dabei "der in tertiären Aquiferen reichlich vorhandene organische Kohlenstoff". Der Sachverständige hat zum einen eine quantitative Beschreibung der Wirkungen der Erfindung vermisst und beanstandet, dass die sich aus hydrogeochemischen Wirkprinzipien ergebenden Reaktionen und deren Auswirkungen lediglich postuliert oder rein qualitativ hergeleitet würden. Von zentraler Bedeutung sei, ob die Erfindung einen Antrieb bereitstelle, der es ermögliche, dass die zum Ziel des Verfahrens führenden Reduktionsprozesse wie die Reduktion von Sulfatschwefel zu Sulfid- bzw. Disulfid-Schwefel mit einem bestimmten notwendigen Umsatz ablaufen könnten. Dies sei nicht der Fall; vielmehr gehe das Patent ungeprüft davon aus, dass der organische Kohlenstoff als wichtigstes Reduktionsmittel in ausreichender Menge verfügbar sei und auch tatsächlich umgesetzt werde. Dass für die Praxis ausreichende Stoffumsätze in angemessener Zeit erreicht würden, sei unbelegt.
38
(b) Eine tragfähige Verbindung zwischen dieser wissenschaftlichen Beurteilung durch den Sachverständigen und der Frage der Ausführbarkeit der technischen Lehren, die die verschiedenen Ansprüche des Patents unter Schutz stellen, wird vom Berufungsgericht nicht hergestellt. Ein Zusammenhang mit den Sachansprüchen ist in keiner Weise erkennbar, und auch ein Zusammenhang mit den Verfahrensmerkmalen a bis e wird vom Berufungsgericht nicht hergestellt.
39
(c) Was das in Patentanspruch 11 dem geschützten Verfahren hinzugefügte Merkmal f anbelangt, betreffen die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen die dort so bezeichnete "Einstellung der für die Sulfatreduktion erforderlichen Redoxpotentialbereiche", nach der die (zusätzliche) Impfung mit sulfatreduzierenden Bakterien erfolgen soll. Das Berufungsgericht hat nicht geprüft , was aus der Sicht des von der Patentschrift angesprochenen Fachmanns (den das Berufungsgericht gleichfalls nicht bestimmt hat) unter dieser "Einstellung" zu verstehen ist und welche Bedeutung ihr im Zusammenhang der Lehre des Patentanspruchs 11 zukommt. Ausführungsbeispiel 1 geht, wie bereits erwähnt , davon aus, dass die notwendigen Redoxpotentiale sich "nach einer gewissen Zeit" würden eingestellt haben und der als Reaktionsmittel benötigte organische Kohlenstoff "reichlich" vorhanden sei. Es geht insoweit von dem Vorhandensein von Bedingungen aus, unter denen die Impfung sinnvoll ist, um den Reduktionsprozess zu katalysieren. Die vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen schließen schon nicht aus, dass diese Voraussetzungen jedenfalls in bestimmten, praktisch relevanten Fällen gegeben sein können, wenn es in seinem Gutachten heißt, dass die Funktionsfähigkeit des Verfahrens im Wesentlichen von den geologisch, also von der Natur, bestimmten und technisch durch den Braunkohleabbau modifizierten Eigenschaften eines zu sanierenden Kippengrundwasserleiters abhänge. Darüber hinaus schließt jedenfalls der Wortlaut des Patentanspruchs 11 es nicht aus, die notwendigen Vorbedingungen der Impfung - etwa bei einem Mangel an organischem Kohlenstoff - zu modifizieren.
40
cc) Auch die Verneinung der Patentfähigkeit des Gegenstands der Erfindung ist rechtsfehlerhaft. Das Berufungsgericht hat sie mit der pauschalen Begründung verneint, nach den in sich stimmigen Ausführungen des Sachverständigen sei die Neuheit zu verneinen, weil das in der Patentschrift dargestellte Verfahren und die ihm zugrunde liegenden Wirkprinzipien bereits aus Forschung , Lehre und wasserwirtschaftlicher Praxis bekannt seien. Ähnliche Projekte seien im Zusammenhang mit Untersuchungen von Abraumkippen im rheinischen Braunkohlerevier durchgeführt worden. Die betreffenden Verfahren setzten ebenso wie das von der Klägerin entwickelte dem Prinzip nach Injektionsbrunnen ein, über die mittels Pumpen und Rohrleitungen wässrige Lösungen mit hydrogeochemisch reaktiven Stoffen in einen Grundwasserleiter einge- leitet würden. Hierbei werde das gleiche Wirkprinzip genutzt, jedoch seien diese Verfahren nicht vom ausreichenden Vorhandensein der nach dem Patent erforderlichen reaktiven Stoffe abhängig.
41
Diese Ausführungen lassen wiederum die erforderliche Differenzierung zwischen den verschiedenen Patentansprüchen, insbesondere auch zwischen Sach- und Verfahrensansprüchen vermissen. Vor allem aber fehlt es an einer Prüfung, für welche Patentansprüche gesagt werden kann, dass ein Gegenstand mit allen seinen Merkmalen in einer einzelnen konkreten Entgegenhaltung - sei es eine vorveröffentlichte Druckschrift, sei es eine offenkundige Vorbenutzung - vor dem 7. September 2000, dem Anmeldetag des Patents, der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich gemacht worden ist, die die Gesamtheit der erfinderischen Lehre für einen Fachmann unmittelbar und eindeutig offenbart hat. Die Aussage des Sachverständigen, ihm seien "alle Verfahren" bekannt gewesen, reicht dafür nicht aus, da dies weder eine Überprüfung noch eine Zuordnung zu einem bestimmten vorbekannten Stand der Technik ermöglicht. Zudem lassen die Ausführungen des Berufungsgerichts besorgen, dass es nicht ausreichend zwischen der Prüfung auf Neuheit nach § 3 PatG und derjenigen auf erfinderische Tätigkeit nach § 4 PatG unterschieden hat. Denn es verneint die Neuheit unter Berufung auf dem Sachverständigen bekannte "ähnliche" Verfahren und hat dem Sachverständigen in seinem Beweisbeschluss aufgegeben, sich dazu zu äußern, ob die Erfindung "bekannte Verfahren zur Grundwassersanierung lediglich vereinige".
42
III. Das Berufungsurteil ist hiernach aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Prüfung, ob und gegebenenfalls inwieweit das Patent im Einspruchsverfahren zu widerrufen gewesen wäre, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen , das den Parteien Gelegenheit zu geben haben wird, ergänzend zur Ausführbarkeit und zur Patentfähigkeit der Gegenstände der einzelnen Patentansprüche vorzutragen. Dazu weist der Senat auf Folgendes hin:
43
1. Soweit es auf die Ausführbarkeit der Erfindung insgesamt oder der technischen Lehre einzelner Ansprüche des Patents ankommen und sich weder die Ausführbarkeit noch fehlende Ausführbarkeit feststellen lassen sollten, ginge dies zu Lasten des Beklagten. Die Beweislast für die mangelnde Ausführbarkeit trifft im Patentnichtigkeitsverfahren den Kläger (BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06, GRUR 2010, 901, 903 - polymerisierbare Zementmischung ), und auch im Einspruchsverfahren liegt die materielle Beweislast beim Einsprechenden, da das Patent nur dann widerrufen werden darf, wenn feststeht, dass es zu Unrecht erteilt worden ist. Es obliegt daher entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts im Haftungsprozess dem Beklagten, die mangelnde Ausführbarkeit der patentierten Lehre darzutun und zu beweisen, da er sich auf diesen ihm günstigen Umstand beruft (BGH, Urteil vom 22. Juni 1959 - III ZR 52/58, BGHZ 30, 226, 232; Urteil vom 14. November 1978 - VI ZR 112/77, BGHZ 72, 328, 330; Urteil vom 6. Mai 2004 - IX ZR 211/00, NJW-RR 2004, 1649).
44
2. Weiter wird das Berufungsgericht dem Beklagten Gelegenheit zu geben haben, denjenigen Sachverhalt vorzutragen, aus dem sich ergeben soll, dass die im Patent unter Schutz gestellte Lehre nicht patentfähig ist. Zwar ist es, wie ausgeführt, eine Rechtsfrage, ob der Gegenstand eines Patents patentfähig ist. Ihre Beantwortung setzt jedoch Feststellungen dazu voraus, was am Prioritätstag Stand der Technik gewesen ist und auf welche technischen Erkenntnisse oder Fähigkeiten der Fachmann zurückgreifen konnte, der eine im Stand der Technik bekannte technische Lösung weiterentwickeln wollte. Diese Sachverhaltselemente hat der Beklagte darzulegen, da er, wie bei der Ausführbarkeit der Erfindung, die tatsächlichen Voraussetzungen eines Widerrufs des Patents wegen fehlender Patentfähigkeit seines Gegenstands darzutun hat. Hierzu wird im Einzelnen aufzuzeigen sein, inwiefern die im Einspruch eher kursorisch behandelten, vornehmlich aus Patentveröffentlichungen bestehenden Entgegenhaltungen es gerechtfertigt hätten, das der Klägerin erteilte Patent ganz oder teilweise zu widerrufen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 2. Dezember 2014 - X ZR 151/12, juris - Zwangsmischer).
45
3. Bei der Prüfung dieses Vortrags wird sich das Berufungsgericht zunächst den Sinngehalt der in den einzelnen Patentansprüche unter Schutz gestellten Lehre zu erschließen und sodann zu untersuchen haben, ob sie in ihrer Gesamtheit durch eine der in der Einspruchsschrift angeführten Entgegenhaltungen neuheitsschädlich getroffen wird. Es wird dabei zu beachten haben, dass die Neuheit nur verneint werden kann, wenn einer einzigen Entgegenhaltung sämtliche Merkmale des Patentanspruchs zu entnehmen sind. Maßgeblich ist dabei der Sinngehalt der Veröffentlichung, d.h. diejenige technische Information , die der fachkundige Leser der jeweiligen Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 - Olanzapin; Urteil vom 18. März 2014 - X ZR 77/12, GRUR 2014, 758 Rn. 39 - Proteintrennung).
46
4. Sollte die Lehre des Patents oder einzelner seiner Ansprüche sich nicht unmittelbar und eindeutig aus einer einzelnen zum Stand der Technik zählenden Schrift oder einer offenkundigen Vorbenutzung ergeben, wird das Berufungsgericht zu beurteilen haben, ob die Lehre für den angesprochenen Fachmann durch den vom Beklagten vorgetragenen und gegebenenfalls bewiesenen Stand der Technik nahegelegt war. Insoweit wird es insbesondere darauf ankommen, ob der Fachmann Veranlassung hatte, die im Stand der Technik bekannten Elemente der erfindungsgemäßen Lehre in einer Weise zu verarbeiten und gegebenenfalls mit Hilfe seines Fachwissens abzuändern oder weiter- zuentwickeln, dass sich hieraus der Gegenstand der Erfindung ergab (s. etwa BGH, Urteil vom 20. Dezember 2011 - X ZB 6/10, GRUR 2012, 378 Rn. 16 - Installiereinrichtung II, auch mit weiteren Erläuterungen zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit).
47
5. Sollte sich ergeben, dass das Patent im Einspruchsverfahren nur beschränkt aufrechtzuerhalten gewesen wäre, wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, welche Verwertungsmöglichkeiten für das Patent bei dieser Sachlage voraussichtlich bestanden hätten.
48
6. Sollte sich das Klagebegehren hiernach als mit der Hauptbegründung nicht gerechtfertigt erweisen, wird das Berufungsgericht zu beachten haben , dass der Klägerin der nunmehr nur noch für diesen Fall begehrte Ersatz eines weiteren Schadens durch nutzlose Aufwendungen für die Erprobung der Erfindung nicht mit der Begründung versagt werden kann, die Klägerin habe einen solchen weitergehenden Schaden nicht substantiiert dargetan.
49
Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (s. nur BGH, Urteil vom 29. Februar 2012 - VIII ZR 155/11, NJW 2012, 1647 Rn. 16) genügt eine Partei ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, so kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden. Aus den von der Revisionsbegründung in Bezug genommenen Schriftsätzen und deren Anlagen ist eine detaillierte Auflistung der Personalkosten ersichtlich, die die Klägerin als frustrierte Entwicklungskosten geltend macht. Folglich darf der Vortrag nicht als unsubstantiiert behandelt werden. Soweit eine Aufklärung des Personalaufwands nicht oder nicht vollständig möglich sein sollte, wäre gegebenenfalls ein Mindestschaden zu schätzen.

Meier-Beck Richter Dr. Grabinski ist erkrankt Bacher und kann deshalb nicht unterschreiben. Meier-Beck
Hoffmann Kober-Dehm
Vorinstanzen:
LG Cottbus, Entscheidung vom 25.02.2009 - 4 O 328/06 -
OLG Brandenburg, Entscheidung vom 23.04.2013 - 6 U 35/09 -

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Patentgesetz - PatG | § 21


(1) Das Patent wird widerrufen (§ 61), wenn sich ergibt, daß 1. der Gegenstand des Patents nach den §§ 1 bis 5 nicht patentfähig ist,2. das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann,3. der w

Patentgesetz - PatG | § 14


Der Schutzbereich des Patents und der Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.

Patentgesetz - PatG | § 4


Eine Erfindung gilt als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Gehören zum Stand der Technik auch Unterlagen im Sinne des § 3 Abs. 2, so werden diese

Patentgesetz - PatG | § 3


(1) Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Der Stand der Technik umfaßt alle Kenntnisse, die vor dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung od

Patentgesetz - PatG | § 147


(1) Artikel 229 § 6 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche findet mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass § 33 Abs. 3 und § 141 in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X Z R 7 7 / 1 2 Verkündet am: 18. März 2014 Anderer Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja

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Bundesgerichtshof Urteil, 29. Feb. 2012 - VIII ZR 155/11

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL VIII ZR 155/11 Verkündet am: 29. Februar 2012 Ring, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X ZR 51/06 Verkündet am: 11. Mai 2010 Anderer Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BG

Bundesgerichtshof Urteil, 16. Dez. 2008 - X ZR 89/07

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X ZR 89/07 Verkündetam: 16. Dezember 2008 Wermes Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: ja BGHR:

Bundesgerichtshof Urteil, 02. Dez. 2014 - X ZR 151/12

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL X Z R 1 5 1 / 1 2 Verkündet am: 2. Dezember 2014 Wermes Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in der Patentnichtigkeitssache Nachschlagewerk:
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(1) Das Patent wird widerrufen (§ 61), wenn sich ergibt, daß

1.
der Gegenstand des Patents nach den §§ 1 bis 5 nicht patentfähig ist,
2.
das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann,
3.
der wesentliche Inhalt des Patents den Beschreibungen, Zeichnungen, Modellen, Gerätschaften oder Einrichtungen eines anderen oder einem von diesem angewendeten Verfahren ohne dessen Einwilligung entnommen worden ist (widerrechtliche Entnahme),
4.
der Gegenstand des Patents über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei der für die Einreichung der Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist; das gleiche gilt, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung oder einer nach § 7 Abs. 2 eingereichten neuen Anmeldung beruht und der Gegenstand des Patents über den Inhalt der früheren Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei der für die Einreichung der früheren Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist.

(2) Betreffen die Widerrufsgründe nur einen Teil des Patents, so wird es mit einer entsprechenden Beschränkung aufrechterhalten. Die Beschränkung kann in Form einer Änderung der Patentansprüche, der Beschreibung oder der Zeichnungen vorgenommen werden.

(3) Mit dem Widerruf gelten die Wirkungen des Patents und der Anmeldung als von Anfang an nicht eingetreten. Bei beschränkter Aufrechterhaltung ist diese Bestimmung entsprechend anzuwenden.

(1) Artikel 229 § 6 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche findet mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass § 33 Abs. 3 und § 141 in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Verjährung in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung gleichgestellt sind.

(2) Für Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit des Patents oder des ergänzenden Schutzzertifikats oder wegen Erteilung oder Rücknahme der Zwangslizenz oder wegen der Anpassung der durch Urteil festgesetzten Vergütung für eine Zwangslizenz, die vor dem 18. August 2021 durch Klage beim Bundespatentgericht eingeleitet wurden, sind die Vorschriften dieses Gesetzes in der bis zum 17. August 2021 geltenden Fassung weiter anzuwenden.

(3) Für Verfahren, in denen ein Antrag auf ein Zusatzpatent gestellt worden ist oder nach § 16 Absatz 1 Satz 2 dieses Gesetzes in der vor dem 1. April 2014 geltenden Fassung noch gestellt werden kann oder ein Zusatzpatent in Kraft ist, sind § 16 Absatz 1 Satz 2, Absatz 2, § 17 Absatz 2, § 23 Absatz 1, § 42 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4, Satz 2 und Absatz 3 Satz 1 sowie § 43 Absatz 2 Satz 4 dieses Gesetzes in ihrer bis zum 1. April 2014 geltenden Fassung weiter anzuwenden.

(4) Für Anträge auf Verlängerung der Frist zur Benennung des Erfinders sind § 37 Absatz 2 Satz 2 bis 4 und § 20 Absatz 1 Nummer 2 dieses Gesetzes in der vor dem 1. April 2014 geltenden Fassung weiter anzuwenden, wenn die Anträge vor dem 1. April 2014 beim Deutschen Patent- und Markenamt eingegangen sind und das Patent bereits erteilt worden ist.

(5) Für Anträge auf Anhörung nach § 46 Absatz 1, die vor dem 1. April 2014 beim Deutschen Patent- und Markenamt eingegangen sind, ist § 46 dieses Gesetzes in der bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden.

(1) Das Patent wird widerrufen (§ 61), wenn sich ergibt, daß

1.
der Gegenstand des Patents nach den §§ 1 bis 5 nicht patentfähig ist,
2.
das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, daß ein Fachmann sie ausführen kann,
3.
der wesentliche Inhalt des Patents den Beschreibungen, Zeichnungen, Modellen, Gerätschaften oder Einrichtungen eines anderen oder einem von diesem angewendeten Verfahren ohne dessen Einwilligung entnommen worden ist (widerrechtliche Entnahme),
4.
der Gegenstand des Patents über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei der für die Einreichung der Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist; das gleiche gilt, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung oder einer nach § 7 Abs. 2 eingereichten neuen Anmeldung beruht und der Gegenstand des Patents über den Inhalt der früheren Anmeldung in der Fassung hinausgeht, in der sie bei der für die Einreichung der früheren Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist.

(2) Betreffen die Widerrufsgründe nur einen Teil des Patents, so wird es mit einer entsprechenden Beschränkung aufrechterhalten. Die Beschränkung kann in Form einer Änderung der Patentansprüche, der Beschreibung oder der Zeichnungen vorgenommen werden.

(3) Mit dem Widerruf gelten die Wirkungen des Patents und der Anmeldung als von Anfang an nicht eingetreten. Bei beschränkter Aufrechterhaltung ist diese Bestimmung entsprechend anzuwenden.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 76/04 Verkündet am:
11. Oktober 2005
Wermes
Justizhauptsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
Seitenspiegel
PatG 1968 § 6; PatG (1981) vor § 143

a) Der Tatrichter hat das Klagepatent eigenständig auszulegen und darf die
Auslegung nicht dem gerichtlichen Sachverständigen überlassen.

b) Da das Verständnis des Fachmanns von den im Patentanspruch verwendeten
Begriffen und vom Gesamtzusammenhang des Patentanspruchs die
Grundlage der Auslegung bildet, muss sich der Tatrichter erforderlichenfalls
sachverständiger Hilfe bedienen. Das kommt etwa dann in Betracht, wenn
zu ermitteln ist, welche objektiven technischen Gegebenheiten, welches
Vorverständnis der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Sachkundigen,
welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen und welche methodische
Herangehensweise dieser Fachleute das Verständnis des Patentanspruchs
und der in ihm verwendeten Begriffe bestimmen oder beeinflussen können.
BGH, Urt. v. 11. Oktober 2005 - X ZR 76/04 - OLG München
LG München I
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Oktober 2005 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis,
den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter Prof.
Dr. Meier-Beck und Asendorf

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 29. April 2004 aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 29. November 2000 teilweise abgeändert: Die Klägerin wird verurteilt, der Beklagten darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie in der Zeit vom 1. Januar 1986 bis zum 29. Juli 1988
a) Seitenrückblickspiegelanordnungen mit den folgenden Merkmalen (1) der Rückblickspiegel ist im vorderen Bereich einer Seitentüre angebracht; (2) die Seitentüre ist mit einer in Führungsschienen geführten versenkbaren Seitenscheibe ausgerüstet ; (3) die Tür weist einen von der Türoberkante und dem Fensterrahmen begrenzten Fensterausschnitt auf; (4) die versenkbare Seitenscheibe deckt nur einen Teilbereich des Fensterausschnitts ab; (5) die - ein- oder zweiteilige - vordere Führungsschiene für die Seitenscheibe ragt aus der Türoberkante heraus; (6) die vordere Führungsschiene ist - unmittelbar oder über ein einstückig mit dem Türblech ausgebildetes Blechteil - mit dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens verbunden; (7) die vor der vorderen Führungsschiene befindliche , von der versenkbaren Seitenscheibe nicht bedeckte fensterfreie Fläche des Fensterausschnitts ist durch ein entsprechend ausgebildetes Halteteil des Rückblickspiegels abgedeckt und weist ein Blechteil zum Durchführen und Abstützen von Befestigungsschrauben für den Rückblickspiegel auf durch Einbau entsprechender Rückblickspiegel in Kraftfahrzeuge der Modellreihen X, Y und Z verwirklicht hat, und zwar unter Angabe der Anzahl der Spiegel und des kalkulierten Anteils am Werksabgabepreis (Verkaufspreis abzüglich Händlerrabatt), wobei auch solche Rückblickspiegel zu berücksichtigen sind, die von Deutschland nach Belgien geliefert, dort mit einer von Deutschland nach Belgien versandten Seitentüre zu der bezeichneten Seitenrückblickspiegelanordnung verbunden und nach Deutschland zur Fahrzeugendmontage zurückgeliefert worden sind,
b) Rückblickspiegel für Seitenrückblickspiegelanordnungen , wie sie zu a bezeichnet sind, in der Bundesrepublik Deutschland als Ersatzteile in den Verkehr gebracht hat, und zwar unter Angabe der Anzahl der Spiegel und der Werksabgabepreise (Verkaufspreise abzüglich Händlerrabatt). Im Übrigen wird der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Die Beklagte ist Inhaberin des am 29. Juli 1970 angemeldeten und schon vor Beginn des Rechtsstreits am 29. Juli 1988 durch Zeitablauf erloschenen deutschen Patents 20 37 555 (Anl. B 1). Mit der allein in die Revisionsinstanz gelangten (Stufen-)Widerklage nimmt die Beklagte die Klägerin wegen Verletzung dieses Patents (im Folgenden: Klagepatents) auf Auskunft und Zahlung einer Lizenzgebühr von 3 % in Anspruch. Die Parteien sind ferner in einem Zwischenvergleich übereingekommen, ursprünglich daneben geltend gemachte, auf ein (bis zum 22. Juli bzw. 24. Juni 1991 laufendes) italienisches und ein schweizerisches Parallelpatent gestützte Ansprüche der Beklagten entsprechend der gerichtlichen Entscheidung über die auf das Klagepatent gestützten Ansprüche zu behandeln. Patentanspruch 1 des Klagepatents lautet: "Ausbildung und Anordnung eines außerhalb des Inneren von Kraftfahrzeugen , insbesondere von Personenkraftwagen, vorgesehenen Rückblickspiegels im vorderen Bereich einer Seitentüre, die mit einer in Führungsschienen geführten, versenkbaren Seitenscheibe ausgerüstet ist und einen von der Türoberkante und dem Fensterrahmen begrenzten Fensterausschnitt aufweist, wobei die vordere Führungsschiene für die nur einen Teilbereich des Fensterausschnittes abdeckende versenkbare Seitenscheibe aus der Türoberkante herausragt und mit dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens verbunden ist, d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t , dass die vor der vorderen Führungsschiene (50) befindliche, von der versenkbaren Seitenscheibe (2) nicht bedeckte fensterfreie Fläche des Fensterausschnitts (6) durch ein entsprechend ausgebildetes Halteteil des Rückblickspiegels (9) abgedeckt ist."
2
Gegen das Klagepatent, an dem zahlreiche Unternehmen der Automobilindustrie Lizenzen genommen haben, sind zwei Nichtigkeitsverfahren geführt worden, von denen die erste, von der A. AG erhobene Nichtigkeitsklage durch vor dem Senat geschlossenen Vergleich erledigt worden ist (Anl. B 7) und die zweite, von P. erhobene Nichtigkeitsklage durch Urteil des Senats vom 28. Januar 1997 (X ZR 43/94, bei Bausch 1994-1998, 348) abgewiesen worden ist.
3
Mit der Widerklage werden zwei Ausführungsformen einer Seitenrückspiegelanordnung angegriffen, von denen die erste in den 1988er X- und Y-Modellen (im Folgenden: Ausführungsform X) und die zweite in den 1988er Z-Modellen (im Folgenden: Ausführungsform Z) der Klägerin verwendet worden ist und die in den nachfolgenden, den Anlagen B 9a und 9b entnommenen Photographien sowie den nachfolgenden, dem Gutachten des Privatgutachters der Beklagten, Prof. Dr.-Ing. P. , vom 4. März 2003 (Anl. B 41) entnommenen Schnittzeichnungen dargestellt sind: Ausführungsform X: Ausführungsform Z:
4
Das Landgericht hat die Widerklage abgewiesen; die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben.
5
Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Widerklageanträge weiter. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe:


6
Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und auf die Widerklage zur antragsgemäßen Verurteilung der Klägerin zur Erteilung der Auskunft, die die Beklagte zur Bezifferung ihres Zahlungsbegehrens benötigt.
7
I. Das Klagepatent betrifft Ausbildung und Anordnung eines Seitenrückspiegels für ein Kraftfahrzeug. Die erfindungsgemäße Lehre hat der Senat in seinem Urteil vom 28. Januar 1997 wie folgt erläutert:
8
"Gegenstand der Lehre des Streitpatents sind Ausbildung und Anordnung eines Rückblickspiegels für Seitentüren von Kraftfahrzeugen, insbesondere Personenkraftwagen. Einen solchen Spiegel schildert die Streitpatentschrift einleitend als aus der deutschen Auslegeschrift 1 232 844 bekannt. Dieser sei teilweise in einem aus der Fahrzeugkontur nach außen ragenden Gehäuse untergebracht , das seinerseits unter einer ausstellbaren, vor der vorderen, bis zum horizontalen oberen Teil des Fensterrahmens verlaufenden Führungsschiene angeordnet ist. An dieser Konstruktion bemängelt sie, dass der Rückblickspiegel zwar weitgehend vor Witterungseinflüssen geschützt werde, seine Konstruktion und sein Einbau jedoch aufwendig und damit teuer und er selbst ästhetisch störend sei.
9
An weiter als bekannt dargestellten Anordnungen, bei denen der Rückblickspiegel auf die äußere Seite des Türaußenblechs geschraubt werde, beanstandet die Patentschrift, dass hierfür Bohrungen und besondere Befestigungselemente erforderlich seien. Das bedinge nicht nur einen erhöhten Fertigungsaufwand , sondern sei auch hinsichtlich der Stabilität der Befestigung unbefriedigend. Hinzu komme, dass bei dieser Befestigung wegen der Bohrungen im Türblech und insbesondere aufgrund der schon bei geringen Stößen gegen den Spiegel auftretenden Verbiegungen des Blechs die Gefahr vorzeitiger Korrosion bestehe. Schließlich erwähnt die Streitpatentschrift die britische Patentschrift 1 098 723, die die Verwendung von Führungsschienen zur Führung einer versenkbaren Seitenscheibe lehre, über die Anordnung von Rückblickspiegeln jedoch keine Aussage treffe.
10
Ausgehend von diesem Stand der Technik bezeichnet die Streitpatentschrift es als das zu lösende technische Problem, einen Rückblickspiegel zu schaffen, der mehrere Vorteile aufweisen soll. Als ein zu lösendes technisches Problem gibt die Streitpatentschrift eine sichere Führung der Fensterscheibe an. Hierfür werden - als solche im Stand der Technik bekannte - vertikal in die Fensteröffnung hineinreichende Führungsschienen verwendet, von denen die hintere die Fensteröffnung begrenzt und die vordere so verläuft, dass in Richtung auf die vordere Seitenkante der Tür eine dreieckige Öffnung verbleibt, die von der bei geschlossenem Fenster auf den Raum zwischen den Führungsschienen beschränkten Fensterscheibe nicht bedeckt wird. Weiter wird eine organische Verbindung von Tür und Spiegel angestrebt, die dadurch erreicht werden soll, dass seine Halterung nach Form und Größe an die Dreiecksfläche angepasst ist, die zwischen der vertikal verlaufenden vorderen Führungsschiene für die versenkbare Seitenscheibe und den in diesem Bereich schräg nach oben verlaufenden Rahmen entsteht, und so befestigt wird, dass sie diese Fläche dichtend abdeckt. Darüber hinaus will die Lehre des Streitpatents nach der in der Schrift formulierten Aufgabenstellung die von dem Spiegel ausgehende Unfallgefahr verringern. Dem dient eine glatte Form des Spiegels und seines Gehäuses sowie dessen dichte Anbringung an der Fahrzeugtür.
11
Durch die Lehre des Streitpatents gelöst werden soll darüber hinaus ein weiteres, in der in der Schrift genannten Aufgabenstellung nicht ausdrücklich erwähntes technisches Problem, das sich aus der Kritik der Schrift im Stand der Technik ergibt. Durch die gewählte Konstruktion soll eine Befestigung des Spiegels an der Türaußenwand vermieden werden, die nach den Angaben der Streitpatentschrift eine Ursache für eine verstärkte Korrosionsgefahr bildet."
12
Daran ist festzuhalten; tatsächliche Umstände, die ein anderes Verständnis gebieten könnten, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.
13
Zur Lösung dieser Probleme schlägt das Klagepatent eine Ausbildung und Anordnung eines außerhalb des Inneren von Kraftfahrzeugen vorgesehenen Rückblickspiegels mit folgenden Merkmalen vor:
(1)
Der Rückblickspiegel ist im vorderen Bereich einer Seitentüre angebracht. (2) Die Seitentüre ist mit einer in Führungsschienen geführten versenkbaren Seitenscheibe ausgerüstet. (3) Die Tür weist einen von der Türoberkante und dem Fensterrahmen begrenzten Fensterausschnitt auf. (4) Die versenkbare Seitenscheibe deckt nur einen Teilbereich des Fensterausschnitts ab. (5) Die vordere Führungsschiene für die Seitenscheibe ragt aus der Türoberkante heraus. (6) Die vordere Führungsschiene ist mit dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens verbunden. (7) Die vor der vorderen Führungsschiene befindliche, von der versenkbaren Seitenscheibe nicht bedeckte fensterfreie Flä- che des Fensterausschnitts ist durch ein entsprechend ausgebildetes Halteteil des Rückblickspiegels abgedeckt.
14
Diese vom Berufungsgericht verwendete Merkmalsgliederung entspricht derjenigen des Senatsurteils vom 28. Januar 1997 mit der Maßgabe, dass die Merkmale 7 und 8 aus der Gliederung des Senats zusammengezogen worden sind; dagegen ist nichts zu erinnern.
15
II. Das Berufungsgericht verneint eine Verletzung des Klagepatents. Bei beiden angegriffenen Ausführungsformen seien die Merkmale 3, 6 und 7 nicht verwirklicht; bei der Ausführungsform X fehle es außerdem an Merkmal 5. Den Kern der Argumentation des Berufungsgerichts bildet dabei die an den Anfang der Begründung gestellte Verneinung des Merkmals 7; dass auch Merkmal 3 nicht verwirklicht werde, leitet das Berufungsgericht hieraus ab. Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.
16
1. Warum Merkmal 7 nicht verwirklicht werde, hat das Berufungsgericht wie folgt begründet: Aus Sicht des Sachverständigen, der als Durchschnittsfachmann das Patent auslege, fehle bei den angegriffenen Ausführungsformen jeweils eine nicht bedeckte fensterfreie Fläche eines Fensterausschnitts. Zu Recht habe der gerichtliche Sachverständige ausgeführt, dass der Auffassung des Privatgutachters der Klägerin nicht gefolgt werden könne, Blechteile, die über der Türoberkante nach oben gezogen seien und zugleich keine Außenhaut mehr darstellten, seien nicht als Türaußenblech im Sprachgebrauch des Klagepatents anzusprechen. In Fortführung seiner Darstellung zum Türaußenblech komme der gerichtliche Sachverständige daher folgerichtig zu dem Ergebnis, dass der Durchschnittsfachmann eine von einer Seitenscheibe nicht bedeckte fensterfreie Fläche des Fensterausschnitts als werkstoffbzw. blechfrei ansehe. Für eine ohnehin mit Außenblech abgedeckte Fläche benötige der Fachmann kein entsprechend ausgebildetes Halteteil zu deren Abdeckung. Zu Recht weise der gerichtliche Sachverständige darauf hin, dass sich in der Klagepatentschrift kein Hinweis befinde, dass die fensterfreie Fläche mit Türaußen- und/oder Türinnenblechteilen überdeckt sein solle. Nachdem die Frage, inwieweit der bei den angegriffenen Ausführungsformen vorhandene Blechzwickel dem Türinnen- oder Türaußenblech zuzurechnen sei, maßgebliche Grundlage auch für die Beurteilung des Privatgutachters zur Frage der fensterfreien Fläche sei, schließe sich der Senat insgesamt den tatsächlichen Feststellungen und der Auslegungshilfe des gerichtlichen Sachverständigen an und komme zu dem Ergebnis, dass die angegriffenen Ausführungsformen weder eine fensterfreie Fläche enthielten, noch dass durch ein entsprechend ausgebildetes Halteteil des Rückblickspiegels eine Abdeckung dieser fensterfreien Fläche erfolge.
17
2. Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Verneinung der Verletzungsfrage liegt eine unzutreffende Auslegung des Patentanspruchs zugrunde.
18
a) Da einer der Schwerpunkte des Streits der Parteien in der Frage lag, ob die in Merkmal 7 erwähnte von der Seitenscheibe nicht bedeckte Fläche des Fensterausschnitts erfindungsgemäß nicht nur, wie der Patentanspruch sagt, "fensterfrei", sondern überhaupt materialfrei sein muss, hätte das Berufungsgericht sich zunächst Klarheit darüber verschaffen müssen, wie in dieser Hinsicht der Patentanspruch zu verstehen ist. Da in Merkmal 7 eine Aussage über eine Teilfläche des Fensterausschnitts getroffen wird, war es zudem unerlässlich , den Gesamtinhalt des Patentanspruchs zumindest insoweit zu klären, als er hierfür relevant ist. Das erforderte jedenfalls zu ermitteln, was in Merkmal 3 des Patentanspruchs als Fensterausschnitt definiert wird.
19
Wie ein Patent auszulegen ist, ist eine Rechtsfrage, weshalb die Auslegung vom Revisionsgericht auch in vollem Umfang nachprüfbar ist (st. Rspr.; s.
nur BGHZ 142, 7, 15 - Räumschild; Sen.Urt. v. 26.9.1996 - X ZR 72/94, GRUR 1997, 116 - Prospekthalter; Sen.Urt. v. 27.10.1998 - X ZR 56/96, Mitt. 1999, 365 - Sammelförderer). Der Tatrichter darf daher die richterliche Aufgabe der Auslegung des Patentanspruchs nicht dem gerichtlichen Sachverständigen überlassen , indem er wie das Berufungsgericht von der Annahme ausgeht, dass der gerichtliche Sachverständige "als Durchschnittsfachmann das Patent ausleg (e)". Zwar bildet das Verständnis des Fachmanns von den im Patentanspruch verwendeten Begriffen und vom Gesamtzusammenhang des Patentanspruchs die Grundlage der Auslegung. Das bedeutet jedoch nur, dass sich der Tatrichter gegebenenfalls sachverständiger Hilfe bedienen muss, wenn es um die Frage geht, welche objektiven technischen Gegebenheiten, welches Vorverständnis der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Sachkundigen, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen und welche methodische Herangehensweise dieser Fachleute das Verständnis des Patentanspruchs und der in ihm verwendeten Begriffe bestimmen oder jedenfalls beeinflussen können. Denn der gerichtliche Sachverständige hat insbesondere die Aufgabe, dem Gericht Kenntnisse und Fähigkeiten des Fachmanns sowie die Arbeitsweise zu vermitteln, mit der dieser technische Probleme seines Fachgebiets zu bewältigen trachtet (Sen.Urt. v. 25.11.2003 - X ZR 162/00, GRUR 2004, 411 - Diabehältnis ; dort für das Patentnichtigkeitsverfahren). Das Verständnis des Patentanspruchs selbst durch den Durchschnittsfachmann ist hingegen unmittelbarer Feststellung regelmäßig entzogen (BGHZ 160, 204, 213 - Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung ). Erst recht dürfen die Ausführungen des Sachverständigen zu seinem Verständnis des Patentanspruchs nicht als "Feststellungen" zum Inhalt des Patentanspruchs behandelt werden - wie dies im Berufungsurteil wiederholt und daher ersichtlich nicht nur im Sinne eines Vergreifens im Ausdruck geschieht -, die wie tatrichterliche Feststellungen nur noch einer Kontrolle auf Rechtsfehler unterzogen werden. Das Gericht darf die Ergebnisse eines Sach-
verständigengutachtens nicht ohne weiteres übernehmen; sachverständige Äußerungen sind vom Tatrichter vielmehr eigenverantwortlich daraufhin zu untersuchen , ob und inwieweit sie Angaben enthalten, die Aufklärung im Hinblick auf entscheidungserhebliche und allein von dem erkennenden Gericht zu beantwortende Fragen zu bieten vermögen (Sen.Urt. v. 7.3.2001 - X ZR 176/99, GRUR 2001, 770 - Kabeldurchführung II). Dem wird das Berufungsurteil nicht gerecht, zumal das Berufungsgericht nicht beachtet, dass der gerichtliche Sachverständige das Klagepatent nicht - wie geboten - aus sich heraus auslegt, sondern sich mit der Einbeziehung der angegriffenen Ausführungsformen den unbefangenen Blick auf den Inhalt des Patentanspruchs verstellt.
20
b) Erfindungsgemäß weist die Seitentür des Kraftfahrzeugs einen von der Türoberkante und dem Fensterrahmen begrenzten Fensterausschnitt auf (Merkmal 3). Dieser Fensterausschnitt ist nicht mit dem Bereich der Seitentür gleichzusetzen, der bei nicht-versenkter Seitenscheibe von dieser eingenommen wird. Denn die versenkbare Seitenscheibe deckt nur einen Teilbereich des Fensterausschnitts ab (Merkmal 4), während ein durch die vordere Führungsschiene abgetrennter anderer Teilbereich des Fensterausschnitts durch das Halteteil des Rückspiegels abgedeckt wird (Merkmale 5 - 7).
21
Der in Merkmal 3 definierte Fensterausschnitt ist auch nicht im Sinne eines Fensters zu verstehen, das aus den Türblechen ausgeschnitten worden ist. Das ist lediglich eine mögliche - und durchaus naheliegende - Methode der Bereitstellung eines Fensterausschnitts. Das Klagepatent beansprucht indes nicht Schutz für ein bestimmtes Herstellungsverfahren, sondern für eine bestimmte Anordnung des Rückspiegels, der an dem Kraftfahrzeug bzw. seiner Seitentür angebracht ist, und damit für ein fertiges Erzeugnis. Mit Fensterausschnitt im Sinne des Merkmals 3 wird derjenige räumliche Bereich der Seitentür definiert, der (nach außen) nicht vom Türblech abgedeckt ist, sondern einerseits in einem hinteren Teilbereich von der versenkbaren Seitenscheibe abgedeckt wird und andererseits in einem durch die vordere Führungsschiene für die Seitenscheibe von dem hinteren Teilbereich abgetrennten vorderen Teilbereich zur Anordnung des Rückspiegels mittels seines Halteteils dient, der seinerseits diesen Teilbereich abdeckt. Der Fensterausschnitt wird demgemäß in Merkmal 3 räumlichkörperlich durch die Rahmenelemente definiert, die einerseits (zusammen mit der vorderen Führungsschiene) die Führung für die versenkbare Seitenscheibe erzeugen, andererseits (wiederum unter Einschluss der vorderen Führungsschiene für die Seitenscheibe) eine Dreiecksstruktur bilden, die zur Aufnahme des Halteteils des Rückspiegels dient.
22
Das bedeutet wiederum, dass die "vor der vorderen Führungsschiene befindliche , von der versenkbaren Seitenscheibe nicht bedeckte fensterfreie Fläche des Fensterausschnitts" (Dreiecksfläche) im Sinne des Merkmals 7 nichts anderes als der "andere" Teilbereich des so definierten Fensterausschnitts ist. Das Teilmerkmal "fensterfrei" stellt lediglich klar, dass sich in diesem Teilbereich nicht ein eine Durchsicht ermöglichendes Fenster wie etwa das im Stand der Technik bekannte Ausstellfenster befindet. Hingegen ist dem Patentanspruch nichts darüber zu entnehmen, dass die Dreiecksfläche überhaupt materialfrei sein müsse oder solle. Dazu gibt es auch keinen sachlichen Grund. Insbesondere liegt ein solcher nicht darin, dass etwa ein Durchblick durch die Dreiecksfläche möglich sein soll, denn das wird bereits dadurch ausgeschlossen , dass diese Fläche durch das Halteteil des Rückspiegels abgedeckt wird. Im Übrigen enthält der Patentanspruch keine Festlegung auf bestimmte Gehäuse - oder Befestigungsformen des Rückspiegels und stellt die nähere Ausgestaltung des Spiegels und seines Halteteils in das Belieben des Fachmanns (Sen.Urt. v. 28.1.1997 - X ZR 43/94, S. 17). Die Klagepatentschrift weist ausdrücklich darauf hin, dass die Dreiecksfläche günstig und in unauffälliger Weise zur Befestigung des Außenspiegels genutzt werden kann (Sp. 2 Z. 32 - 37). Die Art und Weise, wie er das Halteteil des Spiegels im Bereich der Dreiecksfläche befestigt, bleibt dem Fachmann überlassen, dem hierfür nach seinem Fachwissen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die mangels abweichender Festlegungen durch das Klagepatent auch ein Verschrauben mit einem an dieser Stelle angeordneten Blech einschließen.
23
c) Danach kann die Beurteilung des Berufungsgerichts, die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichten die Merkmale 3 und 7 nicht, keinen Bestand haben.
24
Das Berufungsgericht hat dies ausschließlich damit begründet, dass die erfindungsgemäße Dreiecksfläche bei den angegriffenen Ausführungsformen nicht blechfrei sei und dass das dort angeordnete, einstückig mit dem Türblech ausgeführte, der Aufnahme und Befestigung des Spiegels dienende Blechteil einen Bestandteil des Türblechs bilde.
25
Das ist jedoch unerheblich. Die zwischen dem Sachverständigen und dem von der Beklagten beauftragten Privatgutachter in mehreren Gutachten diskutierte Frage, ob das in der Dreiecksfläche angeordnete Blechteil aus fachmännischer Sicht als Bestandteil des Tür(innen-, bei der Ausführungsform X auch -außen)blechs anzusehen sei oder nicht, stellt sich nach dem vorstehend zu b Ausgeführten nicht. Dem steht auch nicht entgegen, dass das Klagepatent bei verschiedenen bekannten Bauarten die Befestigung des Spiegelfußes mittels einer Schraubverbindung auf dem Türaußenblech aus mehreren Gründen als nachteilig ansieht. Denn durch die Anordnung des Halteteils des Rückspiegels in der erfindungsgemäßen Dreiecksfläche können - wegen der durch das Dreieck gebildeten Rahmenstruktur und weil das sichtbare Außenblech nicht mehr durchbohrt wird, das Blech vielmehr innen angeordnet ist und nach außen durch das Halteteil des Spiegels abgedeckt wird - diese Nachteile unabhängig davon vermieden werden, ob zur Befestigung des Halteteils ein materialeinheitlich und einstückig mit einem Türblech ausgeführtes Blechteil verwendet wird oder nicht.
26
3. Soweit das Berufungsgericht die Verwirklichung des Merkmals 6 und bei der Ausführungsform X auch des Merkmals 5 verneint hat, hält dies gleichfalls der Nachprüfung nicht stand.
27
Nach diesen Merkmalen ragt die vordere Führungsschiene für die Seitenscheibe aus der Türoberkante heraus und ist mit dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens verbunden.
28
Das Berufungsgericht hat unter Berufung auf den gerichtlichen Sachverständigen gemeint, von einem Herausragen der vorderen Führungsschiene aus der Türoberkante im Sinne des Merkmals 5 könne bei der Ausführungsform X nicht gesprochen werden, weil die vordere Führungsschiene nicht einteilig, sondern zweiteilig realisiert sei und obere und untere Führungsschiene nur "relativ lose" miteinander verbunden seien und zwischen den Schienenteilen keine Kräfte übertragen werden könnten. Damit wird jedoch weder das Vorhandensein einer vorderen Führungsschiene, noch deren Herausragen aus der Türoberkante in Frage gestellt.
29
Entsprechendes gilt für die Verbindung zwischen vorderer Führungsschiene und dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens. Das Berufungsgericht hat seine Auffassung, das Merkmal 6 werde nicht benutzt, bei der Ausführungsform X wiederum mit der Zweiteiligkeit der vorderen Führungsschiene begründet, die der dem Patentanspruch zu entnehmenden Forderung nach einer möglichst stabilen Verbindung widerspreche. Bei der Ausführungsform Z hat es die gleiche Beurteilung damit begründet , dass die vordere Führungsschiene nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar (nämlich über das Blechteil) mit dem Fensterrahmen verbunden sei. Auch insoweit gilt, dass mit diesen Erwägungen die unmittelbar gegenständliche Verwirklichung des Merkmals 6 nicht verneint werden kann, denn sie ändern bei beiden Ausführungsformen nichts an der bestehenden Verbindung zwischen Führungsschiene und Fensterrahmen.
30
Sowohl hinsichtlich des Merkmals 5 als auch hinsichtlich des Merkmals 6 steht hinter der Erwägung des Berufungsgerichts letztlich die Überlegung des gerichtlichen Sachverständigen, der Patentanspruch umschreibe mit den Merkmalen 5 und 6 eine stabile Rahmenstruktur für die Dreiecksfläche, während die angegriffenen Ausführungsformen mittels Blechteilen eine Kastenstruktur verwirklichten. Dabei beachtet das Berufungsgericht jedoch nicht, dass es sich, wenn eine Ausführungsform von den Merkmalen eines Patentanspruchs in deren räumlich-körperlicher Ausgestaltung identisch Gebrauch macht, bei der Prüfung der Patentverletzung grundsätzlich erübrigt, Erwägungen darüber anzustellen , ob die identisch vorhandenen Merkmale demselben Zweck dienen und dieselbe Wirkung und Funktion haben wie diejenigen des Klagepatents (Sen.Urt. v. 12.7.1990 - X ZR 121/88, GRUR 1991, 436 - Befestigungsvorrichtung II). Im Übrigen umfasst die Kastenstruktur die in ihr enthaltene und sie aussteifende Rahmenstruktur und versteht es sich für den Fachmann, dass er die Rahmenbestandteile einer Struktur nur für diejenigen Kräfte auslegen muss, die der Rahmen nach der Ausbildung der gesamten Struktur tatsächlich aufnehmen muss. Für weitergehende Anforderungen bieten weder der Wortlaut des Patentanspruchs noch die zu seiner Auslegung heranzuziehende Beschreibung einen Anhalt.
31
III. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht bedarf es jedoch nicht, da alle erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen sind und der Senat daher in der Sache selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Klägerin ist der Beklagten nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zur Erteilung der begehrten Auskunft verpflichtet, da die mit der Widerklage angegriffenen Seitenrückspiegelanordnungen dem unmittelbaren Gegenstand des Klagepatents im Sinne des § 6 PatG 1968 entsprechen.
32
1. Die Benutzung der Merkmale 1 und 2 ist außer Streit und ergibt sich ohne weiteres aus der durch Bezugnahme auf die Anlagen B 9a und 9b festgestellten (BU 4) Beschaffenheit der angegriffenen Ausführungsformen.
33
2. Aus den Anlagen B 9a und 9b und der Feststellung, dass bei den angegriffenen Ausführungsformen in dem Bereich, der früher bei vielen Fahrzeugen für ein dreieckiges Ausstellfenster genutzt wurde und der durch Fensterrahmen und vordere Führungsschiene des Fensters begrenzt wird, ein Blechteil stehengelassen ist (BU 4 unten; s. auch Sachverständigengutachten 1, S. 16 [GA VI 833]: "Fensterrahmen entsprechend verbreitert"), ergibt sich gleichfalls die Verwirklichung des Merkmals 3: Es ist ein Fensterausschnitt vorhanden , der durch die Türoberkante und einen umlaufenden bis an das vordere Ende der Türoberkante reichenden (Fenster-)Rahmen begrenzt wird.
34
3. Nur der hintere Teilbereich dieses Fensterausschnitts wird von der versenkbaren Seitenscheibe abgedeckt (Merkmal 4).
35
4. Wie bereits ausgeführt, ragt die vordere Führungsschiene für die Seitenscheibe aus der Türoberkante heraus und ist mit dem schräg nach oben hinten verlaufenden vorderen Teil des Fensterrahmens verbunden (Merkmale 5 und 6).
36
5. Die Dreiecksfläche vor der vorderen Führungsschiene ist durch ein entsprechend ausgebildetes Halteteil des Rückspiegels abgedeckt, wie sich gleichfalls unmittelbar aus den Anlagen B 9a und 9b und damit aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt (Merkmal 7). Damit sind sämtliche Merkmale der erfindungsgemäßen Lehre unmittelbar gegenständlich verwirklicht.
37
6. Der Senat hat die Urteilsformel stärker an den Streitgegenstand angepasst, indem er die Anordnung des Blechteils in der vor der vorderen Führungsschiene befindlichen, von der versenkbaren Seitenscheibe nicht bedeckten fensterfreien Fläche des Fensterausschnitts, über dessen Bedeutung die Parteien streiten, berücksichtigt hat (vgl. Sen.Urt. v. 30.3.2005 - X ZR 126/01, GRUR 2005, 569 - Blasfolienherstellung [für BGHZ 162, 365 vorgesehen]). Bei der Formulierung der Urteilsformel hat der Senat ferner dem Umstand Rechnung getragen, dass die Lieferung von Rückspiegeln, die zum Einbau in entsprechend ausgebildete Seitentüren bestimmt sind, die Lieferung von Mitteln darstellt, die an den Erfindungsgedanken angepasst (erfindungsfunktionell individualisiert ) sind. Schließlich hat der Senat berücksichtigt, dass es Werksabgabepreise für in Neufahrzeuge eingebaute Rückspiegel nicht gibt. Er hat daher den Klageantrag dahin verstanden, dass sich das Auskunftsverlangen der Beklagten insoweit auf den kalkulatorischen Anteil der für erfindungsgemäße Rückblickspiegelanordnungen verwendeten Rückspiegel am Werksabgabepreis des jeweiligen Fahrzeugs bezieht.
38
IV. Die Kostenentscheidung ist dem vom Berufungsgericht - nach Aufnahme des Verfahrens in der zweiten Stufe der Widerklage - zu fällenden Schlussurteil vorzubehalten. Bei dieser Entscheidung wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass es seine mit diesem Urteil - notwendigerweise insgesamt - aufgehobene Kostenentscheidung insoweit zu wiederholen haben wird, als sie nach § 91a ZPO getroffen worden ist und daher der Nachprüfung im Revisionsverfahren nicht unterliegt (Sen.Urt. v. 7.3.2001 - X ZR 176/99, GRUR 2001, 770, 771 - Kabeldurchführung II; BGH, Beschl. v. 19.10.2000 - I ZR 176/00, BGHRep. 2001, 98).

Melullis Keukenschrijver Mühlens
Asendorf Meier-Beck
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 29.11.2000 - 21 O 16224/92 -
OLG München, Entscheidung vom 29.04.2004 - 6 U 1644/01 -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 56/08 Verkündet am:
22. Dezember 2009
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
Kettenradanordnung II

a) Fehlt im Verletzungsprozess Parteivortrag zu unmittelbaren Tatumständen, die
Anhaltspunkte beispielsweise dafür zu geben vermögen, welche technischen Zusammenhänge
für das Verständnis der unter Schutz gestellten Lehre bedeutsam
sein könnten, wer als Durchschnittsfachmann in Betracht zu ziehen sein und welche
Ausbildung seine Sicht bestimmen könnte (z.B. zum technischen Gebiet, auf
dem die Erfindung liegt, zu den auf diesem Gebiet tätigen Unternehmen, der Ausbildung
von deren Mitarbeitern bzw. zum Vorhandensein eigener Entwicklungsabteilungen
), hat das Gericht darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich dazu vollständig
erklären.

b) Selbst wenn solche dem unmittelbaren Beweis zugängliche Tatsachen zwischen
den Parteien unstreitig sind, kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens
geboten sein, wenn die Kenntnis dieser Tatsachen allein je nach Fall nicht
ausreicht, um auf die ihrerseits dem unmittelbaren Beweise nicht zugängliche
Sicht des Fachmanns zu schließen oder die technischen Zusammenhänge zuverlässig
zu bewerten. Das Verletzungsgericht prüft in jedem Einzelfall eigenverantwortlich
, ob es aus diesem Grund einen Sachverständigen hinzuzieht.

c) Der Entschluss des Verletzungsgerichts, die Patentansprüche auszulegen, ohne
im Hinblick auf für die Auslegung maßgebliche, dem unmittelbaren Beweis nicht
zugängliche Gesichtspunkte einen Sachverständigen hinzuziehen, unterliegt der
uneingeschränkten Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Revisionsgericht.

d) Wird die Verurteilung wegen Verletzung des Klagepatents in von dessen Wortsinn
abweichender Form erstrebt, muss sich aus dem Klageantrag ergeben, in welchen
tatsächlichen Gestaltungen sich die Abweichung von den Vorgaben des Patentanspruchs
verkörpert.

e) Ergibt sich aus dem klägerischen Sachvortrag, dass (auch) eine Verletzung des
Klagepatents in vom Wortsinn abweichender Form geltend gemacht werden soll,
ohne dass dies in den Anträgen einen Niederschlag gefunden hat, hat das Tatsachengericht
dies im Rahmen der ihm obliegenden Verpflichtung, auf die Stellung
sachdienlicher Anträge hinzuwirken, zu erörtern.
BGH, Urteil vom 22. Dezember 2009 - X ZR 56/08 - OLG München
LG München I
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 28. Juli 2009 durch den Vorsitzenden Richter Scharen und die Richter
Asendorf, Gröning, Dr. Berger und Dr. Grabinski

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das am 20. März 2008 verkündete Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten, inzwischen wegen Ablaufs der Schutzdauer erloschenen europäischen Patents 313 345 (Klagepatents), dessen Anspruch 1 in der Verfahrenssprache lautet: "A multistage sprocket assembly for a bicycle comprising at least one larger diameter sprocket (1), at least one smaller diameter sprocket (2) and a drive chain (3), and the or each larger diameter sprocket (1) having at its outer periphery a given number of teeth which are spaced at intervals corresponding to the pitch of the chain (3) and the or each smaller diameter sprocket (2) having at its outer periphery teeth which are smaller in number than the teeth of said larger diameter sprocket (1) and are spaced at intervals corresponding to the pitch of the chain (3), said sprockets (1) and (2) being assembled so that the centre (O2) between a pair of adjacent teeth of said larger diameter sprocket (1) is positioned on a tangent extending form the centre (O1) between a pair of adjacent teeth of said smaller diameter sprocket, said tangent extending along the path of travel of the driving chain (3) in engagement with said smaller diameter sprocket (2) when said chain (3) shifted therefrom into engagement with said larger diameter sprocket (1), the distance between said centres (O1, O2) being at least substantially an integer multiple of the chain pitch, characterised in that said larger diameter sprocket (1) is provided with a chain guide surface (4) on the inside surface of the sprocket (1) facing the smaller diameter sprocket (2) and at a position on said larger diameter sprocket (1) which corresponds to the path of travel between said centres (O1, O2) between adjacent teeth of the sprocket where the chain makes contact with the larger diameter sprocket (1), said chain guide surface (4) having such a shape and size as to receive an entire link plate of a link of said chain and to cause the link to be biased towards the larger diameter sprocket (1) as the chain leaves the smaller diameter sprocket and starts to engage with a tooth of the larger diameter sprocket (1), said tooth being the tooth behind said centre (O2) between adjacent teeth of the larger diameter sprocket in the direction of drive rotation."
2
In der Klagepatentschrift ist dieser Anspruch wie folgt in die deutsche Sprache übersetzt: "Mehrstufige Kettenradanordnung für ein Fahrrad, enthaltend mindestens ein Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser, mindestens ein Kettenrad (2) mit einem kleineren Durchmesser und eine Antriebskette (3), wobei das Kettenrad (1) oder jedes der Kettenräder (1) mit einem größeren Durchmesser an seinem Außenumfang eine gegebene Anzahl an Zähnen aufweist, die in Abständen voneinander angeordnet sind, die dem Lochabstand der Kette (3) entsprechen, sowie das Kettenrad (2) oder jedes der Kettenräder (2) mit einem kleineren Durchmesser an seinem Außenumfang Zähne aufweist, deren Anzahl kleiner als die Anzahl der Zähne des Kettenrads (1) mit einem größeren Durchmesser ist und die in Abständen voneinander angeordnet sind, die dem Lochabstand der Kette (3) entsprechen, und wobei die Kettenräder (1) und (2) derart angeordnet sind, dass die Mitte (O2) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des Kettenrads (1) mit einem größeren Durchmesser sich auf einer Tangente befindet, die sich von der Mitte (O1) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des Kettenrads mit einem kleineren Durchmesser aus entlang des Laufwegs der Antriebskette (3) im Eingriff mit dem Kettenrad (2) mit einem kleineren Durchmesser erstreckt, wenn die Kette (3) von dort in Eingriff mit dem Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser versetzt wird, wobei die Entfernung zwischen den genannten Mitten (O1, O2) mindestens im Wesentlichen ein ganzzahliges Vielfaches des Lochabstandes der Kette ist, dadurch gekennzeichnet, dass das genannte Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser an seiner Innenoberfläche mit einer Kettenführungsoberfläche (4) versehen ist, die dem Kettenrad (2) mit einem kleineren Durchmesser zugewandt ist, und auf dem Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser an einer Position , die im Laufweg zwischen den genannten Mitten (O1, O2) zwi- schen benachbarten Zähnen der Kettenräder, wo die Kette mit dem Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser in Kontakt kommt, wobei die Kettenführungsoberfläche (4) eine derartige Gestalt und Größe aufweist, dass sie eine ganze Gliedplatte eines Gliedes der Kette aufnimmt und bewirkt, dass das Glied in Richtung auf das Kettenrad (1) mit einem größeren Durchmesser vorgespannt wird, wenn die Kette das Kettenrad mit einem kleineren Durchmesser verlässt und beginnt, mit einem Zahn des Kettenrads (1) mit einem größeren Durchmesser in Eingriff zu kommen, wobei dieser Zahn der Zahn hinter der Mitte (O2) zwischen benachbarten Zähnen des Kettenrads mit einem größeren Durchmesser in der Antriebsdrehrichtung ist."
3
Die Beklagte zu 1, deren Geschäftsführer der Beklagte zu 2 war, und die Beklagte zu 3 vertreiben in der Bundesrepublik Deutschland unter den Bezeichnungen "S. 5.0" und "S. 7.0" Zahnkränze (Kassetten) für Fahrräder , wegen deren Ausgestaltung auf die Abbildungen im Tatbestand des in derselben Sache ergangenen Senatsurteils vom 13. Februar 2007 (BGHZ 171, 120 - Kettenradanordnung I) verwiesen wird. Die Klägerin sieht das Klagepatent durch diese Erzeugnisse verletzt und nimmt die Beklagten deswegen auf Unterlassung und Auskunftserteilung in Anspruch und begehrt des Weiteren die Feststellung ihrer Verpflichtung zum Schadensersatz.
4
Das Landgericht hat, sachverständig beraten, im Wesentlichen antragsgemäß erkannt. Das Berufungsgericht hat die Klage nach Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens abgewiesen. Diese Entscheidung hat der Senat durch sein vorgenanntes Urteil vom 13. Februar 2007 aufgehoben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das die Klage abermals abgewiesen hat. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe:


5
Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
6
I. Das Klagepatent betrifft eine mehrstufige Kettenradanordnung für ein Fahrrad mit Kettenrädern (Ritzeln) unterschiedlicher Durchmesser, zwischen denen zum Gangwechsel die Antriebskette versetzt wird.
7
Der Klagepatentschrift zufolge war im Stand der Technik bekannt, Kettenräder mit kleinerem und solche mit (nächst)größerem Durchmesser so anzuordnen , dass sich die Mitte zwischen einem Paar benachbarter Zähne des größeren Kettenrads auf einer Tangente befindet, die sich von der Mitte zwischen einem Paar benachbarter Zähne des kleineren Kettenrads erstreckt, und dass die Entfernung zwischen diesen Mittelpunkten ein ganzzahliges Vielfaches des Lochabstands (der Teilung) der Kette beträgt. Diese Anordnung soll ermöglichen , dass beim Schalten vom kleineren auf das größere Kettenrad durch Schrägstellen ("biase") der Antriebskette ein in Antriebsdrehrichtung hinter der genannten Mitte angeordneter erster Zahn des größeren Kettenrads leicht in Eingriff mit der Kette gebracht wird. Die Kette passt dabei besonders gut auf den "ersten Zahn", wenn das betreffende Glied der Kette, die abwechselnd aus Paaren innerer und äußerer Gliedplatten besteht, ein Kettenglied mit äußeren Gliedplatten ist.
8
Die Klagepatentschrift bemängelt, dass selbst wenn ein solches Kettenglied mit dem "ersten Zahn" korrespondiert, die Endfläche des Kettenstifts und die äußere Oberfläche der äußeren Gliedplatte an der inneren Oberfläche des größeren Kettenrads störend angreifen, so dass die Kette nicht weiter in Richtung auf dieses hin transportiert wird und infolgedessen den ersten Zahn nicht zuverlässig ergreifen kann. Als ähnlich problematisch wird der Schaltvorgang für den Fall geschildert, dass ein Kettenglied mit inneren Gliedplatten mit dem "ersten Zahn" korrespondiert. Unter Berücksichtigung dieser geschilderten Schwierigkeiten soll das technische Problem gelöst werden, die Zuverlässigkeit des Schaltvorgangs weiter zu verbessern.
9
Erfindungsgemäß soll dies durch eine mehrstufige Kettenradanordnung erreicht werden, die nach Maßgabe der nachfolgenden Merkmalsgliederung
a) zumindest ein Kettenrad mit größerem Durchmesser,
b) zumindest ein Kettenrad mit kleinerem Durchmesser und
c) eine Antriebskette umfasst, wobei
d) jedes Kettenrad an seinem Umfang eine gegebene Anzahl von Zähnen aufweist, deren Abstand voneinander der Teilung der Antriebskette entspricht,
e) die Anzahl der Zähne des Kettenrads mit kleinerem Durchmesser geringer als die Anzahl der Zähne des Kettenrads mit größerem Durchmesser ist,
f) die Kettenräder so angeordnet sind, dass die Mitte (O2) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des größeren Kettenrads sich auf einer Tangente befindet, die sich f1) von der Mitte (O1) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des kleineren Kettenrads ("extending from the centre …") aus, f2) entlang des Laufwegs der Antriebskette im Eingriff mit dem kleineren Kettenrad erstreckt, wenn die Kette von dort in Eingriff mit dem größeren Kettenrad versetzt wird, f3) wobei der Abstand zwischen den Mittelpunkten (O1, O2) jedenfalls im Wesentlichen ("at least substantially" ) ein ganzzahliges Vielfaches der Kettenteilung ist, und wobei
g) das größere Kettenrad mit einer Kettenführungsfläche versehen ist, die g1) an der inneren Oberfläche dieses Kettenrads dem kleineren Kettenrad zugewandt ist und g2) sich dort befindet, wo die Kette auf dem Laufweg zwischen den Mittelpunkten (O1, O2) mit dem größeren Kettenrad in Berührung kommt, und wobei
h) die Kettenführungsfläche eine derartige Gestalt und Größe aufweist, dass sie h1) eine ganze Gliedplatte eines Kettengliedes aufnimmt ("to receive an entire link plate of a link …") und h2) bewirkt, dass das Kettenglied in Richtung auf das größere Kettenrad schräggestellt wird ("to cause the link to be biased towards the larger diameter sprocket"), wenn die Kette das kleinere Kettenrad verlässt und der Eingriff mit einem Zahn des größeren Kettenrads beginnt, h3) wobei der betreffende Zahn in Antriebsdrehrichtung hinter der Mitte (O2) liegt.
10
Wegen der Auslegung der Merkmale f, f1 und f2 durch den Senat wird auf die Randnummern 21 ff. des Urteils vom 13. Februar 2007 Bezug genommen. Die Verwirklichung dieser Merkmale durch die angegriffenen Ausführungsformen ist danach unstreitig geworden.
11
II. Das Berufungsgericht hat angenommen, für die Auslegung des Merkmalselements "jedenfalls im Wesentlichen" sei maßgeblich, dass die Zusammenwirkensfunktion des Merkmals f3 mit den anderen, der verbesserten Schalttechnik dienenden Merkmalen für den Fachmann noch erkennbar gegeben sei, wobei er reine Fertigungstoleranzen als von diesem Begriff selbstverständlich umfasst ansehe. Es hat des Weiteren gemeint, der tatsächliche Vortrag der Klägerin sei nicht geeignet, eine wortsinngemäße Verwirklichung des Merkmals f3 - dessen Benutzung mit abgewandelten Mitteln die Klägerin nicht geltend mache - durch die angegriffenen Ausführungsformen zu belegen. Die von der Klägerin vorgetragenen Messwerte offenbarten ausnahmslos Abweichungen vom ganzzahligen Vielfachen der Kettenteilung oberhalb der vom Sachverständigen als zulässig erachteten Fertigungs- bzw. Messtoleranzen von 0,2 mm.
12
Es sei damit zu prüfen, ob die von der Klägerin gemessenen Abweichungen zu Funktionsabweichungen hinsichtlich der Lehre des Klagepatents führten. Die von der Klägerin angewandte Messmethode habe faktisch zur Folge, dass als Bezugspunkt der Punkte O1 und O2 die Rollenmitte anzusetzen sei. Diese Festlegung sei jedoch nicht zwingend. Ausweislich der Beschreibung (Übersetzung S. 11, 3. Abs.) seien die Punkte O1 und O2 im Sinne der technischen Lehre des Klagepatents zwar nicht bestimmt, wohl aber bestimmbar. Diese Lehre beschränke sich insoweit auf die Angabe eines Verhältnisses der Punkte O1 und O2 zueinander und lege deren Lage nur insoweit fest, als sie im Zusammenspiel mit den anderen Merkmalen ihre Funktion noch ausüben könnten. Die im Kettenverlauf angelegte Gerade könne, da sie nach der Auslegung durch den Bundesgerichtshof keine Tangenteneigenschaft im mathematischen Sinn aufweisen müsse, in ihrer Lage variieren, denn der Berührpunkt zu den Kettenrädern verändere sich zwangsläufig, je nachdem, wo die Berührung an der Oberfläche des Zahns beginne. Dementsprechend seien die Punkte O1 und O2 in ihrer Lage auf den Mittellinien in bestimmten Grenzen variabel, und, wann ein ganzzahliges Vielfaches bei einer angegriffenen Ausführungsform mit den nach dem Klagepatent erwünschten technischen Wirkungen vorliege, müsse im Einzelfall nach der Verhältnisangabe im Merkmal f3 geklärt werden.
13
Es sei Sache der Klägerin, die zwar nicht bestimmten, aber bestimmbaren Punkte O1 und O2 entsprechend der Verhältnisangabe nach der Lehre des Klagepatents bei den angegriffenen Ausführungsformen festzulegen. Die von der Klägerin ermittelten tatsächlichen Abweichungen bei den angegriffenen Ausführungsformen seien ohne exakte Bestimmung der Lage der Punkte O1 und O2 dort nach der Lehre des Klagepatents gemessen worden und deshalb nicht aussagekräftig, denn die Messmethode gehe in diesem Fall mit den Rollenmitten von zwei Punkten aus, deren technische Unabdingbarkeit nicht festliege , und die daher eine andere Bestimmungsmethode als die angewandte erfordere.
14
III. Die Ausführungen des Berufungsgerichts bieten keine tragfähige Grundlage für die ausgesprochene Klageabweisung.
15
1. Weiteren Vortrags der Klägerin zur Position der Mitten O1 und O2, bei den angegriffenen Ausführungsformen bedurfte es entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht. Es hätte vielmehr zu prüfen gehabt, ob die Klägerin die Positionen der Mitten O1 und O2 in einer Weise bestimmt und ihren Mes- sungen zugrunde gelegt hat, die der Auslegung der Merkmale f, f1 und f2 durch den Senat entsprach. An diese Auslegung war das Berufungsgericht auch bei Auslegung des Merkmals f3 gebunden (§ 563 Abs. 2 ZPO), weil die Position der Punkte O1 und O2 auf der Winkelhalbierenden in Merkmal f3 nicht neu und anders als in den Merkmalen f, f1 und f2 bestimmt, sondern damit identisch ist. Der eigenständige Sinngehalt des Merkmals f3 beschränkt sich auf die Vorgaben für die Bemessung des Abstands O1 - O2.
16
a) Das Klagepatent bestimmt die Position der Punkte O1 und O2 anhand zweier Parameter. Es legt sie zum einen in die "Mitte" ("the centre") zwischen zwei Zähnen des größeren (O2) bzw. des kleineren (O1) Kettenrads (Merkmale f und f1) und ordnet zum anderen an, dass die Mitte (O2) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des größeren Kettenrads sich auf einer Geraden (Tangente ) befindet, die sich von der Mitte (O1) zwischen einem Paar benachbarter Zähne des kleineren Kettenrads aus entlang des Laufwegs der Antriebskette im Eingriff mit dem kleineren Kettenrad erstreckt. Der Senat hat das Klagepatent im Urteil vom 13. Februar 2007 insoweit dahin ausgelegt, dass sich die Lage der Punkte O1 und O2 aus den Schnittpunkten der Mittellinie zwischen den zwei Zahnpaaren mit einer in Übereinstimmung mit dem Kettenverlauf angelegten Geraden ergebe (aaO Tz. 23).
17
Bei der Auslegung ist zu berücksichtigen, dass die Antriebskette realiter keine ideal reduzierte Linie darstellt, sondern einen dreidimensionalen körperlichen Gegenstand mit bestimmten Abmessungen bildet. Als ein solches körperliches Gebilde kann die Kette die besagte Mittellinie dementsprechend an verschiedenen Stellen schneiden, was sich wiederum auf die Länge der Strecke O1 - O2 auswirken kann, je nachdem, wie der Schnittpunkt bestimmt wird. Hinzu kommt, dass die Kette nicht bei jedem Schaltvorgang zwangsläufig immer in gleicher Position vom kleinen Zahnrad abläuft, was wiederum den Verlauf und die Länge der Strecke O1 - O2 beeinflussen kann. Patentanspruch 1 des Klagepatents trifft keine konkreteren Anweisungen zur Lokalisierung der Punkte O1 - O2 und legt es damit in die Hände des Fachmanns, die Position der beiden Punkte zu bestimmen.
18
b) Dass der Anspruch in diesem Punkt offen formuliert ist, wird den Fachmann aus technischen Gründen nicht überraschen. Denn die in der Merkmalsgruppe f zusammengefassten Merkmale gehören - bis auf die Relativierung des Abstands O1 - O2 als ein "jedenfalls im Wesentlichen ganzzahliges Vielfaches der Kettenteilung" - nicht zum kennzeichnenden Teil des Klagepatents , sondern stellen dem Fachmann vertrauten Stand der Kettenschaltungstechnik dar. Die Klagepatentschrift spricht davon, dass die Kettenräder "herkömmlicherweise" so angeordnet werden, dass der Abstand O1 - O2 ein ganzzahliges Vielfaches der Kettenteilung beträgt.
19
c) Bei Festlegung der Bezugspositionen für die Punkte O1 - O2, für die aus fachmännischer Sicht eine gewisse Bandbreite von radialen Positionen der Punkte O1 - O2 in Betracht kommt (vorstehend III 1 a), wird der Fachmann einen standardisierten Mittelwert anstreben, der Gewähr dafür bietet, dass das mit der Auslegung des Abstands der beiden Punkte verfolgte Ziel möglichst oft erreicht wird. Dieses besteht darin, dass der erste Zahn hinter dem Punkt O1 des größeren Kettenrades beim Gangwechsel zum Kettenrad mit dem größeren Durchmesser leicht in Eingriff mit der Antriebskette gebracht wird (Beschr. Sp. 1 Z. 11-30 [Übers. S. 1, 2. Abs.]). Aus fachmännischer Sicht wird es naheliegen, die radialen Positionen der Punkte O1 und O2 so festzulegen, dass sie auf der Mitte zwischen zwei Zähnen des größeren und des kleineren Kettenrads (den Winkelhalbierenden) liegen, und zwar in der Höhe, die bei mittig auf den Zahn- fußausrundungen aufliegender Kette dem Kreismittelpunkt der Kettenrolle entspricht.
20
2. Das Klagepatent sieht für die Einstellung des Abstands O1 - O2 im Unterschied zum Stand der Technik gewisse Abweichungen vom exakten ganzzahligen Vielfachen der Kettenteilung vor, deren zulässige Größenordnung es durch die Angabe "jedenfalls im Wesentlichen" ("at least substantially") umschreibt. Das Berufungsgericht hat diese Anweisung nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe dahin ausgelegt, dass diese Abweichungen die Fertigungstoleranzen , die es im Anschluss an die Erläuterungen des Sachverständigen auf 0,2 mm bemessen hat, nicht überschreiten. Dagegen wendet die Revision sich ebenfalls zu Recht.
21
a) Das vom Berufungsgericht gefundene Auslegungsergebnis, dass die gemäß Merkmal f3 möglichen Abweichungen auf Fertigungstoleranzen begrenzt sein sollen, findet in der Klagepatentschrift keinen Rückhalt. Es sind vielmehr die Ausführungen in der Beschreibung zu dem Problem, dass der Durchmesser der Zahnfußausrundungen größer sein kann, als der Durchmesser der Kettenrollen (elliptische oder Langlochform; vgl. dazu Sp. 7 Z. 46 ff. [Übers. S. 11, 2. vollständiger Abs.]), die Hinweise auf die Größenordnung der Abweichungen geben, die das Klagepatent aus technischen Gründen im Auge hat. Wenn die Kette bei solchen Ausgestaltungen vom kleineren auf das größere Kettenrad versetzt wird, stößt die Rolle am kleineren Kettenrad an der rückwärtigen Oberfläche eines Zahns vor der Rolle in Antriebsdrehrichtung dieses Kettenrads an. Die Rolle, die sich in Richtung zum größeren Kettenrad hin bewegt, soll an der vorderen Oberfläche des ersten Zahns (11) in Antriebsdrehrichtung dieses Kettenrads anstoßen, um von deren Zahn gefangen zu werden. Damit das trotz des durch die vergrößerten Zahnfußausrundungen verlängerten Laufwegs der Kette reibungslos gelingt, werden beide Kettenräder so ausgerichtet, dass der Abstand L etwas kleiner als ein ganzzahliges Vielfaches des Lochabstands der Kette (Kettenteilung) ist, (vgl. Sp. 7 Z. 46 ff. [Übers. S. 11, 2. vollständiger Abs.]).
22
Ersichtlich geht es dem Klagepatent mit der Relativierung "jedenfalls im Wesentlichen" also darum, die durch die unterschiedlich weiten Ausformungen der Zahnfußausrundungen auftretenden Differenzen bei der Positionierung der Ritzel durch eine gewisse Abweichung vom exakten Vielfachen der korrespondierenden Zähne zueinander auszugleichen. Außerdem ist aus fachmännischer Sicht zu bedenken, dass die Schaltungstechnik als solche durch einen vergleichsweise groben mechanischen Ablauf - die Kette wird beim Schalten vom kleineren Kettenrad durch mechanische Krafteinwirkung schräg gestellt, bis sie auf dem größeren Ritzel aufliegt - gekennzeichnet ist, der ebenfalls spürbare Abweichungen vom exakten ganzzahligen Vielfachen der Kettenteilung als angemessen erscheinen lassen kann.
23
b) Das Berufungsgericht wird das Merkmal f3 unter Berücksichtigung dieser Vorgaben erneut auszulegen haben. Bei Würdigung des zur Verletzung vorgetragenen Sachverhalts wird das Berufungsgericht zu beachten haben, ob die Positionierung der Punkte O1 - O2, die diesem Vorbringen zugrunde liegt, im Bereich der nach fachmännischem Verständnis (oben III 1 c) dafür in Betracht kommenden Festlegungen liegt, und die - an sich dem Stand der Technik entnommene und lediglich um die Relativierung "...jedenfalls im Wesentlichen..." ergänzte Merkmalsgruppe f verwirklicht ist, um sich gegebenenfalls dann der Prüfung der Merkmalsgruppe h zuzuwenden.
24
IV. Das Berufungsgericht hat zu der Frage, wann im Patentverletzungsprozess ein Sachverständiger einzuschalten sei, erwogen, ob es, wenn das Patent aus der Sicht des Durchschnittsfachmanns ausgelegt werde, prozessual erforderlich sei, dass zu den Grundlagen des Verständnisses des Durchschnittsfachmanns, etwa zu seiner Ausbildung und seiner Fachkunde am Prioritätszeitpunkt, von den Parteien vorgetragen werde. Die Instanzentscheidungen in Verletzungsverfahren enthielten regelmäßig keine Feststellungen zu den tatsächlichen Grundlagen, die den (fiktiven) Durchschnittsfachmann in die Lage versetzten, das eine oder andere Verständnis vom Patent und seinen Ansprüchen zu entwickeln. Ob das Verständnis des Durchschnittsfachmanns von einem nicht-technisch besetzten Gericht ohne technische Unterstützung beurteilt werden könne, insbesondere dann, wenn die als Beurteilungsgrundlage für das Verständnis des Schutzrechts erforderlichen Grundlagen von den Parteien nicht vorgetragen worden seien, sei eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Das Patent werde in solchen Fällen zwar aus Sicht des Durchschnittsfachmanns ausgelegt, warum dieser eine bestimmte Sicht habe, bleibe aber weitestgehend ungeklärt. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts geben zu den folgenden Ausführungen über die Grundlagen der Patentauslegung Gelegenheit.
25
1. Patentansprüche haben nach der Rechtsprechung des Senats Rechtsnormcharakter (Sen.Beschl. vom 8. Juli 2008 - X ZB 13/06 Tz. 13, GRUR 2008, 887 - Momentanpol II; BGHZ 180, 215 Tz. 16 - Straßenbaumaschine ). Deshalb ist es originär richterliche Aufgabe, den objektiven Sinngehalt der mit dem jeweiligen Schutzrecht unter Schutz gestellten Lehre eigenständig durch Auslegung der Patentansprüche - gegebenenfalls unter Heranziehung von Beschreibung und Zeichnungen - zu ermitteln. Darum hat der Senat es in der Vergangenheit beanstandet, wenn das Berufungsgericht sich die vom Sachverständigen "als Durchschnittsfachmann" vorgenommene Auslegung eines Klagepatents ohne erkennbar eigene Wertung zu eigen gemacht und seine Entscheidung darauf gestützt hat, anstatt das Klagepatent selbst auszulegen (BGHZ 164, 261 - Seitenspiegel; vgl. auch BGHZ 171, 120 - Kettenradanordnung I; Sen.Urt. v. 12.2.2008 - X ZR 153/05, GRUR 2008, 779 - Mehrgangnabe) oder wenn es sich nicht in der Lage gesehen hat, die Frage der Patentverletzung zu entscheiden, nachdem der gerichtliche Sachverständige erklärt hatte, ein Merkmal des Klagepatents nicht definieren zu können (BGHZ 180, 215 - Straßenbaumaschine).
26
2. Soweit das Berufungsgericht im angefochtenen Urteil davon spricht, das Patent sei "aus der Sicht des (Durchschnitts-)Fachmanns auszulegen", besteht Anlass zu weiterer Klarstellung. Auch wenn das fachmännische Verständnis der im Patentanspruch verwendeten Begriffe und des Gesamtzusammenhangs des Patentanspruchs Grundlage der objektiven Patentauslegung ist (vgl. etwa Sen.Urt. GRUR 2008, 779 Tz. 31 f. - Mehrgangnabe), heißt das gerade nicht, dass das Gericht lediglich das Sprachrohr des vom Sachverständigen dargelegten fachmännischen Verständnisses ist. Aufgabe des vom Gericht gegebenenfalls zurate gezogenen Sachverständigen ist es vielmehr, wie der Senat vielfach ausgesprochen hat, lediglich, dem Gericht gegebenenfalls die für das Verstehen der unter Schutz gestellten Lehre erforderlichen technischen Zusammenhänge zu erläutern und den erforderlichen Einblick in die Kenntnisse , Fertigkeiten und Erfahrungen der jeweils typischen, im Durchschnitt der beteiligten Kreise angesiedelten Vertreter der einschlägigen Fachwelt einschließlich ihrer methodischen Herangehensweise zu vermitteln. Die hierzu gemachten Angaben fließen in die gerichtliche Auslegung der Patentansprüche lediglich ein (vgl. BGHZ 171, 120 Tz. 18, - Kettenradanordnung I; Sen.Urt. GRUR 2008, 779 Tz. 31 f. - Mehrgangnabe; vgl. zur strukturell ähnlich gelagerten Frage, ob ein Sachverständiger auch dazu befragt werden kann, ob Schäden oder Mängel eines Gebäudes für dessen Eigentümer bzw. Bewohner erkennbar waren BGH, Beschl. v. 8.10.2009 - V ZB 84/09). Dagegen zielt die Hinzuziehung des Sachverständigen nicht auf die Beantwortung von Rechtsfragen, was unzulässig wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 8.10.2009 - V ZB 84/09 Tz. 10).
27
3. Ob im Hinblick auf die vom Gericht vorzunehmende Auslegung der Patentansprüche ein Sachverständiger hinzugezogen werden muss, hängt zunächst davon ab, ob und gegebenenfalls welchen streitigen Vortrag die Parteien zu tatsächlichen Umständen gehalten haben, die des unmittelbaren Beweises mit zivilprozessual zulässigen Beweismitteln zugänglich sind und als solche für sich oder zusammen mit anderen derartigen Umständen Anhaltspunkte beispielsweise dafür zu geben vermögen, welche technischen Zusammenhänge bedeutsam sein könnten, wer als Durchschnittsfachmann in Betracht zu ziehen sein könnte, welche Ausbildung seine Sicht bestimmen könnte etc. Dies ist dem Beibringungsgrundsatz geschuldet, der im Patentverletzungsprozess beachtet werden muss, weil er als Zivilprozess geführt wird. Fehlt Vortrag der Parteien hierzu, obwohl Angaben zu solchen unmittelbaren Tatumständen erwartet werden können, oder erscheint der gehaltene Vortrag insoweit unvollständig, hat das Gericht außerdem § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu beachten. Es hat dann darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich ausreichend erklären. So werden regelmäßig Angaben dazu verlangt werden können, auf welchem technischen Gebiet die Erfindung liegt, welche Unternehmen auf diesem Gebiet tätig sind, wie die beschäftigten Mitarbeiter ausgebildet sind bzw., ob sie eigene Entwicklungsabteilungen mit besonders geschultem oder erfahrenem Personal unterhalten.
28
Selbst wenn diese oder andere dem unmittelbaren Beweis zugängliche Tatsachen zwischen den Parteien unstreitig sind, kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten sein, weil es Fälle geben kann, in denen die Kenntnis derartiger Tatsachen allein nicht ausreicht, um auf die ihrerseits dem unmittelbaren Beweise nicht zugängliche Sicht des Fachmanns zu schließen oder die technischen Zusammenhänge zuverlässig zu bewerten. Dies bedingt , dass das Verletzungsgericht in jedem Einzelfall eigenverantwortlich prüft, ob es aus diesem Grund einen Sachverständigen hinzuzieht. Die gesetzliche Handhabe hierzu bietet dem Tatrichter § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
29
Im Hinblick darauf, dass bereits die Antwort auf Fragen, welche technischen Zusammenhänge beachtlich sind, und welche fachmännische Sicht zugrunde zu legen ist, ihrerseits nur auf Grund einer Wertung zu finden ist, unterliegt der im Rahmen des § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO getroffene Entschluss des Verletzungsgerichts, die Patentansprüche auszulegen, ohne zuvor einen Sachverständigen hinzuzuziehen, jedoch nicht lediglich der Ermessenskontrolle, die bei § 144 Abs. 1 ZPO normaler Weise nur erfolgen darf. Denn als Wertung ist schon die die technischen Zusammenhänge und die Sicht des Fachmanns betreffende Würdigung Teil der die Patentauslegung ausmachenden Bestimmung , wie der betreffende Patentanspruch zu bewerten ist. Damit greift auch insoweit die ständige Rechtsprechung, wonach die Patentauslegung der uneingeschränkten Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt.
30
V. Die Revision beanstandet, das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass die Klägerin eine Verwirklichung der Merkmalsgruppe f in vom Wortsinn abweichender Form nicht geltend gemacht habe. Sie verweist dazu auf Schriftsätze der Klägerin in den Tatsacheninstanzen, in denen die Klägerin sich die Aussagen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Z. zu eigen gemacht habe, wonach die Merkmalsgruppe f in den angegriffenen Ausführungsformen jedenfalls als Ganzes äquivalent benutzt sein soll.
31
Mit diesem Vorbringen allein wird der geltend gemachte Verfahrensverstoß des Berufungsgerichts nicht hinreichend dargelegt (§ 551 Abs. 3 Nr. 2 lit. b ZPO). Ob der Kläger die Verurteilung (zumindest) wegen Verletzung des Klagepatents in vom Wortsinn abweichender Form begehrt, ist nicht allein eine Frage des Sachvortrags, sondern in erster Linie eine solche der entsprechenden Antragstellung. Aus dem Klageantrag muss sich ergeben, welche Ausführung der Kläger als Verletzungsform angreift. Die Ausführung ist im Hinblick auf die Vorgaben des Patentanspruchs zu beschreiben. Soll eine Ausführungsform als vom erteilten Klagepatent erfasst angegriffen werden, die nach Ansicht des Klägers eine vom Wortsinn abweichende Gestalt aufweist, muss sich aus dem Antrag ergeben, in welcher tatsächlichen Gestaltung sich die Abweichung von den Vorgaben des Patentanspruchs verkörpern soll. Dazu trägt die Revision nichts vor und die im angefochtenen Berufungsurteil enthaltenen Anträge haben in Bezug auf die Merkmalsgruppe f lediglich eine dem Wortsinn des Patentanspruchs entsprechende Verletzungsform zum Gegenstand.
32
Ergibt sich aus dem klägerischen Sachvortrag, dass (auch) eine Verletzung des Klagepatents in vom Wortsinn abweichender Form geltend gemacht werden soll, ohne dass dies in den Klageanträgen einen Niederschlag gefunden hat, hat das Tatsachengericht dies im Rahmen der ihm obliegenden Verpflichtung , auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken (§ 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO), zu erörtern.
33
Für das wiedereröffnete Berufungsverfahren bemerkt der Senat, dass die Frage einer möglichen Verletzung in vom Wortsinn abweichender Form sich, wenn bei der Auslegung des Merkmals f3 auf Funktions- und nicht lediglich auf Fertigungstoleranzen abgestellt wird, gegebenenfalls anders stellt, als bisher, insbesondere dann, wenn die Funktionstoleranzen erheblich größer zu bemes- sen sind, als die vom Berufungsgericht festgestellten Fertigungstoleranzen. Wenn schon die wortsinngemäße Verletzung eine deutliche Abweichung vom exakt Mehrfachen der Kettenteilung erfasst, bleibt für eine Verletzung unter Benutzung abgewandelter Mittel unter dem Gesichtspunkt zusätzlicher Streckentoleranzen möglicherweise nur noch enger Raum, was sich abschließend aber erst in einer Gesamtschau aller Merkmale beurteilen lässt.

Scharen Asendorf Gröning
Berger Grabinski
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 11.06.2003 - 21 O 21210/00 -
OLG München, Entscheidung vom 20.03.2008 - 6 U 4058/03 -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 51/06 Verkündet am:
11. Mai 2010
Anderer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Polymerisierbare Zementmischung
EPÜ Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b; IntPatÜbkG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2; PatG § 99 Abs. 1;

a) Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes (hier: unzureichende Offenbarung
) in der Berufungsinstanz, nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht
nur auf einen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II
§ 6 Abs. 1 IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine
Klageänderung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1
ZPO dar, welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren anwendbar
ist.

b) Der Nichtigkeitskläger trägt die Beweislast dafür, dass es dem Fachmann auch
nach Kenntnisnahme der Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der
Patentschrift nicht möglich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fachwissens
ohne unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen.
BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Mai 2010 durch den Vorsitzenden Richter Scharen und die
Richter Gröning, Dr. Berger, Dr. Grabinski und Hoffmann

für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 15. Februar 2006 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 0 219 058 (Streitpatents), das am 8. Oktober 1986 angemeldet wurde und am 8. Oktober 2006 durch Zeitablauf erloschen ist. Das Streitpatent betrifft "polymerisierbare Zementmischungen" und umfasst in der erteilten Fassung 37 Patentansprüche.
2
Die Beklagte hat die Klägerin aus dem Streitpatent wegen Patentverletzung in Anspruch genommen. Der Rechtsstreit ist derzeit in der Berufungsinstanz bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main anhängig.
3
Die Klägerin hat das Streitpatent mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen und im Wesentlichen geltend gemacht, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nicht neu sei und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zur Begründung hat sie insbesondere auf die britische Patentanmeldung 2 094 326 (Anlage D1 und Übersetzung), die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (Anlage D4), die europäische Patentschrift 0 115 410 B1 respektive die europäische Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a und Übersetzung) und die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7 und Übersetzung) verwiesen. Zudem hat die Klägerin die unangemessene Breite des Patentanspruchs 1 gerügt.
4
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent durch Urteil vom 15. Februar 2006 dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die Patentansprüche folgende Fassung erhalten haben: "1. Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltend
a) polymerisierbare, ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten,
b) feinteilige, reaktive Füllstoffe, die mit diesen Säuren oder Säurederivaten reagieren können, nämlich Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO) Silikatzementen oder Ionomerzementen sowie
c) Härtungsmittel, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponenten a) und b) derart ausgewählt sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füllstoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen.
2. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen mindestens zwei polymerisierbare Gruppen und mindestens zwei Säuregruppen bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
3. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen drei oder mehr po-
lymerisierbare Gruppen und drei oder mehr Säuregruppen bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
4. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch ge- kennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Ver- bindungen Acryl-, Methacryl-, Vinyl-, Styryl- oder eine Mischung dieser Gruppen enthalten.
5. Mischung nach Anspruch 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Verbindungen Acryl- oder Methacrylgruppen enthalten.
6. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 5, dadurch ge- kennzeichnet, dass die Säuregruppen Carbonsäurereste oder deren Salze, Phosphorsäurereste der Formeln

oder deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl oder Vinyl bedeutet, Schwefelsäurereste der Formeln - SO2H SO3H, -O-SO3H oder deren Salze oder Borsäurereste der Formeln

deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl, Vinyl bedeutet, sind.
7. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 6, dadurch ge- kennzeichnet, dass die reaktiven Säurederivatgruppen in Form von Säurehalogeniden oder -anhydriden vorliegen.
8. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeich- net, dass das ungesättigte Monomer ein Halophosphorsäure- ester des Bis-GMA ist.
9. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeich- net, dass die Oligomeren oder Prepolymeren solche Verbin- dungen sind, die die polymerisierbaren ungesättigten Gruppen und die Säurereste, deren Salze oder deren reaktive Derivate an ein oligomeres oder prepolymeres Grundgerüst gebunden enthalten.
10. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder prepolymeren Grundgerüste Homooder Copolymerisate von ethylenisch ungesättigten Monomeren sind.
11. Mischungen nach Anspruch 10, dadurch gekennzeichnet, dass sie poly(meth-)acrylierte Oligomaleinsäure, poly(meth-) acrylierte Polymaleinsäure, poly(meth-)acrylierte Poly(meth-) acrylsäure, poly(meth-)acrylierte Polycarbon-polyphosphonsäure , poly(meth-)acrylierte Polychlorophosphorsäure, poly (meth-)acryliertes Polysulfonat oder poly(meth-)acrylierte Polyborsäure enthalten.
12. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder polymeren Grundgerüste Polyester, Polyamide, Polyether, Polysulfone, Polyphosphazene oder Polysaccaride sind.
13. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Oligomeren ein Molekulargewicht von mindestens 500 aufweisen.
14. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von mindestens 1.500 aufweisen.
15. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 100.000 aufweisen.
16. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 20.000 aufweisen.
17. Mischungen nach Anspruch 1 bis 16, dadurch gekennzeichnet , dass die Monomeren, Oligomeren oder Prepolyme- ren außer den Säure- und polymerisierbaren Gruppen Aldehyd -, Epoxid-, Isocyanat oder Halotriazingruppen enthalten.
18. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 17, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere polymerisierbare
ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere enthalten, die keine Säuregruppen oder deren reaktive , leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen.
19. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 18, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere Verbindungen enthalten, die Säuregruppen oder deren reaktive, leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen, aber keine Gruppen enthalten, die ungesättigt und polymerisierbar sind.
20. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren, säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von mindestens 5 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.
21. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von 20 % bis 60 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.
22. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 21, dadurch gekennzeichnet, dass zusätzliche, im Sinne von Zementab- binderreaktionen nicht reaktive, anorganische oder organische Füllstoffe zugemischt sind.
23. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 22, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 5 % beträgt.
24. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 22, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 30 % beträgt.
25. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 24, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil des Gesamtfüllstoffs zwi- schen 10 % und 95 % der Mischung beträgt.
26. Mischungen nach Anspruch 1 bis 25, dadurch gekennzeichnet , dass das Härtungsmittel ein Polymerisationskataly- sator oder -system ist.
27. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorsystem lichtaktivierbar ist und aus einem Gemisch aus einem αDiketon und einem tertiären Amin und/oder einem tertiären Phosphin besteht.
28. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorensys- tem aus 2 getrennten Komponenten besteht, wobei die eine Komponente ein organisches Peroxid und die andere Komponente ein tertiäres Amin, eine Schwefelverbindung, in der Schwefel in der Oxidationsstufe + 2 oder + 4 vorliegt, oder ein
Gemisch der beiden ist, oder chelatbildende zweiwertige Metallionen enthält.
29. Mischungen nach Anspruch 28, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponente eines 2-Komponenten Gemisches, die die Schwefelverbindung enthält, keine polymerisierbare säure - oder säuregruppenenthaltende Verbindungen, jedoch mindestens ein polymerisierbares Monomer mit Hydroxylgruppen enthält.
30. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 29 als härtbare Mischungen zum Ausfüllen, Versiegeln und Kleben von oxidischen, mineralischen, glasartigen, keramischen , metallischen und biologischen Substraten.
31. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 29 als haftvermittelnde Schicht zwischen oxidischem, mineralischem , glasartigem, keramischem, metallischem oder biologischem Substrat und radikalisch polymerisierbaren Kunststoffmaterialien.
32. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zum Herstellen von ausgehärteten Formkörpern.
33. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zur Herstellung von Produkten oder Zubereitungen für dentale und medizinische Zwecke."
5
Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
6
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie vertritt die Ansicht, dass Anspruch 1 des Streitpatents auch in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts mangels Neuheit bzw. erfinderischer Tätigkeit nicht patentfähig sei. Auch den Ansprüchen 2 bis 33 komme keine eigenständige Patentfähigkeit zu.
7
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bundespatentgerichts abzuändern, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und festzustellen, dass das Streitpatent von Anfang an unwirksam war.
8
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
9
Im Auftrag des Senats hat Univ.-Prof. Dr. rer.nat. et med.dent.habil. H . D.. , … -Universität M. , Fachbereich Medizin, Institut für Angewandte Struktur- und Mikroanalytik, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
10
Die Klägerin hat nach Erstellung des schriftlichen Gutachtens durch den gerichtlichen Sachverständigen zusätzlich geltend gemacht, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Die Beklagte sieht darin eine Klageänderung, der sie nicht zustimmt, und für den Fall, dass diese als sachdienlich angesehen wird, auch inhaltlich entgegen tritt.

Entscheidungsgründe:


11
Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
12
I. Der von der Klägerin mit der Berufung verfolgte Feststellungsantrag ist nach Ablauf der Schutzdauer des Streitpatents im Hinblick auf den zwischen den Parteien vor dem Oberlandsgericht Frankfurt anhängigen auf das Streitpatent gestützten Verletzungsrechtsstreit unter dem Gesichtspunkt des Feststellungsinteresses zulässig.
13
II. 1. Das Streitpatent betrifft polymerisierbare Zementmischungen, insbesondere zur Verwendung in der Zahnheilkunde und Medizin.
14
In der Streitpatentschrift wird ausgeführt, dass in der Zahnmedizin eine Reihe von Zementen für verschiedene Verwendungszwecke, wie beispielsweise der Befestigung von Kronen und Inlays sowie von orthodontischen Vorrichtungen , als Wurzelkanalfüllungsmaterial, als Unterfüllungsmaterial bei der Einbringung von dentalem Restaurationsmaterial zum Schutze der Zahnpulpe oder auch in Ausnahmefällen bei Läsionen im gingivalen Bereich als Füllungsmaterial selbst Anwendung finden. Zemente für dentale und medizinische Zwecke bestehen in der Regel aus einer Mischung von feinstteiligen Metalloxiden, Metallhydroxiden , Silikatzementschmelzen oder ionenfreisetzenden Gläsern, die mit einer Anrührflüssigkeit, die im Wesentlichen Phosphorsäure oder Polycarbonsäuren oder auch Salicylsäuren enthält, zur Reaktion gebracht wird. Die Aushärtung läuft mithin über eine Ionenreaktion wie Neutralisations-, Salzbildungs -, Chelatbildungs- oder Kristallisationsreaktion ab und zwar in Wasser.
15
Je nach Verwendungszweck haben sich Zemente mehr oder minder gut bewährt. Sie sind zumeist gewebeverträglich und zeigen eine gute Haftung an der Zahnsubstanz (vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 2, Z. 17 ff.). Zemente haben aber auch Nachteile, nämlich vor allem Auswaschbarkeit und geringe mechanische Belastbarkeit, die dazu geführt haben, dass sie als Füllungsmaterial weitgehend durch die dauerhafteren, höher belastbaren, kantenfesteren, unlöslichen und kosmetisch vorteilhafteren, polymerisierbaren Kunststofffüllungsmaterialien , den sogenannten "Composites", ersetzt worden sind.
16
Composites bestehen nach den weiteren Darlegungen in der Streitpatentschrift im Wesentlichen aus einem polymerisierbaren Bindemittel, welches durch organische oder anorganische Füllstoffe verstärkt ist. Als polymerisierbare Bindemittel eignen sich Verbindungen mit olefinischen ungesättigten Gruppen , für dentale oder medizinische Zwecke besonders die Ester der (Meth)acrylsäure von einwertigen oder mehrwertigen Alkoholen, gegebenenfalls im Gemisch mit anderen Vinylmonomeren.
17
Als anorganische Füllstoffe dienen feinteilige Mehle aus Quarz, mikrofeiner Kieselsäure, Aluminiumoxid, Bariumgläsern und andere mineralische Teilchen , die an sich keine chemischen Bindungen mit den sie umgebenden polymerisierbaren Bindemitteln eingehen und darum meist mit einem polymerisierbaren Silan als Kopplungsmittel versehen sind, um einen guten Verbund mit den polymerisierbaren Bindemitteln zu geben. Wesentlich für Composites ist, dass ihre Aushärtung durch eine Polymerisation der olefinisch ungesättigten Gruppen des Bindemittels abläuft, und zwar als radikalische Reaktion, die keiner Gegenwart von Wasser bedarf.
18
In der Streitpatentschrift wird darauf hingewiesen, dass heutzutage zwar hauptsächlich Composites als dentales Restaurationsmaterial verwendet werden , auch deren Anwendung jedoch Grenzen gesetzt sind. Wegen Gewebeirritation oder aus Gründen der Toxizität ist die Anwendung von Composites für tiefer gehende Zahnkavitäten, bei Restauration am Gingivalsaum und am Dentin eingeschränkt. Zudem haften sie nicht an der Zahnsubstanz. In solchen Fällen werden meist Zemente auf der Basis von Polycarbonsäuren und Metalloxiden (Carboxylatzemente) oder ionenfreisetzenden Gläsern (Ionomerzemente) angewandt, die insoweit über günstigere Eigenschaften verfügen.
19
Nach den weiteren Ausführungen in der Streitpatentschrift ist versucht worden, die mechanische Festigkeit und vor allem das Löslichkeits- und Entmischungsverhalten sowie die Kompatibilität von Zementen mit Composites zu verbessern, ohne dass dies jedoch zu befriedigenden Ergebnissen geführt hat (vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 3, Z. 4 ff.).
20
Dem Streitpatent liegt vor diesem Hintergrund das Problem ("die Aufgabe" ) zugrunde, neue, insbesondere im Dentalbereich zu verwendende Mischungen zu finden, die einerseits über die wesentlichen Vorteilsmerkmale von Zementen auf Polycarbonsäure- oder Salicylat-Basis, nämlich eine gute Haftung an Zahn- und Knochensubstanz und gute Gewebeverträglichkeit, verfügen , andererseits aber auch die Vorteilsmerkmale von Composites, nämlich eine geringe Löslichkeit und größere mechanische Festigkeit, aufweisen, und keine ausgeprägten Entmischungserscheinungen zeigen.
21
Das soll nach Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts durch folgende Merkmalskombination erreicht werden: Polymerisierbare Zementmischungen enthaltend
a) Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, diese sind a 1) polymerisierbar, a 2) ungesättigt, a 3) sie enthalten Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen;
b) Füllstoffe, diese sind b 1) feinteilig, b 2) reaktiv b 3) und können mit den Säuren oder Säurederivaten reagieren ; b 4) die Füllstoffe sind Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen;
c) Härtungsmittel;
d) die Komponenten a und b sind derart ausgewählt, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion führen vermögen.
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Die nach Patentanspruch 1 geschützten sogenannten polymerisierbaren Zementmischungen enthalten somit einerseits Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die polymerisierbar und ungesättigt sind und Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten (Merkmals- gruppe a und andererseits Füllstoffe (nämlich Pulver von Phosphatzement ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen), die feinteilig und reaktiv sind sowie mit den Säuren oder Säurederivaten der Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere reagieren können (Merkmalsgruppe b). Hinzu kommen nicht weiter spezifizierte Härtungsmittel (Merkmal c). Die Komponenten a und b sind derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen (Merkmal d).
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Für den Fachmann, bei dem es sich um einen auf dem Gebiet der Entwicklung von Füllungsmaterialien tätigen Diplom-Chemiker mit Fachhochschuloder Hochschulabschluss oder approbierten Zahnarzt handelt, ergibt sich daraus , dass die unter Schutz gestellten sogenannten polymerisierbaren Zementmischungen geeignet sein sollen, eine zweifache Reaktion zu bewirken. Zum einen soll die polymerisierbare und ungesättigte Komponente a (durch einen Katalysator wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines Aktivators, Streitpatentschrift, S. 10, Z. 27 ff.; vgl. auch Sachverständigengutachten , S. 31) zu einer radikalischen Polymerisationsreaktion induziert werden. Zum anderen soll durch die Auswahl der Komponenten a und b der Mischung (und nach Zugabe von Wasser) eine ionische Zementreaktion zwischen den Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß Merkmal a und den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß Merkmal b ermöglicht werden, die zur Bildung von vernetzten Zementstrukturen führt. Dabei ist allerdings der Umfang, in dem es infolge der Zementreaktion bei dem Endprodukt tatsächlich zur Bildung solcher Strukturen kommt, nicht weiter konkretisiert. Das fügt sich mit dem Umstand, dass Gegenstand des Patentanspruchs 1 eine Mischung ist und nicht das Endprodukt, das nach der Polymerisations- und Zementreaktion aus der Mischung entsteht. Die erfindungsgemäße Lehre fordert allein, die Komponen- ten a und b der Mischung derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Komponente a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen der Komponente b ionisch zu einer Zementreaktion führen können, um das zu erhalten, was im Streitpatent als polymerisierbare Zementmischung bezeichnet ist. In der Streitpatentschrift heißt es in diesem Zusammenhang erläuternd , dass sich überraschenderweise gezeigt habe, dass man durch eine Kombination von einigen für die Haftung an der Zahnsubstanz entwickelten polymerisierbaren Harzmischungen mit solchen reaktiven Füllstoffen, die üblicherweise in Zementen als für die Abbindung wichtige Komponente enthalten sind, zu härtbaren Mischungen kommt, die sowohl radikalisch als auch über Ionenreaktionen aushärten. Dadurch könne eine große Palette von neuen Compositezementen erhalten werden, die verbesserte Eigenschaften und neue Möglichkeiten der Anwendung böten (Streitpatentschrift, S. 3, Z. 40 ff.).
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Als Füllstoffe im Sinne des Merkmals b kommen demnach nur solche in Betracht, die feinteilig und reaktiv sind und dabei insbesondere mit den Säuren und/oder Säurederivaten des Merkmals a reagieren können. Nicht dazu zählen inerte Füllstoffe, wie etwa die noch im Stand der Technik bei Composites als Füllstoff verwendeten feinteiligen Mehle von Quarz, mikrofeine Kieselsäure, Aluminiumoxid, Bariumgläsern und anderen mineralischen Teilchen, die keine chemische Bindung mit den sie umgebenden polymerisierbaren Bindemitteln eingehen können und deshalb meist mit einem polymerisierbaren Silan als Kopplungsmittel versehen wurden (vgl. Streitpatentschrift, S. 2, Z. 45 ff.). Zudem muss es sich bei den Füllstoffen um Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen handeln.
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Härtungsmittel im Sinne des Merkmals c sind solche, welche die radikalische Polymerisationsreaktion oder die Ionenreaktion auslösen bzw. beschleu- nigen können, wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines Aktivators bzw. Wasser, Weinsäure oder Mellithsäure (Streitpatentschrift, S. 10, Z. 27 ff., 51 f.).
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III. 1. Die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜbkG) durch die Klägerin erstmals in der Berufungsinstanz ist zulässig (§ 99 PatG i.V. mit § 533 Nr. 1 ZPO).
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Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes in der Berufungsinstanz , nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht nur auf einen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine Klageänderung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1 ZPO dar, welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren anwendbar ist (Benkard/Rogge, PatG, 10. Aufl., 2006, § 22 PatG Rdn. 71; Busse/Keukenschrijver , PatG, 6. Aufl., 2003, § 83 PatG Rdn. 9, jeweils zu § 263 ZPO). Entsprechend ist in der erstmaligen Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜbkG) durch die Klägerin im Berufungsverfahren im Anschluss an das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen eine Klageänderung zu sehen , nachdem die Klägerin ihren Antrag auf Nichtigerklärung bis dahin allein mit der fehlenden Patentfähigkeit des Streitpatentes (Art. 54, 56, 138 Abs. 1 a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG) begründet hat. Soweit die Klägerin erstinstanzlich die unangemessene Breite des Anspruchs 1 des Streitpatents in der von der Beklagten verteidigten Fassung gerügt hat, füllt dies - wie bereits das Bundespatentgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats (BGHZ 156, 179, 185 - blasenfreie Gummibahn I) zutreffend ausgeführt hat - keinen der gesetzlichen Nichtigkeitsgründe aus und damit insbesondere auch ohne Weiteres nicht den Nichtigkeitsgrund der unzureichenden Offenbarung.
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Die Klageänderung ist sachdienlich und somit zulässig (§ 533 Nr. 1 ZPO). Die Einbeziehung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung in das hiesige Nichtigkeitsberufungsverfahren ist sachdienlich, weil die damit verbundenen Fragen im laufenden Verfahren mitbehandelt werden konnten und eine neue Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Streitpatents vermieden wird. Zu einer zeitlichen Verzögerung des laufenden Verfahrens ist es nicht gekommen, weil die Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen im Verhandlungstermin, die bereits im Hinblick auf den von Anfang an erhobenen Nichtigkeitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit angeordnet worden war, dazu genutzt werden konnte, offene Fragen auch im Hinblick auf den Nichtigkeitsgrund der fehlenden Offenbarung zu klären.
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2. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ist so deutlich und hinreichend offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Art. 83, 138 Abs. 1 b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 IntPatÜbkG ).
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a) Die Klägerin trägt vor, dass die Offenbarung des Streitpatents dem Fachmann keine ausreichende Lehre vermittelt habe, wie die polymerisierbaren , ungesättigten Säuren bzw. Säurederivate nach Merkmalsgruppe a und die feinteiligen, reaktiven Füllstoffe nach Merkmalsgruppe b auszuwählen seien, so dass sie polymerisierbare Zementmischungen ergäben, die über eine ionische Reaktion zu einem Zement führten. Um dies herauszufinden, habe der Fachmann umfangreiche und damit unzumutbare eigene Untersuchungen anstellen und selbst erfinderisch tätig werden müssen. Selbst wenn jedoch unterstellt werde, dass die Beispiele des Streitpatents Zementmischungen offenbarten, die ionisch zu einer Zementreaktion geführt hätten, so habe sich hieraus keine ausreichende Offenbarung für den gesamten beanspruchten Bereich ergeben. Die Beispiele hätten keine Verallgemeinerung dahingehend erlaubt, dass der Fachmann auf Grundlage der Beispiele wisse, wie er die Säuren bzw. Säurederivate nach Merkmalsgruppe a auszuwählen habe, damit sie mit entsprechenden reaktiven Füllstoffen der Merkmalsgruppe b zu einer ionischen Zementreaktion führen könnten.
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Der Argumentation der Klägerin kann nicht beigetreten werden. Eine für die Ausführbarkeit hinreichende Offenbarung ist gegeben, wenn der Fachmann ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbare Schwierigkeiten in der Lage ist, die Lehre des Patentanspruchs aufgrund der Gesamtoffenbarung der Patentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder Prioritätstag praktisch so zu verwirklichen, dass der angestrebte Erfolg erreicht wird (Sen.Urt. v. 14.10.1979 - X ZR 3/76, GRUR 1980, 166, 168 - Doppelachsaggregat ). Es ist also nicht erforderlich, dass bereits der Patentanspruch alle zur Ausführung der Erfindung erforderlichen Angaben enthält. Vielmehr genügt es, wenn der Fachmann die insoweit notwendigen Einzelangaben der allgemeinen Beschreibung oder den Ausführungsbeispielen entnehmen kann (Sen.Beschl. v. 16.6.1998 - X ZB 3/92, GRUR 1998, 899, 900 - Alpinski; Urt. v. 1.10.2002 - X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II). Nach mittels Einspruchs nicht mehr anfechtbarer Erteilung des Patents ist von einer in diesem Sinne ausreichenden Offenbarung so lange auszugehen, bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Im Nichtigkeitsprozess führt das zur Beweislast des Klägers dafür, dass es dem Fachmann auch nach Kenntnisnahme der Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der Patentschrift nicht möglich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fachwissens und ohne unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen (Busse/Keukenschrijver, aaO, § 83 PatG Rdn. 32, § 34 PatG Rdn. 301; Schulte/Moufang, PatG, 8. Aufl., 2008, § 34 PatG Rdn. 374).
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Im Streitfall hat sich das Gegenteil nicht ergeben. Es ist zwar zutreffend, dass Patentanspruch 1 des Streitpatents - wie auch der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten wiederholt hervorhebt (Sachverständigengutachten , S. 10, Abs. 2; S. 12, Abs. 3; S. 40, Abs. 2; S. 117, Abs. 5; S. 124, Abs. 3), keine näheren Angaben zur Auswahlregel in Merkmal d entnommen werden kann, wonach die Komponenten a, also die polymerisierbaren, ungesättigten und Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivate enthaltenden Monomere , Oligomere und/oder Prepolymere, und b also die feinteiligen und reaktiven Pulver von Phosphatzementen, Silikatzementen oder Ionomerzementen so auszuwählen sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivategruppen der Stoffe gemäß a) mit den feinteiligen Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion führen können. Die Streitpatentschrift enthält jedoch mehrere Ausführungsbeispiele , in denen dem Fachmann konkrete Mischungen vorgeschlagen werden (vgl. Streitpatentschrift, S. 13 ff.). Dass diese Ausführungsbeispiele insgesamt nicht ausführbar sind, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben.
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Dafür, dass die Komponenten a und b derart ausgewählt worden sind, das die Säuregruppen bzw. Säurederivatgruppen der Komponente a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen der Komponente b zu einer Zementreaktion zu führen vermögen, spricht etwa bei dem Beispiel 9 des Streitpatents das Quellverhalten des Probekörpers in Wasser, welches darauf hindeutet, dass sich zumindest in Teilbereichen des Probekörpers Zementstrukturen gebildet haben. Nach den Angaben in der Streitpatentschrift wurde im Hinblick die Polymerisationsschrumpfung des Probekörpers in Wasser nach 10 Minuten mit 0,0 % ge- messen. Nach 30 Minuten hat der Probekörper eine Expansion von 0,24 % gezeigt und nach 16 Stunden eine solche um 0,80 % (Streitpatentschrift, S. 16, Z. 46 ff.). Zwar hat der gerichtliche Sachverständige im Termin ausgeführt, dass im Expansionsverhalten kein wissenschaftlicher Nachweis für die Bildung zementartiger Vernetzungen in dem Probekörper liegt; er hat aber auch dargelegt, dass eine mögliche Erklärung für die Ausdehnung in der Bildung zementartiger Vernetzungen im Probekörper unter Wassereinfluss liegen kann.
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Der gerichtliche Sachverständige hat zudem zwar kritisiert, dass die Eigenschaft "Zement" nicht durch spektroskopische (z.B. IR, XRD, etc.) Methoden nachgewiesen worden sei, zugleich aber überzeugend dargelegt, dass Angaben zur Härte von Probekörper nach in vitro Nasslagerung und zu deren in vitro Kantenfestigkeit indirekte Hinweise auf deren Vorhandensein sein können (Sachverständigengutachten, S. 118, Abs. 4). So wird in der Streitpatentschrift hinsichtlich des Beispiels 4 ausgeführt, dass der durch Mischen von zwei härtbaren Pasten auf Basis von Polymethacrylcarbonsäure und Phosphatzementpulver entstandene gehärtete Compositezement zunächst eine Barcolhärte von 51 gehabt hat. Im Stresstest (Wassertauchbäder im Wechsel von 0° C und 60° C nach 4.000 Zyklen) wies das Material keine Ermüdungserscheinungen auf, stieg die Barcolhärte auf 59 und war das Material äußerst kantenfest. Zudem haftete es sehr gut an Dentin und Schmelz von Rinderzähnen (Streitpatentschrift , S. 14, Z. 25 ff., 44 ff.). Zum Beispiel 3 heißt es in der Beschreibung, dass 30 Minuten nach dem Vermischen von zwei Pasten auf Basis von halophosphoryliertem Bis-GMA und Ionomerzementpulver eine Barcolhärte von 57 gemessen wurde, die Druckfestigkeit nach 24 h/37° C bei 2.100 kg/cm² lag und eine Löslichkeit nach 24-stündiger Lagerung im Wasser von 37° C nicht festgestellt wurde (Streitpatentschrift, S. 14, Z. 13 ff., Z. 21 ff.).
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Schließlich liegt in der Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung, dass bei den genannten Beispielen des Streitpatents stets jedenfalls eine ionische Reaktion (Säure-Base-Reaktion) erfolgt ist, ein weiteres Indiz dafür, dass es dabei auch zur Bildung von Zementstrukturen gekommen ist.
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b) Auch dem weiteren Argument der Klägerin, die Beispiele des Streitpatents reichten nicht aus, um die Auswahlregel nach Merkmal d im gesamten Bereich als offenbart anzusehen, weil diese den Fachmann nicht allgemein lehrten, wie er die Säuren oder Säurederivate der Merkmalsgruppe a auszuwählen habe, damit sie mit entsprechenden reaktiven Füllstoffen der Merkmalsgruppe
b) zu einer ionischen Zementreaktion führen können, kann nicht gefolgt werden. Denn nach der Rechsprechung des Senats ist es nicht erforderlich, dass alle denkbaren unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden Ausgestaltungen ausgeführt werden können. Vielmehr genügt es regelmäßig den Anforderungen des Art. 83 EPÜ, wenn - wie für den hiesigen Fall vorstehend ausgeführt - zumindest ein nacharbeitbarer Weg zur Ausführung der Erfindung offenbart worden ist (BGHZ 147, 306 (317) - Taxol; Sen.Urt. v. 1.10.2002 - X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II). Ein dem Sachverhalt der Entscheidung "Thermoplastische Zusammensetzung" (BGH, Urt. v. 25.2.2010 - Xa ZR 100/05 Tz. 23, GRUR 2010, 414) vergleichbarer oder ähnlicher Fall ist hier nicht zu beurteilen.
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IV. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ist patentfähig (Art. 138 Abs. 1 a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG).
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1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der genannten Fassung ist neu (Art. 54 EPÜ).
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a) Die britische Patentanmeldung 2 094 326 (Anlage D1 und Übersetzung ) offenbart einen dentalen Ausbesserungskit oder eine Zusammensetzung zum Auskleiden oder temporären Füllen von Zahnkavitäten, umfassend Calciumhydroxid und ein polymerisierbares, organisches Bindemittel, wobei das Bindemittel ein Bisphenol-A-Glydicylmethacrylat-Präpolymer und gegebenenfalls weitere Komponenten (ein Acrylmonomer, das insbesondere ein difunktionelles Methacrylat sein kann; bis zu 0,5 Gew.-% Methacrylsäure; ein Füllstoff, der insbesondere Glas, Quarz oder amorphes Siliziumdioxid umfasst, etc.) umfasst. Aus Sicht des Fachmanns lehrt die Entgegenhaltung somit einen sog. Kavitätenliner , der zur Abdeckung der Pulpa bei tiefen Kavitäten dient, um das Wachstum von sekundärem Dentin zu stimulieren und die Wirkungen von Säuren und anderen Chemikalien zu neutralisieren (Anlage D1, S. 1, Z. 11 ff.). Den Grundkomponenten der bis dahin bekannten Calciumhydroxid-Kavitätenlinern werden Composite-Füllungsmaterialien hinzugesetzt, die ebenfalls bereits bekannt gewesen sind (Sachverständigengutachten, S. 50, Abs. 1).
40
Dem Fachmann werden damit Harzkomponenten und Härtungsmittel im Sinne von Patentanspruch 1 des Streitpatents aufgezeigt. Es fehlt aber an einer Offenbarung reaktiver Füllstoffe, die mit Säuren oder Säurederivaten reagieren können und Pulver von Phophatzementen (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen sind. Entsprechend geht aus der Entgegenhaltung auch nicht die Auswahlregel des Merkmals d hervor. Anspruch 8 und der Beschreibung der britischen Patentanmeldung können zwar als mögliche Füllstoffe, welche die Zusammensetzung der Erfindung aufweisen können, allgemein Glas, Quarz oder amorphe Kieselsäure entnommen werden (vgl. Anlage D1, S. 2, Z. 20 ff; S. 4, Z. 27 ff.; Übersetzung, S. 5, Abs. 3; S. 13, letzter Abs.). Damit ist jedoch nicht offenbart, dass es sich bei dem Füllstoff um ein Pulver von Ionomer- oder Silikatzementen handelt, die mit Säure- oder Säurederivatgruppen reagieren können. In der Entgegenhaltung wird zunächst nicht ausdrücklich erwähnt, dass es sich bei der Alternative "Glas" als Füllstoff um ein Pulver für Ionomerzemente oder bei der Alternative "amorphe Kieselsäure" als Füllstoff um ein Pulver für Silikatzemente handeln soll. Darüber hinaus ist es aus Sicht des Fachmanns in Zusammenhang mit einem Kavitätenliner, der ohne Wasserbedarf in einer katalytisch induzierten Polymerisationsreaktion aushärtet (Sachverständigengutachten , S. 57 f.), auch ohne ausdrückliche Erwähnung nicht wie selbstverständlich, unter den Begriffen "Glas" bzw. "amorphe Kieselsäure" ein reaktives Pulver von Ionomer- oder Silikatzementen zu verstehen. Erst recht enthält die britische Entgegenhaltung keinen Hinweis auf die eine ionische Zementreaktion betreffende Auswahlregel des Merkmals d des Streitpatents.
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Entgegen der Ansicht der Klägerin ändert daran auch der Umstand nichts, dass in der britischen Patentanmeldung auf das US-Patent 3 971 754 (Anlage D14, Übersetzung) Bezug genommen wird. Im Rahmen dieser Bezugnahme erstreckt sich der Offenbarungsgehalt der britischen Entgegenhaltung zwar auch auf den Inhalt des US-Patentes (vgl. etwa BGHZ 76, 97, 104 - Terephtalsäure ). Der Verweis in der britischen Entgegenhaltung erfolgt jedoch im Hinblick auf "Glaszusammensetzungen des US-Patentes 3 971 754", die "Röntgenabsorptionsverbindungen , wie beispielsweise Strontiumoxid und -carbonat" umfassen, "so dass die Grenzen des Füllstoffs auf diagnostischen Röntgenaufnahmen abgegrenzt sind" (Anlage D1, S. 2, Z. 2, Z. 28 ff., 39 ff.; Übersetzung, S. 5, Abs. 3 und 5 f.). Dies entspricht der dem genannten US-Patent zugrunde liegenden Aufgabenstellung, wonach ein für Röntgenstrahlen undurchlässiges Zahnfüllmaterial mit bestimmten Eigenschaften (vgl. dazu im Einzelnen: Anlage D14, Sp. 1, Z. 61 ff.; Übersetzung, S. 3, Abs. 2 ff.) zur Verfügung gestellt werden soll, um einen ausreichenden Röntgenkontrast zu erhalten, so dass die Lage und der Grenzbereich des implantierten Materials im Hinblick auf postoperative Untersuchungen klar umrissen sind, damit beispielsweise das Wiederaufleben von Karies, die Gewebeneubildung und andere Gewebestörungen ohne einen operativen Eingriff festgestellt werden können (vgl. Anlage D14, Sp. 1, Z. 9 ff., 61 ff.; Übersetzung, S. 1, Abs. 2, S. 3 Abs. 2 ff.). Hingegen findet sich in der US-Patentschrift kein Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei den dort genannten Glasfüllmaterialien, um Pulver für Silikat- oder Glasionomerzemente handelt , die - wie der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten hervorhebt (vgl. Sachverständigengutachten, S. 57, Abs. 2, S. 93, Abs. 4 und 5) - eine sehr spezifische Zusammensetzung aufweisen müssen, damit es zu einer vernetzenden Zementreaktion kommen kann.
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b) Die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (Anlage D4) beschreibt eine härtbare Masse bestehend aus (A) einer ethylenisch ungesättigten Carbonsäure entsprechend der folgenden allgemeinen Formel worin R1 ein Wasserstoffatom oder eine Methylgruppe und R2 eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen bedeuten und worin im Benzolring A zwei Carboxylgruppen an andere Kohlenstoffatome als die zu dem Kohlenstoffatom, wor- an die Estergrupe gebunden ist, benachbarten Kohlenstoffatome gebunden sind oder einem Säureanhydrid hiervon, (B) mindestens einem anderen ethylenisch ungesättigten Monomeren als dem Monomeren (A) und (C) mindestens einem Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren vom freien Radikaltyp und/oder Photosensibilisatoren (Anlage D4, Patentanspruch 1), die als Dentalklebstoff verwendet werden kann (aaO, Patentanspruch 11), indem sie zwischen die miteinander zu verbindenden Gegenstände aufgetragen, polymerisiert und gehärtet wird (aaO, S. 5, Abs. 1; Beispiele, S. 16 ff.). Die härtbare Masse soll über eine starke Haftfähigkeit am Zahnschmelz und am Dentin sowie an anderen Substraten wie Metall verfügen sowie eine hohe Wasserbeständigkeit und Dauerhaftigkeit aufweisen (aaO, S. 5, letzter Abs. bis S. 6, 3. Abs.). Nach den weiteren Ausführungen in der Beschreibung der Entgegenhaltung kann die härtbare Masse verschiedene Zusätze enthalten. Namentlich erwähnt werden anorganische pulverförmige Füllstoffe wie Kaolin, Talk, Ton, Calciumcarbonat, Kieselsäure, Aluminumoxid, Kieselsäure-Aluminiumoxid, Calciumphosphat und Glas, Pigmente wie Titanoxid, Klebrigmachungsmittel wie Wachse und Ethylen/Vinylacetat-Copolymere, Härtungspromotoren, Polymerisationsregler und Polymerisationshemmstoffe wie Hydrochinon (aaO, S. 12, Abs. 1).
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Mit der ethylenisch ungesättigten Carbonsäure offenbart die Entgegenhaltung einen Monomeren, der polymerisierbar und ungesättigt ist sowie zwei Säuregruppen (Carbonsäurereste: -COOH) enthält (Merkmalsgruppe a). Im Hinblick auf den Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren vom freien Radikal- typ und/oder Photosensibilisatoren ist zudem ein Härtungsmittel enthalten (Merkmal c).
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Die Klägerin meint, dass darüber hinaus der Begriff Glas in der Auflistung möglicher Zusätze vom Fachmann dahin verstanden werde, dass Gläser zum Einsatz kämen, die üblicherweise für Dentalmaterialien und insbesondere für Dentalklebstoffe und Dentalzemente verwendet würden. Eine dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt als üblich bekannte und für Dentalmaterialien als ohne weiteres geeignet erscheinende Glasgruppe seien die Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente. Der Fachmann habe also dem Begriff Glas, wie er in der Entgegenhaltung gegeben sei, auch die Bedeutung als Pulver für Silikatzemente und Glasinomerzemente beigemessen bzw. diese ohne weiteres mitgelesen, zumal Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente weit verbreitete Anwendung in Dentalmaterialien gefunden hätten.
45
Der Argumentation der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Sie verkennt den patentrechtlichen Neuheitsbegriff. Danach kann zwar auch dasjenige offenbart sein, was in der Entgegenhaltung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns jedoch für die technische Information, die der Fachmann der Entgegenhaltung entnimmt, keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern "mitgelesen" wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient, nicht anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information , die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (BGHZ 179, 168, 174 - Olanzapin). Danach kann der Offenlegungsschrift aus Sicht des Fachmanns weder die Merkmalsgruppe b noch die Auswahlregel des Merkmals d des Patentanspruchs 1 entnommen werden.
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Gegenstand der Entgegenhaltung ist ein Dentalklebstoff, der durch eine radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion polymerisiert und aushärtet. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass neben oder nach der radikalischen Polymerisation noch eine ionische Zementreaktion herbeigeführt werden soll. Das gilt sowohl für den allgemeinen Teil der Beschreibung der deutschen Offenlegungsschrift als auch für die zehn Ausführungsbeispiele. Hinzu kommt, dass im Hinblick auf die Aushärtung der Masse an keiner Stelle die Zugabe von Wasser erwähnt wird, wie sie für eine ionische Zementreaktion zwingend erforderlich wäre (Sachverständigengutachten, S. 63, Abs. 2, S. 64, Abs. 1). Auch dies spricht dagegen, dass dem Fachmann in der Offenlegungsschrift die Durchführung einer ionischen Zementreaktion offenbart wird und er vor diesem Hintergrund unter dem Begriff des Glases als Füllstoff gerade auch Pulver von Silikat- oder Glasionomerzementen verstehen wird. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang ausführt, dass eine nachfolgende ionische Reaktion in der Mundhöhle (durch Speichelfluss) erfolgen könne, hat auch dies keine Grundlage in der Entgegenhaltung und stellt sich als rückschauende und deshalb unbeachtliche Betrachtungsweise dar.
47
Auch wenn es zutreffend ist, dass es mit zum Fachwissen gehört hat, dass das Pulver von Silikatzementen ein Aluminiumfluorsilikatglas ist und Glasionomerzemente durch die Reaktion von Pulvern (säurelösliches Glas mit hohem Fluorgehalt) und Flüssigkeiten (wässrige Lösung von Acrylsäurecopolymeren ) gebildet werden (vgl. Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry, 5. Aufl., 1987, Band A 8, S. 276 und S. 256, Anlagen D13 und D13a) und zudem diskutiert wurde, dass Silikat- und Glasionomerzemente Fluoridionen frei- setzen und zum Schutz gegen Karies beitragen können (vgl. Tveit/Gjerdet, Fluoride release from a fluoride-containing amalgam, a glass ionomer cement and a silicate cement in artificial salvia, Journal of Oral Rehabilitation, 1981, Volume 8, Seiten 237-241, Anlage D16, und Swartz/Philips/Clark, Long-term F Release from Glass Ionomer Cements, Journal of Dental Research 63(2), Seiten 158-160, Februar 1984, Anlage D17), folgt daraus nicht, dass der Fachmann bei Kenntnisnahme der Aufzählung von Füllstoffen in der Beschreibung der Offenlegungsschrift mit der Erwähnung von Glas ohne weiteres auch Pulver für Silikat- oder Glasionomerzemente "mitgelesen" hat. Vielmehr wird in Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry gerade zwischen Glasionomerzementen, die aus einem Pulver (säurelöslichem Glas mit hohem Fluorgehalt) und einer Flüssigkeit (wässrige Lösung aus Acrylsäurepolymeren) bestehen, und sog. "Composite-Cements" unterschieden, die sich aus zwei Pasten mit Diacrylatoligomeren , Diacrylatmonomeren, Füllstoffen und Polymersiationsstartersystemen zusammensetzen (aaO, S. 256). Bei den letztgenannten "Composite-Cements" handelt es sich also gerade nicht um Zemente, die ionisch mit Wasser reagieren , sondern um polymerisierbare Composites (Sachverständigengutachten, S. 107). Und auch die Aufsätze von Tveit/Gjerdet und Swartz/Philips/Clark befassen sich speziell mit der Fluoridabgabe von Silikat- und Glasionomerzementen und den damit möglicherweise verbundenen karieshindernden Wirkungen ("anticariogenic properties"), ohne dass jedoch ein Bezug zu CompositeMaterialien bzw. Füllstoffen für selbige aufgezeigt wird. Für den Fachmann gibt es daher - wie auch der gerichtliche Sachverständige in der mündlichen Verhandlung noch einmal hervorgehoben hat - keinen Grund, unter dem in der deutschen Offenlegungsschrift verwendeten Begriff des Glases als Füllstoff auch Pulver von Silikat- oder Glasionomerzementen zu verstehen.
48
c) Die europäische Patentschrift 0 115 410 respektive die europäische Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a, Übersetzung) betreffen ebenfalls Klebstoffmassen, die gut auf harten Geweben des menschlichen Körpers wie Zähnen und Knochen, metallischen Materialien, organischen Polymeren und Keramiken haften und die weiterhin eine wasserbeständige Klebefestigkeit besitzen (Anlage D5, S. 2, Z. 3 ff.). Patentanspruch 1 der europäischen Patentschrift offenbart eine solche Klebstoffmasse die aus (a) 1 Gewichtsanteil einer Verbindung der allgemeinen Formel worin jeweils R5 und R5’ ein Wasserstoffatom oder ein Methylrest sind, Rc einen bivalenten, organischen Rest mit 2 bis 54 Kohlenstoffatomen bedeutet, Rd ein bivalenter organischer Rest mit 4 bis 57 Kohlenstoffatomen ist, Rd’ ein bivalenter organischer Rest mit 3 bis 57 Kohlenstoffatomen ist und X2 O, S oder NRb bedeutet, wobei Rb H oder C1-4-Alkyl ist, und (b) 0 bis 199 Gewichtsteilen eines Vinylmonomeren besteht, der mit der vorstehend erwähnten Verbindung copolymerisierbar ist.
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Die Verbindungen sind polymerisierbare, ungesättigte und säuregruppenhaltige Monomere im Sinne der Merkmalsgruppe a des Streitpatents. In Anspruch 5 ist darüber hinaus vorgesehen, dass die Masse ein Härtungsmittel enthält (aaO, S. 20, Z. 63 ff.), so dass auch Merkmal c offenbart ist.
50
In der Beschreibung der Entgegenhaltung wird weiterhin erwähnt, dass die Klebemittelzusammensetzung einen herkömmlichen bekannten Füllstoff eines anorganischen oder organischen Polymers oder eines anorganischen oder organischen Verbundtyps enthalten könne. Durch Zugabe des Füllstoffs könne die Klebemittelzusammensetzung als Dentalzement zum Verkleben und Füllen, dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden. Als Beispiele für den verwendeten anorganischen Füllstoff werden natürliche Mineralien erwähnt und dabei neben vielen anderen auch Glas, z.B. Sodaglas, Bariumglas, Strontiumglas und Borsilikatglas, Glas-Keramik enthaltend Lanthan usw. (aaO, S. 12, Z. 59 ff., S. 13, Z. 2 ff.). Die Klägerin meint, dass dem Fachmann hierdurch gelehrt werde, solche Füllmaterialien einzusetzen, welche die Ausbildung eines Zahnzements ermöglichen. Aus der Erwähnung von Glas als einem Füllstoff folge für den Fachmann, dass auch Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente gemeint seien.
51
Dem ist nicht beizutreten. Auch die europäische Patentschrift 0 115 410 bzw. die europäische Patentanmeldung 0 115 410 betreffen einen Dentalklebstoff , der durch eine radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion polymerisiert und gehärtet wird (Anlage K5, S. 12, Z. 20 ff.; Anlage D5a, S. 20, Z. 20 ff.; Übersetzung, S. 22, Abs. 2). In der Entgegenhaltung werden auch Füllstoffe erwähnt, die "manchmal" ("sometimes") in dem Dentalkleber enthalten sein können und dann die verschiedensten Füllstoffe einschließlich Glas genannt. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, veranlasst dies den Fachmann aber noch nicht dazu, Ionen abgebende Glaspulver der Glasionomerzemente mitzulesen. Dass neben oder nach der Polymerisierungsreaktion auch noch eine ionische Zementreaktion erfolgen soll und deshalb aus Sicht des Fachmanns mit der Erwähnung von Glas als ein Füllstoff auch Glasionomerzemente gemeint sind, folgt auch nicht aus dem Umstand, dass in der Beschreibung der Entgegenhaltung erwähnt wird, dass das Klebemittel durch Zugabe des Füllstoffs als "Dentalzement" zum Verkleben und Füllen , als dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden kann. Denn aus Sicht des fachkundigen Lesers wird der Begriff des Dentalzements zum Füllen hier im Sinne einer kariespräventiven Behandlung für das Füllen von Fissuren und kleineren Läsionen verwendet und nicht für das Füllen von Kavitäten, so dass ohne weiteres kein Anlass besteht, darin die Andeutung einer ionischen Zementreaktion zu sehen. Im Übrigen fehlt es in diesem Zusammenhang an jeglichem Hinweis auf eine wässrige Umgebung, die für die Durchführung einer ionischen Reaktion bzw. der Ausbildung einer vernetzten Struktur selbständig abbindenden Zements erforderlich wäre (Sachverständigengutachten , S. 78 Abs. 1 bis S. 79 Abs. 1). Schließlich findet sich in den Entgegenhaltungen auch kein Anhaltspunkt, der auf die Auswahlregel nach Merkmal d des Patentanspruchs 1 des Streitpatents hindeutet.
52
d) Die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7, Übersetzung ) hat gleichfalls einen Dentalklebstoff zum Gegenstand. In Anspruch 1 wird eine Dentalzusammensetzung offenbart, die ein Vinylmonomer umfasst, das mindestens eine Säuregruppe im Molekül und einen Initiator enthält, der das Monomer durch sichtbares Licht photopolymerisieren kann, wobei der Initiator weitgehend aus einem Photosensibilisierer, der ein α-Diketon, ein Chinon oder ein Derivat eines α-Diketons oder eines Chinons ist, zusammen mit einem Beschleuniger , der mindestens eine Mercaptogruppe im Molekül enthält. Offenbart werden damit die Merkmalsgruppe a und das Merkmal c des Streitpatents.
53
Die Klägerin führt aus, dass die Dentalzusammensetzung nach Anspruch 8 der Entgegenhaltung auch ein Füllmaterial beinhalten kann. In der Beschreibung werden eine Vielzahl von möglichen Füllstoffen genannt, darunter auch anorganische Füllstoffe, die pulverförmig vorliegen können und Kieselsäure, Aluminiumoxid, verschiedene Gläser, Keramiken, Tonmineralien, synthetisches Zeolith, Glimmer, Calciumfluorid, Calciumphosphat, Bariumsulfat, Zirkoniumdioxid oder Titanoxid umfassen können (Anlage D7, S. 15 Abs. 1; Übersetzung, S. 17, Abs. 4). Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Begriff "verschiedene Gläser" in der Aufzählung vom Fachmann dahin verstanden wird, dass darunter auch Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente fallen können, weil diese üblicherweise im Dentalbereich eingesetzt werden.
54
Die Argumentation der Klägerin greift nicht durch. Die europäische Patentanmeldung 0 155 812 befasst sich mit der Optimierung eines Klebstoffs, der ohne Wasserbedarf polymerisiert. Für den Fachmann besteht aufgrund der bloßen Erwähnung von Gläsern als mögliche Füllstoffe kein Grund zu der Annahme , dass es sich dabei zumindest auch um Pulver von Silikatzementen oder Ionomerzementen handeln soll, mit denen eine vernetzende Zementreaktion in wässriger Umgebung herbeigeführt werden kann, zumal die Gegenwart von Wasser auch in dieser Veröffentlichung in Zusammenhang mit den Füllstoffen nicht erwähnt wird (vgl. Sachverständigengutachten, S. 86, Abs. 5, S. 87, Abs. 1).

55
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ergibt sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ).
56
Die Klägerin meint, dass selbst für den Fall, dass sich die Verwendung von Gläsern in Form von Pulvern für Silikatzemente und Glasionomerzemente zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents für den Fachmann nicht unmittelbar aus der Lektüre der unter III 1 behandelten Entgegenhaltungen ergeben hätte, der Einsatz dieser Glaspulver nahegelegen habe, weil dem Fachmann die hiermit erzielbaren Eigenschaften von Dentalmassen etwa aus den Veröffentlichungen von Tveit/Gjerdet (aaO, Anlage D16), und von Swartz/Philips/Clark, (aaO, Anlage D17), bekannt gewesen seien und er diese ohne weiteres auch zum Einsatz in den Zusammensetzungen der genannten Entgegenhaltungen unter Berücksichtigung der Auswahlregel des Merkmals d hätte bringen können , um eine Masse mit guten Härtungseigenschaften unter Zementbildung und Freisetzung von Fluoriden (Kariesprophylaxe) zu erhalten.
57
Der Ansicht der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Den unter IV 1 behandelten Entgegenhaltungen konnte der Fachmann Composite-Materialien entnehmen, die durch im Einzelnen modifizierte, aber wiederkehrende chemisch ähnliche Stoffgruppen gekennzeichnet sind. Bei diesen Stoffgruppen handelt es sich um ungesättigte polymerisierbare Monomere, Oligomere und/oder Prepolymere, um Katalysatoren, Initiatoren, Stabilisatoren und Reaktionshemmstoffe zur Steuerung des Aushärtevorgangs und optional um organische oder anorganische Füllstoffe. Diese Gemische härten ohne Wasserbedarf radikalisch aus, wobei es für die Reaktion der Induzierung durch einen Katalysator bedarf (Sachverständigengutachten, S. 111 f.).

58
Derartige Composite-Materialien verfügen über positive, aber auch negative Produkteigenschaften. Während sie einerseits insbesondere dauerhaft, hoch belastbar und kantenfest sind, sind sie andererseits vor allem im Hinblick auf Gewebeirritationen, Toxizität und Haftung an der Zahnsubstanz nur eingeschränkt verwendbar (Sachverständigengutachten, S. 23, Abs. 2, Streitpatentschrift , S. 2, Z. 36 ff., 52 ff.). Im Hinblick auf diese negativen Eigenschaften kann zum Prioritätszeitpunkt zwar ein Bedürfnis zur Fortentwicklung der Composite -Materialien als dentaler Füllstoff festgestellt werden. Ein Fachmann, der sich die Aufgabe stellte, hier Abhilfe zu schaffen, wird auch an die Vorteile von Dentalzementen gedacht haben, die zumindest teilweise komplementär zu den negativen Eigenschaften der Composite-Materialien sind. So war dem Fachmann aufgrund seiner Fachkenntnisse bekannt, dass gerade Glasionomerzemente , welche die klassischen Zahnzemente seit Mitte der 80er Jahre fast vollständig vom Dentalmarkt verdrängt hatten, über gute Eigenschaften hinsichtlich Bioverträglichkeit, Beständigkeit im Mund und Haftung an der Zahnsubstanz verfügen (Sachverständigengutachten, S. 24 f.). Von daher spricht viel dafür, dass der Fachmann, der Composite-Materialien als dentalen Füllstoff verbessern wollte, allgemein auch an die Möglichkeit einer Kombination von Composite -Materialien mit Glasionomerzementen gedacht hat.
59
Einer solchen wünschenswerten Kombination stand aber die Schwierigkeit entgegen, dass beide Stoffgruppen zum Prioritätszeitpunkt als nicht mischbar galten, weil es sich einerseits bei den Composite-Materialien um hydrophobe Polymere und andererseits um wässrige Zementmischungen handelt (Sachverständigengutachten , S. 126, Abs. 1). Der Fachmann durfte sich von dieser Vorstellung nicht abhalten lassen. Statt dessen musste er sich daran machen, das Konzept einer Mischung zu entwickeln, die eine zweifache Reaktion er- laubt, die - wenn man auch insoweit den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen folgt - etwa so abläuft, dass zunächst die radikalische Polymerisation ohne Wasserbedarf stattfindet und danach das Zementpulver in wässriger Umgebung zur Reaktion gebracht wird, so dass es möglich wird, einen Füllstoff bereit zu stellen, der die vorteilhaften Eigenschaften von Composite-Materialien mit denen von Zementen, insbesondere Glasiononomerzementen verbindet. Hinzu kamen besondere Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung dieses Konzeptes. Bei der Anwendung musste sicher gestellt werden, dass trotz der Polymerisation an den Polymerketten noch hinreichend Säuregruppen mit Ionen abgebenden Füllstoffen in leicht zugänglicher Weise vorliegen, damit auch die Reaktion mit den reaktiven Zementpulvern in wässriger Umgebung erfolgen und die erwünschte Zementstruktur in der bereits gehärteten Kunststoffmatrix entstehen kann (Sachverständigengutachten, S. 126). Um dies zu erreichen bedurfte es einer sorgfältigen Abstimmung der beteiligten Komponenten , was entsprechende Untersuchungen erforderlich machte (Sachverständigengutachten , S. 122).
60
Die Entwicklung eines solchen Konzepts und das Auffinden eines ausführbaren Wegs zur Verwirklichung dieses Konzepts waren zudem dadurch erschwert , dass es weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in der Praxis Anregungen gab, Mischungen bereitzustellen, die zweiteilig (radikalisch und ionisch) reagieren. Vielmehr wurde in den wissenschaftlichen Abhandlungen, wie beispielsweise in dem jährlich im britischen "Journal of Dentistry" unter der Überschrift "Dental Materials: Literature Review" veröffentlichten Übersichtsartikel , streng zwischen polymerisierbaren Composite-Füllungsmaterialien auf der einen und ionisch reagierenden Zementen auf der anderen Seite unterschieden , indem diese in getrennten Abschnitten behandelt wurden (Sachverständigengutachten , S. 24, 18; vgl. auch Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Che- mistry, aaO, S. 256, r. Sp., Abs. 2, Anlage D 13, D 13a). Sich von dieser Kategorisierung zu lösen und ein Konzept für die Mischung beider Stoffgruppen zu entwickeln, um ein Füllmaterial zu erhalten, das die positiven Eigenschaften beider Produkte in sich vereint, kann angesichts all dieser Umstände als erfinderisch gelten.
61
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V. mit §§ 92, 97 ZPO.
Scharen Gröning Berger
Hoffmann Grabinski
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 15.02.2006 - 3 Ni 25/02 (EU) -

Der Schutzbereich des Patents und der Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.

(1) Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Der Stand der Technik umfaßt alle Kenntnisse, die vor dem für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind.

(2) Als Stand der Technik gilt auch der Inhalt folgender Patentanmeldungen mit älterem Zeitrang, die erst an oder nach dem für den Zeitrang der jüngeren Anmeldung maßgeblichen Tag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind:

1.
der nationalen Anmeldungen in der beim Deutschen Patent- und Markenamt ursprünglich eingereichten Fassung;
2.
der europäischen Anmeldungen in der bei der zuständigen Behörde ursprünglich eingereichten Fassung, wenn mit der Anmeldung für die Bundesrepublik Deutschland Schutz begehrt wird und die Benennungsgebühr für die Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 79 Abs. 2 des Europäischen Patentübereinkommens gezahlt ist und, wenn es sich um eine Euro-PCT-Anmeldung (Artikel 153 Abs. 2 des Europäischen Patentübereinkommens) handelt, die in Artikel 153 Abs. 5 des Europäischen Patentübereinkommens genannten Voraussetzungen erfüllt sind;
3.
der internationalen Anmeldungen nach dem Patentzusammenarbeitsvertrag in der beim Anmeldeamt ursprünglich eingereichten Fassung, wenn für die Anmeldung das Deutsche Patent- und Markenamt Bestimmungsamt ist.
Beruht der ältere Zeitrang einer Anmeldung auf der Inanspruchnahme der Priorität einer Voranmeldung, so ist Satz 1 nur insoweit anzuwenden, als die danach maßgebliche Fassung nicht über die Fassung der Voranmeldung hinausgeht. Patentanmeldungen nach Satz 1 Nr. 1, für die eine Anordnung nach § 50 Abs. 1 oder Abs. 4 erlassen worden ist, gelten vom Ablauf des achtzehnten Monats nach ihrer Einreichung an als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

(3) Gehören Stoffe oder Stoffgemische zum Stand der Technik, so wird ihre Patentfähigkeit durch die Absätze 1 und 2 nicht ausgeschlossen, sofern sie zur Anwendung in einem der in § 2a Abs. 1 Nr. 2 genannten Verfahren bestimmt sind und ihre Anwendung zu einem dieser Verfahren nicht zum Stand der Technik gehört.

(4) Ebenso wenig wird die Patentfähigkeit der in Absatz 3 genannten Stoffe oder Stoffgemische zur spezifischen Anwendung in einem der in § 2a Abs. 1 Nr. 2 genannten Verfahren durch die Absätze 1 und 2 ausgeschlossen, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört.

(5) Für die Anwendung der Absätze 1 und 2 bleibt eine Offenbarung der Erfindung außer Betracht, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der Anmeldung erfolgt ist und unmittelbar oder mittelbar zurückgeht

1.
auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers oder
2.
auf die Tatsache, daß der Anmelder oder sein Rechtsvorgänger die Erfindung auf amtlichen oder amtlich anerkannten Ausstellungen im Sinne des am 22. November 1928 in Paris unterzeichneten Abkommens über internationale Ausstellungen zur Schau gestellt hat.
Satz 1 Nr. 2 ist nur anzuwenden, wenn der Anmelder bei Einreichung der Anmeldung angibt, daß die Erfindung tatsächlich zur Schau gestellt worden ist und er innerhalb von vier Monaten nach der Einreichung hierüber eine Bescheinigung einreicht. Die in Satz 1 Nr. 2 bezeichneten Ausstellungen werden vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz im Bundesanzeiger bekanntgemacht.

Eine Erfindung gilt als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Gehören zum Stand der Technik auch Unterlagen im Sinne des § 3 Abs. 2, so werden diese bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 51/06 Verkündet am:
11. Mai 2010
Anderer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Polymerisierbare Zementmischung
EPÜ Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b; IntPatÜbkG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2; PatG § 99 Abs. 1;

a) Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes (hier: unzureichende Offenbarung
) in der Berufungsinstanz, nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht
nur auf einen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II
§ 6 Abs. 1 IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine
Klageänderung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1
ZPO dar, welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren anwendbar
ist.

b) Der Nichtigkeitskläger trägt die Beweislast dafür, dass es dem Fachmann auch
nach Kenntnisnahme der Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der
Patentschrift nicht möglich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fachwissens
ohne unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen.
BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Mai 2010 durch den Vorsitzenden Richter Scharen und die
Richter Gröning, Dr. Berger, Dr. Grabinski und Hoffmann

für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 15. Februar 2006 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 0 219 058 (Streitpatents), das am 8. Oktober 1986 angemeldet wurde und am 8. Oktober 2006 durch Zeitablauf erloschen ist. Das Streitpatent betrifft "polymerisierbare Zementmischungen" und umfasst in der erteilten Fassung 37 Patentansprüche.
2
Die Beklagte hat die Klägerin aus dem Streitpatent wegen Patentverletzung in Anspruch genommen. Der Rechtsstreit ist derzeit in der Berufungsinstanz bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main anhängig.
3
Die Klägerin hat das Streitpatent mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen und im Wesentlichen geltend gemacht, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nicht neu sei und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zur Begründung hat sie insbesondere auf die britische Patentanmeldung 2 094 326 (Anlage D1 und Übersetzung), die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (Anlage D4), die europäische Patentschrift 0 115 410 B1 respektive die europäische Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a und Übersetzung) und die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7 und Übersetzung) verwiesen. Zudem hat die Klägerin die unangemessene Breite des Patentanspruchs 1 gerügt.
4
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent durch Urteil vom 15. Februar 2006 dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die Patentansprüche folgende Fassung erhalten haben: "1. Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltend
a) polymerisierbare, ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten,
b) feinteilige, reaktive Füllstoffe, die mit diesen Säuren oder Säurederivaten reagieren können, nämlich Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO) Silikatzementen oder Ionomerzementen sowie
c) Härtungsmittel, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponenten a) und b) derart ausgewählt sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füllstoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen.
2. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen mindestens zwei polymerisierbare Gruppen und mindestens zwei Säuregruppen bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
3. Mischungen nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren Verbindungen drei oder mehr po-
lymerisierbare Gruppen und drei oder mehr Säuregruppen bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
4. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch ge- kennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Ver- bindungen Acryl-, Methacryl-, Vinyl-, Styryl- oder eine Mischung dieser Gruppen enthalten.
5. Mischung nach Anspruch 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren ungesättigten Verbindungen Acryl- oder Methacrylgruppen enthalten.
6. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 5, dadurch ge- kennzeichnet, dass die Säuregruppen Carbonsäurereste oder deren Salze, Phosphorsäurereste der Formeln

oder deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl oder Vinyl bedeutet, Schwefelsäurereste der Formeln - SO2H SO3H, -O-SO3H oder deren Salze oder Borsäurereste der Formeln

deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl, Vinyl bedeutet, sind.
7. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 6, dadurch ge- kennzeichnet, dass die reaktiven Säurederivatgruppen in Form von Säurehalogeniden oder -anhydriden vorliegen.
8. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeich- net, dass das ungesättigte Monomer ein Halophosphorsäure- ester des Bis-GMA ist.
9. Mischungen nach Anspruch 1 bis 7, dadurch gekennzeich- net, dass die Oligomeren oder Prepolymeren solche Verbin- dungen sind, die die polymerisierbaren ungesättigten Gruppen und die Säurereste, deren Salze oder deren reaktive Derivate an ein oligomeres oder prepolymeres Grundgerüst gebunden enthalten.
10. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder prepolymeren Grundgerüste Homooder Copolymerisate von ethylenisch ungesättigten Monomeren sind.
11. Mischungen nach Anspruch 10, dadurch gekennzeichnet, dass sie poly(meth-)acrylierte Oligomaleinsäure, poly(meth-) acrylierte Polymaleinsäure, poly(meth-)acrylierte Poly(meth-) acrylsäure, poly(meth-)acrylierte Polycarbon-polyphosphonsäure , poly(meth-)acrylierte Polychlorophosphorsäure, poly (meth-)acryliertes Polysulfonat oder poly(meth-)acrylierte Polyborsäure enthalten.
12. Mischungen nach Anspruch 9, dadurch gekennzeichnet, dass die oligomeren oder polymeren Grundgerüste Polyester, Polyamide, Polyether, Polysulfone, Polyphosphazene oder Polysaccaride sind.
13. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Oligomeren ein Molekulargewicht von mindestens 500 aufweisen.
14. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von mindestens 1.500 aufweisen.
15. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 100.000 aufweisen.
16. Mischungen nach Anspruch 9 bis 12, dadurch gekennzeichnet , dass die Prepolymeren ein Molekulargewicht von maximal 20.000 aufweisen.
17. Mischungen nach Anspruch 1 bis 16, dadurch gekennzeichnet , dass die Monomeren, Oligomeren oder Prepolyme- ren außer den Säure- und polymerisierbaren Gruppen Aldehyd -, Epoxid-, Isocyanat oder Halotriazingruppen enthalten.
18. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 17, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere polymerisierbare
ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere enthalten, die keine Säuregruppen oder deren reaktive , leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen.
19. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 18, dadurch gekennzeichnet, dass sie zusätzlich andere Verbindungen enthalten, die Säuregruppen oder deren reaktive, leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen, aber keine Gruppen enthalten, die ungesättigt und polymerisierbar sind.
20. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren, säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von mindestens 5 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.
21. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 19, dadurch gekennzeichnet, dass die polymerisierbaren säuregruppen- oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem Anteil von 20 % bis 60 % der polymerisierbaren Verbindungen vorliegen.
22. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 21, dadurch gekennzeichnet, dass zusätzliche, im Sinne von Zementab- binderreaktionen nicht reaktive, anorganische oder organische Füllstoffe zugemischt sind.
23. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 22, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 5 % beträgt.
24. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 22, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der reaktiven Füllstoffe am Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 30 % beträgt.
25. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 24, dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil des Gesamtfüllstoffs zwi- schen 10 % und 95 % der Mischung beträgt.
26. Mischungen nach Anspruch 1 bis 25, dadurch gekennzeichnet , dass das Härtungsmittel ein Polymerisationskataly- sator oder -system ist.
27. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorsystem lichtaktivierbar ist und aus einem Gemisch aus einem αDiketon und einem tertiären Amin und/oder einem tertiären Phosphin besteht.
28. Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 26, dadurch gekennzeichnet, dass das Polymerisationskatalysatorensys- tem aus 2 getrennten Komponenten besteht, wobei die eine Komponente ein organisches Peroxid und die andere Komponente ein tertiäres Amin, eine Schwefelverbindung, in der Schwefel in der Oxidationsstufe + 2 oder + 4 vorliegt, oder ein
Gemisch der beiden ist, oder chelatbildende zweiwertige Metallionen enthält.
29. Mischungen nach Anspruch 28, dadurch gekennzeichnet, dass die Komponente eines 2-Komponenten Gemisches, die die Schwefelverbindung enthält, keine polymerisierbare säure - oder säuregruppenenthaltende Verbindungen, jedoch mindestens ein polymerisierbares Monomer mit Hydroxylgruppen enthält.
30. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 29 als härtbare Mischungen zum Ausfüllen, Versiegeln und Kleben von oxidischen, mineralischen, glasartigen, keramischen , metallischen und biologischen Substraten.
31. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1 bis 29 als haftvermittelnde Schicht zwischen oxidischem, mineralischem , glasartigem, keramischem, metallischem oder biologischem Substrat und radikalisch polymerisierbaren Kunststoffmaterialien.
32. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zum Herstellen von ausgehärteten Formkörpern.
33. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zur Herstellung von Produkten oder Zubereitungen für dentale und medizinische Zwecke."
5
Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
6
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie vertritt die Ansicht, dass Anspruch 1 des Streitpatents auch in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts mangels Neuheit bzw. erfinderischer Tätigkeit nicht patentfähig sei. Auch den Ansprüchen 2 bis 33 komme keine eigenständige Patentfähigkeit zu.
7
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bundespatentgerichts abzuändern, soweit die Klage abgewiesen worden ist, und festzustellen, dass das Streitpatent von Anfang an unwirksam war.
8
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
9
Im Auftrag des Senats hat Univ.-Prof. Dr. rer.nat. et med.dent.habil. H . D.. , … -Universität M. , Fachbereich Medizin, Institut für Angewandte Struktur- und Mikroanalytik, ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
10
Die Klägerin hat nach Erstellung des schriftlichen Gutachtens durch den gerichtlichen Sachverständigen zusätzlich geltend gemacht, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Die Beklagte sieht darin eine Klageänderung, der sie nicht zustimmt, und für den Fall, dass diese als sachdienlich angesehen wird, auch inhaltlich entgegen tritt.

Entscheidungsgründe:


11
Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
12
I. Der von der Klägerin mit der Berufung verfolgte Feststellungsantrag ist nach Ablauf der Schutzdauer des Streitpatents im Hinblick auf den zwischen den Parteien vor dem Oberlandsgericht Frankfurt anhängigen auf das Streitpatent gestützten Verletzungsrechtsstreit unter dem Gesichtspunkt des Feststellungsinteresses zulässig.
13
II. 1. Das Streitpatent betrifft polymerisierbare Zementmischungen, insbesondere zur Verwendung in der Zahnheilkunde und Medizin.
14
In der Streitpatentschrift wird ausgeführt, dass in der Zahnmedizin eine Reihe von Zementen für verschiedene Verwendungszwecke, wie beispielsweise der Befestigung von Kronen und Inlays sowie von orthodontischen Vorrichtungen , als Wurzelkanalfüllungsmaterial, als Unterfüllungsmaterial bei der Einbringung von dentalem Restaurationsmaterial zum Schutze der Zahnpulpe oder auch in Ausnahmefällen bei Läsionen im gingivalen Bereich als Füllungsmaterial selbst Anwendung finden. Zemente für dentale und medizinische Zwecke bestehen in der Regel aus einer Mischung von feinstteiligen Metalloxiden, Metallhydroxiden , Silikatzementschmelzen oder ionenfreisetzenden Gläsern, die mit einer Anrührflüssigkeit, die im Wesentlichen Phosphorsäure oder Polycarbonsäuren oder auch Salicylsäuren enthält, zur Reaktion gebracht wird. Die Aushärtung läuft mithin über eine Ionenreaktion wie Neutralisations-, Salzbildungs -, Chelatbildungs- oder Kristallisationsreaktion ab und zwar in Wasser.
15
Je nach Verwendungszweck haben sich Zemente mehr oder minder gut bewährt. Sie sind zumeist gewebeverträglich und zeigen eine gute Haftung an der Zahnsubstanz (vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 2, Z. 17 ff.). Zemente haben aber auch Nachteile, nämlich vor allem Auswaschbarkeit und geringe mechanische Belastbarkeit, die dazu geführt haben, dass sie als Füllungsmaterial weitgehend durch die dauerhafteren, höher belastbaren, kantenfesteren, unlöslichen und kosmetisch vorteilhafteren, polymerisierbaren Kunststofffüllungsmaterialien , den sogenannten "Composites", ersetzt worden sind.
16
Composites bestehen nach den weiteren Darlegungen in der Streitpatentschrift im Wesentlichen aus einem polymerisierbaren Bindemittel, welches durch organische oder anorganische Füllstoffe verstärkt ist. Als polymerisierbare Bindemittel eignen sich Verbindungen mit olefinischen ungesättigten Gruppen , für dentale oder medizinische Zwecke besonders die Ester der (Meth)acrylsäure von einwertigen oder mehrwertigen Alkoholen, gegebenenfalls im Gemisch mit anderen Vinylmonomeren.
17
Als anorganische Füllstoffe dienen feinteilige Mehle aus Quarz, mikrofeiner Kieselsäure, Aluminiumoxid, Bariumgläsern und andere mineralische Teilchen , die an sich keine chemischen Bindungen mit den sie umgebenden polymerisierbaren Bindemitteln eingehen und darum meist mit einem polymerisierbaren Silan als Kopplungsmittel versehen sind, um einen guten Verbund mit den polymerisierbaren Bindemitteln zu geben. Wesentlich für Composites ist, dass ihre Aushärtung durch eine Polymerisation der olefinisch ungesättigten Gruppen des Bindemittels abläuft, und zwar als radikalische Reaktion, die keiner Gegenwart von Wasser bedarf.
18
In der Streitpatentschrift wird darauf hingewiesen, dass heutzutage zwar hauptsächlich Composites als dentales Restaurationsmaterial verwendet werden , auch deren Anwendung jedoch Grenzen gesetzt sind. Wegen Gewebeirritation oder aus Gründen der Toxizität ist die Anwendung von Composites für tiefer gehende Zahnkavitäten, bei Restauration am Gingivalsaum und am Dentin eingeschränkt. Zudem haften sie nicht an der Zahnsubstanz. In solchen Fällen werden meist Zemente auf der Basis von Polycarbonsäuren und Metalloxiden (Carboxylatzemente) oder ionenfreisetzenden Gläsern (Ionomerzemente) angewandt, die insoweit über günstigere Eigenschaften verfügen.
19
Nach den weiteren Ausführungen in der Streitpatentschrift ist versucht worden, die mechanische Festigkeit und vor allem das Löslichkeits- und Entmischungsverhalten sowie die Kompatibilität von Zementen mit Composites zu verbessern, ohne dass dies jedoch zu befriedigenden Ergebnissen geführt hat (vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 3, Z. 4 ff.).
20
Dem Streitpatent liegt vor diesem Hintergrund das Problem ("die Aufgabe" ) zugrunde, neue, insbesondere im Dentalbereich zu verwendende Mischungen zu finden, die einerseits über die wesentlichen Vorteilsmerkmale von Zementen auf Polycarbonsäure- oder Salicylat-Basis, nämlich eine gute Haftung an Zahn- und Knochensubstanz und gute Gewebeverträglichkeit, verfügen , andererseits aber auch die Vorteilsmerkmale von Composites, nämlich eine geringe Löslichkeit und größere mechanische Festigkeit, aufweisen, und keine ausgeprägten Entmischungserscheinungen zeigen.
21
Das soll nach Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts durch folgende Merkmalskombination erreicht werden: Polymerisierbare Zementmischungen enthaltend
a) Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, diese sind a 1) polymerisierbar, a 2) ungesättigt, a 3) sie enthalten Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen;
b) Füllstoffe, diese sind b 1) feinteilig, b 2) reaktiv b 3) und können mit den Säuren oder Säurederivaten reagieren ; b 4) die Füllstoffe sind Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen;
c) Härtungsmittel;
d) die Komponenten a und b sind derart ausgewählt, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion führen vermögen.
22
Die nach Patentanspruch 1 geschützten sogenannten polymerisierbaren Zementmischungen enthalten somit einerseits Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, die polymerisierbar und ungesättigt sind und Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten (Merkmals- gruppe a und andererseits Füllstoffe (nämlich Pulver von Phosphatzement ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen), die feinteilig und reaktiv sind sowie mit den Säuren oder Säurederivaten der Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere reagieren können (Merkmalsgruppe b). Hinzu kommen nicht weiter spezifizierte Härtungsmittel (Merkmal c). Die Komponenten a und b sind derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen (Merkmal d).
23
Für den Fachmann, bei dem es sich um einen auf dem Gebiet der Entwicklung von Füllungsmaterialien tätigen Diplom-Chemiker mit Fachhochschuloder Hochschulabschluss oder approbierten Zahnarzt handelt, ergibt sich daraus , dass die unter Schutz gestellten sogenannten polymerisierbaren Zementmischungen geeignet sein sollen, eine zweifache Reaktion zu bewirken. Zum einen soll die polymerisierbare und ungesättigte Komponente a (durch einen Katalysator wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines Aktivators, Streitpatentschrift, S. 10, Z. 27 ff.; vgl. auch Sachverständigengutachten , S. 31) zu einer radikalischen Polymerisationsreaktion induziert werden. Zum anderen soll durch die Auswahl der Komponenten a und b der Mischung (und nach Zugabe von Wasser) eine ionische Zementreaktion zwischen den Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß Merkmal a und den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß Merkmal b ermöglicht werden, die zur Bildung von vernetzten Zementstrukturen führt. Dabei ist allerdings der Umfang, in dem es infolge der Zementreaktion bei dem Endprodukt tatsächlich zur Bildung solcher Strukturen kommt, nicht weiter konkretisiert. Das fügt sich mit dem Umstand, dass Gegenstand des Patentanspruchs 1 eine Mischung ist und nicht das Endprodukt, das nach der Polymerisations- und Zementreaktion aus der Mischung entsteht. Die erfindungsgemäße Lehre fordert allein, die Komponen- ten a und b der Mischung derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Komponente a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen der Komponente b ionisch zu einer Zementreaktion führen können, um das zu erhalten, was im Streitpatent als polymerisierbare Zementmischung bezeichnet ist. In der Streitpatentschrift heißt es in diesem Zusammenhang erläuternd , dass sich überraschenderweise gezeigt habe, dass man durch eine Kombination von einigen für die Haftung an der Zahnsubstanz entwickelten polymerisierbaren Harzmischungen mit solchen reaktiven Füllstoffen, die üblicherweise in Zementen als für die Abbindung wichtige Komponente enthalten sind, zu härtbaren Mischungen kommt, die sowohl radikalisch als auch über Ionenreaktionen aushärten. Dadurch könne eine große Palette von neuen Compositezementen erhalten werden, die verbesserte Eigenschaften und neue Möglichkeiten der Anwendung böten (Streitpatentschrift, S. 3, Z. 40 ff.).
24
Als Füllstoffe im Sinne des Merkmals b kommen demnach nur solche in Betracht, die feinteilig und reaktiv sind und dabei insbesondere mit den Säuren und/oder Säurederivaten des Merkmals a reagieren können. Nicht dazu zählen inerte Füllstoffe, wie etwa die noch im Stand der Technik bei Composites als Füllstoff verwendeten feinteiligen Mehle von Quarz, mikrofeine Kieselsäure, Aluminiumoxid, Bariumgläsern und anderen mineralischen Teilchen, die keine chemische Bindung mit den sie umgebenden polymerisierbaren Bindemitteln eingehen können und deshalb meist mit einem polymerisierbaren Silan als Kopplungsmittel versehen wurden (vgl. Streitpatentschrift, S. 2, Z. 45 ff.). Zudem muss es sich bei den Füllstoffen um Pulver von Phosphatzement (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen handeln.
25
Härtungsmittel im Sinne des Merkmals c sind solche, welche die radikalische Polymerisationsreaktion oder die Ionenreaktion auslösen bzw. beschleu- nigen können, wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines Aktivators bzw. Wasser, Weinsäure oder Mellithsäure (Streitpatentschrift, S. 10, Z. 27 ff., 51 f.).
26
III. 1. Die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜbkG) durch die Klägerin erstmals in der Berufungsinstanz ist zulässig (§ 99 PatG i.V. mit § 533 Nr. 1 ZPO).
27
Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes in der Berufungsinstanz , nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht nur auf einen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine Klageänderung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1 ZPO dar, welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren anwendbar ist (Benkard/Rogge, PatG, 10. Aufl., 2006, § 22 PatG Rdn. 71; Busse/Keukenschrijver , PatG, 6. Aufl., 2003, § 83 PatG Rdn. 9, jeweils zu § 263 ZPO). Entsprechend ist in der erstmaligen Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜbkG) durch die Klägerin im Berufungsverfahren im Anschluss an das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen eine Klageänderung zu sehen , nachdem die Klägerin ihren Antrag auf Nichtigerklärung bis dahin allein mit der fehlenden Patentfähigkeit des Streitpatentes (Art. 54, 56, 138 Abs. 1 a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG) begründet hat. Soweit die Klägerin erstinstanzlich die unangemessene Breite des Anspruchs 1 des Streitpatents in der von der Beklagten verteidigten Fassung gerügt hat, füllt dies - wie bereits das Bundespatentgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats (BGHZ 156, 179, 185 - blasenfreie Gummibahn I) zutreffend ausgeführt hat - keinen der gesetzlichen Nichtigkeitsgründe aus und damit insbesondere auch ohne Weiteres nicht den Nichtigkeitsgrund der unzureichenden Offenbarung.
28
Die Klageänderung ist sachdienlich und somit zulässig (§ 533 Nr. 1 ZPO). Die Einbeziehung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenbarung in das hiesige Nichtigkeitsberufungsverfahren ist sachdienlich, weil die damit verbundenen Fragen im laufenden Verfahren mitbehandelt werden konnten und eine neue Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Streitpatents vermieden wird. Zu einer zeitlichen Verzögerung des laufenden Verfahrens ist es nicht gekommen, weil die Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen im Verhandlungstermin, die bereits im Hinblick auf den von Anfang an erhobenen Nichtigkeitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit angeordnet worden war, dazu genutzt werden konnte, offene Fragen auch im Hinblick auf den Nichtigkeitsgrund der fehlenden Offenbarung zu klären.
29
2. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ist so deutlich und hinreichend offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Art. 83, 138 Abs. 1 b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 IntPatÜbkG ).
30
a) Die Klägerin trägt vor, dass die Offenbarung des Streitpatents dem Fachmann keine ausreichende Lehre vermittelt habe, wie die polymerisierbaren , ungesättigten Säuren bzw. Säurederivate nach Merkmalsgruppe a und die feinteiligen, reaktiven Füllstoffe nach Merkmalsgruppe b auszuwählen seien, so dass sie polymerisierbare Zementmischungen ergäben, die über eine ionische Reaktion zu einem Zement führten. Um dies herauszufinden, habe der Fachmann umfangreiche und damit unzumutbare eigene Untersuchungen anstellen und selbst erfinderisch tätig werden müssen. Selbst wenn jedoch unterstellt werde, dass die Beispiele des Streitpatents Zementmischungen offenbarten, die ionisch zu einer Zementreaktion geführt hätten, so habe sich hieraus keine ausreichende Offenbarung für den gesamten beanspruchten Bereich ergeben. Die Beispiele hätten keine Verallgemeinerung dahingehend erlaubt, dass der Fachmann auf Grundlage der Beispiele wisse, wie er die Säuren bzw. Säurederivate nach Merkmalsgruppe a auszuwählen habe, damit sie mit entsprechenden reaktiven Füllstoffen der Merkmalsgruppe b zu einer ionischen Zementreaktion führen könnten.
31
Der Argumentation der Klägerin kann nicht beigetreten werden. Eine für die Ausführbarkeit hinreichende Offenbarung ist gegeben, wenn der Fachmann ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbare Schwierigkeiten in der Lage ist, die Lehre des Patentanspruchs aufgrund der Gesamtoffenbarung der Patentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder Prioritätstag praktisch so zu verwirklichen, dass der angestrebte Erfolg erreicht wird (Sen.Urt. v. 14.10.1979 - X ZR 3/76, GRUR 1980, 166, 168 - Doppelachsaggregat ). Es ist also nicht erforderlich, dass bereits der Patentanspruch alle zur Ausführung der Erfindung erforderlichen Angaben enthält. Vielmehr genügt es, wenn der Fachmann die insoweit notwendigen Einzelangaben der allgemeinen Beschreibung oder den Ausführungsbeispielen entnehmen kann (Sen.Beschl. v. 16.6.1998 - X ZB 3/92, GRUR 1998, 899, 900 - Alpinski; Urt. v. 1.10.2002 - X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II). Nach mittels Einspruchs nicht mehr anfechtbarer Erteilung des Patents ist von einer in diesem Sinne ausreichenden Offenbarung so lange auszugehen, bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Im Nichtigkeitsprozess führt das zur Beweislast des Klägers dafür, dass es dem Fachmann auch nach Kenntnisnahme der Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der Patentschrift nicht möglich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fachwissens und ohne unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen (Busse/Keukenschrijver, aaO, § 83 PatG Rdn. 32, § 34 PatG Rdn. 301; Schulte/Moufang, PatG, 8. Aufl., 2008, § 34 PatG Rdn. 374).
32
Im Streitfall hat sich das Gegenteil nicht ergeben. Es ist zwar zutreffend, dass Patentanspruch 1 des Streitpatents - wie auch der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten wiederholt hervorhebt (Sachverständigengutachten , S. 10, Abs. 2; S. 12, Abs. 3; S. 40, Abs. 2; S. 117, Abs. 5; S. 124, Abs. 3), keine näheren Angaben zur Auswahlregel in Merkmal d entnommen werden kann, wonach die Komponenten a, also die polymerisierbaren, ungesättigten und Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivate enthaltenden Monomere , Oligomere und/oder Prepolymere, und b also die feinteiligen und reaktiven Pulver von Phosphatzementen, Silikatzementen oder Ionomerzementen so auszuwählen sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivategruppen der Stoffe gemäß a) mit den feinteiligen Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zementreaktion führen können. Die Streitpatentschrift enthält jedoch mehrere Ausführungsbeispiele , in denen dem Fachmann konkrete Mischungen vorgeschlagen werden (vgl. Streitpatentschrift, S. 13 ff.). Dass diese Ausführungsbeispiele insgesamt nicht ausführbar sind, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben.
33
Dafür, dass die Komponenten a und b derart ausgewählt worden sind, das die Säuregruppen bzw. Säurederivatgruppen der Komponente a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen der Komponente b zu einer Zementreaktion zu führen vermögen, spricht etwa bei dem Beispiel 9 des Streitpatents das Quellverhalten des Probekörpers in Wasser, welches darauf hindeutet, dass sich zumindest in Teilbereichen des Probekörpers Zementstrukturen gebildet haben. Nach den Angaben in der Streitpatentschrift wurde im Hinblick die Polymerisationsschrumpfung des Probekörpers in Wasser nach 10 Minuten mit 0,0 % ge- messen. Nach 30 Minuten hat der Probekörper eine Expansion von 0,24 % gezeigt und nach 16 Stunden eine solche um 0,80 % (Streitpatentschrift, S. 16, Z. 46 ff.). Zwar hat der gerichtliche Sachverständige im Termin ausgeführt, dass im Expansionsverhalten kein wissenschaftlicher Nachweis für die Bildung zementartiger Vernetzungen in dem Probekörper liegt; er hat aber auch dargelegt, dass eine mögliche Erklärung für die Ausdehnung in der Bildung zementartiger Vernetzungen im Probekörper unter Wassereinfluss liegen kann.
34
Der gerichtliche Sachverständige hat zudem zwar kritisiert, dass die Eigenschaft "Zement" nicht durch spektroskopische (z.B. IR, XRD, etc.) Methoden nachgewiesen worden sei, zugleich aber überzeugend dargelegt, dass Angaben zur Härte von Probekörper nach in vitro Nasslagerung und zu deren in vitro Kantenfestigkeit indirekte Hinweise auf deren Vorhandensein sein können (Sachverständigengutachten, S. 118, Abs. 4). So wird in der Streitpatentschrift hinsichtlich des Beispiels 4 ausgeführt, dass der durch Mischen von zwei härtbaren Pasten auf Basis von Polymethacrylcarbonsäure und Phosphatzementpulver entstandene gehärtete Compositezement zunächst eine Barcolhärte von 51 gehabt hat. Im Stresstest (Wassertauchbäder im Wechsel von 0° C und 60° C nach 4.000 Zyklen) wies das Material keine Ermüdungserscheinungen auf, stieg die Barcolhärte auf 59 und war das Material äußerst kantenfest. Zudem haftete es sehr gut an Dentin und Schmelz von Rinderzähnen (Streitpatentschrift , S. 14, Z. 25 ff., 44 ff.). Zum Beispiel 3 heißt es in der Beschreibung, dass 30 Minuten nach dem Vermischen von zwei Pasten auf Basis von halophosphoryliertem Bis-GMA und Ionomerzementpulver eine Barcolhärte von 57 gemessen wurde, die Druckfestigkeit nach 24 h/37° C bei 2.100 kg/cm² lag und eine Löslichkeit nach 24-stündiger Lagerung im Wasser von 37° C nicht festgestellt wurde (Streitpatentschrift, S. 14, Z. 13 ff., Z. 21 ff.).
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Schließlich liegt in der Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung, dass bei den genannten Beispielen des Streitpatents stets jedenfalls eine ionische Reaktion (Säure-Base-Reaktion) erfolgt ist, ein weiteres Indiz dafür, dass es dabei auch zur Bildung von Zementstrukturen gekommen ist.
36
b) Auch dem weiteren Argument der Klägerin, die Beispiele des Streitpatents reichten nicht aus, um die Auswahlregel nach Merkmal d im gesamten Bereich als offenbart anzusehen, weil diese den Fachmann nicht allgemein lehrten, wie er die Säuren oder Säurederivate der Merkmalsgruppe a auszuwählen habe, damit sie mit entsprechenden reaktiven Füllstoffen der Merkmalsgruppe
b) zu einer ionischen Zementreaktion führen können, kann nicht gefolgt werden. Denn nach der Rechsprechung des Senats ist es nicht erforderlich, dass alle denkbaren unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden Ausgestaltungen ausgeführt werden können. Vielmehr genügt es regelmäßig den Anforderungen des Art. 83 EPÜ, wenn - wie für den hiesigen Fall vorstehend ausgeführt - zumindest ein nacharbeitbarer Weg zur Ausführung der Erfindung offenbart worden ist (BGHZ 147, 306 (317) - Taxol; Sen.Urt. v. 1.10.2002 - X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II). Ein dem Sachverhalt der Entscheidung "Thermoplastische Zusammensetzung" (BGH, Urt. v. 25.2.2010 - Xa ZR 100/05 Tz. 23, GRUR 2010, 414) vergleichbarer oder ähnlicher Fall ist hier nicht zu beurteilen.
37
IV. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ist patentfähig (Art. 138 Abs. 1 a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG).
38
1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der genannten Fassung ist neu (Art. 54 EPÜ).
39
a) Die britische Patentanmeldung 2 094 326 (Anlage D1 und Übersetzung ) offenbart einen dentalen Ausbesserungskit oder eine Zusammensetzung zum Auskleiden oder temporären Füllen von Zahnkavitäten, umfassend Calciumhydroxid und ein polymerisierbares, organisches Bindemittel, wobei das Bindemittel ein Bisphenol-A-Glydicylmethacrylat-Präpolymer und gegebenenfalls weitere Komponenten (ein Acrylmonomer, das insbesondere ein difunktionelles Methacrylat sein kann; bis zu 0,5 Gew.-% Methacrylsäure; ein Füllstoff, der insbesondere Glas, Quarz oder amorphes Siliziumdioxid umfasst, etc.) umfasst. Aus Sicht des Fachmanns lehrt die Entgegenhaltung somit einen sog. Kavitätenliner , der zur Abdeckung der Pulpa bei tiefen Kavitäten dient, um das Wachstum von sekundärem Dentin zu stimulieren und die Wirkungen von Säuren und anderen Chemikalien zu neutralisieren (Anlage D1, S. 1, Z. 11 ff.). Den Grundkomponenten der bis dahin bekannten Calciumhydroxid-Kavitätenlinern werden Composite-Füllungsmaterialien hinzugesetzt, die ebenfalls bereits bekannt gewesen sind (Sachverständigengutachten, S. 50, Abs. 1).
40
Dem Fachmann werden damit Harzkomponenten und Härtungsmittel im Sinne von Patentanspruch 1 des Streitpatents aufgezeigt. Es fehlt aber an einer Offenbarung reaktiver Füllstoffe, die mit Säuren oder Säurederivaten reagieren können und Pulver von Phophatzementen (ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen sind. Entsprechend geht aus der Entgegenhaltung auch nicht die Auswahlregel des Merkmals d hervor. Anspruch 8 und der Beschreibung der britischen Patentanmeldung können zwar als mögliche Füllstoffe, welche die Zusammensetzung der Erfindung aufweisen können, allgemein Glas, Quarz oder amorphe Kieselsäure entnommen werden (vgl. Anlage D1, S. 2, Z. 20 ff; S. 4, Z. 27 ff.; Übersetzung, S. 5, Abs. 3; S. 13, letzter Abs.). Damit ist jedoch nicht offenbart, dass es sich bei dem Füllstoff um ein Pulver von Ionomer- oder Silikatzementen handelt, die mit Säure- oder Säurederivatgruppen reagieren können. In der Entgegenhaltung wird zunächst nicht ausdrücklich erwähnt, dass es sich bei der Alternative "Glas" als Füllstoff um ein Pulver für Ionomerzemente oder bei der Alternative "amorphe Kieselsäure" als Füllstoff um ein Pulver für Silikatzemente handeln soll. Darüber hinaus ist es aus Sicht des Fachmanns in Zusammenhang mit einem Kavitätenliner, der ohne Wasserbedarf in einer katalytisch induzierten Polymerisationsreaktion aushärtet (Sachverständigengutachten , S. 57 f.), auch ohne ausdrückliche Erwähnung nicht wie selbstverständlich, unter den Begriffen "Glas" bzw. "amorphe Kieselsäure" ein reaktives Pulver von Ionomer- oder Silikatzementen zu verstehen. Erst recht enthält die britische Entgegenhaltung keinen Hinweis auf die eine ionische Zementreaktion betreffende Auswahlregel des Merkmals d des Streitpatents.
41
Entgegen der Ansicht der Klägerin ändert daran auch der Umstand nichts, dass in der britischen Patentanmeldung auf das US-Patent 3 971 754 (Anlage D14, Übersetzung) Bezug genommen wird. Im Rahmen dieser Bezugnahme erstreckt sich der Offenbarungsgehalt der britischen Entgegenhaltung zwar auch auf den Inhalt des US-Patentes (vgl. etwa BGHZ 76, 97, 104 - Terephtalsäure ). Der Verweis in der britischen Entgegenhaltung erfolgt jedoch im Hinblick auf "Glaszusammensetzungen des US-Patentes 3 971 754", die "Röntgenabsorptionsverbindungen , wie beispielsweise Strontiumoxid und -carbonat" umfassen, "so dass die Grenzen des Füllstoffs auf diagnostischen Röntgenaufnahmen abgegrenzt sind" (Anlage D1, S. 2, Z. 2, Z. 28 ff., 39 ff.; Übersetzung, S. 5, Abs. 3 und 5 f.). Dies entspricht der dem genannten US-Patent zugrunde liegenden Aufgabenstellung, wonach ein für Röntgenstrahlen undurchlässiges Zahnfüllmaterial mit bestimmten Eigenschaften (vgl. dazu im Einzelnen: Anlage D14, Sp. 1, Z. 61 ff.; Übersetzung, S. 3, Abs. 2 ff.) zur Verfügung gestellt werden soll, um einen ausreichenden Röntgenkontrast zu erhalten, so dass die Lage und der Grenzbereich des implantierten Materials im Hinblick auf postoperative Untersuchungen klar umrissen sind, damit beispielsweise das Wiederaufleben von Karies, die Gewebeneubildung und andere Gewebestörungen ohne einen operativen Eingriff festgestellt werden können (vgl. Anlage D14, Sp. 1, Z. 9 ff., 61 ff.; Übersetzung, S. 1, Abs. 2, S. 3 Abs. 2 ff.). Hingegen findet sich in der US-Patentschrift kein Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei den dort genannten Glasfüllmaterialien, um Pulver für Silikat- oder Glasionomerzemente handelt , die - wie der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten hervorhebt (vgl. Sachverständigengutachten, S. 57, Abs. 2, S. 93, Abs. 4 und 5) - eine sehr spezifische Zusammensetzung aufweisen müssen, damit es zu einer vernetzenden Zementreaktion kommen kann.
42
b) Die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (Anlage D4) beschreibt eine härtbare Masse bestehend aus (A) einer ethylenisch ungesättigten Carbonsäure entsprechend der folgenden allgemeinen Formel worin R1 ein Wasserstoffatom oder eine Methylgruppe und R2 eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen bedeuten und worin im Benzolring A zwei Carboxylgruppen an andere Kohlenstoffatome als die zu dem Kohlenstoffatom, wor- an die Estergrupe gebunden ist, benachbarten Kohlenstoffatome gebunden sind oder einem Säureanhydrid hiervon, (B) mindestens einem anderen ethylenisch ungesättigten Monomeren als dem Monomeren (A) und (C) mindestens einem Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren vom freien Radikaltyp und/oder Photosensibilisatoren (Anlage D4, Patentanspruch 1), die als Dentalklebstoff verwendet werden kann (aaO, Patentanspruch 11), indem sie zwischen die miteinander zu verbindenden Gegenstände aufgetragen, polymerisiert und gehärtet wird (aaO, S. 5, Abs. 1; Beispiele, S. 16 ff.). Die härtbare Masse soll über eine starke Haftfähigkeit am Zahnschmelz und am Dentin sowie an anderen Substraten wie Metall verfügen sowie eine hohe Wasserbeständigkeit und Dauerhaftigkeit aufweisen (aaO, S. 5, letzter Abs. bis S. 6, 3. Abs.). Nach den weiteren Ausführungen in der Beschreibung der Entgegenhaltung kann die härtbare Masse verschiedene Zusätze enthalten. Namentlich erwähnt werden anorganische pulverförmige Füllstoffe wie Kaolin, Talk, Ton, Calciumcarbonat, Kieselsäure, Aluminumoxid, Kieselsäure-Aluminiumoxid, Calciumphosphat und Glas, Pigmente wie Titanoxid, Klebrigmachungsmittel wie Wachse und Ethylen/Vinylacetat-Copolymere, Härtungspromotoren, Polymerisationsregler und Polymerisationshemmstoffe wie Hydrochinon (aaO, S. 12, Abs. 1).
43
Mit der ethylenisch ungesättigten Carbonsäure offenbart die Entgegenhaltung einen Monomeren, der polymerisierbar und ungesättigt ist sowie zwei Säuregruppen (Carbonsäurereste: -COOH) enthält (Merkmalsgruppe a). Im Hinblick auf den Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren vom freien Radikal- typ und/oder Photosensibilisatoren ist zudem ein Härtungsmittel enthalten (Merkmal c).
44
Die Klägerin meint, dass darüber hinaus der Begriff Glas in der Auflistung möglicher Zusätze vom Fachmann dahin verstanden werde, dass Gläser zum Einsatz kämen, die üblicherweise für Dentalmaterialien und insbesondere für Dentalklebstoffe und Dentalzemente verwendet würden. Eine dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt als üblich bekannte und für Dentalmaterialien als ohne weiteres geeignet erscheinende Glasgruppe seien die Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente. Der Fachmann habe also dem Begriff Glas, wie er in der Entgegenhaltung gegeben sei, auch die Bedeutung als Pulver für Silikatzemente und Glasinomerzemente beigemessen bzw. diese ohne weiteres mitgelesen, zumal Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente weit verbreitete Anwendung in Dentalmaterialien gefunden hätten.
45
Der Argumentation der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Sie verkennt den patentrechtlichen Neuheitsbegriff. Danach kann zwar auch dasjenige offenbart sein, was in der Entgegenhaltung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns jedoch für die technische Information, die der Fachmann der Entgegenhaltung entnimmt, keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern "mitgelesen" wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient, nicht anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information , die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (BGHZ 179, 168, 174 - Olanzapin). Danach kann der Offenlegungsschrift aus Sicht des Fachmanns weder die Merkmalsgruppe b noch die Auswahlregel des Merkmals d des Patentanspruchs 1 entnommen werden.
46
Gegenstand der Entgegenhaltung ist ein Dentalklebstoff, der durch eine radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion polymerisiert und aushärtet. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass neben oder nach der radikalischen Polymerisation noch eine ionische Zementreaktion herbeigeführt werden soll. Das gilt sowohl für den allgemeinen Teil der Beschreibung der deutschen Offenlegungsschrift als auch für die zehn Ausführungsbeispiele. Hinzu kommt, dass im Hinblick auf die Aushärtung der Masse an keiner Stelle die Zugabe von Wasser erwähnt wird, wie sie für eine ionische Zementreaktion zwingend erforderlich wäre (Sachverständigengutachten, S. 63, Abs. 2, S. 64, Abs. 1). Auch dies spricht dagegen, dass dem Fachmann in der Offenlegungsschrift die Durchführung einer ionischen Zementreaktion offenbart wird und er vor diesem Hintergrund unter dem Begriff des Glases als Füllstoff gerade auch Pulver von Silikat- oder Glasionomerzementen verstehen wird. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang ausführt, dass eine nachfolgende ionische Reaktion in der Mundhöhle (durch Speichelfluss) erfolgen könne, hat auch dies keine Grundlage in der Entgegenhaltung und stellt sich als rückschauende und deshalb unbeachtliche Betrachtungsweise dar.
47
Auch wenn es zutreffend ist, dass es mit zum Fachwissen gehört hat, dass das Pulver von Silikatzementen ein Aluminiumfluorsilikatglas ist und Glasionomerzemente durch die Reaktion von Pulvern (säurelösliches Glas mit hohem Fluorgehalt) und Flüssigkeiten (wässrige Lösung von Acrylsäurecopolymeren ) gebildet werden (vgl. Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry, 5. Aufl., 1987, Band A 8, S. 276 und S. 256, Anlagen D13 und D13a) und zudem diskutiert wurde, dass Silikat- und Glasionomerzemente Fluoridionen frei- setzen und zum Schutz gegen Karies beitragen können (vgl. Tveit/Gjerdet, Fluoride release from a fluoride-containing amalgam, a glass ionomer cement and a silicate cement in artificial salvia, Journal of Oral Rehabilitation, 1981, Volume 8, Seiten 237-241, Anlage D16, und Swartz/Philips/Clark, Long-term F Release from Glass Ionomer Cements, Journal of Dental Research 63(2), Seiten 158-160, Februar 1984, Anlage D17), folgt daraus nicht, dass der Fachmann bei Kenntnisnahme der Aufzählung von Füllstoffen in der Beschreibung der Offenlegungsschrift mit der Erwähnung von Glas ohne weiteres auch Pulver für Silikat- oder Glasionomerzemente "mitgelesen" hat. Vielmehr wird in Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry gerade zwischen Glasionomerzementen, die aus einem Pulver (säurelöslichem Glas mit hohem Fluorgehalt) und einer Flüssigkeit (wässrige Lösung aus Acrylsäurepolymeren) bestehen, und sog. "Composite-Cements" unterschieden, die sich aus zwei Pasten mit Diacrylatoligomeren , Diacrylatmonomeren, Füllstoffen und Polymersiationsstartersystemen zusammensetzen (aaO, S. 256). Bei den letztgenannten "Composite-Cements" handelt es sich also gerade nicht um Zemente, die ionisch mit Wasser reagieren , sondern um polymerisierbare Composites (Sachverständigengutachten, S. 107). Und auch die Aufsätze von Tveit/Gjerdet und Swartz/Philips/Clark befassen sich speziell mit der Fluoridabgabe von Silikat- und Glasionomerzementen und den damit möglicherweise verbundenen karieshindernden Wirkungen ("anticariogenic properties"), ohne dass jedoch ein Bezug zu CompositeMaterialien bzw. Füllstoffen für selbige aufgezeigt wird. Für den Fachmann gibt es daher - wie auch der gerichtliche Sachverständige in der mündlichen Verhandlung noch einmal hervorgehoben hat - keinen Grund, unter dem in der deutschen Offenlegungsschrift verwendeten Begriff des Glases als Füllstoff auch Pulver von Silikat- oder Glasionomerzementen zu verstehen.
48
c) Die europäische Patentschrift 0 115 410 respektive die europäische Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a, Übersetzung) betreffen ebenfalls Klebstoffmassen, die gut auf harten Geweben des menschlichen Körpers wie Zähnen und Knochen, metallischen Materialien, organischen Polymeren und Keramiken haften und die weiterhin eine wasserbeständige Klebefestigkeit besitzen (Anlage D5, S. 2, Z. 3 ff.). Patentanspruch 1 der europäischen Patentschrift offenbart eine solche Klebstoffmasse die aus (a) 1 Gewichtsanteil einer Verbindung der allgemeinen Formel worin jeweils R5 und R5’ ein Wasserstoffatom oder ein Methylrest sind, Rc einen bivalenten, organischen Rest mit 2 bis 54 Kohlenstoffatomen bedeutet, Rd ein bivalenter organischer Rest mit 4 bis 57 Kohlenstoffatomen ist, Rd’ ein bivalenter organischer Rest mit 3 bis 57 Kohlenstoffatomen ist und X2 O, S oder NRb bedeutet, wobei Rb H oder C1-4-Alkyl ist, und (b) 0 bis 199 Gewichtsteilen eines Vinylmonomeren besteht, der mit der vorstehend erwähnten Verbindung copolymerisierbar ist.
49
Die Verbindungen sind polymerisierbare, ungesättigte und säuregruppenhaltige Monomere im Sinne der Merkmalsgruppe a des Streitpatents. In Anspruch 5 ist darüber hinaus vorgesehen, dass die Masse ein Härtungsmittel enthält (aaO, S. 20, Z. 63 ff.), so dass auch Merkmal c offenbart ist.
50
In der Beschreibung der Entgegenhaltung wird weiterhin erwähnt, dass die Klebemittelzusammensetzung einen herkömmlichen bekannten Füllstoff eines anorganischen oder organischen Polymers oder eines anorganischen oder organischen Verbundtyps enthalten könne. Durch Zugabe des Füllstoffs könne die Klebemittelzusammensetzung als Dentalzement zum Verkleben und Füllen, dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden. Als Beispiele für den verwendeten anorganischen Füllstoff werden natürliche Mineralien erwähnt und dabei neben vielen anderen auch Glas, z.B. Sodaglas, Bariumglas, Strontiumglas und Borsilikatglas, Glas-Keramik enthaltend Lanthan usw. (aaO, S. 12, Z. 59 ff., S. 13, Z. 2 ff.). Die Klägerin meint, dass dem Fachmann hierdurch gelehrt werde, solche Füllmaterialien einzusetzen, welche die Ausbildung eines Zahnzements ermöglichen. Aus der Erwähnung von Glas als einem Füllstoff folge für den Fachmann, dass auch Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente gemeint seien.
51
Dem ist nicht beizutreten. Auch die europäische Patentschrift 0 115 410 bzw. die europäische Patentanmeldung 0 115 410 betreffen einen Dentalklebstoff , der durch eine radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion polymerisiert und gehärtet wird (Anlage K5, S. 12, Z. 20 ff.; Anlage D5a, S. 20, Z. 20 ff.; Übersetzung, S. 22, Abs. 2). In der Entgegenhaltung werden auch Füllstoffe erwähnt, die "manchmal" ("sometimes") in dem Dentalkleber enthalten sein können und dann die verschiedensten Füllstoffe einschließlich Glas genannt. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, veranlasst dies den Fachmann aber noch nicht dazu, Ionen abgebende Glaspulver der Glasionomerzemente mitzulesen. Dass neben oder nach der Polymerisierungsreaktion auch noch eine ionische Zementreaktion erfolgen soll und deshalb aus Sicht des Fachmanns mit der Erwähnung von Glas als ein Füllstoff auch Glasionomerzemente gemeint sind, folgt auch nicht aus dem Umstand, dass in der Beschreibung der Entgegenhaltung erwähnt wird, dass das Klebemittel durch Zugabe des Füllstoffs als "Dentalzement" zum Verkleben und Füllen , als dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden kann. Denn aus Sicht des fachkundigen Lesers wird der Begriff des Dentalzements zum Füllen hier im Sinne einer kariespräventiven Behandlung für das Füllen von Fissuren und kleineren Läsionen verwendet und nicht für das Füllen von Kavitäten, so dass ohne weiteres kein Anlass besteht, darin die Andeutung einer ionischen Zementreaktion zu sehen. Im Übrigen fehlt es in diesem Zusammenhang an jeglichem Hinweis auf eine wässrige Umgebung, die für die Durchführung einer ionischen Reaktion bzw. der Ausbildung einer vernetzten Struktur selbständig abbindenden Zements erforderlich wäre (Sachverständigengutachten , S. 78 Abs. 1 bis S. 79 Abs. 1). Schließlich findet sich in den Entgegenhaltungen auch kein Anhaltspunkt, der auf die Auswahlregel nach Merkmal d des Patentanspruchs 1 des Streitpatents hindeutet.
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d) Die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7, Übersetzung ) hat gleichfalls einen Dentalklebstoff zum Gegenstand. In Anspruch 1 wird eine Dentalzusammensetzung offenbart, die ein Vinylmonomer umfasst, das mindestens eine Säuregruppe im Molekül und einen Initiator enthält, der das Monomer durch sichtbares Licht photopolymerisieren kann, wobei der Initiator weitgehend aus einem Photosensibilisierer, der ein α-Diketon, ein Chinon oder ein Derivat eines α-Diketons oder eines Chinons ist, zusammen mit einem Beschleuniger , der mindestens eine Mercaptogruppe im Molekül enthält. Offenbart werden damit die Merkmalsgruppe a und das Merkmal c des Streitpatents.
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Die Klägerin führt aus, dass die Dentalzusammensetzung nach Anspruch 8 der Entgegenhaltung auch ein Füllmaterial beinhalten kann. In der Beschreibung werden eine Vielzahl von möglichen Füllstoffen genannt, darunter auch anorganische Füllstoffe, die pulverförmig vorliegen können und Kieselsäure, Aluminiumoxid, verschiedene Gläser, Keramiken, Tonmineralien, synthetisches Zeolith, Glimmer, Calciumfluorid, Calciumphosphat, Bariumsulfat, Zirkoniumdioxid oder Titanoxid umfassen können (Anlage D7, S. 15 Abs. 1; Übersetzung, S. 17, Abs. 4). Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Begriff "verschiedene Gläser" in der Aufzählung vom Fachmann dahin verstanden wird, dass darunter auch Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente fallen können, weil diese üblicherweise im Dentalbereich eingesetzt werden.
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Die Argumentation der Klägerin greift nicht durch. Die europäische Patentanmeldung 0 155 812 befasst sich mit der Optimierung eines Klebstoffs, der ohne Wasserbedarf polymerisiert. Für den Fachmann besteht aufgrund der bloßen Erwähnung von Gläsern als mögliche Füllstoffe kein Grund zu der Annahme , dass es sich dabei zumindest auch um Pulver von Silikatzementen oder Ionomerzementen handeln soll, mit denen eine vernetzende Zementreaktion in wässriger Umgebung herbeigeführt werden kann, zumal die Gegenwart von Wasser auch in dieser Veröffentlichung in Zusammenhang mit den Füllstoffen nicht erwähnt wird (vgl. Sachverständigengutachten, S. 86, Abs. 5, S. 87, Abs. 1).

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2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des Bundespatentgerichts ergibt sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ).
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Die Klägerin meint, dass selbst für den Fall, dass sich die Verwendung von Gläsern in Form von Pulvern für Silikatzemente und Glasionomerzemente zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents für den Fachmann nicht unmittelbar aus der Lektüre der unter III 1 behandelten Entgegenhaltungen ergeben hätte, der Einsatz dieser Glaspulver nahegelegen habe, weil dem Fachmann die hiermit erzielbaren Eigenschaften von Dentalmassen etwa aus den Veröffentlichungen von Tveit/Gjerdet (aaO, Anlage D16), und von Swartz/Philips/Clark, (aaO, Anlage D17), bekannt gewesen seien und er diese ohne weiteres auch zum Einsatz in den Zusammensetzungen der genannten Entgegenhaltungen unter Berücksichtigung der Auswahlregel des Merkmals d hätte bringen können , um eine Masse mit guten Härtungseigenschaften unter Zementbildung und Freisetzung von Fluoriden (Kariesprophylaxe) zu erhalten.
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Der Ansicht der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Den unter IV 1 behandelten Entgegenhaltungen konnte der Fachmann Composite-Materialien entnehmen, die durch im Einzelnen modifizierte, aber wiederkehrende chemisch ähnliche Stoffgruppen gekennzeichnet sind. Bei diesen Stoffgruppen handelt es sich um ungesättigte polymerisierbare Monomere, Oligomere und/oder Prepolymere, um Katalysatoren, Initiatoren, Stabilisatoren und Reaktionshemmstoffe zur Steuerung des Aushärtevorgangs und optional um organische oder anorganische Füllstoffe. Diese Gemische härten ohne Wasserbedarf radikalisch aus, wobei es für die Reaktion der Induzierung durch einen Katalysator bedarf (Sachverständigengutachten, S. 111 f.).

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Derartige Composite-Materialien verfügen über positive, aber auch negative Produkteigenschaften. Während sie einerseits insbesondere dauerhaft, hoch belastbar und kantenfest sind, sind sie andererseits vor allem im Hinblick auf Gewebeirritationen, Toxizität und Haftung an der Zahnsubstanz nur eingeschränkt verwendbar (Sachverständigengutachten, S. 23, Abs. 2, Streitpatentschrift , S. 2, Z. 36 ff., 52 ff.). Im Hinblick auf diese negativen Eigenschaften kann zum Prioritätszeitpunkt zwar ein Bedürfnis zur Fortentwicklung der Composite -Materialien als dentaler Füllstoff festgestellt werden. Ein Fachmann, der sich die Aufgabe stellte, hier Abhilfe zu schaffen, wird auch an die Vorteile von Dentalzementen gedacht haben, die zumindest teilweise komplementär zu den negativen Eigenschaften der Composite-Materialien sind. So war dem Fachmann aufgrund seiner Fachkenntnisse bekannt, dass gerade Glasionomerzemente , welche die klassischen Zahnzemente seit Mitte der 80er Jahre fast vollständig vom Dentalmarkt verdrängt hatten, über gute Eigenschaften hinsichtlich Bioverträglichkeit, Beständigkeit im Mund und Haftung an der Zahnsubstanz verfügen (Sachverständigengutachten, S. 24 f.). Von daher spricht viel dafür, dass der Fachmann, der Composite-Materialien als dentalen Füllstoff verbessern wollte, allgemein auch an die Möglichkeit einer Kombination von Composite -Materialien mit Glasionomerzementen gedacht hat.
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Einer solchen wünschenswerten Kombination stand aber die Schwierigkeit entgegen, dass beide Stoffgruppen zum Prioritätszeitpunkt als nicht mischbar galten, weil es sich einerseits bei den Composite-Materialien um hydrophobe Polymere und andererseits um wässrige Zementmischungen handelt (Sachverständigengutachten , S. 126, Abs. 1). Der Fachmann durfte sich von dieser Vorstellung nicht abhalten lassen. Statt dessen musste er sich daran machen, das Konzept einer Mischung zu entwickeln, die eine zweifache Reaktion er- laubt, die - wenn man auch insoweit den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen folgt - etwa so abläuft, dass zunächst die radikalische Polymerisation ohne Wasserbedarf stattfindet und danach das Zementpulver in wässriger Umgebung zur Reaktion gebracht wird, so dass es möglich wird, einen Füllstoff bereit zu stellen, der die vorteilhaften Eigenschaften von Composite-Materialien mit denen von Zementen, insbesondere Glasiononomerzementen verbindet. Hinzu kamen besondere Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung dieses Konzeptes. Bei der Anwendung musste sicher gestellt werden, dass trotz der Polymerisation an den Polymerketten noch hinreichend Säuregruppen mit Ionen abgebenden Füllstoffen in leicht zugänglicher Weise vorliegen, damit auch die Reaktion mit den reaktiven Zementpulvern in wässriger Umgebung erfolgen und die erwünschte Zementstruktur in der bereits gehärteten Kunststoffmatrix entstehen kann (Sachverständigengutachten, S. 126). Um dies zu erreichen bedurfte es einer sorgfältigen Abstimmung der beteiligten Komponenten , was entsprechende Untersuchungen erforderlich machte (Sachverständigengutachten , S. 122).
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Die Entwicklung eines solchen Konzepts und das Auffinden eines ausführbaren Wegs zur Verwirklichung dieses Konzepts waren zudem dadurch erschwert , dass es weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in der Praxis Anregungen gab, Mischungen bereitzustellen, die zweiteilig (radikalisch und ionisch) reagieren. Vielmehr wurde in den wissenschaftlichen Abhandlungen, wie beispielsweise in dem jährlich im britischen "Journal of Dentistry" unter der Überschrift "Dental Materials: Literature Review" veröffentlichten Übersichtsartikel , streng zwischen polymerisierbaren Composite-Füllungsmaterialien auf der einen und ionisch reagierenden Zementen auf der anderen Seite unterschieden , indem diese in getrennten Abschnitten behandelt wurden (Sachverständigengutachten , S. 24, 18; vgl. auch Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Che- mistry, aaO, S. 256, r. Sp., Abs. 2, Anlage D 13, D 13a). Sich von dieser Kategorisierung zu lösen und ein Konzept für die Mischung beider Stoffgruppen zu entwickeln, um ein Füllmaterial zu erhalten, das die positiven Eigenschaften beider Produkte in sich vereint, kann angesichts all dieser Umstände als erfinderisch gelten.
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V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V. mit §§ 92, 97 ZPO.
Scharen Gröning Berger
Hoffmann Grabinski
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 15.02.2006 - 3 Ni 25/02 (EU) -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X Z R 1 5 1 / 1 2 Verkündet am:
2. Dezember 2014
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Zwangsmischer

a) Der Kläger, der im Patentnichtigkeitsverfahren geltend macht, dass der
Gegenstand des Streitpatents dem Fachmann nahegelegt gewesen sei,
muss dartun, dass im Stand der Technik technische Lehren bekanntwaren,
aus denen der Fachmann mit Hilfe seines Fachwissens den Gegenstand der
Erfindung entwickeln konnte. Er muss ferner diejenigen technischen und
sonstigen tatsächlichen Gesichtspunkte darlegen, aus denen das Patentgericht
die rechtliche Schlussfolgerung ziehen soll, dass der Fachmann Anlass
hatte, den ihm nach seinem Fachwissen und -können objektiv möglichen
Weg auch zu gehen.

b) Erachtet das Patentgericht das Streitpatent in der Fassung eines Hilfsantrags
, den der Beklagte erst in der mündlichen Verhandlung nach einem
Hinweis des Gerichts gestellt hat, für rechtsbeständig, ist ein neues Angriffsmittel
, das aus erstmals im zweiten Rechtszug eingeführten technischen Informationen
einer Entgegenhaltung hergeleitet werden soll, zuzulassen,
wenn für den Kläger aus dem Hinweis nicht erkennbar war, dass das Patentgericht
den Gegenstand des Hilfsantrags als (möglicherweise) patentfähig
ansah.
BGH, Urteil vom 2. Dezember 2014 - X ZR 151/12 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 2. Dezember 2014 durch den Vorsitzenden Richter Prof.
Dr. Meier-Beck, den Richter Gröning, die Richterin Schuster, den Richter
Dr. Deichfuß und die Richterin Dr. Kober-Dehm

für Recht erkannt:
Berufung und Anschlussberufung gegen das am 10. Juli 2012 verkündete Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts werden zurückgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


Die Beklagten sind Inhaber des mit Wirkung für die Bundesrepublik
1
Deutschland erteilten europäischen Patents 1 121 193 (Streitpatents), das am 29. September 2000 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 21. Oktober 1999 angemeldet wurde und einen insbesondere als Betonmischer verwendeten Zwangsmischer betrifft. Das Streitpatent umfasst in der erteilten Fassung acht Patentansprüche, von denen Patentanspruch 1 in der Verfahrenssprache wie folgt lautet: "Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten mit einem trichterförmigen Mischraum, in dessen Mittelachse (3) koaxial ein inne- res und ein äußeres Rührwerk angebracht sind, wobei das innere Rührwerk (2) aus einer Schnecke (5) besteht, die bis zum Auslaufschieber (6) reicht, wobei das äußere Rührwerk (8) Mischscharen (9) bzw. Abstreifer aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Mischscharen (9) bzw. Abstreifer die vom Mischgut berührten Mischbehälterflächen (1) bestreichen und das äußere Rührwerk (8) einen Antrieb (10) aufweist, durch den das äußere Rührwerk (8) intervallartig zwischen einer ersten Drehrichtung und einer entgegengesetzten Drehrichtung wechselnd antreibbar ist." Die übrigen Ansprüche sind unmittelbar oder mittelbar auf Patentan2 spruch 1 rückbezogen. Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei
3
nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in erster Instanz in der erteilten Fassung und hilfsweise in sechs geänderten Fassungen verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitpatent mit Wirkung für das Hoheitsgebiet
4
der Bundesrepublik Deutschland unter Abweisung der Klage im Übrigen für nichtig erklärt, soweit es über die mit dem sechsten Hilfsantrag verteidigte und nachstehend wiedergegebene Fassung hinausgeht, in der Patentanspruch 1 um die Merkmale des Unteranspruchs 3 ergänzt ist und in Patentanspruch 3 die Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 mit den Merkmalen des Unteranspruchs 5 kombiniert werden: "1. Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten mit einem trichterförmigen Mischraum, in dessen Mittelachse (3) koaxial ein inneres und ein äußeres Rührwerk angebracht sind, wobei das innere Rührwerk (2) aus einer Schnecke (5) besteht, die bis zum Auslaufschieber (6) reicht, wobei das äußere Rührwerk (8) Mischscharen (9) bzw. Abstreifer aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Mischscharen (9) bzw. Abstreifer die vom Mischgut berührten Mischbehälterflächen (1) bestreichen und das äußere Rührwerk (8) einen Antrieb (10) aufweist, durch den das äußere Rührwerk (8) intervallartig zwischen einer ersten Drehrichtung und einer entgegengesetzten Drehrichtung wechselnd antreibbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Schnecke (5) des inneren Rührwerks (2) konisch, d.h. mit nach oben zunehmendem Durchmesser ausgebildet ist. 2. Zwangsmischer nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass das innere Rührwerk aus einer Welle mit schneckenförmig angeordneten Flügeln ausgebildet ist. 3. Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten mit einem trichterförmigen Mischraum, in dessen Mittelachse (3) koaxial ein inneres und ein äußeres Rührwerk angebracht sind, wobei das innere Rührwerk (2) aus einer Schnecke (5) besteht, die bis zum Auslaufschieber (6) reicht, wobei das äußere Rührwerk (8) Mischscharen (9) bzw. Abstreifer aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass die Mischscharen (9) bzw. Abstreifer die vom Mischgut berührten Mischbehälterflächen (1) bestreichen und das äußere Rührwerk (8) einen Antrieb (10) aufweist, durch den das äußere Rührwerk (8) intervallartig zwischen einer ersten Drehrichtung und einer entgegengesetzten Drehrichtung wechselnd antreibbar ist, dadurch gekennzeichnet, dass an der Schnecke bzw. den übereinander angeordneten Flügeln (5) Schneidelemente (17) angeordnet sind. 4. Zwangsmischer nach einem der Ansprüche 1 bis 2, dadurch gekennzeichnet, dass an der Schnecke bzw. den übereinander angeordneten Flügeln (5) Schneidelemente (17) angeordnet sind. 5. Zwangsmischer nach einem der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass die Antriebe der beiden Rührwerke mit festen Drehzahlen ausgelegt sind. 6. Zwangsmischer nach einem der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass die Antriebe der beiden Rührwerke stufenlos regelbar sind.
7. Zwangsmischer nach einem der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass die Antriebe der beiden Rührwerke über gummi-elastische Auflagen gelagert sind und ein Rüttler (14) am Mischbehälter vorgesehen ist." Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr erstin5 stanzliches Klageziel weiterverfolgt. Die Beklagten treten dem Rechtsmittel entgegen und haben Anschlussberufung eingelegt, mit der sie die Abweisung der Klage erstreben und das Streitpatent hilfsweise in der Fassung des erstinstanzlichen Hilfsantrags II verteidigen.

Entscheidungsgründe:


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Beide Rechtsmittel sind zulässig, aber unbegründet. I. Das Streitpatent betrifft einen Zwangsmischer zur Herstellung von
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Mischungen aus flüssigen, pulverförmigen und körnigen Komponenten, wie beispielsweise Betonmischungen. 1. Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift sind im Stand der
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Technik Zwangsmischer mit Rührwerken unterschiedlicher Art und Funktion bekannt. Die deutsche Offenlegungsschrift 31 10 437 offenbare einen Mischer mit einer inneren Mischerschnecke und einem äußeren, ebenfalls als Schneckengetriebe ausgebildeten Rührwerk, das in eine rings der Mischerbehälterwandung umlaufende Bewegung versetzt werde, wobei innere und äußere Mischerschnecke das Mischgut nach oben förderten. Der in der europäischen Patentanmeldung 796 708 (D3) beschriebene Mischer weise ebenfalls ein inneres und äußeres Rührwerk auf, wobei jedoch lediglich das innere Rührwerk als Schneckengetriebe ausgebildet sei, während das äußere Rührwerk aus Misch- scharen bestehe. Das innere Rührwerk fördere das Mischgut aufwärts. Demgegenüber habe das äußere Rührwerk, das mit einer geringeren Geschwindigkeit als das innere Rührwerk umlaufe, die Aufgabe, das Mischgut im Außenbereich des Mischbehälters nach unten und zur Mitte zu fördern. Das Problem bei diesem Mischer - so erläutert die Streitpatentschrift - bestehe darin, dass beide Rührwerke mit der gleichen Drehrichtung umliefen und sich die Drehrichtung des äußeren Rührwerks während des Mischvorgangs nicht ändere. Dadurch könne unvermischtes Material über einen längeren Zeitraum vor den Mischscharen hergeschoben und aus diesem Grund nur langsam untergearbeitet werden (Beschr. Abs. 3). 2. Nach der Streitpatentschrift besteht die Aufgabe des Streitpatents
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darin, einen Zwangsmischer zu entwickeln, der insbesondere als Betonmischer geeignet ist und unvermischtes, vor den Mischscharen hergeschobenes Material schnell untermischt (Beschr. Abs. 4). Allgemeiner ist das Problem mit dem Patentgericht dahin zu formulieren, einen Mischer zu schaffen, bei dem unvermischtes Material schnell untergemischt wird. 3. Zur Lösung dieses Problems schlägt Patentanspruch 1 des Streitpa10 tents einen Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten vor, dessen Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (Gliederungspunkte des Patentgerichts in eckigen Klammern): 1. Der Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten [M1] weist folgende Bestandteile auf: 1.1 einen trichterförmigen Mischraum [M1], 1.2 ein inneres Rührwerk und 1.3 ein äußeres Rührwerk.
2. Das innere und das äußere Rührwerk sind koaxial in der Mittelachse (3) des Mischraums angebracht [M2]. 3. Das innere Rührwerk (2) besteht aus einer Schnecke (5) [M3], 3.1 die bis zum Auslaufschieber (6) reicht [M3]. 4. Das äußere Rührwerk (8) weist auf: 4.1 Mischscharen (9) bzw. Abstreifer [M4], 4.1.1 die die vom Mischgut berührten Mischbehälterflächen (1) bestreichen [M5] und 4.2 einen Antrieb (10), durch den das äußere Rührwerk (8) [M6] 4.2.1 intervallartig zwischen einer ersten Drehrichtung und einer entgegengesetzten Drehrichtung wechselnd antreibbar ist [M7a und M7b].
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4. Zum Verständnis des Merkmals 1.1 und der Merkmalsgruppen 3 und 4 sind folgende Bemerkungen veranlasst:
a) Die Streitpatentschrift erläutert nicht näher, was unter einem trichter12 förmigen Mischraum im Sinne von Merkmal 1.1 zu verstehen ist. Aus Figur 1 des Streitpatents lässt sich für die dort dargestellte Ausführungsform entnehmen , dass jedenfalls der Teil des Mischers, in dem sich die Schnecke des inneren Rührwerks und die Mischscharen des äußeren Rührwerks bewegen, und damit der eigentliche Mischraum konisch gestaltet ist. Nach allgemeinem Sprachverständnis bedeutet der Begriff "trichterförmig" jedoch nicht notwendig, dass das betreffende Behältnis durchgängig konische Außenwände aufweisen muss. Vielmehr fallen darunter auch Behältnisse, die am oberen Ende einen zylindrisch geformten Abschnitt aufweisen. Nachdem Figur 1 des Streitpatents nur eine mögliche Ausführungsform darstellt und die Beschreibung des Streitpatents den Begriff nicht spezifisch in Bezug auf die Erfindung definiert, ist unter Zugrundelegung des allgemeinen Sprachverständnisses mit dem Patentgericht davon auszugehen, dass Merkmal 1.1 auch einen Mischraum umfasst, der im oberen Teil zylindrisch geformt ist.
b) Nach Merkmal 3.1 reicht die das innere Rührwerk bildende Schnecke
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"bis zum" Auslaufschieber, der - in der Beschreibung des Streitpatents als Verschlussschieber bezeichnet - sich am Auslaufende des Mischbehälters befindet, diesen zusammen mit einer Dichtung abdichtet und durch ein Stellelement betätigt wird, um das Mischgut über ein Rohr oder einen Schlauch in einen Transportbehälter überzuleiten (Beschr. Abs. 11). Das Patentgericht hat angenommen , die Formulierung "bis zum" sei dahin zu verstehen, dass die Schnecke "bis in die Nähe" des Auslaufschiebers reiche, weil nach der Beschreibung des Streitpatents lediglich für ein Ausführungsbeispiel vorgesehen sei, dass die Schnecke "unmittelbar" bis an den Verschlussschieber heranreiche. Die Formulierung "bis in die Nähe von" ist in diesem Zusammenhang nicht präziser als die Aussage "bis zum". Ausgehend von der vom Patentgericht herangezogenen Beschreibung des Ausführungsbeispiels kann aber jedenfalls angenommen werden, dass Patentanspruch 1 nicht in dem Sinne eine unmittelbar bis an den Auslaufschieber heranreichende Ausgestaltung fordert, dass jeder kleine Spalt zwischen den Teilen ausgeschlossen ist.
c) Merkmal 4.1.1 hat das Patentgericht zutreffend dahin interpretiert,
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dass der Ausdruck "bestreichen" nicht zwingend voraussetzt, dass die Mischscharen über die Behälterwand kratzen. Merkmal 4.1.1 ist in einem funktionalen Sinn auszulegen und erfasst damit auch den Fall, dass die Mischscharen eng an der Behälterwand entlang gleiten, diese aber nicht berühren, weil auch dies ausreicht, um Material von der Wandung abzuschieben.
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II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung sei zwar
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neu, beruhe jedoch nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die europäische Patentanmeldung 796 708 (D3) offenbare einen Zwangsmischer mit einem im Wesentlichen trichterförmigen Mischraum im Sinne des Merkmals 1.1 sowie einem inneren und äußeren Rührwerk entsprechend den Merkmalen 1.2 und 1.3. Das innere Rührwerk bestehe aus einer Schnecke im Sinne des Merkmals 3, die bis an das Ende der Welle reiche, so dass auch Merkmal 3.1 in dem Sinne verwirklicht sei, dass die Schnecke bis in die Nähe des Auslaufschiebers reiche. Das äußere Rührwerk weise Mischwerkzeuge nach Merkmal 4.1 und einen Antrieb im Sinne des Merkmals 4.2 auf. Eine Ausgestaltung des Antriebs entsprechend den Merkmalen 4.2.1 und 4.2.2 werde durch die D3 zwar nicht offenbart. Dem Fachmann werde jedoch durch die britische Patentschrift 1 145 481 (D5), die einen Zwangsmischer mit feststehendem Behälter und umlaufendem inneren und äußeren Rührwerk beschreibe, nahegelegt, die dort beschriebene Drehrichtungsumkehr des äußeren Rührwerks auf einen Mischer nach der D3 zu übertragen. Das äußere Rührwerk des in der D5 offenbarten Mischers verwirkliche sämtliche Merkmale der Merkmalsgruppe 4. Es liege vorzugsweise an der Innenseite des Mischbehälters an, um ein Absetzen des Mischgutes hinter den Strömungsleitblechen bzw. an der Innenwandung des Mischers zu verhindern (Merkmale 4.1 und 4.1.1) und weise einen Antrieb auf, der eine Drehrichtungsumkehr des äußeren Rührwerks im Sinne der Merkmalsgruppe 4.2 ermögliche. So werde, nachdem der Mischbehälter nach Beendigung eines Mischvorgangs entleert worden sei, das äußere Rührwerk in entgegengesetzter Drehrichtung zu derjenigen beim anschließenden Mischvorgang angetrieben. Hierdurch könnten möglicherweise noch an dem äußeren Rührwerk haftende Mischgutreste durch das Anmachwasser abgespült werden. Damit sei das äußere Rührwerk, da die Drehrichtungsumkehr nur für einen gewissen Zeitraum erfolge , intervallartig zwischen einer ersten und einer entgegengesetzten Drehrichtung wechselnd antreibbar. Da Patentanspruch 1 des Streitpatents Zweck und Zeitpunkt der Drehrichtungsumkehr nach den Merkmalen 4.2.1 und 4.2.2 offenlasse , sei die Übertragung der Drehrichtungsumkehr auf einen Mischer der in der D3 dargestellten Art für einen Fachmann, der Ablagerungen am äußeren Rührwerk beseitigen und schnell untermischen wolle, nahegelegt. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit Hilfsantrag II verteidig17 ten Fassung, wonach Merkmal 3 um die Angabe ergänzt werden solle, dass die Schnecke das Material nach oben fördere, sei ebenfalls nicht patentfähig. So sei - wie sich aus den in Figur 1 der D3 eingezeichneten Strömungspfeilen im Bereich des inneren Rührwerks ergebe - auch bei dem in der D3 offenbarten Mischer eine Förderung des Materials nach oben vorgesehen. Dagegen sei der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit Hilfsan18 trag VI verteidigten Fassung, wonach die Schnecke des inneren Rührwerks - wie in Unteranspruch 3 der erteilten Fassung vorgesehen - konisch mit nach oben zunehmendem Durchmesser ausgebildet sein solle, patentfähig. Durch die konische Ausbildung der Schnecke würden bei einem konischen Mischraum Totzonen vermieden und die Transportfunktion der Schnecke optimiert. Für eine derartige Ausbildung der Schnecke gebe der Stand der Technik keine Anregung. Insbesondere offenbare die deutsche Offenlegungsschrift 1 557 009 (D4) entgegen der Auffassung der Klägerin keine Schnecken, sondern lediglich schraubenförmig gewundene, bandförmige Mischwendeln, die Totzonen nicht vermieden, da lediglich Teilbereiche des Mischraums überstrichen würden und damit ein Effekt wie bei einer konisch ausgebildeten Schnecke nicht eintreten könne.
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Der Gegenstand von Patentanspruch 3 in der mit Hilfsantrag VI verteidigten Fassung sei ebenfalls patentfähig. Die nach dieser Fassung vorgesehene Ausgestaltung der Schnecke entsprechend Unteranspruch 5 der erteilten Fassung , wonach an der Schnecke bzw. den übereinander angeordneten Flügeln Schneidelemente angeordnet seien, werde im Stand der Technik nicht offenbart und habe auch nicht im Griffbereich des Fachmanns gelegen.
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III. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Berufung und der Anschlussberufung stand.
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1. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung ist nicht patentfähig (Art. 52 Abs. 1 EPÜ).
a) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung ist
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zwar neu (Art. 54 Abs. 1 und 2 EPÜ). Insbesondere ist er entgegen der Auffassung der Berufung nicht durch eine offenkundige Vorbenutzung vorweggenommen. Die Klägerin hat insoweit geltend gemacht, dass konische Mischbehälter mit den Merkmalen des Streitpatents bereits seit 1981 in Serienproduktion hergestellt worden seien, und hierzu eine eidesstattliche Erklärung eines Mitarbeiters eines Koaxialmischer herstellenden Unternehmens vom 29. Dezember 2010 sowie weitere Unterlagen vorgelegt. Diesen lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass das innere Rührwerk im Sinne des Merkmals 3 des Streitpatents als Schnecke ausgebildet ist. In der Erklärung ist lediglich angegeben , dass die innere Welle mit Mischwerkzeugen bestückt sei. Über die Art der Mischwerkzeuge geben indessen weder die Erklärung noch die weiteren vorgelegten Unterlagen Aufschluss. Das Patentgericht hat die Parteien bereits in seinem Hinweis nach § 83
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Abs. 1 PatG darauf hingewiesen, dass es bei den von der Klägerin als Vorbenutzung genannten Mischern an der Verwirklichung des Merkmals 3 fehle, so dass die Rüge der Klägerin, das Patentgericht habe die eidesstattliche Erklärung verfahrensfehlerhaft nicht näher gewürdigt, unbegründet ist.
b) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung war
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dem Fachmann, den das Patentgericht zutreffend und von den Parteien unbeanstandet als Diplom-Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau oder Verfahrenstechnik mit mehrjähriger Erfahrung in der Konstruktion und Entwicklung von Mischern definiert hat, aber durch den Stand der Technik nahegelegt (Art. 56 EPÜ). (1) Die Entgegenhaltung D3 betrifft einen Mischer, der wie der Gegen25 stand des Streitpatents u.a. zum Mischen von Beton geeignet ist (Sp. 1 Z. 7 = S. 2 Z. 7 der Übers.). Der Mischbehälter ist im oberen Teil zylindrisch geformt und weist eine konische Bodenplatte (conical shaped bottom plate) auf. Der Mischer verfügt über ein im Zentrum des Mischbehälters angeordnetes inneres und ein um die Peripherie des Mischbehälters angeordnetes äußeres Mischmittel. Jedes Mischmittel ist mit einer Welle verbunden (innere und äußere Welle). Damit sind die Merkmalsgruppe 1 und Merkmal 2 verwirklicht. Das innere Mischmittel besteht aus Mischschaufelelementen, von denen
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jedes mindestens eine Mischschaufel aufweist, wobei die Mischschaufeln schraubenförmig konfiguriert sind (Sp. 29 bis 32, Z. 45 bis 47 = S. 6 Z. 23 bis 25, Z. 36 bis 37 der Übers.) und damit der Schnecke im Sinne von Merkmal 3 des Streitpatents entsprechen. Das Patentgericht hat zutreffend auch Merkmal 3.1 als offenbart angese27 hen. Die Schnecke des in der D3 gezeigten Mischers reicht bis an das Ende der Welle. Zwar zeigt Figur 1 der D3 einen gewissen Abstand der Schnecke zur Auslassöffnung des Mischraums und damit auch zum Auslassschieber. Nach Figur 7a schließt aber das untere Schaufelende 18c der inneren Mischschaufel mit der Unterkante der Endplatte 17b der Welle ab. Die schraubenförmig angeordneten Mischschaufeln erreichen mithin das Ende der inneren Welle. Berücksichtigt man, dass schematische Darstellungen, wie sie üblicherweise in Patentschriften zu finden sind, regelmäßig nur das Prinzip der beanspruchten Vorrichtung offenbaren, nicht aber exakte Abmessungen (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2012 - X ZB 10/11, GRUR 2012, 1242 Rn. 9 - Steckverbindung; Benkard/Melullis, Patentgesetz, 10. Aufl., § 3 PatG Rn. 27; Benkard/Scharen, § 14 PatG Rn. 29; Busse/Keukenschrijver, Patentgesetz, 7. Aufl., § 14 PatG Rn. 47; Schulte/Moufang, Patentgesetz, 9. Aufl., § 34 PatG Rn. 309), ist Figur 1 dahin zu interpretieren, dass auch bei dem in der D3 offenbarten Mischer die Schnecke bis zum Auslaufschieber reicht. Unabhängig hiervon ist anzunehmen, dass es dem Fachmann durch sein
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Fachwissen jedenfalls nahe gelegt war, die aus der D3 bekannte, in der Mittelachse des Behälters angebrachte Schnecke möglichst nah an den Boden des Mischbehälters und damit bis zu dem dort befindlichen Auslassschieber heranreichen zu lassen, um Materialablagerungen im Mischbehälter zu vermeiden. Das äußere Rührwerk des in der D3 gezeigten Mischers wird über einen
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Motor angetrieben, der gleichzeitig auch das innere Rührwerk antreibt (Sp. 1 Z. 41 bis 43 = S. 2 Z. 36 bis 37 der Übers.; nach Sp. 5 Z. 41 bis 45 = S. 8 Z. 8 bis 11 der Übers. gelten diese sich auf einen im Stand der Technik bekannten Mischer beziehenden Ausführungen auch für den erfindungsgemäßen Mischer nach der D3). Es weist drei Mischschaufeln auf, von denen eine an der äußeren Peripherie, eine an der inneren Peripherie und eine auf halber Höhe der konisch ausgebildeten Bodenplatte des im Übrigen zylindrisch geformten Mischbehälters umläuft (vgl. Sp. 2 Z. 3 bis 8 = S. 3 Z. 15 bis 18 der Übers.). Damit sind von der Merkmalsgruppe 4 die Merkmale 4.1 und 4.2 offenbart.
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Schließlich verwirklichen die in der D3 beschriebenen Mischwerkzeuge des äußeren Rührwerks, da sie an die Behälterform angepasst sind, auch Merkmal 4.1.1. Nach Patentanspruch 1 der D3 und der Beschreibung sollen die äußeren Mischschaufeln das vom inneren Rührwerk in der Mitte des Mischbehälters vom Boden nach oben und von dort gegen die Seitenwände des Mischbehälters bewegte Mischgut von der oberen in die untere Peripherie und schließlich über die konische Bodenplatte wiederum zur Mitte des Bodens befördern , wo es erneut vom inneren Rührwerk erfasst, weiter gerührt und wieder nach oben transportiert wird (Sp. 2 Z. 39 bis 43 = S. 4 Z. 8 bis 11 der Übers.; Sp. 3 Z. 50 bis Sp. 4 Z. 2 = S. 5 Z. 28 bis 36 der Übers.; Sp. 8 Z. 28 bis 39 = S. 12 Z. 3 bis 11 der Übers.). Die auf unterschiedlicher Höhe in der Peripherie des Mischbehälters umlaufenden äußeren Mischschaufeln haben damit die Aufgabe, das Mischgut innerhalb des Mischbehälters von oben nach unten zu befördern und so im Zusammenwirken mit dem inneren Rührwerk für eine Umwälzung des Mischguts zu sorgen. Von einem Abstreifen durch die äußeren Mischschaufeln oder einer Berührung der Mischbehälterwand ist zwar nicht die Rede. Vielmehr geht die D3 davon aus, dass neben den Mischschaufeln auch die konische Ausbildung der Bodenplatte dafür sorgt, dass das Mischgut wieder dem inneren Rührwerk in der Mitte des Behälters zufließt (Sp. 2 Z. 35 bis 36 = S. 4 Z. 4 bis 5 der Übers.; Sp. 4 Z. 1 bis 2 = S. 5 Z. 34 der Übers.). Dennoch ist angesichts des in Figur 1 gezeigten sehr geringen Abstands zwischen Mischschaufel und vertikaler Behälterwand und in Anbetracht des zugrunde zu legenden funktionalen Verständnisses des Merkmals 4.1.1 die Verwirklichung dieses Merkmals durch die in der D3 gezeigten äußeren Mischschaufeln mit dem Patentgericht zu bejahen. Hingegen ist, wie das Patentgericht zutreffend - und von der Klägerin
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auch nicht angegriffen - ausgeführt hat, Merkmal 4.2.1 in der Entgegenhaltung D3 nicht offenbart.
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(2) Ebenfalls zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der Fachmann durch die Entgegenhaltung D5 die Anregung erhält, das äußere Rührwerk mit einem Antrieb mit Drehrichtungsumkehr entsprechend Merkmal 4.2.1 auszustatten. Die D5 betrifft neben einem entsprechenden Verfahren auch ein Gerät
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zum Mischen von hydraulisch aushärtbaren Bindemitteln und Wasser. Der Mischer verfügt jedenfalls in der in Figur 2 gezeigten Ausführungsform über ein inneres in der Mittelachse des trichterförmigen Mischraums angebrachtes Rührwerk. Ferner weist der Mischer Strömungsleitplatten (flow guiding plates) auf, die auf die Innenwand des Mischbehälters ausgerichtet und auf einer Drehvorrichtung (rotable member turntable) angeordnet sind, die um die Drehachse des Mischbehälters bewegt werden kann. Durch die Drehbewegung der Leitplatten soll ein Anhaften des Mischmaterials hinter den Leitplatten verhindert werden (S. 6 Z. 44 bis 48 = S. 18 Abs. 1 der Übers.). Dies wird dadurch unterstützt , dass die Strömungsleitplatten zur Innenwand des Mischbehälters hin auf unterschiedlichen Höhen Aussparungen aufweisen, durch die das Mischgut hindurchfließen kann (S. 6 Z. 16 bis 19 = S. 17 Abs. 2 der Übers.). Die zwischen diesen Aussparungen liegenden Abschnitte der Strömungsleitplatten grenzen dagegen unmittelbar an die Mischbehälterwand an und sollen einerseits verhindern, dass sich Mischgut an der Innenwand absetzt, und andererseits das Mischgut wieder der Umwälzung im Mischbehälter zuführen (S. 6 Z. 51 bis 56 = S. 18 Abs. 1 a.E. der Übers.). Die Strömungsleitplatten können über einen elektrischen Antrieb entweder in derselben Drehrichtung wie das innere Rührwerk oder in entgegengesetzter Richtung bewegt werden (S. 4 Z. 73 bis 91 = S. 12 Abs. 3 bis S. 13 Abs. 1 der Übers.; S. 6 Z. 39 bis 44 = S. 18 Abs. 1 der Übers.).
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Die Strömungsleitplatten des in D5 gezeigten Mischers entsprechen damit sowohl hinsichtlich ihrer Konstruktion als auch in Bezug auf die Funktion den Mischscharen des Streitpatents. Im Ausführungsbeispiel sind die Mischscharen des Streitpatents als balkenartige Scharen bzw. quaderförmige Körper gestaltet. Sie streifen in unterschiedlichen Höhen versetzt an der Behälterinnenwand entlang und sind zur Anpassung an die Behälterwandung in vertikaler Richtung und im Winkel zur Behälterwandung einstellbar (vgl. Beschr. Abs. 12 bis 14). Zwischen den balkenartigen Scharen sind freie Abschnitte, in denen das Mischgut über die Behälterwand fließt. Die Strömungsleitplatten des in D5 beschriebenen Mischers bestehen zwar anders als die im Streitpatent dargestellten Mischscharen aus über die Länge der Behälterinnenwand durchgängigen Platten, die in einem gewissen Abstand von der Behälterinnenwand angeordnet sind, weisen aber zur Behälterwand hin in unterschiedlichen Höhen versetzt Abschnitte auf, die an die Behälterwand angrenzen und die einerseits verhindern sollen, dass sich Mischgut an der Innenwand absetzt, und andererseits das Mischgut wieder der Umwälzung im Mischbehälter zuführen sollen (S. 6 Z. 51 bis 56 = S. 18 Abs. 1 a.E. der Übers.).
Auch wenn hinsichtlich des umkehrbaren Antriebs der Strömungsleitplat35 ten der Fokus der D5 darauf liegt, Mischgutrückstände auf den Leitplatten leichter entfernen zu können und damit die Reinigung zu erleichtern, konnte der Fachmann der Schrift entnehmen, dass die dort vorgeschlagene Drehrichtungsumkehr der Strömungsleitplatten nicht nur für den Reinigungsschritt, sondern auch für den Mischvorgang selbst nutzbar gemacht werden und dazu beitragen kann, das sich während des Mischvorgangs an den Mischscharen ablagernde Mischgut wieder dem Mischprozess zuzuführen und diesen dadurch zu beschleunigen. Der Fachmann hatte daher Anlass, die Möglichkeit der Dreh-
richtungsumkehr auf das aus der D3 bekannte äußere Rührwerk zu übertragen und dieses gemäß Merkmal 4.2.1 auszugestalten. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann dies nicht mit der Begrün36 dung verneint werden, dass die D5 anstrebe, Materialansammlungen hinter den Strömungsleitplatten zu vermeiden, während es beim Streitpatent darum gehe, unvermischtes Material, das vor den Mischscharen hergeschoben werde, schneller untermischen zu können. Es trifft zwar zu, dass es (auch) Aufgabe der D5 ist, das Anhaften von Material hinter den Leitplatten zu vermeiden. Dies wird nach den Erläuterungen in der D5 jedoch alleine dadurch erreicht, dass anders als im früheren Stand der Technik die Strömungsleitplatten nicht mehr starr an der Behälterinnenwand angebracht, sondern auf einem Drehteller angeordnet werden, der um die Mittelachse des Mischbehälters bewegt werden kann (S. 4 Z. 73 bis 86 = S. 12 Abs. 2 der Übers.). Ausreichend hierfür ist also allein die Drehbarkeit der Leitplatten als solche, nicht jedoch die weitergehende Möglichkeit , die Leitplatten auch entgegen der Drehrichtung des inneren Rührwerks zu bewegen. Demgegenüber wird die Drehrichtungsumkehr in der D5 für die Reinigung als vorteilhaft angesehen, weil dadurch eventuell zurückgebliebenes Material nicht nur von der Rückseite, sondern auch von der Vorderseite der Leitplatten entfernt werden kann.
Ebenso wenig kann den Beklagten darin gefolgt werden, dass der Fach37 mann, die in der D5 offenbarte Möglichkeit der Drehrichtungsumkehr nicht für einen Mischer des in der D3 gezeigten Typs in Betracht ziehe, weil die in der D5 gezeigte Konstruktion des äußeren Rührwerks auf das Mischen von Zementleim ausgelegt sei und die Drehrichtungsumkehr lediglich zum Einsatz komme, wenn sich nur Mischwasser im Behälter befinde, demgegenüber beim Mischen von Beton, der in der Regel auch grobes Material enthalte, ungleich stärkere Kräfte auf das Rührwerk einwirkten, so dass dies einer stärkeren Be-
anspruchung standhalten müsse, als dies bei den durch die D5 offenbarten Mischern der Fall sei. Patentanspruch 1 des Streitpatents enthält keine Einschränkung auf Betonmischer, sondern betrifft allgemein einen Zwangsmischer zum Mischen von Komponenten, ohne dass diese näher spezifiziert würden. In der Beschreibung des Streitpatents ist dazu ausgeführt, dass mit dem erfindungsgemäßen Mischer Mischungen aus flüssigen, pulverförmigen und körnigen Komponenten hergestellt werden sollen. Betonmischungen werden nur als Beispiel genannt (Beschr. Abs. 1). Es sind daher keine Gründe dafür ersichtlich und auch von den Beklagten nicht vorgetragen, weshalb der Fachmann davon absehen sollte, die in der D5 offenbarte Möglichkeit einer Drehrichtungsumkehr des äußeren Rührwerks auch bei einem Mischer nach der D3 in Betracht zu ziehen, auch wenn der Mischer nach der D5 auf andere Mischmaterialien als Beton ausgelegt ist.
2. Die mit Hilfsantrag II verteidigte Fassung von Patentanspruch 1 hat
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das Patentgericht ebenfalls zu Recht als nicht patentfähig angesehen. Das in dieser Fassung zusätzlich aufgenommene Merkmal, wonach die Schnecke, die das innere Rührwerk bildet, das Material nach oben fördert, ist bereits durch die D3 vorweggenommen. Die schneckenförmig konfigurierten Mischschaufeln des inneren Mischmittels des in der D3 gezeigten Mischers bewegen die Mischmaterialien vom Boden des Zentrums des Mischbehälters nach oben (Sp. 3 Z. 55 bis 58 = S. 5 Z. 31 bis 34 der Übers.). 3. Das Patentgericht hat zu Recht entschieden, dass der Gegenstand
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von Patentanspruch 1 und Patentanspruch 3 in der mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag VI verteidigten Fassung patentfähig ist.
a) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in dieser Fassung war dem
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Fachmann nicht durch den erstinstanzlich angeführten Stand der Technik na- hegelegt. Die Entgegenhaltungen D3 (Figur 1) und D5 (Figur 5) offenbaren als innere Rührwerke lediglich zylindrisch geformte Schnecken und geben keine Anregung zu einer konischen Gestaltung. Die in der ersten Instanz in Bezug auf dieses dem Unteranspruch 3 ent41 nommene Merkmal allein vorgelegte Entgegenhaltung D4 offenbart zwar mit den in den Figuren 2, 4 und 5 gezeigten Ausführungsformen Mischwerkzeuge, die an das kegelförmige Mischgefäß angepasst sind und dementsprechend konisch mit nach oben zunehmendem Durchmesser ausgebildet sind. So folgen die Mischflügel des äußeren Rührwerks der Form der Innenwandung und die Innenmischflügel, die zwar weniger ausgeprägt, aber ebenfalls konisch geformt sind, laufen innerhalb der Außenmischflügel um (Beschr. S. 11, 15 und 17). Allerdings handelt es sich bei diesen Mischwerkzeugen nicht um Schnecken, sondern gemäß Patentanspruch 1 um schraubenförmig gewundene, bandförmige Mischflügel. Im Übrigen bestehen bei der D4 sowohl das äußere als auch das innere Rührwerk aus derartigen bandförmigen Mischflügeln. Es ist daher nicht erkennbar, inwiefern der Fachmann, der einen Mischer weiterentwickeln will, bei dem das innere und das äußere Rührwerk jeweils mit unterschiedlichen Mischwerkzeugen versehen sind, der D4 die Anregung entnehmen sollte, das innere Rührwerkzeug, für das er anders als in der D4 eine Schnecke vorgesehen hat, konisch zu formen.
b) Der Gegenstand von Patentanspruch 3 in der Fassung des erstin42 stanzlichen Hilfsantrags VI beruht gegenüber dem erörterten Stand der Technik ebenfalls auf erfinderischer Tätigkeit. Das Patentgericht hat zutreffend angenommen, dass keine der in der
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ersten Instanz vorgelegten Entgegenhaltungen Schneidelemente an einem als Schnecke ausgebildeten oder an einem mit übereinander angeordneten Flügeln versehenen inneren Rührwerk offenbart oder hierfür Anregungen gibt. 4. Eine andere Beurteilung der Patentfähigkeit des Gegenstands von
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Patentanspruch 1 und Patentanspruch 3 in der mit dem erstinstanzlichen Hilfsantrag VI verteidigten Fassung ergibt sich auch nicht aus den von der Klägerin erstmals mit der Berufungsbegründung vorgelegten Entgegenhaltungen BB1 bis BB9.
a) Die britische Patentschrift 881 741 (BB1), die US-amerikanischen
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Patentschriften 1 394 371 (BB2), 1 268 813 (BB3), 4 185 925 (BB4), 3 445 090 (BB5) und 2 315 251 (BB6) sowie die europäische Patentschrift 323 767 (BB7), die deutsche Auslegeschrift 1 932 094 (BB8) und die deutsche Offenlegungsschrift 26 43 560 (BB9) sind im Prinzip der Sachprüfung durch den Senat zugrunde zu legen. Die Voraussetzungen für eine Zulassung dieser neuen Angriffsmittel im Berufungsverfahren sind gegeben (§ 117 Satz 1 PatG in Verbindung mit §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO). Die Beklagten machen insoweit geltend, die neuen Angriffsmittel seien
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als verspätet zurückzuweisen, weil die Klägerin aufgrund des Hinweises des Patentgerichts in der mündlichen Verhandlung hätte erkennen können, dass es auf die mit Hilfsantrag VI eingeführten Gesichtspunkte (Ausgestaltung der Schnecke in konischer Form, Schneidelemente an der Schnecke bzw. an den übereinander angeordneten Flügeln) ankommen und diese die Patentfähigkeit begründen könnten. Im Übrigen beruhe es auf der Nachlässigkeit der Klägerin, dass sie die Entgegenhaltungen BB1 bis BB9 nicht bereits vor dem Patentgericht vorgelegt habe. Bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte die Klägerin diese Entgegenhaltungen - von denen die BB1 auf dem Deckblatt der Streitpatentschrift aufgeführt wird - bereits bei Klageerhebung auffinden können.
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Zwar waren die mit Hilfsantrag VI verteidigten Patentansprüche 1 und 3 als Nebenansprüche 2 und 5 in der von den Beklagten bereits in der ersten Instanz als Reaktion auf den gerichtlichen Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG mit Schriftsatz vom 20. April 2012 als Hilfsantrag IV verteidigten Fassung des Streitpatents enthalten. Zu diesem Hilfsantrag und dabei insbesondere auch zu den zusätzlichen Merkmalen, dass die Schnecke konisch geformt ist und an der Schnecke bzw. an den übereinander angeordneten Flügel Schneidelemente angeordnet sind, hat die Klägerin schon mit Schriftsatz vom 24. Mai 2012 - im Wesentlichen unter Bezugnahme auf ihre Klageschrift vom 10. Februar 2011 - Stellung genommen, ohne die nunmehr im Berufungsrechtszug vorgelegten Entgegenhaltungen zu nennen. Allerdings lässt sich auf der Grundlage des Protokolls über die mündliche Verhandlung nicht feststellen, inwieweit das Patentgericht mit seinem Hinweis zu der mit Hilfsantrag IV verteidigten Fassung auch zu erkennen gegeben hat, dass es die darin enthaltenen - und im Anschluss an den Hinweis mit Hilfsantrag VI als Patentansprüche 1 und 3 verteidigten - selbständigen Patentansprüche für jedenfalls möglicherweise rechtsbeständig erachtete ; der Inhalt des Hinweises wird weder in der Sitzungsniederschrift noch im Urteil mitgeteilt. Schließlich lässt auch der Hinweis des Patentgerichts nach § 83 Abs. 1 PatG keine Rückschlüsse auf die Einschätzung des Patentgerichts zu, da dort lediglich Ausführungen zu Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung , nicht jedoch zu den - in die mit Hilfsantrag VI verteidigte Fassung aufgenommenen - Merkmalen der einzelnen Unteransprüche enthalten sind. Vor diesem Hintergrund beruht es jedenfalls nicht auf Nachlässigkeit, dass die Klägerin sich nicht bereits im ersten Rechtszug auf die Entgegenhaltungen BB1 bis BB9 berufen oder angesichts der durch Hilfsantrag VI veränderten Sachlage zumindest eine Vertagung beantragt hat, um weitere, auf die nunmehr verteidigte Fassung des Streitpatents ausgerichtete Recherchen vornehmen zu können.
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b) In der Sache hat die Klägerin jedoch im Berufungsverfahren keinen auf die neu vorgelegten Entgegenhaltungen gestützten Vortrag gehalten, der die rechtliche Wertung tragen könnte, dass dem Fachmann der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags VI nahegelegt war. Der Kläger, der im Patentnichtigkeitsverfahren den Nichtigkeitsgrund der
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mangelnden Patentfähigkeit und insbesondere wie im Streitfall geltendmacht, dass der Gegenstand des Streitpatents dem Fachmann nahegelegt gewesen sei, muss dartun, dass im Stand der Technik eine technische Lehre oder technische Lehren bekannt waren, aus denen der Fachmann mit Hilfe seines Fachwissens den Gegenstand der Erfindung entwickeln konnte. Er muss ferner diejenigen technischen und sonstigen tatsächlichen Gesichtspunkte darlegen, aus denen das Patentgericht oder im zweiten Rechtszug der Bundesgerichtshof die angestrebte rechtliche Schlussfolgerung ziehen soll, dass der Fachmann Anlass hatte, den ihm nach seinem Fachwissen und -können objektiv möglichen Weg auch zu gehen. Der Amtsermittlungsgrundsatz entbindet den Kläger hiervon nicht, denn nach ihm hat das Gericht lediglich das präsente technische Wissen seiner Richter zu berücksichtigen und im Übrigen gegebenenfalls denjenigen tatsächlichen Anhaltspunkten weiter nachzugehen, die sich aus dem Sachvortrag der Parteien für oder gegen eine mangelnde Patentfähigkeit ergeben. Ergeben sich solche Anhaltspunkte nicht, ist es weder im zweiten noch im ersten Rechtszug Aufgabe des Gerichts, anstelle des Klägers Sachverhaltselemente zu ermitteln und zusammenzufügen, die für sich oder zusammen mit anderen das Klageziel rechtfertigen könnten (BGH, Urteil vom 27. August 2013 - X ZR 19/12, BGHZ 198, 187 Rn. 36 - Tretkurbeleinheit).
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Dieser Darlegungslast hat die Klägerin nicht genügt.
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(1) Die Berufungsbegründung verweist lediglich pauschal darauf, dass sich aus den Entgegenhaltungen BB1 bis BB4 die Vorbekanntheit von Mischern mit inneren als konische Schnecken ausgebildeten Rührwerken ergebe und dass die inneren Rührwerke der in den Entgegenhaltungen BB5, BB6 und BB7 offenbarten Mischer einen nach oben zunehmenden Durchmesser aufwiesen. Dazu ergibt sich aus den vorgelegten Schriften, dass die in den Entge52 genhaltungen BB1, BB2, BB3 und BB4 gezeigten Mischgeräte zwar sämtlich über ein Rührwerk verfügen, das aus einer konisch mit nach oben zunehmendem Durchmesser ausgebildeten Schnecke besteht. Allerdings handelt es sich hierbei jeweils um das einzige Rührwerk des Mischers, so dass das Merkmal, dass die Schnecke des inneren Rührwerks konisch ausgebildet ist, mangels eines zweiten, äußeren Rührwerks schon für sich genommen nicht erfüllt wird. Hinsichtlich der Entgegenhaltung BB5 ist zwischen den Parteien streitig,
53
ob der dort offenbarte Mischer, der in der Mittelachse des Mischbehälters eine Schnecke aufweist, die im konischen Teil des Behälters an ihrem unteren Ende mit Rührarmen versehen ist, damit über zwei Rührwerke verfügt. Dies kann jedoch dahin gestellt bleiben. Denn jedenfalls ist die Schnecke des in der Entgegenhaltung BB5 offenbarten Mischers nicht konisch geformt. Sie ist vielmehr in vier Abschnitte unterteilt, deren Außendurchmesser mit jedem Abschnitt nach oben größer wird (Sp. 4 Z. 51 bis 54 = S. 9 der Übers.). Der Durchmesser dieses Rührwerks nimmt damit zwar nach oben hin zu, allerdings lediglich in Stufen. Die in den Entgegenhaltungen BB6 und BB7 offenbarten Mischer weisen
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zwar zwei Rührwerke auf, die in ihrer Ausdehnung an die Form des Mischbehälters angepasst sind und im Durchmesser entsprechend der Mischbehälterwand nach oben hin zunehmen. Allerdings sind diese Rührwerke nicht als Schnecken ausgebildet, sondern mit Mischschaufeln bzw. Mischflügeln ausgestattet (vgl. jeweils Figur 1). Somit zeigt die Berufungsbegründung schon nicht auf, dass das hinzuge55 tretene Merkmal des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag VI für sich genommen bekannt gewesen ist. (2) Darüber hinaus hat die Klägerin weder in der Berufungsbegründung
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noch - nach Hinweis des Senats - in der mündlichen Verhandlung dargelegt, aus welchen tatsächlichen Gesichtspunkten sich ergeben soll, dass der erstund zweitinstanzlich eingeführte Stand der Technik dem Fachmann den Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Hilfsantrag VI in seiner Gesamtheit nahegelegt hat. Sie hat weder zu einem Ausgangspunkt vorgetragen, den der Fachmann
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insoweit hätte wählen können, noch zu den Gesichtspunkten, die die Wahl dieses Ausgangspunkts aus fachlicher Sicht plausibel machen könnten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 - Xa ZR 138/05, GRUR 2009, 1039 - Fischbissanzeiger ). Nimmt man zu ihren Gunsten an, dass sie auch insoweit von den - wie ausgeführt der Nachprüfung standhaltenden - Erwägungen des Patentgerichts ausgehen will, nach denen der Fachmann Anlass hatte, ausgehend von der Entgegenhaltung D3 deren Gegenstand unter Heranziehung der der D5 zu entnehmenden Anregungen weiterzuentwickeln, fehlt es gleichwohl an einer Darlegung, welche technischen Aspekte den Fachmann veranlassen sollten, zusätzlich auf eine oder mehrere der Entgegenhaltungen BB1 bis BB7 zurückzugreifen und das innere Rührwerk der D3 nach diesem Vorbild umzugestalten. Schon weil die neuen Entgegenhaltungen, wie ausgeführt, das zusätzliche Merkmal des Hilfsantrags VI nicht einmal für sich genommen aufweisen, ver- steht sich der Anlass zu einer solchen Kombination auch keineswegs von selbst.
c) Entsprechendes gilt in Bezug auf Patentanspruch 3 in der mit Hilfs58 antrag VI verteidigten Fassung. Auch insoweit macht die Klägerin lediglich geltend , dass die Entgegenhaltungen BB1, BB8 und BB9 es dem Fachmann nahelegten , an der Schnecke bzw. an den übereinander angeordneten Flügeln Schneidelemente anzubringen, ohne darzulegen, von welchem Ausgangspunkt und auf welchem wie motiviertem Wege der Fachmann naheliegenderweise zum Gegenstand des Patentanspruchs 3 in seiner Gesamtheit gelangt wäre.
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(1) Auch hier fehlt es schon an der Darlegung, dass das hinzugefügte Merkmal für sich genommen bekannt war. Die BB1 betrifft ein Gerät für das Vorbereiten von Gemischen aus pulve60 risierten Feststoffsubstanzen, dessen Rührwerk aus einer konisch ausgebildeten Schnecke besteht, bei der die Außenflächen der Arme zur Behälterwand hin in einem Winkel von 45° geneigt sind. Dafür, dass es sich bei diesen Außenflächen um Schneidelemente handelt, wie die Klägerin vorträgt, enthält die BB1 keinerlei Anhaltspunkte. Die Neigung der Außenflächen soll vielmehr nach den Ausführungen in der BB1 lediglich sicherstellen, dass der Mischbehälter vollständig entleert werden kann (S. 2 li. Sp. Z. 35 bis 49 = S. 3 der Übers.). Die BB8 zeigt eine Vorrichtung zum Mischen pulverförmiger und breiarti61 ger Güter in einem sich nach unten verjüngenden kegelstumpfförmigen Behälter mit senkrechter Achse und einer um die Mittelachse des Behälters rotierenden Bandschnecke. Die Bandschnecke kann in einer als vorteilhaft beschriebenen Ausführungsform außen mit einer scharfen Kante versehen sein. Diese Kante soll eine Ansatzbildung an der Innenwand und am Boden des Mischbehälters verhindern (Sp. 3 Z. 63 bis 67). Ob die Kante, wie die Klägerin geltend macht, auch die Funktion haben kann, grobes Material zu zerkleinern, ist aus der BB8 dagegen nicht ersichtlich. Die BB9 betrifft eine Rührvorrichtung, die wenigstens ein Rührwerkzeug
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mit blattförmigen Flügeln aufweist. Bei dieser Entgegenhaltung fehlt es bereits an einem schneckenförmig ausgestalteten Rührwerk. Soweit die Klägerin geltend macht, dass die Abkantungen und (Rand-)Ansätze der Flügelflächen als Schneidelemente im Sinne des Patentanspruchs 3 der mit Hilfsantrag VI verteidigten Fassung anzusehen seien, kann dem nicht gefolgt werden. Diese Bauteile sollen nach der Beschreibung lediglich für eine Änderung der Förderrichtung und für eine weitere Verwirbelung sorgen (vgl. Beschr. S. 13 und S. 16). Dazu, dass diese Kanten und Absätze das Mischmaterial zerkleinern ("schneiden") sollen, ist der Beschreibung dagegen nichts zu entnehmen. (2) Abgesehen davon hat die Klägerin auch insoweit nicht darzulegen
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vermocht, was den Fachmann veranlassen sollte, die Entgegenhaltungen BB1, BB8 und/oder BB9 mit der D3 und/oder der D5 zu kombinieren, um zum Gegenstand von Patentanspruch 3 in der Fassung des Hilfsantrags VI zu gelangen.
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IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 92 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Gröning Schuster
Deichfuß Kober-Dehm
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 10.07.2012 - 1 Ni 6/11 (EP) -

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 89/07 Verkündetam:
16. Dezember 2008
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
Olanzapin
EPÜ Art. 54; PatG § 3
a) Die Beurteilung, ob der Gegenstand eines Patents durch eine Vorveröffentlichung
neuheitsschädlich getroffen ist, erfordert die Ermittlung des Gesamtinhalts
der Vorveröffentlichung. Maßgeblich ist, welche technische Information
dem Fachmann offenbart wird. Der Offenbarungsbegriff ist dabei kein
anderer, als er auch sonst im Patentrecht zugrunde gelegt wird (Fortführung
des Sen.Urt. v. 16.12.2003 - X ZR 206/98, GRUR 2004, 407 - Fahrzeugleitsystem
).
b) Offenbart kann auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung
nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns jedoch
für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich
ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern "mitgelesen"
wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine
Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient, nicht
anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich
der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen
Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines
Fachwissens entnimmt (Fortführung von BGHZ 128, 270 - Elektrische
Steckverbindung).
c) Mit der Offenbarung einer chemischen Strukturformel sind die unter diese
Formel fallenden Einzelverbindungen grundsätzlich noch nicht offenbart
(Fortführung von BGHZ 103, 150 - Fluoran).
BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung
vom 16. Dezember 2008 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis,
die Richterin Mühlens und die Richter Prof. Dr. Meier-Beck, Asendorf und
Gröning

für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats ) des Bundespatentgerichts vom 4. Juni 2007 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
Die Gerichtskosten des Rechtsstreits und die außergerichtlichen Kosten der Beklagten haben die Klägerinnen und die Streithelferinnen der Klägerin zu 1 zu tragen. Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen die Klägerinnen und die Streithelferinnen jeweils selbst. Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist Inhaberin des am 24. April 1991 unter Inanspruchnahme einer britischen Priorität vom 25. April 1990 angemeldeten und mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 454 436, das 22 Patentansprüche umfasst, von denen die Ansprüche 2, 6, 8, 20 und 21 wie folgt lauten: 2. 2-Methyl-10-(4-methyl-1-piperazinyl)-4H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepine or a pharmaceutically acceptable acid addition salt thereof.
6. The use of a compound according to claim 2 or 3 for the manufacture of a medicament for the treatment of schizophrenia.
8. The use of a compound according to claim 2 or 3 for the manufacture of a medicament for the treatment of acute mania.
20. A process for producing a compound according to claim 1, which comprises
(a) reacting N-methylpiperazine with a compound of the formula
in which Q is a radical capable of being split off, or
(b) ring-closing a compound of the formula

21. A compound of the formula

in which Q is -NH2, -OH or -SH, and when Q is -NH2 salts thereof.
2
Wegen des Wortlauts der übrigen Patentansprüche wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.
3
Die Klägerinnen machen geltend, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig.
4
Das Patentgericht hat das Streitpatent mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
5
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie den Antrag auf Abweisung der Klage weiterverfolgt.
6
Die Klägerinnen sowie die Streithelferinnen der Klägerin zu 1, die dem Verfahren im zweiten Rechtszug beigetreten sind, treten dem Rechtsmittel entgegen.
7
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Professor Dr. Michael Müller, Inhaber des Lehrstuhls für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, in der mündlichen Verhandlung ein Gutachten erstattet.

Entscheidungsgründe:


8
Die zulässige Berufung hat Erfolg und führt zur Abweisung der Klage. Das Patentgericht hat das Streitpatent zu Unrecht für nichtig erklärt.
9
I. Das Streitpatent betrifft (in der vom Patentgericht und den Parteien verwendeten Nomenklatur) die Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl )-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin mit dem Freinamen Olanzapin, ihre Verwendung als Arzneimittel insbesondere als Antipsychotikum zur Behandlung von Schizophrenie und akuter Manie und ein Verfahren zur Herstellung dieser Verbindung.
10
Die Streitpatentschrift schildert, dass seit der Einführung von Antipsychotika zur Behandlung von Störungen des Zentralnervensystems therapiebedingte extrapyramidale Symptome (Störungen der extrapyramidalen motorischen Nebenbahnen des zentralen Nervensystems) beobachtet würden, zu denen Parkinsonismus , akute dystonische Reaktionen, Akathisie, tardive Dyskenisie und tardive Dystonie gehörten. Starke extrapyramidale Symptome träten etwa bei dem häufig angewandten Haloperidol auf.
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Aus der großen Gruppe trizyklischer Verbindungen sei Clozapin mit dem Anspruch eingeführt worden, frei von solchen extrapyramidalen Wirkungen zu sein. Die Verbindung verursache jedoch bei einigen Patienten Agranulozytose, eine lebensbedrohliche Verringerung der Zahl weißer Blutkörperchen. Die Strukturformel von Clozapin ist die Folgende:
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Die Streitpatentschrift erörtert sodann eine Gruppe von Thienobenzodiazepinen , die im britischen Patent 1 533 235 (Anl. K 2) beschrieben sei. Die Verbindung 7-Fluor-2-methyl-10-(4-methyl-a-piperazinyl)-4H-thieno[2,3-b][1,5]- benzodiazepin (Flumezapin) aus dieser Gruppe sei bis zur klinischen Anwendung an Schizophreniepatienten entwickelt worden. Jedoch habe die klinische Phase wegen mögliche Toxizität anzeigender erhöhter Enzymgehalte beendet werden müssen. Hinsichtlich der Tendenz zu einem erhöhten Leberenzymgehalt ähnele Flumezapin dem Antipsychotikum Chlorpromazin, das seit längerem verwandt werde, dessen Sicherheit jedoch in Frage gestellt sei.
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Flumezapin hat die Strukturformel:
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Aus dieser Kritik am Stand der Technik und der vorgeschlagenen Lösung ergibt sich als das mit den Mitteln des Streitpatents zu lösende technische Problem, eine weitere Verbindung zur Verfügung zu stellen, die als Antipsychotikum wirksam ist, keine extrapyramidalen Symptome erzeugt und in möglichst wenigen Fällen andere gravierende Nebenwirkungen hat.
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Dieses Problem soll durch die Verbindung Olanzapin mit der folgenden Strukturformel gelöst werden:
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Olanzapin hat somit wie Clozapin und Flumezapin eine trizyklische Grundstruktur mit einem zentralen Diazepinring (B) und einem ("linken") Phenylring (A); der dritte ("rechte") Ring (C), der bei Clozapin wie der linke ein Phenylring ist, wird bei Olanzapin wie bei Flumezapin durch einen Thiophenring mit einem Methylrest (Thienylring) gebildet. Wie bei Clozapin und Flumezapin ist an den Diazepinring in Position 4 ein Piperazinring mit einem an das Stickstoffatom bindenden Methylrest (Piperazinylring) angebunden. Anders als Clozapin und Flumezapin ist der Phenylring (A) bei Olanzapin weder in Position 7 noch in Position 8 halogeniert.
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Nach den Angaben der Streitpatentschrift hat Olanzapin überraschende und exzellente Ergebnisse bei Screeningtests zur Untersuchung der Aktivität im zentralen Nervensystem gezeigt. Die Verbindung habe sich als wirksamer Dopamin -Antagonist erwiesen und bei der klinischen Evaluierung bei - mit geringerem Nebenwirkungsrisiko verbundenen - niedrigen Dosierungen hohe antipsychotische Wirkung gezeigt.
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II. Das Patentgericht hat angenommen, der Gegenstand der Patentansprüche 1 bis 9 sei nicht neu, da durch den Aufsatz "4-Piperaninyl-10Hthieno [2,3-b][1,5]benzodiazepines as Potential Neuroleptics" von Chakrabarti et al in Journal of Medicinal Chemistry (J. Med. Chem.) 1980, 878 (Anl. K 4, Chakrabarti 1980) vorweggenommen. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Gegenstand der (Olanzapin und seine Säureadditionssalze betreffenden ) Patentansprüche 1 bis 3 ist weder durch die Entgegenhaltung Chakrabarti 1980 noch sonst im Stand der Technik offenbart.
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1. Zur Begründung seiner Auffassung hat das Patentgericht ausgeführt :
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Die chemische Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10Hthieno [2,3-b][1,5]benzodiazepin sei in K 4 zwar nicht expressis verbis beschrieben. Der Offenbarungsgehalt einer vorveröffentlichten Druckschrift umfasse aber auch solche Abwandlungen, die nach dem Gesamtzusammenhang der Schrift für den Fachmann derart naheliegen, dass sie sich ihm bei aufmerksamer , weniger auf die Worte als ihren erkennbaren Sinn achtenden Lektüre ohne weiteres erschließen, so dass er sie gewissermaßen in Gedanken gleich mitliest , auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Diese Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGHZ 128, 270, 276 f. - Elektrische Steckverbindung ) seien auch im Bereich der Stoffchemie mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine chemische Verbindung dann offenbart sei, wenn dem Fachmann ein konkreter Hinweis auf die betreffende Verbindung vermittelt werde, er also diese Verbindung in Gedanken ohne weiteres mitlese und aufgrund dieses Hinweises ohne weiteres in die Lage versetzt werde, den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen (BGHZ 103, 150 - Fluoran; Sen.Urt. v. 30.5.1978 - X ZR 16/76, GRUR 1978, 696 - α-Aminobenzylpenicillin).
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Bei der Druckschrift K 4 handele es sich um eine wissenschaftliche Abhandlung , die sich ausweislich ihres Titels mit 4-Piperazinyl-10H-thieno[2,3-b] [1,5]benzodiazepinen als potentiellen Neuroleptika befasse. Das Potential dieser Titelverbindungen zur Anwendung als neuroleptische Wirkstoffe werde exemplarisch anhand von Versuchen mit insgesamt 45 Verbindungen am Tier aufgezeigt und außerdem mit Verbindungen davon zum Teil erheblich abweichender Struktur sowie mit als therapeutisch wirksam anerkannten Standardverbindungen verglichen. Im Textteil setze sich die Druckschrift im Wesentlichen mit der Beziehung zwischen Struktur und Wirkung (structure-activity relationship , SAR) von 4-Piperazinyl-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepinen auseinander ; daneben werde auch deren chemische Synthese beschrieben.
22
Ausgehend von der bereits im Titel benannten Verbindungsgruppe werde der Leser zu der erheblich enger gefassten, besonders bevorzugten pharmakologischen Leitstruktur der Formel I mit ihren beiden variablen Resten R1 und R2, dem eigentlichen Ziel der Studie, hingeführt (S. 878 re. Sp. unten i. V. m. S. 879 re. Sp. "4'-(N-Methylpiperazinyl) compounds are most active"). Tatsächlich stünden damit nicht 4-Piperazinyl-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepine allgemein , sondern speziell die 4'-(N-Methylpiperazinyl)-10H-thieno[2,3b] [1,5]benzodiazepine der Formel I mit den beiden variablen Resten R1 und R2 im Fokus der SAR-Studie. Der aufmerksame Leser könne deshalb auch nicht diejenigen Textstellen übersehen, in denen ausgehend von der vorangestellten Textstelle "4'-(N-Methylpiperazinyl) compounds are most active" zum Rest R1 der Formel I festgestellt werde, dass die Substitution des Phenylrings in Position 7, d.h. der Ersatz des Wasserstoffatoms in 7-Position durch ein Halogenatom (Cl, F) die Aktivität verbessere. Zum variablen Rest R2 werde des Weiteren ausgeführt, dass ein kurzkettiger Alkylrest (Me, Et, i-Pr) als Substituent in Position 2 des Thiophenrings die Aktivität zu erhöhen scheine. Diese Aussagen zur Relation zwischen Struktur und Wirkung (SAR) innerhalb der Gruppe der 4' (N-Methylpiperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepine der Formel I ba- sierten auf den Messwerten am Tier betreffend die Verbindungen der Tabelle 1, soweit sich diese auf die Formel I bezögen (Verbindungen 6 bis 30), in denen für R1 in 7-Position u.a. H, Cl, F und für R2 in 2-Position H, Me, Et, i-Pr stünden.
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Die Offenbarung zu den Verbindungen der Formel I beschränke sich damit ersichtlich nicht auf die expressis verbis genannten Verbindungen 6 bis 30. Vielmehr stünden die aufgelisteten Verbindungen lediglich exemplarisch für sämtliche, unter Berücksichtigung der verschiedenen Bedeutungen der Reste R1 und R2 unter die allgemeine Formel I fallenden Verbindungen mit der Konsequenz , dass die stoffliche Lehre der K 4 sämtliche Verbindungen der Formel I einbeziehe, die sich aus der Kombination von in der Beschreibung oder in der Tabelle explizit genannten Substituenten R1 und R2 zwanglos ergäben, und zwar davon insbesondere diejenigen, die den exemplarisch tatsächlich hergestellten und auf ihre neuroleptische Aktivität hin untersuchten Verbindungen strukturell unmittelbar benachbart seien. Darüber hinaus werde anhand der Beschreibung aus dem stofflich und zahlenmäßig überschaubaren Kollektiv von Verbindungen der Formel I mit den beiden variablen Resten R1 und R2, das in der Tabelle 1 exemplarisch anhand der Verbindungen 6 bis 30 dargestellt sei, insbesondere jene sehr kleine Gruppe von Verbindungen näher identifiziert, deren Gruppenmitglieder in 7-Position Wasserstoff, Fluor oder Chlor und in 2Position Wasserstoff, Methyl, Ethyl oder Isopropyl aufwiesen, und dadurch gegenüber anderen Verbindungen der Formel I sowie der Tabelle 1 deutlich hervorgehoben. Aus dieser sehr kleinen Gruppe von lediglich zwölf Verbindungen stelle 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin damit eine bereits aus der K 4 unmittelbar zu entnehmende Ausführungsform der pharmakologischen Leitstruktur der allgemeinen Formel I mit der Bedeutung R1 = Wasserstoff in 7-Position und R2 = Methyl in 2-Position dar. Beide Substituenten seien als individuelle Substituenten expressis verbis genannt und in der Kombination 7-H, 2-CH3 als unmittelbar benachbart zu gleich drei expressis verbis beschriebenen Verbindungen, nämlich Nr. 6 (7-H, 2-C2H5), Nr. 8 (7-F, 2-
H) sowie Nr. 9 (7-F, 2-CH3) ohne Weiteres mitzulesen. Zwischen diesen drei unmittelbar benachbarten Verbindungen finde sich quasi eine durch die Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin aufzufüllende Lücke oder, photographisch betrachtet, das "Negativ" dieser Verbindung , welches es lediglich zu kopieren gelte.
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Damit hat das Patentgericht den Bereich des durch Chakrabarti 1980 Offenbarten verkannt.
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2. Die Beurteilung, ob der Gegenstand eines Patents durch eine Vorveröffentlichung neuheitsschädlich getroffen ist, erfordert die Ermittlung des Gesamtinhalts der Vorveröffentlichung. Maßgeblich ist, welche technische Information dem Fachmann offenbart wird. Der Offenbarungsbegriff ist dabei kein anderer, als er auch sonst im Patentrecht zugrunde gelegt wird (Sen.Urt. v. 16.12.2003 - X ZR 206/98, GRUR 2004, 407, 411 - Fahrzeugleitsystem; Benkard /Melullis, EPÜ, Art. 54 Rdn. 54; PatG, 10. Aufl., § 3 Rdn. 20 f.). Zu ermitteln ist deshalb nicht, in welcher Form der Fachmann etwa mit Hilfe seines Fachwissens eine gegebene allgemeine Lehre ausführen kann oder wie er diese Lehre gegebenenfalls abwandeln kann, sondern ausschließlich, was der Fachmann der Vorveröffentlichung als den Inhalt der gegebenen (allgemeinen) Lehre entnimmt. In der Rechtsprechung des Senats und der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts wird dies auch dahin ausgedrückt, dass maßgeblich ist, was aus fachmännischer Sicht einer Schrift "unmittelbar und eindeutig" zu entnehmen ist (BGHZ 148, 383, 389 - Luftverteiler; Sen.Urt. v. 14.10.2003 - X ZR 4/00, GRUR 2004, 133, 135 - Elektronische Funktionseinheit; Sen.Urt. v. 30.1.2008 - X ZR 107/04, GRUR 2008, 597 Tz. 17 - Betonstraßenfertiger; EPA (GrBK) Amtsbl. 2001, 413 = GRUR Int. 2002, 80; EPA GRUR Int. 2008, 511 - Traction sheave elevator/KONE; s. dazu auch Benkard/Melullis, EPÜ aaO Rdn. 59; Rogge, GRUR 1996, 931, 934).
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Hierzu steht es nicht in Widerspruch, dass der Senat insbesondere im Hinblick auf den Zweck der (gesonderten) Neuheitsprüfung, Doppelpatentierungen zu vermeiden, eine Ausdehnung des neuheitsschädlich Offenbarten über den "reinen Wortlaut" hinaus für unabdingbar gehalten hat (BGHZ 128, 270, 277 - Elektrische Steckverbindung). Die Erfassung desjenigen, was in den Merkmalen des Patentanspruchs und im Wortlaut der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt, aus der Sicht des Fachmanns jedoch nach seinem allgemeinen Fachwissen für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich oder unerlässlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf (BGHZ 128, 270, 276), zielt nicht auf eine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern, nicht anders als bei der Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, auf die Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der jeweiligen Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt (Benkard/Melullis aaO Rdn. 75). Nichts anderes gilt für die in der Entscheidung "Elektrische Steckverbindung" weiterhin in den Offenbarungsgehalt einbezogenen Abwandlungen, die nach dem Gesamtzusammenhang der Schrift für den Fachmann derart naheliegen , dass sie sich ihm bei aufmerksamer, weniger auf die Worte als ihren erkennbaren Sinn achtenden Lektüre ohne weiteres erschließen, so dass er sie gewissermaßen in Gedanken gleich mitliest, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist (BGHZ 128, 270, 276 f.). Das Wort "naheliegen" mag in diesem Zusammenhang vordergründig auf den Äquivalenzbereich hinweisen. Der Begriff des Mitlesens macht jedoch deutlich, dass es nicht um die Einbeziehung von Austauschmitteln geht, sondern darum, die technische Information, die der Fachmann durch eine Schrift erhält, in ihrer Gesamtheit zu erfassen (vgl. Rogge , GRUR 1996, 931, 935). Abwandlungen und Weiterentwicklungen dieser Information gehören ebenso wenig zum Offenbarten wie diejenigen Schlussfolgerungen , die der Fachmann kraft seines Fachwissens aus der erhaltenen technischen Information ziehen mag (Benkard/Melullis, EPÜ, aaO Rdn. 68, 71, 77; PatG, aaO Rdn. 35 f.; Busse/Keukenschrijver, PatG, 6. Aufl., § 3 Rdn. 100).
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Diese Grundsätze gelten, wie das Patentgericht insoweit zutreffend angenommen hat, auch im Bereich der Stoffchemie und insbesondere auch bei der Beurteilung des Informationsgehalts einer Strukturformel. Dass eine chemische Verbindung unter eine vorveröffentlichte Formel fällt, besagt deshalb für die Offenbarung der konkreten Verbindung ebenso wenig wie der Umstand, dass die konkrete Ausführungsform einer Vorrichtung unter einen allgemein formulierten Vorrichtungsanspruch fällt, etwas über die Offenbarung dieser konkreten Ausführungsform aussagt (BGHZ 103, 150, 157 - Fluoran). Maßgeblich ist vielmehr, ob die konkrete Verbindung offenbart wird. Dazu bedarf es Angaben , die den Fachmann ohne weiteres in die Lage versetzen, die eben diese chemische Verbindung betreffende Erfindung auszuführen, d.h. den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen (BGH aaO).
28
Hierbei darf, wiederum nicht anders als bei Vorrichtungspatenten, die Fähigkeit des Fachmanns, mit Hilfe bekannter Verfahren und seines sonstigen Fachwissens eine mehr oder weniger große Anzahl von Einzelverbindungen herzustellen, die unter eine offenbarte Strukturformel fallen, nicht mit der Offenbarung dieser Einzelverbindungen gleichgesetzt werden (Sen.Urt. v. 30.9.1999 - X ZR 168/96, GRUR 2000, 296, 297 - Schmierfettzusammensetzung). Vielmehr stellen die Einzelverbindungen, jedenfalls regelmäßig, Nutzanwendungen der technischen Information dar, die dem Fachmann durch die Offenbarung der Strukturformel oder sonst einer allgemeineren Formel gegeben wird. Durch deren Mitteilung sind die darunter fallenden einzelnen Verbindungen als solche nicht offenbart; um sie dem Fachmann im Sinne der Neuheitsprüfung "in die Hand zu geben", bedarf es in der Regel weitergehender Informationen insbesondere zu ihrer Individualisierung. Soweit der noch zum Patentgesetz 1968 ergangenen Entscheidung "Fluoran", in der der Senat sich im Rechtsbeschwerdeverfahren an die Feststellung des Patentgerichts gebunden gesehen hat, dem Fachmann seien durch eine allgemeine Formel fast 2000 unter die betreffende Formel fallende Einzelverbindungen als herstellbar offenbart, etwas an- deres zu entnehmen sein sollte, wird daran für das geltende Recht nicht festgehalten. Als offenbart kann eine nicht ausdrücklich genannte Einzelverbindung vielmehr nur dann gelten, wenn der Fachmann sie im vorstehend ausgeführten Sinne "mitliest", etwa weil sie ihm als die übliche Verwirklichungsform der genannten allgemeinen Formel geläufig ist und sich ihm daher sofort als jedenfalls auch gemeint aufdrängt, wenn er die allgemeine Formel liest.
29
Der Senat sieht sich mit dieser allgemeinen Beurteilung des Offenbarungsgehalts chemischer Formeln im Wesentlichen in Einklang mit der - auch vom High Court für England und Wales (Floyd J.) in dem das Streitpatent betreffenden Nichtigkeitsverfahren zugrunde gelegten ([2008] EWHC 2345 (Pat)) - Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts , nach der nur solche technische Lehren neuheitsschädlich sind, die einen Stoff als zwangsläufiges Ergebnis eines vorbeschriebenen Verfahrens oder in spezifischer, d.h. individualisierter, Form offenbaren (Amtsbl. 1982, 296 - Diastereomere/BAYER; Amtsbl. 1984, 401 - Spiroverbindungen/CIBA GEIGY; Amtsbl. 1988, 381 - Xanthines/DRACO; Amtsbl. 1990, 195 - Enantiomere /HOECHST; Entscheidung vom 19.2.2003 - T 940/98 - Diastereomere des 3Cephem -4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylesters/HOECHST).
30
3. Für den Streitfall folgt hieraus:
31
Chakrabarti 1980 gibt mit der nachfolgend wiedergegebenen Formel I auf S. 878 unten eine Strukturformel für 4'-(N-Methylpiperazinyl)-10H-thieno[2,3b ][1,5]benzodiazepine mit den Substituenten R1 und R2 an.
Es kann offenbleiben, ob diese Formel, obwohl die Schrift keine aus32 drücklichen Substituentenlisten enthält, aufgrund der in Tabelle 1 aufgeführten, von den Verfassern tatsächlich verwendeten Substituenten als sogenannte Markush-Formel gelesen werden kann, bei der R1 Wasserstoff, Fluor oder Chlor und R2 Wasserstoff, Methyl, Ethyl oder Isopropyl sein kann. Denn die erfindungsgemäße Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno [2,3b ][1,5]benzodiazepin, bei der R1 Wasserstoff und R2 Methyl ist, ist damit noch nicht offenbart. Sie ist lediglich eine von zwölf Verbindungen, die der Fachmann , ein mit Pharmakologen und Medizinern zusammenarbeitender erfahrener organischer oder pharmazeutischer Chemiker, bei der gedanklichen Aufstellung der Substituentenlisten als unter die allgemeine Formel fallend erkennen kann. Sie ist aber weder in Tabelle 1 der Schrift als von den Verfassern hergestellte Einzelverbindung aufgeführt, noch im Text der Abhandlung an irgendeiner Stelle erwähnt.
33
Es lässt sich auch nicht sagen, dass der Fachmann die individuelle Verbindung gleichwohl "mitlese". Das würde voraussetzen, dass sich dem Fachmann beim Lesen der Strukturformel und der (gedachten) Substituentenlisten sogleich die Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b] [1,5]benzodiazepin als gemeint aufdrängt. Dafür gibt es weder im Vorbringen der Parteien einen Anhalt, noch haben hierfür die erst- und die zweitinstanzliche Beweisaufnahme etwas erbracht.
34
Die Erwägungen des Patentgerichts tragen diese Annahme ebenfalls nicht. Sie befassen sich, ausgehend von der Formel I und dem Hinweis "4'-(NMethylpiperazinyl ) compounds are most active" mit der Frage, inwieweit der Fachmann Veranlassung hat, sich außer den hergestellten und diskutierten Einzelverbindungen auch mit 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno [2,3-b][1,5]benzodiazepin zu befassen. Das Patentgericht sieht dies deshalb als veranlasst an, weil die Substituenten R1 = H in 7-Position und R2 = CH3 in 2- Position als individuelle Substituenten expressis verbis genannt und in der Kombination 7-H, 2-CH3 unmittelbar benachbart zu gleich drei ausdrücklich beschriebenen Verbindungen, nämlich Nr. 6 (7-H, 2-C2H5), Nr. 8 (7-F, 2-H) sowie Nr. 9 (7-F, 2-CH3) seien. Damit hat das Patentgericht jedoch den Bereich der Ermittlung der Offenbarung der Vorveröffentlichung verlassen und sich der Frage zugewandt, was den Fachmann dazu veranlassen (oder möglicherweise auch drängen) könnte, eine weitere "Ausführungsform" der in Formel I definierten Gruppe von 4'-(N-Methylpiperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepinen in den Blick zu nehmen und damit, wie es das Patentgericht ausgedrückt hat, eine "Lücke" in der Tabelle 1 der Schrift zu füllen. Eine solche Untersuchung ist indessen der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit vorbehalten.
35
Dass sich das Patentgericht bei seiner Untersuchung außerhalb des Offenbarungsgehalts der Veröffentlichung bewegt, wird auch daran deutlich, dass sich die Füllung der vermeintlichen Lücke in Tabelle 1 gar nicht bewerkstelligen ließe, ohne die Verbindung 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3b ][1,5]benzodiazepin zunächst herzustellen und sodann mit ihr diejenigen Versuche auszuführen, die die Verfasser der Abhandlung mit den von ihnen synthetisierten Verbindungen durchgeführt haben. Denn über die in der Tabelle ausgewiesenen experimentellen Werte wie die CAR- und CAT-Werte für Olanzapin könnte der Fachmann nur spekulieren.
36
4. Ebenso wenig ist Olanzapin in der britischen Patentschrift 1 533 235 (Anl. K 2), der dieser Patentschrift zugrunde liegenden Anmeldung 51 240 (Anl. K 35) oder einer der weiteren, auf diese Prioritätsanmeldung zurückgehenden Patentanmeldungen und Patentschriften (der deutschen Offenlegungsschrift 25 52 403 [Anl. RA 1], dem deutschen Patent 25 52 403 [Anl. RA 2 = Anl. N 10] und dem US-Patent 4 115 574 [Anl. K 10]) offenbart. Die in diesen Vorveröffentlichungen enthaltenen allgemeinen Formeln sind jeweils noch weit breiter gefasst als in der Abhandlung Chakrabarti 1980; 2-Methyl-4-(4- methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin ist weder hergestellt noch sonst erwähnt worden.
37
Nichts anderes gilt, soweit die britische Patentanmeldung als "preferred compounds falling within the scope of compounds defined in any of formulae (I) - (VII) above … those having one or more of the following charakterictics" erwähnt und unter den insgesamt 14 "Charakteristika" unter (J) die Strukturformeln II oder V, von denen die Formel II das Ringsystem von Olanzapin mit den Substituenten R1 und R2 des Benzolrings und den Substituenten R5 des Diazepinrings aufweist, (E) R1 und R2 mit Wasserstoff,
(I)
R5 als eine Gruppe der Formel N N – R6 wobei R6 Methyl, Carbothoxy oder Phenyl, insbesondere oMethoxyphenyl ist, (K) den Thiophenring als durch eine C1-4-Alkylgruppe wie Ethyl substituiert angibt. Kombiniert man diese "Charakteristika", ist zwar Olanzapin eine der unter diese Kombination fallenden Verbindungen. Dies ändert aber nichts daran, dass die Verbindung als solche nicht offenbart ist und erst erhalten wird, wenn nicht nur die "Charakteristika" J, E, I und K kombiniert werden, sondern auch bei I und K jeweils Methyl ausgewählt wird. Entsprechend verhält es sich bei den Patentansprüchen 2 und 3 des deutschen Patents 25 52 403, die auf Thieno [1,5]benzodiazepine der allgemeinen Formel I' nach Anspruch 1 gerichtet sind, worin R1 und R2 unabhängig voneinander jeweils Wasserstoff, Halogen oder C1-4-Halogenalkyl bedeuten und Y (richtig: R5) eine Gruppe der Formel N N – R6 ist, wobei R6 Methyl bedeutet, und der Thiophenring durch eine C1-4-Alkylgruppe substituiert ist.
38
Auch die Erwähnung von 2-Ethyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10Hthieno [2,3-b][1,5]benzodiazepin ("Ethyl-Olanzapin") als erste der für "besonders bevorzugte Verbindungen" genannten mehr als 70 Beispiele (GB 51 240 A, S. 8 Z. 20; DE 25 52 403 C2 S. 7 Z. 15-17) ändert daran nichts. Ein EthylSubstituent ist aus fachmännischer Sicht kein Methyl-Substituent; der Austausch einer Alkylgruppe gegen eine andere ist vielmehr eine Abwandlung der Verbindung, die gegebenenfalls naheliegen oder sich auch geradezu aufdrängen mag, aber nicht Inhalt der Offenbarung einer bestimmten Alkylverbindung ist. Dies gilt zumal im pharmazeutischen Kontext, in dem dem Fachmann, wie der Gutachter Prof. Dr. Dannhardt der Beklagten unwidersprochen dargelegt hat (Anl. B 51, S. 4) und das Gutachten bestätigt, das Prof. Dr. Dr. Mutschler für die Streithelferin zu 2 der Klägerin zu 1 erstattet hat (Anl. RA 3, S. 2 f.), eine Reihe von Verbindungen bekannt sind, die trotz identischer Struktur aufgrund ihrer unterschiedlichen Methyl- bzw. Ethylseitenketten deutlich unterschiedliche biologische Aktivität zeigen.
39
5. Schließlich ist Olanzapin auch nicht in der Abhandlung "A FreeWilson Study of 4-Piperazinyl-10H-thienobenzodiazepine Analogues" von Schauzu und Mager (Pharmazie 38 [1983], 562, Anl. K 6) offenbart.
40
Bei einer Free-Wilson-Analyse handelt es sich um ein mathematisches Verfahren zur Ermittlung des quantitativen Gewichts, das ein einzelner Substituent einer Verbindung an einer gegebenen biologischen Aktivität dieser Verbindung hat.
41
In Tabelle 1 der Abhandlung sind zwar für die analysierte Verbindung 11 als Substituenten R1 und R2 Wasserstoff und Methyl genannt. Die der Tabelle vorangestellte Strukturformel zeigt jedoch keine Piperazinyl-, sondern Piperidinylverbindungen. Es besteht somit ein Widerspruch zwischen Strukturformel und Titel der Arbeit. Der Fachmann wird zumindest aus diesem Grund die in der Arbeit von Schauzu und Mager zitierte Referenz für die zugrunde gelegten experimentellen Daten zu Rate ziehen. Dabei handelt es sich um die Arbeit "Effects of Conformationally Restricted 4-Piperazinyl-10H-thienobenzodiazepine Neuroleptics on Central Dopaminergic and Cholinergic Systems" von Chakrabarti et al. in J. Med. Chem. 1982, 1133 (Anl. B 41, Chakrabarti 1982). Dieser Abhandlung ist auf S. 1135 die - dem Titel der Arbeit von Schauzu entsprechende - Strukturformel für die untersuchten 4-Piperazinyl-10H-thienobenzodiazepine zu entnehmen. Die Verbindungen 1 bis 12 sowie die Vergleichsverbindungen Clozapin und Haloperidol sind - in anderer Reihenfolge - identisch mit den von Schauzu analysierten; die experimentellen IC50-Werte bei Chakrabarti 1982 entsprechen, wie die Beklagte unwidersprochen dargetan hat, (bis auf zwei Rundungsfehler) umgerechnet den Werten in der Spalte "log I50 obtd." bei Schauzu. Aus fachmännischer Sicht ergibt sich somit, dass die fehlerhafte Strukturformel bei Schauzu in Übereinstimmung mit der Strukturformel bei Chakrabarti 1982 zu korrigieren ist.
42
Die Strukturformel in Tabelle 1 bei Chakrabarti 1982 zeigt aber auch, dass der linke Phenylring einen Halogensubstituenten in Gestalt eines 7-Fluorrestes trägt, der bei der ohnehin fehlerhaften Darstellung bei Schauzu am linken Rand der Textspalte "abgeschnitten" ist. Die als Nr. 11 bei Schauzu offenbarte Verbindung ist somit nicht Olanzapin, sondern Flumezapin.
43
III. Verhandlung und Beweisaufnahme haben auch keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Gegenstand des Streitpatents dem Fachmann am Prioritätstag durch die Schrift Chakrabarti 1980 oder auf andere Weise nahegelegt war.
44
1. Von Chakrabarti und seinen Mitautoren wird dargelegt, dass bis vor kurzem angenommen worden sei, das Auftreten extrapyramidaler Nebenwirkungen stehe in engem Zusammenhang mit der therapeutischen Wirksamkeit von Neuroleptika. Inzwischen gehe man jedoch davon aus, dass die extrapyramidalen Symptome durch eine Blockade der Dopaminrezeptoren im Striatum hervorgerufen werde, während die antipsychotische Wirkung durch eine ähnliche Interaktion in der mesolimbischen Hirnregion bedingt sei. Daraus wird die Erwartung abgeleitet, dass eine Verbindung mit einer spezifischeren Wirkung auf die dopaminergen Rezeptoren im mesolimbischen System eine geringere Katalepsie bei Tieren bewirken und auch beim Menschen weniger extrapyramidale Symptome hervorrufen werde.
45
Es werden sodann die mit Clozapin gemachten Erfahrungen erörtert. In diesem Zusammenhang heißt es, jüngste Studien deuteten darauf hin, dass Clozapin - wie nach dem Vorstehenden wünschenswert - im mesolimbischen System aktiver als im striatalen sei. Clozapin unterscheide sich chemisch von anderen Neuroleptika der Dibenzozepinreihe durch eine Substitution mit einem Chloratom in Position 8 (Ring A), jedoch nicht in Position 2 (Ring C). Hingegen verhalte sich sein Ring-C-substituiertes 2-Chlor-Isomer wie ein klassisches Neuroleptikum. Ähnliche Veränderungen des Aktivitätsprofils seien auch für Oc- toclothepin und Doclothepin berichtet worden. Für die tiefgreifende Veränderung der Aktivität durch die Transposition der Halogensubstitution gebe es keine eindeutige Erklärung.
46
Die Autoren bilden vor diesem Hintergrund die Hypothese, dass die Ursache für die unterschiedliche Aktivität darin liegen könne, dass die Verschiebung der nuklearen Substitution zu einem elektronischen Ungleichgewicht zwischen den beiden Benzolringen des asymmetrischen trizyklischen Systems führe. Da ähnliche Effekte durch geeignete Heteroarengruppen an Stelle eines Benzolrings erzielt werden könnten, sei es interessant zu untersuchen, ob Verbindungen wie diejenigen der Formel I, bei der der Benzolring C durch einen relativ elektronenreichen Thiophenring ersetzt werde, zu einer ähnlichen biologischen Reaktion wie nicht-klassische Neuroleptika (wie Clozapin) führten.
47
Diesem Ziel dient die Synthese einer Reihe von 4-substituierten 10HThieno [2,3-b][1,5]benzodiazepinen und deren Vergleich mit bekannten Antipsychotika , über die nachfolgend berichtet wird. Dazu wird einleitend weiter erläutert , dass bei den synthetisierten Verbindungen Modifikationen an den Substituenten des Phenylrings und des Thiophenrings sowie geeignete Veränderungen der basischen Seitenkette vorgenommen worden seien, um den Zusammenhang zwischen Struktur und Aktivität zu untersuchen. Die neuroleptische Aktivität sei anhand der Fähigkeit beurteilt worden, bei Mäusen eine Hypothermie zu produzieren und bei Ratten eine konditionierte Vermeidungsreaktion (conditioned avoidance response, CAR) zu blockieren und eine Katalepsie (CAT) hervorzurufen.
48
Die insgesamt 59 synthetisierten Verbindungen und die für diese ermittelten CAR- und CAT-Werte werden in Tabelle 1 wiedergegeben und in dem Kapitel "Structure-Activity Relationships" diskutiert. Es wird dabei als (aufgrund der ermittelten Daten) evident bezeichnet, dass ein basischer und in Position 4 mit dem Thienobenzodiazepinring verbundener Piperanzinring unerlässlich sei.
Am aktivsten seien 4'-(N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen. Eine höhere Alkylsubstitution (Et, n-Pr) (Verbindungen 31 bis 33) bewirke eine Reduktion der Aktivität. Dagegen behielten die Verbindungen 34 bis 36 mit 4'-[N-(Hydroxyalkyl)]- gruppen (2-Hydroxyethyl, 3-Hydroxypropyl) eine gute Aktivität. Die Substitution des Phenylrings mit einem Halogenatom (Cl, F) in Position 7 verstärkte die Aktivität. Obwohl die 7,8-Difluorverbindung (Verbindung 29) eine gute Aktivität behalten habe, zeigten die 8-Fluor- und 6,8-Difluor-Positionsisomerverbindungen (27 und 30) eine verminderte Aktivität. Das 8-Methyl-Derivat (28) weise eine mittlere Aktivität auf, wohingegen die Substitution in Position 7 mit NO2, SCH3, SO2CH3 und SO2N(CH3)2 (23 bis 26) keinen Vorteil ergeben habe. Eine kurze Alkylsubstitution (Me, Et, i-Pr) in Position 2 des Thiophenrings scheine die Aktivität zu erhöhen. Verbindungen mit einer sperrigen t-Bu-Gruppe oder einer langen n-Hexankette in dieser Position oder mit 3-Methyl- oder 2,3Dialkylsubstituenten zeigten nur eine minimale Aktivität. Von den beiden Umsetzungsprodukten , die durch Oxidation der Ethylseitenkette von Verbindung 12 entstanden seien, habe Verbindung 15 mit einer 1'-Hydroxylethylkette eine mittelmäßige Aktivität behalten, während die andere Verbindung (16) mit einer elektronenziehenden Acetylgruppe inaktiv gewesen sei.
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Die berichteten Tests korrelierten mit der Fähigkeit der Verbindung, Dopaminrezeptoren zu blockieren. Einige Verbindungen, z.B. 9, 12, 17, 29 und 34, hätten sich als aktiver als Clozapin erwiesen und eine ähnliche, wenn auch weniger deutliche Trennung der Aktivität im CAR- und CAT-Test gezeigt. Dieses Aktivitätsprofil erfordere, so resümieren die Autoren, eine weitere Entwicklung dieser Klasse von Verbindungen.
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2. Die Autoren finden somit grundsätzlich die Hypothese bestätigt oder jedenfalls nicht widerlegt, sondern eine weitere Untersuchung rechtfertigend , dass Verbindungen wie diejenigen der Formel I, bei der der Benzolring C durch einen relativ elektronenreichen Thiophenring ersetzt ist, zu einer ähnli- chen biologischen Reaktion wie Clozapin oder andere nicht-klassische Neuroleptika führen (können). Die Verbindungen 9 (= Flumezapin), 12, 17, 29 und 34 werden dafür ausdrücklich nur als Beispiele genannt. Da 4'-(N-Methylpiperazinyl )-Verbindungen als die aktivsten bezeichnet werden, mag dem Patentgericht in der Annahme gefolgt werden, dass der Fachmann, der der Frage nach einer Clozapin-Alternative weiter nachgehen will, Veranlassung hat, sich insbesondere diesen Verbindungen zuzuwenden. Gleichwohl liegt hierin ein erster nicht ganz selbstverständlicher Schritt, da er zum einen voraussetzt, dass der Fachmann überhaupt Chakrabarti 1980 zum Ausgangspunkt weiterer Bemühungen wählt, und zum anderen die Formel I auf S. 878 unten nur beispielhaft genannt wird ("such as I") und die linke Strukturformel in der Oberzeile der Tabelle 1 (zu der die synthetisierten Verbindungen 1-45 gehören) erheblich weiter ist und insgesamt 1.452 Verbindungen umfasst.
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Diese erste Auswahlentscheidung kann auch nicht mit der Erwägung vernachlässigt werden, dass der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit stets der nächstkommende Stand der Technik zugrunde zu legen wäre und dieser hier in den von Chakrabarti beschriebenen 4'-(N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen oder gar einer bestimmten Verbindung aus dieser Gruppe läge. Ein solcher Vorrang des "nächstkommenden Standes der Technik" besteht nicht. Erst aus rückschauender Sicht wird erkennbar, welche Vorveröffentlichung der Erfindung am nächsten kommt und wie der Entwickler hätte ansetzen können, um zu der erfindungsgemäßen Lösung zu gelangen. Die Wahl des Ausgangspunktes bedarf daher der Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere Lösung zu finden, als sie der bekannte Stand der Technik zur Verfügung stellt.
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Bei den 4'-(N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen handelt es sich immer noch um eine relativ große Gruppe von Verbindungen, von denen 24 synthetisiert worden sind (Verbindungen 6 bis 30), die jedoch, schon wenn nur die in Tabelle 1 aufgeführten Substituenten berücksichtigt werden, insgesamt (11 x 11 =) 121 Verbindungen umfasst (vgl. Gutachten Prof. Dr. Kleemann [Anl. RA 5, S. 2] und Gutachten Prof. Dr. Ritter [Anl. RA 8, S. 3 f.]). Um 2-Methyl-4-(4-methyl1 -piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin als einen Kandidaten für die Synthetisierung und weitere CAR- und CAT-Tests nahezulegen, bedürfte es daher zusätzlicher Hinweise, die dem Fachmann innerhalb der Gruppe der 4' (N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen eine Eingrenzung der Kandidaten nach Kriterien erlauben, die 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3b ][1,5]benzodiazepin einschließen. Solche Hinweise zur Eingrenzung einer engeren Gruppe interessanter Verbindungen sind Chakrabarti 1980 auch zu entnehmen. Sie schließen jedoch Olanzapin nicht ein.
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Die maßgeblichen Hinweise hat das Patentgericht bereits herausgearbeitet : Sie ergeben sich aus der Bewertung, dass die Substitution des Phenylrings mit einem Halogenatom (Cl, F) in Position 7 die Aktivität verstärkt habe, sowie aus dem vorsichtiger formulierten Hinweis, dass eine kurze Alkylsubstitution (Me, Et, i-Pr) in Position 2 des Thiophenrings die Aktivität zu erhöhen scheine. Der Fachmann wird damit zu den Verbindungen mit einem Halogenatom, namentlich einem Fluoratom, in Position 7 hingelenkt. Andere Substituenten in Position 7 werden als ungünstiger bezeichnet, lediglich von der Verbindung 29 mit dem Substituenten 7,8-F2 heißt es, dass er eine gute Aktivität behalten habe (CAR 3 [10], CAT 3 [25]; in eckigen Klammern ist die Dosierung in Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht angegeben: der CAT-Wert wird somit erst bei dem 2,5 fachen der für den CAR-Wert 3 notwendigen Dosierung erreicht). Die Verbindungen mit nicht halogeniertem Benzolring (6 und 7) werden gar nicht erst erwähnt. Dass sie ähnlich der 7,8-Difluorverbindung wenigstens eine gute Aktivität zeigen, erschließt sich dem Fachmann nicht. Chakrabarti 1980 setzt dafür einen CAR-Wert von 3 voraus, wie sich außer an der Verbindung 29 auch daran zeigt, dass die als beispielhaft für mögliche interessante Verbindungen genannten sämtlich einen CAR-Wert von 3 oder 4 (sowie ein günstiges CARCAT -Verhältnis) aufweisen. Für die nicht-halogenierte (im Übrigen aber mit einem Ehthylrest am Thiophen der fluorsubstituierten Verbindung 12 entsprechende ) Verbindung 6 ist jedoch lediglich ein CAR-Wert von 2 [10] (bei CAT 1 [16]) angegeben, der CAR-Wert für die Verbindung 7 ist 0 [10]; sie ist daher auf den CAT-Wert nicht getestet worden.
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Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass der CAR-Wert ein relativ grobes Raster darstelle. Ein Wert von 2 bedeutet, wie Chakrabarti et al. in Fußnote d erläutern, eine Hemmung von 31 bis 50 % des erlernten Verhaltens zur Vermeidung eines unangenehmen Reizes, ein Wert von 3 entspricht einer Hemmung von 51 bis 75 %. Wenn daher, wie die Gutachter Dr. Ellenbroek (Anl. B 53, S. 8), Prof. Dr. Greksch (Anl. B 55, S. 3) und Prof. Dr. Hiemke (Anl. B 56, S. 2 f.) unwidersprochen ausgeführt haben, eine Hemmung von 70 bis 80 % für wichtig gehalten worden ist, lag ein CAR-Wert von 2 deutlich außerhalb desjenigen Bereichs, der dem nacharbeitenden Fachmann nach den gegebenen Informationen für weitergehende Forschungen interessant und erfolgversprechend erscheinen musste.
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An diesem Befund ändert es auch nichts, dass Chakrabarti et al. die kurze Alkylsubstitution in Position 2 des Thiophenrings, die die Aktivität zu erhöhen "scheine", nicht ausdrücklich zu der Halogenierung des Aromaten in Beziehung setzen. Denn da von den 48 synthetisierten 4-Piperazinylthieno[2,3-b][1,5]benzodiazepinen in Tabelle 1 überhaupt nur zehn keinen Substituenten am Aromaten haben und bei acht von diesen zehn wiederum der Substituent in Position 2 des Thiophenrings Ethyl ist, wird, wie die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen bestätigt hat, aufgrund der durchweg schlechten Aktivität dieser Verbindungen und mangels Vergleichswerten zu nicht alkylsubstituierten Verbindungen ersichtlich, dass die Vermutung von der günstigen Wirkung der kurzen Alkylsubstitution in Position 2 des Thiophenrings auf die Testergebnisse der halogenierten Verbindungen gestützt ist (vgl. auch Gutachten Prof. Dr. Dannhardt, Anl. B 51, S. 5).
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So zutreffend daher der Hinweis der Klägerinnen und ihrer Streithelferinnen ist, dass die Untersuchung primär nicht auf die Auswirkung der Halogenierung des Benzolrings, sondern auf die Auswirkung eines elektronenreichen Rings wie des Thiophenrings auf das Aktivitätsprofil angelegt ist, so wenig kann außer Betracht bleiben, dass die Ergebnisse der Untersuchung die halogensubstituierten Verbindungen - in Übereinstimmung mit der Bedeutung, die im Prioritätszeitpunkt auch sonst elektronenziehenden Substituenten, wie sie Chlorpromazin , Haloperidol und auch Clozapin haben, häufig beigemessen worden ist (vgl. Kaiser/Setler in Burger's Medicinal Chemistry, 4. Aufl. [Anl. E 16], S. 912; gutachtliche Äußerung Dr. Ellenbroek [Anl. E 18], S. 5 mit Literaturzitaten; gutachtliche Äußerung Prof. Dr. Hippius [Anl. B 52], S. 3; gutachtliche Äußerung Prof. Nichols [Anl. E 12] Tz. 26 ff.; gutachtliche Äußerung Prof. Dr. Oßwald [Anl. K 25], S. 4) - als diejenigen ausweisen, die vornehmlich weitere Aufmerksamkeit verdienen.
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Zwar mag der Fachmann einen solchen Fokus nicht für zwingend halten. Sieht man von ihm ab, gibt es aber auch keinen zureichenden Grund, sich auf 4'-(N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen zu beschränken. Denn auch diese werden zwar als die aktivsten bezeichnet, Alternativen sind deswegen jedoch nicht von vornherein zu verwerfen. Dies wird schon dadurch deutlich, dass die Verbindung 34, bei der R = (CH2)2OH und R1 wiederum Wasserstoff ist und die einen CAR-Wert von 4 [20] bei einem CAT-Wert von 2 [20] aufweist, ebenfalls zu den von den Autoren im Resümee als ein Beispiel für die weiterer Entwicklung bedürftige Stoffgruppe bezeichnet wird.
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3. Auch unter Berücksichtigung der übrigen in das Verfahren eingeführten Entgegenhaltungen ist der Gegenstand des Streitpatents nicht nahegelegt. Was Hinweise anbelangt, die den Fachmann dazu veranlassen könnten, insbesondere der Gruppe der 4'-(N-Methylpiperazinyl)-Verbindungen weiter nachzugehen und diese Gruppe nach Kriterien einzugrenzen, die 2-Methyl-4-(4methyl -1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin einschließen, gehen die britische Patentschrift 1 533 235 (K 2) und die weiteren, auf die dieser Patentschrift zugrunde liegende Prioritätsanmeldung zurückgehenden Schriften (die deutsche Offenlegungsschrift 25 52 403 [Anl. RA 1], das deutsche Patent 25 52 403 [Anl. RA 2 = Anl. N 10] und das US-Patent 4 115 574 [Anl. K 10]) über Chakrabarti 1980 nicht hinaus. Auch der gerichtliche Sachverständige hat hierfür keinen Anhaltspunkt gesehen. Der europäischen Patentanmeldung 354 781 (Anl. K 30), die keine Thieno-, sondern Thiazolobenzodiazepine betrifft, und der US-Patentschrift 4 216 148 (Anl. K 34), bei deren Verbindungen der Thienoring nicht substituiert ist, ist dazu ebenfalls nichts Weiterführendes zu entnehmen.
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4. Die Patentansprüche 4 bis 19 werden von der Patentfähigkeit des Gegenstands der Patentansprüche 1 bis 3 getragen.
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IV. Auch im Umfang der Patentansprüche 20 bis 22 liegen die Voraussetzungen für eine Nichtigerklärung des Streitpatents nicht vor.
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1. Das Patentgericht hat hierzu ausgeführt: Die Herstellung von 2Methyl -4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin erschließe sich dem fachkundigen Leser unmittelbar aus dem in Anl. K 4 (Chakrabarti 1980) angegebenen Syntheseschema I in Verbindung mit Tabelle II sowie den Ausführungen in den Abschnitten "Chemistry" und "Experimental Section". Demnach sei auch eine Zwischenverbindung mit R1 = H in Position 7 des Phenylrings sowie mit R2 = CH3 in Position 2 des Thienylrings als 4-Ketobzw. in tautomerer Form als 4-Hydroxy-Zwischenverbindung in der Tabelle II mitzulesen. Dass anstelle der 4-Keto-Zwischenverbindungen ebenso deren 4Thio -Derivate herstellbar und als Zwischenverbindungen geeignet seien, lasse sich dem experimentellen Teil der K 4 direkt entnehmen. Entsprechendes gelte für ein über diese Zwischenverbindungen führendes Verfahren. In der Bedeutung Q = NH2 sei die 4-Amino-Zwischenverbindung gemäß Patentansprüchen 21 und 22 zwar aus der K 4 nicht expressis verbis zu entnehmen. Sie sei jedoch dem Fachmann als offensichtliche Vorstufe einer 4-Keto-Verbindung ohnehin geläufig. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass die Herstellbarkeit des 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepins mit den angegebenen Arbeitsweisen nicht ohne Weiteres gegeben sein sollte. Denn die nicht fluorierte Verbindung Nr. 60 aus Tabelle II weise in Position 2 des Thienylrings anstelle der Methylgruppe die strukturell nächstkommende homologe Ethylgruppe auf, so dass in Analogie dazu weder an der Verfügbarkeit der erforderlichen unsubstituierten bzw. anstelle von Ethyl durch Methyl substituierten Edukte noch an dem Gelingen der chemischen Synthese zu den entsprechenden Endprodukten gemäß dem in K 4 angegebenen Syntheseverfahren A auch nur der geringste Zweifel bestehe.
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2. Diese Ausführungen tragen aus den zu II 3 ausgeführten Gründen nicht die Annahme, das erfindungsgemäße Verfahren sei durch Chakrabarti 1980 vorweggenommen. Sie rechtfertigen aber auch nicht die Annahme, das Verfahren habe für den Fachmann nahegelegen. Ihm mag zwar die theoretische Möglichkeit zur Verfügung gestanden haben, mit den Angaben bei Chakrabarti zum Herstellungsverfahren und zu den dabei erhältlichen Zwischenprodukten auch 2-Methyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b] [1,5]benzodiazepin herzustellen. Nahegelegt war das Verfahren aber erst dann, wenn für den Fachmann auch Veranlassung zu der Herstellung von 2-Methyl-4 (4-methyl-1-piperazinyl)-10H-thieno[2,3-b][1,5]benzodiazepin bestand. Dies war, wie ausgeführt, im Prioritätszeitpunkt nicht der Fall.
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Für die Zwischenprodukte des Verfahrens gilt Entsprechendes.
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V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V.m. § 91 Abs. 1, § 100 Abs. 1, § 101 Abs. 2 ZPO (vgl. Sen.Urt. v. 16.10.2007 - X ZR 226/02, GRUR 2008, 60 Tz. 44 - Sammelhefter II).
Melullis Mühlens Meier-Beck
Asendorf Gröning
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 04.06.2007 - 3 Ni 21/04 (EU) -
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Zu dem danach Offenbarten gehört allerdings nicht nur dasjenige, was im Wortlaut der Veröffentlichung ausdrücklich erwähnt wird. Nicht anders als bei der Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs ist vielmehr der Sinngehalt der Veröffentlichung maßgeblich, also diejenige technische Information, die der fachkundige Leser der jeweiligen Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwis- sens entnimmt (BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rn. 26 - Olanzapin). Hierzu gehören auch Abwandlungen und Ergänzungen, die nach dem Gesamtzusammenhang der Schrift für den Fachmann derart naheliegen, dass sie sich ihm bei aufmerksamer, weniger auf die Worte als ihren erkennbaren Sinn achtenden Lektüre ohne Weiteres erschließen, so dass er sie gleichsam mitliest, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist (BGH, Beschluss vom 17. Januar 1995 - X ZB 15/93, BGHZ 128, 270, 276 f. = GRUR 1995, 330, 332 - Elektrische Steckverbindung). Die Berücksichtigung solcher Umstände zielt nicht auf eine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern auf die Erfassung der technischen Information, die der Fachmann durch eine Schrift erhält, in ihrer Gesamtheit. Abwandlungen und Weiterentwicklungen dieser Information gehören ebenso wenig zum Offenbarten wie diejenigen Schlussfolgerungen, die der Fachmann kraft seines Fachwissens aus der erhaltenen technischen Information ziehen mag (BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rn. 26 - Olanzapin).
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Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 1984 - VII ZR 123/83, NJW 1984, 2888 unter II 1 a; vom 21. Januar 1999 - VII ZR 398/97, NJW 1999, 1859 unter II 2 a mwN; Beschlüsse vom 1. Juni 2005 - XII ZR 275/02, NJW 2005, 2710 unter II 2 a; vom 21. Mai 2007 - II ZR 266/04, NJW-RR 2007, 1409 Rn. 8; Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2011 - VIII ZR 125/11, aaO Rn. 14). Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen (BGH, Urteile vom 12. Juli 1984 - VII ZR 123/83, aaO mwN; vom 13. Dezember 2002 - V ZR 359/01, NJW-RR 2003, 491 unter II 2 a; Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2011 - VIII ZR 125/11, aaO Rn. 14). Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 1984 - VII ZR 123/83, aaO unter II 1 b; vom 21. Januar 1999 - VII ZR 398/97, aaO unter II 2 b; Beschlüsse vom 21. Mai 2007 - II ZR 266/04, aaO; vom 12. Juni 2008 - V ZR 223/07, aaO Rn. 7).