Bundesgerichtshof Urteil, 17. Feb. 2012 - V ZR 254/10
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Beklagten legten gegen ein Urteil des Landgerichts, durch das sie verurteilt worden sind, 40.000 € an die Klägerin zu zahlen, fristgerecht Berufung ein. Die Berufungsbegründungsfrist wurde bis zum 13. Juli 2010 verlängert.
- 2
- Am Morgen des 14. Juli 2010 wurde die Berufungsbegründung in dem Nachtbriefkasten des Berufungsgerichts vorgefunden und erhielt, weil sie sich nach Darstellung des zuständigen Wachtmeisters hinter der um Mitternacht fallenden Klappe befand, den Eingangsstempel 14. Juli 2010.
- 3
- Der zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Beklagten behauptet hingegen, die Berufungsbegründung vor Mitternacht in den Nachtbriefkasten eingeworfen zu haben. Er habe sich in seiner - unstreitig etwa 5 Gehminuten von dem Oberlandesgericht gelegenen - Kanzlei noch um 23:15 Uhr mit seinem Kollegen darüber unterhalten, dass er die Berufungsbegründung nun ausdrucken und einreichen wolle. Der Ausdruck der Statistik der Anwaltssoftware zeige , dass die Endversion der Berufungsbegründung gegen 23:30 Uhr ausgedruckt worden sei. Sodann sei er zum Oberlandesgericht gegangen und habe den Schriftsatz eingeworfen. Kurz nach dem Einwurf habe die Uhr seines Mobiltelefons 23:52 oder 23:53 Uhr gezeigt. Er habe dann den Entschluss gefasst, seine Geldkarte aufzuladen, was ausweislich des Kontoausdrucks um 0:02 Uhr erfolgt sei. Die Wegstrecke vom Oberlandesgericht zur Bank könne nicht in zwei Minuten zurückgelegt werden.
- 4
- Das Oberlandesgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Bevollmächtigten der Beklagten und des für die Leerung des Nachtbriefkastens zuständigen Wachtmeisters. Ferner hat der Berichterstatter die Funktionsfähigkeit der Klappe überprüft, indem er die Uhr auf 23:57 Uhr vorstellen ließ und beobachtete, dass die Klappe um 0:00 Uhr fiel. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Urteil als unzulässig verworfen. Mit der von dem Senat zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
- 5
- Das Berufungsgericht meint, es habe sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugen können, dass die Berufungsbegründung noch am 13. Juli 2010 in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden sei. Zwar habe der Bevollmächtigte der Beklagten seine Darstellung der Geschehnisse in der Zeugenvernehmung bestätigt, ohne dass sich Widersprüche zu seiner eidesstattlichen Versicherung ergeben hätten. Auch im Übrigen habe der Senat konkrete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht feststellen können. Das Ausdrucksdatum der Berufungsbegründung sei ebenso belegt wie eine Aufbuchung auf die Geldkarte des Bevollmächtigten um 0:02 Uhr. Dessen Kollege habe zudem das Gespräch mit ihm gegen 23:15 Uhr bestätigt. Auf der anderen Seite sei kein ernstlich in Betracht zu ziehender Geschehensablauf denkbar, der dazu hätte führen können, dass ein am 13. Juli 2010 in den Nachtbriefkasten eingeworfener Schriftsatz in das Fach für Einwürfe nach 24:00 Uhr hätte geraten können. Der Wachtmeister habe sich an den Schriftsatz genau erinnert, was nachvollziehbar sei, weil sich nur selten Schriftsätze in dem Fach für nach 24:00 Uhr eingeworfene Post befänden. Auch habe der Senat persönlich Kenntnis von der Zuverlässigkeit des Wachtmeisters. Die Möglichkeit eines menschlichen Fehlers bzw. einer Verwechselung sei daher mit absoluter Sicherheit auszuschließen. Ferner stehe die Funktionsfähigkeit des Nachtbriefkastens außer Frage. Bei der versuchsweisen Überprüfung habe sich gezeigt, dass der Hebel genau um 0:00 Uhr auslöste und die Klappe betätigte. Es sei damit ausgeschlossen, dass die Klappe am 13. Juli 2010 zu einem früheren Zeitpunkt ausgelöst habe. Eine auffällige Häufung von Streitigkeiten um Fristenwahrung im Zusammenhang mit dem Nachtbriefkasten gebe es nicht. Die Berufungsbegründung sei auch nicht so dick gewesen, dass sie steckengeblie- ben sein könne. Das Fehlen eines ernstlich in Betracht zu ziehenden Geschehensablaufs , der den Widerspruch zur Aussage des Bevollmächtigten der Beklagten erklären könne, führe zu nicht überwindbaren Zweifeln des Senats, die zu Lasten der Beklagtenseite gingen; dies sei das Ergebnis der bestehenden Beweislast. Dem hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag sei nicht stattzugeben , denn es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sowohl die Sekretariatsuhr, das Mobiltelefon des Anwalts als auch das System der Bank eine falsche Uhrzeit angezeigt hätten.
II.
- 6
- Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand; die Revision ist begründet. Da die Klägerin im Verhandlungstermin nicht vertreten war, ist das durch Versäumnisurteil auszusprechen, welches jedoch inhaltlich auf einer Sachprüfung beruht (vgl. Senat, Urteil vom 4. April 1962 - V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81).
- 7
- 1. Wie das Berufungsgericht nicht verkennt, wird die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung im Regelfall durch den Eingangsstempel des Gerichts auf dem entsprechenden Schriftsatz nachgewiesen (§ 418 Abs. 1 ZPO). Der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis ist zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO); notwendig ist die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes. Wegen der Beweisnot des Berufungsführers hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge dürfen die Anforderungen an den Gegenbeweis allerdings nicht überspannt werden. Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (BGH, Beschluss vom 3. Juli 2008 - IX ZB 169/07, NJW 2008, 3501 Rn. 11; Beschluss vom 15. September 2005 - III ZB 81/04, NJW 2005, 3501 jeweils mwN). Dieser Verpflichtung ist das Berufungsgericht durch die Vernehmung des für die Leerung des Nachbriefkastens zuständigen Wachtmeisters sowie dadurch nachgekommen , dass es sich über die Funktionsweise des Nachtbriefkastens informiert und einen Probelauf durchgeführt hat.
- 8
- 2. Unzutreffend ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, das Fehlen einer plausiblen Erklärung, wie der Eingangsstempel vom 14. Juli 2010 auf die Berufungsbegründung gelangt sei, gehe infolge bestehender Beweislast zu Lasten der Beklagten. Dies verkennt, welchen Beweis die Beklagten zu erbringen haben.
- 9
- a) Der Eingangsstempel beweist, dass das Schriftstück zu einem bestimmten Zeitpunkt bei Gericht eingegangen ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2000 - IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872, 1873). Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zu führende Gegenbeweis geht folglich dahin, dass das Schriftstück zu einem anderen Zeitpunkt in den Herrschaftsbereich des Gerichts gelangt ist. Diesen Beweis haben die Beklagten erbracht, wenn die Darstellung ihres Bevollmächtigten , er habe die Berufungsbegründung um 23:52 oder 23:53 Uhr in den Nachbriefkasten eingelegt, wie von dem Berufungsgericht angenommen, in den Details plausibel und widerspruchsfrei ist und konkrete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bevollmächtigten nicht bestehen.
- 10
- b) Nicht beweisen müssen die Beklagten hingegen, wie es trotz rechtzeitigen Einwurfs der Berufungsbegründung dazu gekommen ist, dass diese den Eingangsstempel des Folgetages trägt. Dass eine ernstlich in Betracht zu ziehende Erklärung hierfür fehlt, führt deshalb nicht dazu, dass der von ihnen zu erbringende Beweis misslungen ist. Bedeutung gewinnt dieser Aspekt nur im Rahmen der Beweiswürdigung. Erscheint ein Fehler im Verantwortungsbereich des Gerichts als unwahrscheinlich, kann dies im Einzelfall die Glaubhaftigkeit einer Aussage des Inhalts in Zweifel ziehen, ein Schriftsatz sei rechtzeitig in den Gerichtsbriefkasten eingelegt worden, und damit zur Folge haben, dass sich das Gericht nicht die erforderliche Überzeugung von deren Richtigkeit verschaffen kann. Auf Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage des Bevollmächtigten der Beklagten oder an dessen Glaubwürdigkeit ist das Berufungsurteil jedoch nicht gestützt worden.
III.
- 11
- Das angefochtene Urteil kann somit keinen Bestand haben; es ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Bei der erforderlichen erneuten Würdigung, ob die Beklagten den Gegenbeweis im Sinne des § 418 Abs. 2 ZPO erbracht haben, wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass ein Fehler im Verantwortungsbereich des Gerichts nicht mit Sicherheit auszuschließen ist.
- 12
- Die von dem Berichterstatter im Oktober 2010 vorgenommene Prüfung des Nachtbriefkastens, bei der die Klappe um 0:00 Uhr auslöste, stellt nur ein Indiz für die Funktionsfähigkeit der Einrichtung zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt dar, lässt aber nicht den sicheren Schluss darauf zu, dass die Klappe am 13. Juli 2010 nicht vor Mitternacht ausgelöst worden ist. In welchem Zustand sich der Nachtbriefkasten zu dieser Zeit befand, ist heute nicht mehr feststellbar. Ohnehin kann die Möglichkeit, dass ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht richtig funktionierte, in aller Regel nicht völlig ausgeschlossen werden (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2000 - IX ZR 251/99, NJW 2000, 1872, 1873; Beschluss vom 8. Mai 2007 - VI ZB 80/06, NJW 2007, 3069 Rn. 12). Das gilt hier auch deshalb, weil der für das Auslösen der Klappe verantwortliche Zeitmesser nach der Armbanduhr des Wachtmeisters gestellt und normalerweise nur in unregelmäßigen Monatsabständen überprüft wird.
- 13
- Zu beachten ist ferner, dass die Annahme, ein Fehler des Wachtmeisters bei der Überprüfung und Leerung des Nachtbriefkastens und bei dem Aufbringen des Eingangsstempels sei mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen, allgemeinen Erfahrungssätzen widerspräche und damit rechtsfehlerhaft wäre. Auch wenn ein Zeuge dem Gericht als überaus zuverlässig bekannt und seine Aussage in jeder Hinsicht glaubhaft ist, lässt sich niemals völlig ausschließen, dass sich ein aus der Erinnerung wiedergegebener Vorgang anders als geschildert zugetragen hat. Diese Möglichkeit darf das Berufungsgericht deshalb bei der Würdigung, ob die Glaubhaftigkeit der Aussage des Bevollmächtigten der Beklagten oder dessen Glaubwürdigkeit durch die Aussage des Wachtmeisters in Zweifel gezogen wird, nicht außer Betracht lassen. Krüger Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann Czub
LG Freiburg, Entscheidung vom 09.04.2010 - 14 O 410/08 -
OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 10.11.2010 - 13 U 95/10 -
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(1) Öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, begründen vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.
(2) Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen ist zulässig, sofern nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken.
(3) Beruht das Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist.
(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen.
(2) Das Berufungsgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(3) Das Revisionsgericht hat jedoch in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist.
(4) Kommt im Fall des Absatzes 3 für die in der Sache selbst zu erlassende Entscheidung die Anwendbarkeit von Gesetzen, auf deren Verletzung die Revision nach § 545 nicht gestützt werden kann, in Frage, so kann die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
(1) Öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, begründen vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen.
(2) Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen ist zulässig, sofern nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken.
(3) Beruht das Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist.