Bundesgerichtshof Urteil, 05. Juli 2000 - 5 StR 629/99
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Nebenklägers hat mit der Sachrüge Erfolg; der Schuldspruch ist dahin zu ändern, daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist. Die Schuldspruchänderung läßt den Strafausspruch unberührt. Die Revision des Angeklagten, der eine offensichtlich unbegründete Verfahrensrüge und die Sachrüge erhebt, hat keinen Erfolg.
Am 18. Juni 1962 erschoß der Angeklagte den Bruder des Nebenklägers , der in Berlin (Ost) als Grenzposten an der Berliner Mauer eingesetzt war. Der unmittelbar vor dem Mauerbau aus Berlin (Ost) ohne seine Familie geflüchtete Angeklagte hatte von Berlin (West) aus einen Tunnel zu einem unmittelbar hinter der Mauer gelegenen Haus gegraben, um auf diesem Weg Familienangehörige, insbesondere seine Ehefrau und seine beiden Söhne, in den Westteil der Stadt zu schleusen. Am Tattag begab sich der Angeklagte durch den fertiggestellten Tunnel in den Ostteil Berlins. Als sich die Fluchtwilligen unter seiner Führung anschickten, das Haus, zu dem der Tunnel führte, zu betreten, forderte der in dem Grenzabschnitt eingesetzte bewaffnete Grenzposten sie auf, stehenzubleiben und sich auszuweisen. Er bestand auf die Kontrolle, obgleich der Angeklagte ihn mit dem Vorwand , sie wollten einen Geburtstagsbesuch machen, davon abzuhalten suchte. Da der Angeklagte ein Scheitern der Flucht und eine Festnahme der Beteiligten verhindern wollte, erschoß er in dieser Situation den ahnungslosen Grenzposten mit einer einsatzbereit mitgeführten Schußwaffe. Anschließend gelang ihm und seinen Begleitern die Flucht durch den Tunnel.
1. Auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Tathergang hat das Schwurgericht mit im Ergebnis zutreffenden Erwägungen eine Rechtfertigung oder Entschuldigung des Angeklagten verneint. Für jene Beurteilung ist insbesondere die überragende Bedeutung des Rechtsgutes des menschlichen Lebens (vgl. dazu in anderem Zusammenhang BGHSt 39, 1, 20 ff.) von maßgeblicher Bedeutung.
a) Die Tötung des Grenzpostens war nicht durch Notwehr geboten (§ 32 Abs. 1 StGB). Bei seinem konkreten Einsatz handelte der getötete Grenzposten gemäß einer für ihn verbindlichen Befehlslage. Diese beruhte auf der Grenzregelung der DDR, die – ungeachtet ihrer Menschenrechtswidrigkeit – nicht insgesamt als ungültig anzusehen ist (vgl. nur die Rechtsprechungsnachweise bei Willnow JR 1997, 221, 223; 265, 267, 271). Der Grenzposten hatte zudem nicht etwa bereits zur Anwendung seiner Schußwaffe gegen die Fluchtwilligen angesetzt.
b) Auch die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes (§ 35 Abs. 1 Satz 1 StGB) liegen nicht vor. Freilich bestand in der Tatsituation gegenwärtige Gefahr für die Freiheit des Angeklagten und für die seiner Familie. Es war ihm aber trotz der schwer erträglichen Trennungssituation für seine Familie und vor dem Hintergrund menschenrechtswidriger Versagung von Ausreisefreiheit gleichwohl zuzumuten, die Gefahr im Blick auf die Bedeutung des Lebensrechts des betroffenen Grenzpostens insoweit hinzunehmen , als er sie nicht durch dessen vorsätzliche Tötung abwenden durfte (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB). Von einer solchen Tötung mußte er Abstand nehmen, nachdem er sich mit schußbereiter Waffe in Kenntnis aller Risiken in die vorhergesehene Konfliktsituation mit einem bewaffneten Grenzposten begeben hatte.
2. Mit Recht hat das Schwurgericht in der konkreten Tatsituation der von dem Grenzposten allein vorgenommenen Kontrolle die objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke bejaht (vgl. nur BGHSt 39, 353, 368; 41, 72, 78 f.; Jähnke in LK 10. Aufl. § 211 Rdn. 44). Angesichts der Feststellungen zur Vorbereitung und Durchführung der komplizierten Fluchtaktion fehlt es allerdings für die Annahme des Schwurgerichts, der uneingeschränkt einsichts- und steuerungsfähige Angeklagte habe in der Tatsituation aufgrund affektiver Anspannung die das Mordmerkmal bestimmenden Merkmale nicht erfaßt, an einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dies gilt insbesondere im Blick auf die festgestellte verharmlosende Ä ußerung des Angeklagten gegenüber seinem Opfer vor Abgabe der tödlichen Schüsse. Weitere Mordmerkmale liegen offensichtlich nicht vor (vgl. zur Ermöglichungs - oder Verdeckungsabsicht nur Jähnke aaO § 211 Rdn. 10, 20).
Der Senat kann den Schuldspruch von sich aus ändern. Danach stellt sich die Verjährungsfrage nicht (§ 78 Abs. 2 StGB; vgl. dazu Albrecht GA 2000, 123).
3. Der Strafausspruch bleibt von der Schuldspruchverschärfung unberührt. Dem Angeklagten ist neben der Strafrahmenverschiebung nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB eine weitere Strafrahmenverschiebung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz, § 49 Abs. 1 StGB zuzubilligen; denn er hat zur Abwendung einer ihm und seiner Familie drohenden Gefährdung der Freiheit, mithin in einer – freilich wegen hinzunehmender Gefahr nicht entschuldigenden – Notstandslage gehandelt. Danach ist die Mindeststrafe nicht wesentlich höher als vom Tatrichter angenommen. Angesichts der außergewöhnlichen Umstände dieses nach seinem konkreten Unrechtsgehalt gänzlich untypischen Heimtückemordes (vgl. BGHSt 30, 105) – namentlich bedingt durch die tragische Tatsituation, zudem im Blick auf einen Zeitablauf von fast 40 Jahren seit Tatbegehung (vgl. auch BGHSt 41, 72, 93 f.) – mußte sich die Strafzumessung hier an der Mindeststrafe orientieren. Aus den genannten Gründen ist die vom Schwurgericht verhängte Bewährungsstrafe auch unter Berücksichtigung des erschwerten Schuldspruchs im Ergebnis nicht zu beanstanden (vgl. auch Willnow aaO S. 227 m.N.).
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(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.
(2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
(1) Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. § 76a Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.
(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist
- 1.
dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, - 2.
zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind, - 3.
zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind, - 4.
fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, - 5.
drei Jahre bei den übrigen Taten.
(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:
- 1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. - 2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze. - 3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.