Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 StR 570/15
vom
8. Juni 2016
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen des Vorwurfs des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen
Person u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:080616U5STR570.15.0

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. Juni 2016, an der teilgenommen haben:
Richter Prof. Dr. Sander als Vorsitzender, Richter Dölp, Richter Prof. Dr. König, Richter Dr. Berger, Richter Bellay als beisitzende Richter, Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt B. als Verteidiger des Angeklagten E. , Rechtsanwalt Sc. als Verteidiger des Angeklagten G. , Rechtsanwältin L. als Vertreterin der Nebenklägerin, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 31. Juli 2015 aufgehoben, soweit die Angeklagten im Fall 6 der Anklage vom 2. Februar 2015, der Angeklagte G. darüber hinaus im Fall 8 der Anklage vom 2. Februar 2015, freigesprochen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision hinsichtlich des Angeklagten E. wird verworfen.

- Von Rechts wegen -

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen vorsätzlichen
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Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zehn Fällen unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Von dem Vorwurf verschiedener Sexualstraftaten sowie weiterer Delikte zum Nachteil der Nebenklägerin hat es ihn und den Angeklagten G. freigesprochen. Gegen die Freisprechungen wendet sich die Nebenklägerin mit ihren auf die Rüge der Ver- letzung materiellen Rechts gestützten Revisionen, soweit nebenklagefähige Straftaten betroffen sind. Die Rechtsmittel haben entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet.
1. Den Angeklagten wird in Punkt 6 der Anklage vom 2. Februar 2015
2
vorgeworfen, in der Wohnung des Angeklagten E. an der ihnen schutzlos ausgelieferten, stark bewusstseinsgetrübten Nebenklägerin gewaltsam eine Reihe sexueller Handlungen vorgenommen zu haben, wobei einer von ihnen Teile einer Hand oder seinen Penis in deren Scheide eingeführt habe. Der sich wehrenden Nebenklägerin habe der Angeklagte G. einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzt, so dass sie zu Boden gegangen sei und sich schmerzhafte Hämatome an den Knien zugezogen habe. Dem Angeklagten G. liegt nach Punkt 8 der Anklage vom 2. Februar 2015 darüber hinaus zur Last, die Nebenklägerin während einer Autofahrt gewaltsam zum Oralverkehr gezwungen oder die widerstandsunfähige Nebenklägerin in dieser Weise schwer sexuell missbraucht zu haben.
2. Das Landgericht hat zu diesen Vorwürfen im Wesentlichen Folgendes
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festgestellt (Fall III.7 und III.8 der Urteilsgründe):
a) Am Abend des 27. Januar 2013 teilte der Angeklagte E. der
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Nebenklägerin per SMS mit, dass sie Amphetamin erhalte, wenn sie sich – wie schon am frühen Morgen desselben Tages – eine Bierflasche in die Scheide einführe. Die Angeklagten sowie der Zeuge R. holten die Nebenklägerin ab und fuhren mit ihr in die Wohnung des Angeklagten E. . Die Nebenklägerin verlangte das Amphetamin. Der Angeklagte E. forderte sie auf zu duschen, weil sie „stinke“. Nach Rückkunft aus der Dusche wollte die Nebenklägerin erneut das versprochene Rauschgift haben. Der Zeuge R.
bestand darauf, dass sie zuvor „das mit der Flasche“ zeige. Der Angeklagte G. gab ihr Alkohol und kniff ihr in die Brüste. Sie trank und führte sich danach eine Bierflasche in die Scheide ein. Das Amphetamin erhielt sie nicht, weswegen ein Gerangel entstand, in dessen Verlauf der Angeklagte G. ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.

b) Die Angeklagten und der Zeuge R. fuhren die Nebenklägerin nach
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Hause. Der Angeklagte G. und die Nebenklägerin saßen auf der Rückbank des Autos. Die Nebenklägerin führte am Angeklagten G. fünf bis zehn Minuten lang den Oralverkehr durch. Dann biss sie in dessen Geschlechtsteil und ließ zunächst nicht los. Der Schmerzen verspürende Angeklagte G. dachte daran, die Nebenklägerin von sich wegzuschieben, verwarf dies aber, weil er fürchtete, das an seinem Penis befindliche Piercing könne sonst in ihrem Mund verbleiben. Um den schmerzhaften Biss abzuwehren, versetzte er ihr zwei Faustschläge ins Gesicht.

c) Die Angeklagten und der Zeuge R. setzten die Nebenklägerin in
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den frühen Morgenstunden des 28. Januar 2013 an der Wohnung ihres Bruders ab. Gegen 8:30 Uhr wurde sie im Bereich des Domplatzes hilflos, unterkühlt sowie mit stark eingetrübtem Bewusstsein gefunden und in ein Klinikum gebracht. Zur behandelnden Ärztin sagte sie, sie sei am Vortag ab 20:00 Uhr bei einem Bekannten gewesen, wo sie Alkohol getrunken habe. Erst seit 11:30 Uhr des 28. Januar 2013 setze ihre Erinnerung wieder ein. Auf die Ärztin wirkte sie verstört und unter dem Einfluss von Drogen stehend. Sie klagte über Unterbauchschmerzen , Schmerzen im Vaginalbereich sowie an den Knien und konnte nicht sagen, was passiert war. Bei ihrer körperlichen Untersuchung wurden eine Rötung mit leichter Schürfung am Eingang der Scheide, ein Hämatom am rechten Oberlid, eine Schwellung sowie eine Rötung an der linken Wange und Hämatome an der linken Oberlippe, an der Brust sowie an den Oberarmen, Rötungen am linken Oberschenkel und an beiden Knien festgestellt. In ihrem Slip fanden sich spermaverdächtige Anhaftungen, die DNA-Merkmale des Angeklagten E. aufwiesen.
3. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass
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die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Straftaten begangen haben. Die Aussage der Nebenklägerin sei so inkonstant und inkonsistent gewesen, dass ein Handlungsablauf im Sinne der Anklage nicht habe festgestellt werden können. Der Zeuge R. , auf dessen Bekundungen die Anklage gestützt sei, habe in der Hauptverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht. Die Strafkammer hat den Feststellungen von ihr als „glaubhaft“ bewertete schriftliche Erklärungen der Angeklagten zugrunde gelegt, die von den Verteidigern in der Hauptverhandlung verlesen worden sind. Die Faustschläge des Angeklagten G. im Auto hat sie auf dieser Basis in Verbindung mit einer ergänzenden Äußerung dieses Angeklagten als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen.
4. Die Freisprechungen der Angeklagten halten in den bezeichneten Fäl8 len revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung ist insoweit lückenhaft und begegnet daher auch eingedenk des hierbei beschränkten Prüfungsmaßstabs (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18. August 2015 – 5 StR 78/15, NStZ-RR 2015, 349, 350 mwN) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie leidet insgesamt daran, dass die Aussagen der Nebenklägerin bei ihren drei polizeilichen Vernehmungen nicht in einer Weise mitgeteilt werden, die dem Senat eine Nachprüfung auf Rechtsfehler ermöglichen würde. Im Übrigen ist Folgendes zu bemerken:
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a) Zu den Vorgängen in der Wohnung des Angeklagten E. weist der Generalbundesanwalt richtig darauf hin, dass sich die Strafkammer weder mit den bei der Nebenklägerin festgestellten Verletzungen noch mit den in ihrem Slip gefundenen Spermaspuren hinreichend auseinandergesetzt hat. Die vorformulierten und ersichtlich aufeinander abgestimmten Erklärungen der Angeklagten, die das Landgericht trotz ihres allenfalls geringen Beweiswerts (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 296/14, NJW 2015, 360, 361, insoweit in BGHSt 60, 50 nicht abgedruckt; vom 30. Oktober 2007 – 3 StR 410/07, NStZ 2008, 476, 477; LR-StPO/Becker, 26. Aufl., § 243 Rn. 77 mwN) rechtsfehlerhaft als „glaubhaft“ zugrunde legt, ohne diese auch nur an- satzweise kritisch zu hinterfragen (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 2009 – 5 StR 65/09; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 73), bieten für die Befunde keine genügende Erklärung. Darüber hinaus hat der Angeklagte G. die Nebenklägerin nach den Feststellungen grundlos in die Brust gekniffen (UA S. 15), was wohl ein Hämatom zur Folge hatte (UA S. 18). Eine Würdigung zumindest unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen Körperverletzung nimmt das angefochtene Urteil nicht vor.

b) Die vorstehenden Erwägungen gelten für den Vorwurf eines während
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der Autofahrt durch den Angeklagten G. erzwungenen bzw. mit der widerstandsunfähigen Nebenklägerin vollführten Oralverkehrs im Fall III.8 der Urteilsgründe entsprechend. Speziell zur Frage der Rechtfertigung der durch diesen Angeklagten verübten Faustschläge hat der Generalbundesanwalt ausgeführt : „Insofern ist nicht verständlich, wieso es dem Angeklagten nicht möglich war, die Nebenklägerin von seinem Geschlechtsteil wegzuschieben. Die Faustschläge waren eher geeignet, die Verletzungsgefahr für ihn zu erhöhen. Er musste dadurch zwangsläufig mit ruckartigen, unkontrollierten Bewegungen der Nebenklägerin rechnen, die er angeblich im Hinblick auf sein Intimpiercing so fürchtete.“ Mit diesem Aspekt hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müs11 sen. Die Einlassung des Angeklagten hätte dabei umso mehr besonders sorgfältiger Würdigung bedurft, als sich die darin geltend gemachte Notwehrlage in dessen zunächst abgegebener schriftlicher Erklärung nicht widergespiegelt hatte. Ausweislich der Urteilsgründe erfolgte sie erst nach einem rechtlichen Hinweis auf ein in Betracht kommendes Körperverletzungsdelikt (UA S. 28). Sofern das neue Tatgericht abermals zur Annahme einer Notwehrlage gelangen sollte, wird es sich angesichts des Vorverhaltens des Angeklagten G. und des Zustandes der Nebenklägerin im Zeitpunkt der Tat mit dem Gebotensein und der Erforderlichkeit zweier wuchtiger Faustschläge zur Abwehr des „Angriffs“ sorg- fältiger auseinanderzusetzen haben, als dies im angefochtenen Urteil geschehen ist.

c) Ein Erörterungsmangel ist auch darin zu sehen, dass das Landgericht
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auf die Anklage stützende Angaben des Zeugen R. hinweist (UA S. 38), ohne sie inhaltlich wiederzugeben und sich damit auseinanderzusetzen.
5. Der Senat schließt nicht aus, dass das Landgericht in den genannten
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Fällen bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu anderen Ergebnissen gelangt wäre und dass noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung der Angeklagten ermöglichen. Die Sache bedarf deshalb insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Hinsichtlich einer Verwertbarkeit der Aussage des Zeugen R. wird auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 17. Dezember 2015 (dort S. 4) hingewiesen.
6. Demgegenüber weist das Urteil zu Fall 4 der Anklage (sexueller Miss14 brauch oder Vergewaltigung der Nebenklägerin durch den Angeklagten E. am Morgen des 27. Januar 2013 im Auto) jedenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Vorteil dieses Angeklagten auf, weswegen die gegen seine Freisprechung in diesem Fall gerichtete Revision zu verwerfen war.
7. Der Gesamtstrafausspruch gegen den Angeklagten E. hat
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Bestand. Nur im Falle einer weiteren Verurteilung wird die festgesetzte Gesamtstrafe aufzulösen und unter Einbeziehung sämtlicher Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe festzusetzen sein.
Sander Dölp König
Berger Bellay

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Bundesgerichtshof Urteil, 08. Juni 2016 - 5 StR 570/15 zitiert 2 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 55 Auskunftsverweigerungsrecht


(1) Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

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Bundesgerichtshof Urteil, 08. Apr. 2009 - 5 StR 65/09

bei uns veröffentlicht am 08.04.2009

5 StR 65/09 BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL vom 8. April 2009 in der Strafsache gegen wegen Totschlags Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. April 2009, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter Bas

Bundesgerichtshof Urteil, 18. Aug. 2015 - 5 StR 78/15

bei uns veröffentlicht am 18.08.2015

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 5 StR78/15 vom 18. August 2015 in der Strafsache gegen wegen Totschlags u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. August 2015, an der teilgenommen haben: Richter Prof. D

Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Okt. 2014 - 5 StR 296/14

bei uns veröffentlicht am 21.10.2014

Nachschlagewerk: ja BGHSt : ja Veröffentlichung : ja StPO § 136a Ermüdung im Sinne von § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO bei seelischer und körperlicher Erschöpfung. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 296/14 LG Berlin – BESCHLUSS 5 StR
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Urteil, 08. Juni 2016 - 5 StR 570/15.

Bundesgerichtshof Urteil, 10. Okt. 2017 - 1 StR 447/14

bei uns veröffentlicht am 10.10.2017

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 447/14 vom 10. Oktober 2017 BGHSt: ja BGHR: ja Nachschlagewerk: ja Veröffentlichung: ja ________________________ AO § 370 Abs. 1; UStG § 3a Abs. 4 Nr. 1; GG Art. 103 Abs. 2; EU-Gr

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(1) Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

(2) Der Zeuge ist über sein Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 StR78/15
vom
18. August 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. August
2015, an der teilgenommen haben:
Richter Prof. Dr. Sander
als Vorsitzender,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Dölp,
Richter Dr. Berger,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt M.
als Verteidiger,
Rechtsanwalt A.
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 11. September 2014 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen von den Vorwürfen des Totschlags sowie des Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe freigesprochen und ihm Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugesprochen. Gegen den Freispruch richten sich die Revision der Staatsanwaltschaft – welche der Generalbundesanwalt vertritt – und diejenige der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg.

I.


2
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
3
Am Abend des 14. Januar 2014 gegen 20:35 Uhr wurde das Tatopfer, der türkisch-stämmige K. , von einem nicht identifizierten türkisch sprechenden Mann in seiner Wohnung aufgesucht. Noch im Eingangsbereich (Windfang) der von einem Laubengang abgehenden Wohnung kam es zu einem lautstarken Streitgespräch. Im Laufe der Auseinandersetzung schoss der Unbekannte mit einer halbautomatischen Selbstladepistole aus kurzer Entfernung in K. s Oberschenkel. Hierdurch fiel K. , der sich mit einem Griff nach der Waffe vergeblich bemühte, deren Lauf von sich abzulenken, zu Boden. Daraufhin schoss der Täter ihm noch zweimal in den Rumpf. Anschließend holte er aus der Küche ein Messer mit 17 cm Klingenlänge und fügte damit dem zur Gegenwehr nicht mehr fähigen Tatopfer insgesamt sieben Stichverletzungen am Hals zu, bevor er den Tatort unter Mitnahme der Schusswaffe verließ. K. verstarb wenig später infolge der Schuss- und Stichverletzungen.
4
Bei dem Tatopfer handelte es sich um den allein und zurückgezogen lebenden 55-jährigen Betreiber eines Cafés. Ihn hatte der Angeklagte, der ebenfalls türkischer Abstammung ist, Ende der 90er Jahre auf der Suche nach einer Arbeitsstelle kennengelernt. In der Folgezeit arbeiteten sowohl der Angeklagte als auch dessen Ehefrau für K. in dessen Geschäftsbetrieb. Während der Angeklagte 2010 seine Tätigkeit für K. aufgrund einer schweren Erkrankung und einer hierdurch eingetretenen Behinderung beenden musste und Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, war seine Ehefrau weiterhin bei K. angestellt und an dem zuletzt von ihm betriebenen Café auch finanziell beteiligt. Im Laufe der Jahre hatte sich ein enges und vertrauensvolles Verhältnis zwi- schen ihr und dem deutlich älteren K. entwickelt, der auch eine Zeitlang ihre Mutter und Schwester bei sich hatte wohnen lassen. K. hatte auf seinem Computer zahlreiche Bilder von der Ehefrau des Angeklagten und insbesondere von ihrer am 19. Dezember 2005 ehelich geborenen Tochter gespeichert. Am Tag nach deren achten Geburtstag schrieb er am 20. Dezember 2013 an eine nicht identifizierte Adressatin eine Kurznachricht, in der er „unserem Baby“ in seinem „neuen“ Alter „gute, schöne und gesunde Tage“ wünschte. Im Januar 2009 hatte er der Tochter mit einem in der Türkei vor einem Notar errichteten Testament sein gesamtes, auch mehrere Immobilien von erheblichem Wert umfassendes Vermögen „vermacht“. Ob der Angeklagte und seine Ehefrau davon vor dem Tod K. s Kenntnis hatten, konnte nicht festgestellt werden. Ebenfalls ungeklärt blieb, ob die Ehefrau des Angeklagten eine intime Beziehung zu K. hatte und dieser der leibliche Vater ihrer Tochter war oder ob der Angeklagte eine etwaige Liebesbeziehung zwischen seiner Ehefrau und K. auch nur vermutete. Die Ehefrau des Angeklagten hatte K. noch am Morgen des Tattages in dessen Wohnung besucht. Zu Anlass und Dauer dieses Besuchs konnten keine Feststellungen getroffen werden.
5
Am Leichnam des Tatopfers fanden sich am Handrücken und an zwei Fingern der rechten Hand DNA-Spuren, die mit dem DNA-Profil des Angeklagten übereinstimmten. Weiter wurden an diversen Kleidungsstücken des Angeklagten und am Schalthebel seines Kraftfahrzeugs Schmauchspuren nachgewiesen. Die Anhaftungen an diesen am 30. Januar 2014 sichergestellten Gegenständen entsprachen in ihrer Zusammensetzung den Schussrückständen, die bei einer Schussabgabe mit Patronen der beiden bei der Tat verwendeten Arten von Patronenmunition des Kalibers 9 mm Luger freigesetzt werden. Eine vom Angeklagten bei einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren aufgestellte Alibibehauptung, sich zur Tatzeit für 20 bis 30 Minuten in einem Geschäft nahe seiner Wohnung aufgehalten zu haben, fand keine Bestätigung; sein Aufenthaltsort zur Tatzeit blieb ungeklärt.
6
2. Das Landgericht hat sich von der Täterschaft des Angeklagten, der sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen hat, nicht überzeugen können. Hinsichtlich der DNA-Spuren des Angeklagten hat das Landgericht im Anschluss an das Gutachten eines Sachverständigen keine Aussage darüber zu treffen vermocht, ob sie im Wege einer Primär- oder einer Sekundärübertragung an den Leichnam gelangt seien. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen , dass sich die Ehefrau des Angeklagten am Morgen des Tattages in der Wohnung des späteren Tatopfers aufgehalten habe. Zwar sei bei DNAAnhaftungen an Händen eher an eine Übertragung nach dem letzten Händewaschen zu denken, eine letztlich sichere Aussage über die mögliche zeitliche Dauer derartiger Anhaftungen könne aber nicht getroffen werden.
7
Auch die Schmauchspuren an den Kleidungsstücken und am Fahrzeug des Angeklagten seien nicht geeignet, eine Überzeugung von dessen Täterschaft zu begründen. Gegen die Annahme, dass die Schmauchspuren beim Tatgeschehen auf die Kleidungsstücke gelangt seien, spräche, dass bei keinem Kleidungsstück Anhaftungen festgestellt wurden, die den Schussrückständen der beiden bei der Tat verwendeten Munitionsarten entsprächen. Dies sei aber wegen der sich bei Schüssen in einem geschlossenen Raum regelmäßig bildenden Schmauchwolke, die zwangsläufig zu Kontaminationen der Umgebung führe, im Falle einer Täterschaft des Angeklagten zu erwarten gewesen. Bei den Schmauchspuren an dem beim Autofahren ständig beanspruchten Schalthebel des Fahrzeugs sei die Annahme, sie würden von dem mehr als zwei Wochen zurückliegenden Tatgeschehen herrühren, nicht begründet. Angesichts des Zeitraums, der zwischen der Tatbegehung und dem Nachweis von Schmauchspuren an den Kleidungsstücken und dem Fahrzeug des Angeklagten liege, und wegen der grundsätzlich möglichen Übertragung von Schmauchanhaftungen sei die Annahme, dass die Anhaftungen auf ein anderes Ereignis zurückzuführen seien, jedenfalls nicht fernliegend.

II.


8
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben Erfolg, da die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) sachlichrechtlicher Prüfung nicht standhält.
9
a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts ; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Insbesondere ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 3. Juni 2015 – 5 StR 55/15 mwN).
10
b) Nach diesen Maßstäben hält die durch die Schwurgerichtskammer vorgenommene Beweiswürdigung rechtlicher Prüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.

11
aa) In der Beweiswürdigung muss sich das Tatgericht mit allen festgestellten Indizien auseinandersetzen, die das Beweisergebnis zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind. Dabei muss sich aus den Urteilsgründen ergeben, dass es die Beweisergebnisse nicht nur für sich genommen gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen hat. Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
12
Das Landgericht hat sich insbesondere mit den gewichtigen objektiven Indizien der am Leichnam des Opfers gesicherten DNA-Spuren des Angeklagten und der an dessen Kleidung und am Schalthebel seines Fahrzeugs festgestellten Schmauchspuren lediglich isoliert auseinandergesetzt und dabei jeweils die Wertung getroffen, dass hiermit eine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht zu begründen sei. Diese Vorgehensweise in Verbindung mit der eher formelhaften Erwähnung einer Gesamtbetrachtung, im Rahmen derer die vorhandenen Beweisanzeichen nicht erkennbar zueinander in Beziehung gesetzt und gegeneinander abgewogen werden (UA S. 32), lässt besorgen, dass das Landgericht den Blick dafür verloren hat, dass Indizien, auch wenn sie einzeln für sich betrachtet nicht zum Nachweis der Täterschaft ausreichen, doch in ihrer Gesamtheit dem Gericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 26. Mai 1999 – 3 StR 110/99, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20, und vom 7. November 2012 – 5StR 322/12), und dass es hierdurch zugleich überspannte Anforderungen an die tatgerichtliche Überzeugungsbildung gestellt hat.
13
bb) Das Landgericht hat der Schmauchspur auf dem Schalthebel des Fahrzeugs des Angeklagten den Beweiswert als Indiz, das den Angeklagten unmittelbar mit der Tat in Verbindung bringt, rechtsfehlerhaft aufgrund lediglich theoretischer Erklärungsansätze abgesprochen. Es durfte mangels in diese Richtung deutender objektiver Anhaltspunkte zugunsten des – in der Hauptverhandlung schweigenden – Angeklagten als alternative Erklärung für die Entstehung dieser Spur nicht unterstellen, die Anhaftungen könnten jüngeren Datums sein (also von einem erst nach der Tat erfolgten Schusswaffengebrauch mit derselben Munitionsart stammen) oder eine dritte Person habe sie auf den Schalthebel übertragen.
14
cc) Zutreffend beanstandet die Revision der Nebenklägerin zudem, dass die Darlegungen unzureichend sind, mit denen das sachverständig beratene Landgericht seine Annahme begründet hat, bei einer Verursachung der Schmauchspuren auf den diversen Kleidungsstücken des Angeklagten durch das Tatgeschehen wäre zu erwarten gewesen, dass sich Anhaftungen feststellen ließen, die den Schussrückständen beider bei der Tat verwendeten Munitionsarten entsprächen. Die zugrundeliegende Erwägung, dass sich bei Schüssen in einem geschlossenen Raum regelmäßig eine sich über mehrere Minuten haltende Schmauchwolke bilde, die zwangsläufig die Umgebung mit den jeweiligen Schussrückständen kontaminiere, wird hinsichtlich der Räumlichkeit des Tatortes nicht näher belegt. Die Urteilsgründe erwähnen diesbezüglich nicht, ob die zu einem nur 2 x 2,5 m großen Windfang führende und nach innen öffnende Wohnungseingangstür noch vor oder während der Auseinandersetzung geschlossen wurde und wo im Bereich des Wohnungseingangs der Täter den ers- ten Schuss abgab, der dazu führte, dass das Tatopfer „rücklings mit den Füßen zur Wohnungstür zu Boden fiel“ (UA S. 8). Auch insoweit bleibt die Beweiswür- digung lückenhaft. Weiterhin lässt sie Ausführungen des Sachverständigen zur Flüchtigkeit von Schmauchanhaftungen an der Kleidung vermissen, die erst im Abstand von über zwei Wochen nach der Tat sichergestellt worden ist.

15
dd) Unvollständig ist die Beweiswürdigung des Landgerichts ferner, soweit es die Wahrscheinlichkeit einer Primärübertragung der DNA-Spuren des Angeklagten bei dem festgestellten Abwehrversuch des Tatopfers mit dessen Griff nach der Waffe deshalb verneint hat, weil das Tatort-Spurenbild ergeben habe, dass der Täter bei der Tatbegehung Handschuhe getragen habe. Diese Erwägung lässt die naheliegende Möglichkeit außer Betracht, dass das Tatopfer bei seiner Abwehr auch mit unbedeckten Körperteilen des Täters wie etwa dessen Unterarmen oder Gesicht in Berührung gekommen sein könnte.
16
2. Das Urteil beruht auch auf den Beweiswürdigungsmängeln; der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung und der gebotenen wertenden Gesamtschau aller be- und entlastenden Indizien die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte. Die Entlastungserwägungen des Landgerichts zur eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit des stark gehbehinderten Angeklagten und der zur Erlangung des vom Täter aus der Küche geholten Tatmessers erforder- lichen „gewissen Beweglichkeit“ (UA S. 28) sind nicht derart gewichtig, dass sie den Freispruch ungeachtet der aufgezeigten Mängel allein tragen könnten. Insofern hat die Revision der Staatsanwaltschaft zu Recht darauf hingewiesen, dass der Angeklagte nach den Feststellungen „trotz seiner Behinderung in der Lage (ist), selbständig einen Pkw ohne besondere Hilfsvorrichtungen zu fahren“ (UA S. 5) und damit eine zum Ein- und Aussteigen notwendige Beweglichkeit besitze. Dass die Tatausführung eine weitergehende körperliche Wendigkeit erfordert hätte, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, zumal ein mögliches Sich-Abstützen auf dem Weg zur Küche bei der vom Landgericht zugrun- de gelegten Annahme, dass der Täter Handschuhe getragen habe, keine Spuren hinterlassen musste.
17
Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.
Sander Schneider Dölp
Berger Bellay
Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Ermüdung im Sinne von § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO bei seelischer
und körperlicher Erschöpfung.
BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 296/14
LG Berlin –
BESCHLUSS
5 StR 296/14
vom
21. Oktober 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Oktober 2014 beschlossen
:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 25. November 2013 nach § 349 Abs. 4 StPO
mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer
des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
2
1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO, weil sie im Zustand der Ermüdung polizeilich vernommen worden sei. Der Beanstandung kann der Erfolg nicht versagt werden. Das polizeiliche Geständnis vom 10. Dezember 2012 hätte nicht verwertet werden dürfen, weil es unter Verletzung des § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO zustande gekommen ist (§ 136a Abs. 3 Satz 2 StPO).
3
a) Bei Beginn der zum Geständnis führenden Vernehmung um 21.25 Uhr hatte die 23 Jahre alte Angeklagte ausweislich der Urteilsfeststellungen mindestens 38 Stunden nicht geschlafen. In den frühen Morgenstunden des 10. Dezember 2012 hatte sie nach verheimlichter Schwangerschaft allein und dementsprechend unter sehr schwierigen Umständen einen Jungen geboren , den sie aufgrund eines spontanen Entschlusses dann erstickte. Sie erlitt beträchtlichen Blutverlust und war körperlich wie seelisch entkräftet. Bei einem Toilettengang gegen 8.00 Uhr brach sie ohnmächtig zusammen. Ein weiterer körperlicher Zusammenbruch folgte kurze Zeit später. Ihre Mutter fand die Angeklagte gegen Mittag apathisch und weinend vor. Sie äußerte hier und später, nicht mehr leben zu wollen. Am Nachmittag wurde sie ins Krankenhaus verbracht , wo ein Dammriss genäht wurde. Gegen 16.00 Uhr kam sie zur Beobachtung auf eine Station. Von 17.00 Uhr bis 17.30 Uhr wurde sie erstmals von der Polizei als Beschuldigte vernommen. Sie gab an, dass das Kind tot geboren worden sei. Im Anschluss an die Vernehmung wurde der Angeklagten die vorläufige Festnahme erklärt. Um 20.00 Uhr erhielt sie zwei Baldriandragees , weil sie nicht zur Ruhe gelangte. Gegen 20.30 Uhr wurde sie erneut verantwortlich vernommen. Zunächst wurde mit ihr ein lediglich in einem polizeilichen Vermerk erfasstes Vorgespräch geführt, in dem sie die Tat weiterhin leugnete. Um 21.00 Uhr wurde den vernehmenden Polizeibeamten das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung mitgeteilt, wonach von einer Lebendgeburt auszugehen sei. Die Beamten konfrontierten die Angeklagte sogleich mit diesem Ergebnis. Die Angeklagte stritt die Tat weiter ab. Um 21.25 Uhr begann eine nunmehr im Wortlaut schriftlich niedergelegte Vernehmung. Die weinende Angeklagte erklärte zu deren Beginn, es sei gerade ein bisschen viel für sie. Nach anfänglichem weiterem Bestreiten gestand sie die Tat (vgl. UA S. 33). Die Vernehmung endete am Tattag um 23.25 Uhr.
4
b) Bei diesem Verlauf liegt eine Fülle von gewichtigen Gründen vor, aufgrund derer sich die Annahme tiefgreifender Erschöpfung und daraus resultierender Besorgnis der Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung geradezu aufdrängt (vgl. zum Ganzen BGH, Urteil vom 30. Oktober 1951 – 1 StR 393/51, BGHSt 1, 376; Urteile vom 24. März 1959 – 5 StR 27/59, BGHSt 13, 60, vom 15. Mai 1992 – 3 StR 419/91, BGHSt 38, 291, 292 f.). Es lag auf der Hand, dass die Angeklagte einer „immer wieder und immer energischer“ geführten konfrontativen Befragung (vgl. Bericht „Ermittlungen Klinikum Buch vom 11. Dezember 2012“, S. 4) wegen ihres Er- schöpfungszustands nicht mehr in freier Willensbetätigung würde standhalten können. Demgemäß hätte es gewichtiger Anhaltspunkte bedurft, um eine Ermüdung im Rechtssinn ausschließen zu können. Allein der subjektive Eindruck der vernehmenden Polizeibeamten, die Angeklagte habe „weder betäubt noch übermüdet“ gewirkt (UA S. 28) bzw. – gar – sie habe „einen den Umständen entsprechenden frischen Eindruck gemacht“ (UA S. 29), kann dafür ebenso wenig genügen wie der Umstand, dass sie sich nicht ausdrücklich auf Müdigkeit berief und Fragen sinnvoll zu beantworten in der Lage war, noch weniger, dass sie selbständig zur Toilette gehen konnte. Die Wahrnehmungen der behandelnden Ärztin und der Krankenschwester beziehen sich auf den Zustand der Angeklagten am Nachmittag und können für die Beurteilung des Zeitpunkts der Vernehmung in den Nachtstunden schon deshalb kaum etwas hergeben. Bei dieser Sachlage kann der Senat davon absehen, freibeweislich der Frage nachzugehen, wie es erklärt werden kann, dass die entscheidende zweistündige Vernehmung keine andere Dokumentierung erfahren hat, als diejenige in einem Protokoll von lediglich etwas mehr als vier, zudem großzügig formatierten Druckseiten.
5
c) Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Verletzung des § 136a StPO ursächlich für das Geständnis der Angeklagten im Ermittlungsverfahren war. Dessen Verwertung steht daher § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO entgegen. Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler.
6
2. Auf die weiteren, in der Sache unbehelflichen Verfahrensrügen kommt es damit nicht mehr an. Zu der nach „§ 163a Abs. 4 StPO i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO“ erhobenen Verfahrensrüge ist freilich zu bemerken, dass sie ent- gegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht mangels eines nach Anhörung der Vernehmungsbeamten erhobenen (zweiten) Verwertungswiderspruchs nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig wäre. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Verwertungswiderspruch grundsätzlich vorab erklärt werden kann, ohne nach Abschluss der Vernehmung wiederholt werden zu müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003 – 5 StR 307/03, NStZ 2004, 389; Urteil vom 27. Juni 2013 – 3 StR 435/12, NJW 2013, 2769, 2771 f., insoweit in BGHSt 58, 301 nicht abgedruckt; Beschluss vom 20. Oktober 2014 – 5 StR 176/14, zum Abdruck in BGHSt bestimmt; KK/Diemer, StPO, 7. Aufl., § 136 Rn. 28).
7
3. Für die neue Hauptverhandlung ist auf Folgendes hinzuweisen:
8
a) Ein Zustand verminderter Schuldfähigkeit der Angeklagten nach § 21 StGB zur Tatzeit wird im angefochtenen Urteil letztlich rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Angesichts der im Rahmen der zweiten Alternative des § 213 StGB durch die Schwurgerichtskammer bereits ausschlaggebend berücksichtigten Ausnahme- und Überforderungssituation der Angeklagten hätte die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB im Übrigen kaum zu einer milderen Strafe führen können.
9
b) Mit Recht wird im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass einer Einlassung der Angeklagten, die sich in einer schriftlichen Verteidigererklärung erschöpft , ohne dass Nachfragen beantwortet werden, ein allenfalls sehr untergeordneter Beweiswert zukommen kann.
Basdorf Dölp König
Berger Bellay
5 StR 65/09

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 8. April 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8. April
2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richter Dölp,
Richter Prof. Dr. König
alsbeisitzendeRichter,
Bundesanwalt
alsVertreterderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt P.
alsVerteidiger,
Rechtsanwalt V.
alsVertreterderNebenkläger,
Justizhauptsekretärin
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 15. Oktober 2008 – mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidung – mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und den Schmerzensgeldanspruch der Eltern des Getöteten, die sich als Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen haben, als dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Nebenkläger erstrebt eine Verurteilung wegen Mordes. Das Rechtsmittel hat – in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts – Erfolg.
2
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
a) Der 1975 geborene Angeklagte stammt von den Kiribati-Inseln und übte im Jahr 2007 seinen Beruf als Vollmatrose auf dem unter deutscher Flagge fahrenden Motorschiff „H. I. “ aus.
4
Mit der als Stewardess an Bord beschäftigten A. vereinbarte er entsprechend den Gebräuchen ihrer gemeinsamen Heimat ein formelles Verwandtschaftsverhältnis als seine Schwester. Dies umfasste seine Berechtigung, der Frau Anweisungen zu erteilen und sie zu züchtigen.
5
Der als Auszubildender zum Schiffsmechaniker an Bord beschäftigte Sohn der Nebenkläger K. ging mit A. ein intimes Verhältnis ein. Damit war der Angeklagte einverstanden. Es entwickelte sich sogar eine Freundschaft zwischen dem Angeklagten und K. , der in seiner Freizeit den Kampfsport Taek Wan Do betrieb. Während eines gemeinsamen Landgangs am 2. November 2007 kam es zum Streit zwischen dem Angeklagten und A. , in den sich K. auf Seiten seiner Freundin einmischte. Der Angeklagte untersagte A. den Umgang mit dem K. und lehnte dessen mehrfach geäußerten Wunsch nach einem klärenden Gespräch ab. K. traf sich fortan heimlich mit seiner Freundin, was der Angeklagte vermutete. Er drohte A. unter Vorhalt eines Taschenmessers (des späteren Tatmessers) und sagte ihr, wenn sie so weitermache, würde ihr oder ihrem Freund etwas passieren. Dies verstand die Zeugin als Todesdrohung.
6
b) A. erzählte hiervon ihrem Freund. K. nahm die Drohung ernst und bekam Angst. Er berichtete darüber seinem Vorgesetzten, einem deutschen Chefingenieur, der seinerseits den deutschen Kapitän informierte. Auf dessen Weisung forderte der erste Offizier am 6. November 2007 gegen 10.00 Uhr vom Angeklagten die Herausgabe von dessen Pass. Der Angeklagte befragte mehrere Besatzungsmitglieder, deren Pässe indes nicht herausverlangt worden waren. Hieraus schloss der Angeklagte auf die Absicht des Kapitäns, das Seemannsverhältnis zu kündigen, weil der Angeklagte den K. bedroht hatte.
7
c) Der Angeklagte suchte anschließend nach K. . Er wollte mit ihm reden und erhoffte sich, dass dieser bei dem Kapitän die Dinge aus seiner Sicht richtig stellen würde. Er sah K. im Maschinenkontrollraum. „Er klopfte. K. ging seiner Arbeit nach, las die Instrumente ab und zeichnete Daten auf. Er hatte deshalb einen Kugelschreiber in der Hand. (…) (Der Angeklagte) fragte K. , ob er dem Kapitän Bericht erstattet habe. K. antwortete ihm, es treffe zu; er habe mit dem Chefingenieur gesprochen und dieser mit dem Kapitän. T. war schlagartig klar, dass er keine Chance mehr hatte und es keinen Sinn mehr machte, mit K. über die Kündigung zu reden. Er drehte sich deshalb um, um zu gehen. In diesem Moment hörte er K. kurz lachen und sinngemäß sagen: ‚T. , Du bist fertig, Du bist fertig. Siehst Du T. , von Deutsch zu Deutsch ist alles einfach.’ T. fühlte sich von dieser Äußerung tief getroffen, so dass sich seine unterdrückte Wut schlagartig entlud. Innerhalb kürzester Zeit geschah Folgendes: T. drehte sich um, trat an K. heran und drückte wutentbrannt sein Gesicht an das Gesicht von K. . Er wollte K. als entlarvten Urheber der Kündigung, der ihn dazu noch herabwürdigte , jetzt töten. K. schubste T. von sich weg und rief ,Raus’. Es kam zu einer kurzen Rangelei. (…) Der Angeklagte zog das Taschenmesser (…) und öffnete es per Druckknopf. T. stach sofort mehrfach zu. Dabei hielt er K. fest, der infolge der Stiche zu Boden ging. Insgesamt fügte T. dem Opfer in kürzester Zeit 19 Stiche und Schnittverletzungen zu. Zweimal stach er in den Brustkorb, fünfmal in den linken Arm des Opfers, dreimal in dessen Gesäß und sechsmal in seinen Rücken. Die genaue Reihenfolge der Stiche steht nicht fest, jedoch führte T. die Stiche in Brustkorb und Gesäß unwiderlegt zuerst aus. Bei allen Stichen stand T. vor dem Opfer und hielt es fest. Dabei ist unwiderlegt, dass T. die Stiche in den Rücken des Opfers ebenfalls ausführte, als er vor ihm stand. Die beiden Stiche in den Brustkorb eröffneten die linke Brustkorbhöhle; einer der Stiche verletzte auch den Herzbeutel. (…) Bei den Stichen in den Rücken bewegte er zum Teil mehrfach das Messer in einer Wunde. Drei der Stiche in den Rücken waren oberflächlich, drei Stiche tiefergehend. Einer dieser Stiche war ca. 12 cm tief, eröffnete den Brustkorb, verletzte die Lunge, die Brustschlagader (…) und endete im Brustwirbel. Diese Stichverletzung führte zum Verbluten des Opfers und nach kurzer Zeit zu dessen Tod.“ (UA S. 10 bis 12)
8
2. Das Schwurgericht stützt die Feststellungen zum eigentlichen Tatgeschehen in allen wesentlichen Punkten auf die als unwiderlegt erachteten Angaben des Angeklagten. Es hat indes das weitergehende Verteidigungsvorbringen des Angeklagten, dass er in stark alkoholisiertem Zustand einen Angriff des K. abgewehrt hätte, als unzutreffend beweiswürdigend widerlegt. Die Bekundungen des Angeklagten, A. habe ihm von der Kündigung und deren Grund berichtet, hat das Landgericht ebenfalls nicht geglaubt. Die Schwurgerichtskammer nimmt an, dass die vom Angeklagten angegebene Reihenfolge der Stiche mit dem Verletzungsbild übereinstimme. Zwar habe der rechtsmedizinische Sachverständige hierzu nichts sagen können; er habe es aber für möglich gehalten, dass die vom Angeklagten geschilderte Version – Einstechen auf das durch Umklammern fixierte Opfer im Stehen von vorne – möglich sei.
9
Soweit der Angeklagte unmittelbar nach der Tat der Zeugin Ke. einen anderen Tatablauf – drei bis vier Stiche in den Rücken, Drehen des Opfers und Stiche in den Bauch und das Bein – geschildert hatte, könne auf die insoweit verlesene richterliche Aussage dieser Zeugin nichts gestützt werden. Es handele sich um eine Zeugin vom Hörensagen. Die vom Angeklagten in der Hauptverhandlung angegebene Version stimme mit dem Verletzungsbild überein. Daher hat es das Landgericht für möglich gehalten, dass die Zeugin eine falsche Erinnerung gehabt haben könnte.
10
Das Landgericht hat es als naheliegend bewertet, dass der neben dem von K. normalerweise benutzten Stuhl des Maschinenkontrollraums aufgefundene „kaputte Gehörschutz“ (UA S. 26) derjenige des Getöteten gewesen war. Davon, dass K. diesen Gehörschutz auch getragen hatte und deshalb nicht bemerkt haben könnte, wie sich der Angeklagte ihm genähert hatte, hat sich das Landgericht beweiswürdigend nicht überzeugt.
11
3. Auf der Grundlage der auf diese Weise getroffenen Feststellungen hat das Landgericht eine heimtückische Tötung verneint. Der Angeklagte habe nach einem Streitgespräch und nach einem kurzen Gerangel auf das um die zuvor erfolgte Drohung wissende, ängstliche Opfer von vorne eingestochen. Das Landgericht hat unter Anwendung des Zweifelssatzes ohne Anhörung eines Sachverständigen eine affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Umfang des § 21 StGB nicht ausgeschlossen.
12
4. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Nebenkläger dringt durch. Die Beweiswürdigung des Schwurgerichts zum Tatablauf, der ganz wesentlich für die Beurteilung der Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke ist, hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand.
13
a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn der Tatrichter einen Angeklagten freispricht oder – wie hier – sich beweiswürdigend nicht vom Vorliegen eines Mordmerkmals zu überzeugen vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob diesem Fehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich , unklar oder lückenhaft ist, gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH NJW 2006, 925, 928 m.w.N., insoweit in BGHSt 50, 299 nicht abgedruckt).
14
Ein Rechtsfehler kann auch darin liegen, dass der Tatrichter einer Einlassung kritiklos gefolgt ist (vgl. BGHSt 50, 80, 85) oder dass entlastende Angaben eines Angeklagten, für die keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, mit anderen Beweismitteln in Bezug gesetzt worden sind, deren Beweiswert indes nach unzutreffenden Maßstäben (vgl. BGH NStZ 2001, 491, 492) oder lückenhafter oder wer- tungsfehlerhafter Würdigung bestimmt worden ist (vgl. BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33; BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08 Rdn. 12 ff., teilweise abgedruckt in BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung , unzureichende 20). So liegt es hier.
15
b) Die Würdigung der Einlassung des Angeklagten durch das Landgericht lässt nicht erkennen, dass sich das Schwurgericht in jeder Beziehung des schuldmindernden Charakters der Angaben des Angeklagten bewusst war. Das Landgericht hat wesentliche Angaben des Angeklagten zutreffend als widerlegt angesehen, nämlich dass er erheblich alkoholisiert gewesen sei und sich nur verteidigt habe. Die so vollzogene Bewertung zentralen Verteidigungsvorbringens als Schutzbehauptung hätte es indes erfordert, auch bei der Würdigung weiterer vom Angeklagten vorgetragener Umstände deren Charakter als kritisch zu betrachtendes Verteidigungsvorbringen zu beachten. Erst danach hätte von dessen partieller Glaubhaftigkeit – wie es das Landgericht indes durchgehend wie selbstverständlich getan hat – ausgegangen werden dürfen (vgl. BGH NStZ 2001, 491, 492).
16
c) Dabei offenbaren Beweiserwägungen des Landgerichts, mit denen es Angaben des Angeklagten als mit fehlerfrei festgestellten Umständen in Einklang stehend angesehen hat, Lücken und Wertungsfehler.
17
aa) Das Landgericht hat aus der vom rechtsmedizinischen Sachverständigen übernommenen Wertung, die vom Angeklagten in der Hauptverhandlung geschilderte Tatversion – ein Angriff von vorn – sei möglich, eine Wahrscheinlichkeit eines solchen Tatablaufs entnommen und diese Version seinen Feststellungen zugrunde gelegt. Diese Würdigung wäre indes nur fehlerfrei, wenn die gegenteilige Tatversion – Angriff von hinten – auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts als nicht genauso wahrscheinlich zu erachten gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08 Rdn. 13 m.w.N.). Letzteres ist indes vorliegend der Fall. Dass ein Beginn des Angriffs von hinten medizinisch nicht weniger plau- sibel erscheint als ein solcher von vorn, versteht sich angesichts des festgestellten Verletzungsbildes von selbst.
18
Die Vereinbarkeit der jetzigen Tatversion des Angeklagten mit dem Verletzungsbild konnte daher die von der Zeugin Ke. wiedergegebene Bekundung des Angeklagten nach der Tat, er habe K. drei- oder viermal in den Rücken gestochen, dann gedreht und noch oft in den Bauch sowie ins Bein gestochen, nicht in Zweifel ziehen. Soweit das Landgericht der Zeugin, deren richterliche Vernehmung insofern verlesen worden ist, wegen möglicher falscher Erinnerung nicht gefolgt ist, offenbart auch dies durchgreifende Wertungsfehler. Das Landgericht hat die verlesene Aussage der Zeugin Ke. in anderen Zusammenhängen als uneingeschränkt glaubhaft angesehen. Danach fehlt es für die Annahme einer möglichen unzutreffenden Erinnerung an einer genügenden Tatsachengrundlage (vgl. BGHSt 51, 324, 325 m.w.N.). Allein der Hinweis, es habe sich um eine Zeugin vom Hörensagen gehandelt, macht die Möglichkeit einer falschen Erinnerung an eine von ihr gehörte, zumal durchaus markante Tatschilderung nicht wahrscheinlich.
19
Bei Bewertung der Glaubhaftigkeit von Bekundungen des Angeklagten , zum einen seiner in der Hauptverhandlung behaupteten Version – Angriff von vorn –, zum anderen der nach Angabe der Zeugin ihr gegenüber vom Angeklagten unmittelbar nach der Tat bekundete Tatablauf – Beginn des Angriffs von hinten – wäre bei abweichender Würdigung der Zeugenaussage zu bedenken gewesen, dass Äußerungen eines Täters unmittelbar nach der Tat – zumal wie hier in aufgewühltem Gemütszustand – weniger von Verteidigungsinteressen geprägt gewesen sein mögen und ihnen deshalb eine höhere Wahrscheinlichkeit innewohnt, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen , als dies für eine viele Monate später erfolgte Einlassung in der Hauptverhandlung anzunehmen ist (vgl. auch BGH NJW 2003, 2692, 2694). Diesem Ansatz ist das Landgericht selbst gefolgt, soweit es aufgrund von Bekundungen des Angeklagten nach der Tat gegenüber dem Bordpersonal ausgeschlossen hat, dass der Angeklagte in (Putativ-)Notwehr gehandelt haben könnte.
20
bb) Die Wertung des Landgerichts, der vom Angeklagten in der Hauptverhandlung geschilderte Tatablauf – Angriff von vorn – sei nicht zu widerlegen, beruht hinsichtlich weiterer Umstände auf einer lückenhaften Beweiswürdigung.
21
Das Landgericht hat bei dem angenommenen offenen Kampf für die Bewertung der Kampfeslage nicht alle festgestellten Umstände in die Betrachtung einbezogen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 18 und 20). Für die der Tatausführung als vorausgegangen angenommene Rangelei und die Fähigkeit des Angeklagten, K. festzuhalten, fehlt eine Betrachtung des Umstandes, dass das Opfer Kampfsportler war und sich naheliegend gegen einen offenen Angriff durch Einsatz von durch Kampftechniken geleiteten Körperkräften hätte verteidigen können. Ferner bleibt unerörtert, in welchem Zusammenhang des Kampfgeschehens der Gehörschutz des Opfers zerstört worden sein konnte.
22
cc) Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei durch die Provokation des Opfers zur Tat gedrängt worden, stößt auf Bedenken, weil sie ausschließlich auf der ersichtlich nicht kritisch hinterfragten Einlassung des Angeklagten beruht (vgl. BGHSt 50, 80, 85). Darüber hinaus fußt sie ebenfalls auf einer lückenhaften Würdigung festgestellter Umstände.
23
Das Landgericht ist der in der Hauptverhandlung abgegebenen Einlassung des Angeklagten gefolgt, die Äußerung des Opfers habe ihn maßlos geärgert und er habe sich tief getroffen gefühlt. Dieser Umstand wäre aus Sicht des Angeklagten naheliegend als genauso wichtig zu bewerten gewesen wie ein vorhergegangener Angriff des Opfers. Der Angeklagte hat ihn indes bei seinen Äußerungen zum Tatgeschehen gegenüber den Besatzungsmitgliedern ausweislich des Urteils genauso wenig erwähnt wie den in der Hauptverhandlung behaupteten Angriff. Das Landgericht hätte deshalb zur Prüfung der Glaubhaftigkeit der Provokation – aus den gleichen zutreffenden Erwägungen, wie es dies bei dem Angriff getan hat – kritisch erwägen müssen, dass der Angeklagte unmittelbar nach der Tatbegehung sich hierüber ebenfalls nicht geäußert hatte. Hinzu tritt, dass – auch wenn sich ein Angriff durch das Opfer und eine Provokation durch dieses nicht zwingend gegenseitig ausschließen müssen – die Grundlagen dieser Verteidigungsvarianten eher selten zusammentreffen werden und wenigstens nach Widerlegung einer Variante die Plausibilität der Einlassung insgesamt zu prüfen gewesen wäre (vgl. BGHR StPO § 261 Einlassung 6).
24
dd) Soweit das Landgericht aus vom Angeklagten geschilderten Erwägungen zum Zweck der von ihm gesuchten Aussprache mit K. in der Sache auch eine Plausibilität des vom Angeklagten geschilderten Tatablaufs unmittelbar vor der Provokation angenommen hat, beruht dies ebenfalls auf einer lückenhaften Würdigung festgestellter Umstände.
25
Der Angeklagte will das Gespräch mit K. gesucht haben , damit dieser ihm durch eine spätere Vorsprache beim Kapitän helfen könne. Zu diesem Zeitpunkt war dem Angeklagten aber der Kündigungsgrund , die Bedrohung K. s, bereits bekannt; er wusste auch, dass A. den Kapitän hierüber nicht informiert hatte. Damit kam für den Angeklagten das Opfer als nächstliegender, wenn nicht einziger Informant der Schiffsleitung in Frage. Die vom Landgericht dem Angeklagten auf die Mitteilung K. s, er habe über den Chefingenieur den Kapitän informiert, zugebilligte überraschende Erkenntnis, K. könne ihm nicht mehr helfen, und das daraus abgeleitete Motiv des Angeklagten , den Maschinenkontrollraum nun wieder zu verlassen, beruhen demnach insoweit auf einer unvollständigen Auswertung der die Kenntnis des Angeklagten begründenden Umstände.
26
ee) Schließlich wäre zu problematisieren gewesen, ob die angenommene Provokation des Angeklagten durch K. nicht auch deshalb eher unwahrscheinlich war, weil K. gewisse Angst vor dem Angeklagten empfand (UA S. 8, 9, 26, 39).
27
5. Die Sache bedarf insgesamt neuer Aufklärung und Bewertung. Die für die Annahme des Mordmerkmals Heimtücke maßgeblichen Umstände werden ganz wesentlich von der Art der Tatausführung bestimmt. Deshalb war der Senat genötigt, die Feststellungen insgesamt aufzuheben. Nach den auch hier geltenden Grundsätzen von BGHSt 52, 96 ist die Adhäsionsentscheidung von der Aufhebung auszunehmen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 406a Rdn. 8).
28
6. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
29
Das aufgrund der bisherigen Feststellungen belegte Motiv des Angeklagten , Rache für die als unberechtigt empfundene, von K. durch Information eines Vorgesetzten geförderte Kündigung zu üben, wäre nicht geeignet, das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe zu begründen. Unter Berücksichtigung der Heimlichkeit der zudem als ungerecht empfundenen Kündigungsvorbereitungen und seiner tief empfundenen Kränkung über das Verhalten der A. entbehrte das Rachemotiv noch nicht jeglichen nachvollziehbaren Grundes (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 147, 149 m.w.N.).
30
Der Versuch einer liquiden psychiatrischen Begutachtung des Angeklagten sollte bei der Schwere des Tatvorwurfs trotz der vom Schwurgericht benannten Schwierigkeiten in Vorbereitung der erneuten Hauptverhandlung beschritten werden. In jedem Fall sollte das neue Tatgericht seine Sachkunde zumindest durch einen Sachverständigen verbreitern, der die in der Beweisaufnahme getroffenen Feststellungen bewertet.
Basdorf Brause Schaal Dölp König