Bundesgerichtshof Urteil, 30. März 2017 - 4 StR 463/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2017:300317U4STR463.16.0
bei uns veröffentlicht am30.03.2017

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 463/16
vom
30. März 2017
in der Strafsache
gegen
alias:
wegen Verdachts des versuchten Mordes u.a.
ECLI:DE:BGH:2017:300317U4STR463.16.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30. März 2017, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible,
Richterin am Bundesgerichtshof Roggenbuck, Richter am Bundesgerichtshof Cierniak, Bender, Dr. Feilcke als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof als Vertreterin des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 9. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und versuchter Brandstiftung mit Todesfolge freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
Mit der zugelassenen Anklage vom 12. April 2016 legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last, er habe am 27. November 2015 in seinem Zimmer im zweiten Obergeschoss einer Flüchtlingsunterkunft in der B. er Innenstadt auf unbekannte Weise vorsätzlich ein Feuer gelegt. Der Brand habe sich über die Möbel in seinem Zimmer ausgebreitet, dieses vollständig zerstört und dabei unter anderem die Dachvertäfelung, die hölzernen Fensterrahmen sowie die Türzargen und -blätter ergriffen. Wie vom Angeklagten vorhergesehen oder zumindest billigend in Kauf genommen, habe die starke Rauchentwicklung den Bewohnern der höheren Geschosse den Fluchtweg versperrt, deren Tod der Angeklagte somit in Kauf genommen habe. Zwei Hausbewohner hätten wegen des starken Rauchs auf das nasse Hausdach fliehen müssen und seien mittels einer Drehleiter gerettet worden.

II.


3
1. Nach den Feststellungen meldete sich der in G. geborene Angeklagte im Juli 2013 in Deutschland als Asylsuchender und bekam nach wenigen Monaten einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft in B. zugewiesen.
4
Der Angeklagte hatte ab dem 22. Lebensjahr gelegentlich – etwa alle ein bis zwei Monate, teilweise auch mit längeren Pausen – Marihuana konsumiert, ohne hiervon abhängig zu werden. Aufgrund dieses gelegentlichen Marihuanakonsums entwickelte sich bei ihm ab dem Sommer 2015 eine drogeninduzierte Psychose. Diese äußerte sich u.a. durch Größenideen, enthemmtes Verhalten und „fehlendes Risikobewusstsein im Umgang mit Feuer“. Am 19. Oktober 2015 wurde der Angeklagte nach Konflikten mit Mitbewohnern erstmals nach dem PsychKG NW in der Klinik in Be. stationär untergebracht. Der Angeklagte zeigte deutliche psychotische Symptome, wurde jedoch bereits am 20. Oktober 2015 mangels akuter Eigen- oder Fremdgefährdung wieder entlassen. Am 14. November 2015 wurde er abermals in die vorgenannte Klinik eingewiesen, nachdem er in der Küche seiner Unterkunft ein Feuer in einem Papierkorb entfacht hatte. Während der Unterbringung zeigte sich der Angeklagte erneut deutlich psychotisch mit Größenwahn und ent- hemmtem Verhalten, weshalb er zwangsweise medikamentös behandelt wurde. Am 24. November 2015 wurde er bei fehlender Behandlungseinsicht und ohne Hinweise auf eine fortbestehende akute Eigen- und Fremdgefährdung entlassen.
5
Am 27. November 2015 kam es in der Flüchtlingsunterkunft, in der zu dieser Zeit insgesamt 26 Bewohner untergebracht waren, zu einem Brand, dessen Ursache die Strafkammer nicht festzustellen vermocht hat. Brandzentrum war das im zweiten Obergeschoss gelegene Zimmer des Angeklagten, welches durch das Feuer vollständig zerstört wurde. Die starke Rauchentwicklung versperrte den Fluchtweg für die Bewohner der höheren Geschosse. Zwei Personen wurden durch die Feuerwehr vom Dach des Hauses gerettet, drei Personen mussten mit Rauchgasvergiftungen in ein Krankenhaus gebrachtwerden. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von etwa 150.000 Euro. Der Angeklagte wurde noch während der Löscharbeiten von der Polizei vor dem Haupteingang des Supermarktes gegenüber der Unterkunft angetroffen und vorläufig festge- nommen. Er war „zur Tatzeit“ krankheitsbedingtnicht in der Lage einzusehen, dass die Verursachung eines Brandes gefährlich, geschweige denn verboten ist.
6
Nach dem Brand wurde der Angeklagte erneut nach dem PsychKG NW in der Klinik in Be. untergebracht, wo er sich wiederum psychotisch zeigte. Nachdem er am 10. Dezember 2015 in der forensischen Psychiatrie in L. einstweilig untergebracht worden war, verschwanden die psychotischen Symptome ohne medikamentösen Einfluss nach zehn bis 14 Tagen vollständig und traten nicht wieder auf.
7
2. Die Schwurgerichtskammer hat die Frage der Täterschaft des Ange- klagten offengelassen, da „der Angeklagte mangels Schuldfähigkeit zur Tatzeit im Ergebnis ohnehin aus rechtlichen Gründen freizusprechen“ sei.
8
Nach den Ausführungen des psychiatrischen und des psychologischen Sachverständigen, denen sich das Landgericht angeschlossen hat, habe der Angeklagte im Tatzeitraum – zurückgehend auf seinen gelegentlichen Konsum von Marihuana – an einer drogeninduzierten Psychose gelitten. Diese Erkrankung habe dazu geführt, dass der Angeklagte der normalen Realitätswahrnehmung entrückt gewesen sei. Er habe eigene Wahrnehmungen in wahnhafte Vorstellungen eingebaut, ohne die Möglichkeit zur Korrektur gehabt zu haben. Wenn er Feuer gelegt habe, sei er nicht in der Lage gewesen, die Konsequenzen seiner Handlungen einzuschätzen. Dass er immer wieder Feuer entzündet habe, auch wenn er dabei gesehen worden sei, zeige, dass er nicht in der Lage gewesen sei einzusehen, dass sein Verhalten gefährlich und verboten sei. Auch zum Zeitpunkt der Brandlegung in der Unterkunft sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen. Selbst wenn „ein Rest an Einsichtsfähigkeit und Unrechtseinsicht“ vorhanden gewesen wäre, habe es jedenfalls an der Fä- higkeit des Angeklagten gefehlt, nach dieser Einsicht zu handeln, da er „krankheitsbedingten raptusartigen Impulsen keine hemmenden Kontrollen habe ent- gegensetzen können“.

III.


9
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Der Freispruch des Angeklagten kann nicht bestehen bleiben, weil der vom Landgericht vorgenommenen Schuldfähigkeitsbeurteilung durchgreifende rechtliche Bedenken begegnen.
10
1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16 Rn. 11; vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320; Beschluss vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520; vgl. auch Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt , die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 1 StR 399/16 aaO; Beschlüsse vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135; vom 17. Juni 2014 – 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306).
11
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
12
a) Bereits die Annahme, der Angeklagte habe im Tatzeitraum an einer drogeninduzierten Psychose gelitten, wird durch das Landgericht im Rahmen seiner Ausführungen zur Beweiswürdigung nicht tragfähig begründet.
13
Schließt sich der Tatrichter – wie hier – den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 2017 – 4 StR 595/16 Rn. 8; vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15 aaO; vom 27. Januar 2016 – 2 StR 314/15, NStZ-RR 2016, 167 [Ls]; vom 17. Juni 2014 – 4 StR 171/14 aaO).
14
Die Strafkammer beschränkt sich darauf, die Diagnose der Sachverständigen wiederzugeben. Welche Anknüpfungs- und Befundtatsachen die Sachverständigen ihrer Bewertung zugrunde gelegt haben, wird dagegen nicht mitgeteilt. Es bleibt daher unklar, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Sachverständigen von einer drogeninduzierten Psychose ausgegangen sind. Dies hätte nicht zuletzt mit Blick auf den festgestellten nur gelegentlichen Marihuanakonsum des Angeklagten einer näheren Erläuterung bedurft. Die erfolgten Unterbringungen des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus und die hierbei gestellte Diagnose deuten zwar auf das Vorliegen einer psychischen Störung hin, vermögen aber eine konkrete Darlegung des Krankheitsbildes nicht zu ersetzen. Weder verhalten sich die Urteilsgründe zum Inhalt der Wahnvorstellungen des Angeklagten und zur konkreten Ausprägung des von ihm gezeigten enthemmten Verhaltens noch wird näher dargelegt, in welcher Weise sich das beim Angeklagten vorhandene Störungsbild auf dessen Umgang mit Feuer ausgewirkt hat. Soweit die Sachverständigen in Bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf krankheitsbedingte raptusartige Impulse verwiesen haben, denen der Angeklagte keine hemmenden Kontrollen habe entgegensetzen können, fehlt hierfür jeglicher tatsachengestützter Beleg.
15
b) Das angefochtene Urteil lässt ferner eine Auseinandersetzung mit dem Schweregrad der angenommenen psychischen Störung vermissen und benennt nicht, welches Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB es als erfüllt ansieht. Letzteres darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch regelmäßig nicht offenbleiben (vgl. BGH, Urteil vom 29. September2015 – 1 StR 287/15, NJW 2016, 341; Beschlüsse vom 22. April 2008 – 4 StR 136/08, NStZ-RR 2009, 46; vom 12. November 2004 – 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347, 351).
16
c) Schließlich hätte die Schwurgerichtskammer die Täterschaft des Angeklagten nicht offenlassen dürfen. Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten kann daher – von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Mai 1997 – 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485, 486) – nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 StR 56/15, NJW 2016, 728, 729; Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 54; vom 21. Dezember 2006 – 3 StR 436/06, NStZ-RR 2007, 105, 106; vom 6. Mai 1997 – 1 StR 17/97 aaO; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 20 Rn. 20a mwN; Perron/Weißer in Schönke/ Schröder, StGB, 29. Aufl., § 20 Rn. 31 mwN). Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (vgl. BGH, Urteile vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03 aaO mwN; vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397, 402). Ohne entsprechende Feststellungen zum Tatgeschehen und damit auch zur Täterschaft des Angeklagten ist eine sachgerechte Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht möglich.
Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak
Bender Feilcke

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Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

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Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

11
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (BGH, Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319 und Beschluss vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519 jeweils mwN). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung jeweils auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beur- teilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 und vom 19. Dezember 2012 – 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146).

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 S t R 1 3 7 / 1 5
vom
1. Juli 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Betrugs
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 1. Juli 2015,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
Zeng,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Bartel,
Bundesanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 15. Dezember 2014 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen, aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Nach Aufhebung eines ersten Urteils durch Senatsbeschluss vom 17. April 2014 - 2 StR 405/12 (NJW 2014, 2738), wobei aber die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrecht erhalten wurden, hat das Landgericht den Angeklagten mit dem angefochtenen Urteil wegen Betrugs in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie ausgesprochen, dass davon zwei Monate als bereits vollstreckt gelten. In den Niederlanden erlittene Auslieferungshaft hat es im Verhältnis von eins zu eins angerechnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, der das Rechtsmittel in der Revisionshauptverhandlung auf den Strafausspruch beschränkt hat. Die Revision hat in diesem Umfang Erfolg.

I.

2
Nach den bindend gewordenen Feststellungen zur Tat beschloss der Angeklagte im Herbst 2005 noch während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen gleichartiger Taten, Kunden in schwierigen finanziellen Verhältnissen eine Leasingfinanzierung anzubieten und dabei Vorschusszahlungen zu verlangen. Im Februar 2006 gründete er mit dem gesondert verfolgten S. die H. mit Sitz in M. . Das Unternehmen unterbreitete Interessenten jeweils Angebote für eine Finanzierung, wobei eine Vorausgebühr ab Erteilung einer Darlehenszusage in Höhe von fünf vom Hundert der Darlehenssumme verlangt wurde. Unmittelbar nach Erbringung dieser "Sonderzahlung" übernahm eine "Refinanzierungsabteilung" des Unternehmens die Sachbearbeitung und forderte umfangreiche Bonitätsauskünfte sowie die Vorlage weiterer Unterlagen ein. Danach wurde der Vertrag jeweils mit Hinweis auf ein Verschulden des Kunden gekündigt, und die H. machte gegen die Kunden auch Schadensersatzansprüche geltend, bis diese einer Aufhebungsvereinbarung unter Verzicht auf die Rückzahlung der Vorausgebühr zustimmten. Über ausreichende Mittel oder Refinanzierungsmöglichkeiten zur Darlehensgewährung an die Kunden verfügte die H. nicht.
3
Gegenstand der Verurteilung sind Sonderzahlungen von Kunden aufgrund von Darlehenszusagen durch Mitarbeiter der H. . In einem Teil der Fälle hatte der Angeklagte, der als faktischer Geschäftsführer des Unternehmens aufgetreten war, neben anderen Personen selbst am Vertragsabschluss mitgewirkt. Andere Fälle hat ihm das Landgericht als uneigentliches Organisationsdelikt zugerechnet.

II.

4
Die Rechtsmittelbeschränkung in der Revisionshauptverhandlung, welcher der Generalbundesanwalt zugestimmt hat, ist wirksam.
5
Der Senat schließt - unbeschadet des Vorliegens eines Rechtsfehlers bei der Prüfung der §§ 20, 21 StGB (dazu sogleich unter III.) - aus, dass ein neues Tatgericht zu der Feststellung der Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit gelangen würde. Dagegen sprechen unter anderem die Vorausplanung der Tat bereits in der Haft und die lange Dauer des komplexen Tatgeschehens.

III.

6
Die Revision hat im verbleibenden Umfang Erfolg; sie führt zur Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind, auch soweit sie doppelrelevant wirken , bereits bindend geworden, was der Senat klargestellt hat.
7
1. In dem vom Senat aufgehobenen ersten Urteil war das Fehlen der Fähigkeit des Angeklagten zur Einsicht in das Unrecht der Betrugshandlungen nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen worden. Nunmehr hat das Landgericht angenommen, zur Tatzeit habe der Angeklagte mit Unrechtseinsicht gehandelt. Seiner Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung nach dieser Einsicht habe keine schwere andere seelische Abartigkeit entgegengestanden. Seine Feststellung vorhandener Unrechtseinsicht ist rechtsfehlerfrei. Jedoch unterliegt die Verneinung einer erheblichen Verminderung des Hemmungsvermögens durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8
2. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der heute 62jährige Angeklagte unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dissozialen Anteilen. Schon als Kind hatte er Geld entwendet, um sich mit Zuwendungen Freundschaften zu erkaufen. Nie nahm er später eine intime Beziehung auf. Sein gesamtes Streben als Erwachsener war darauf gerichtet, die Mitarbeiter seiner Unternehmungen an sich zu binden, die er als „Ersatzfamilie“ betrachtete und in eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten einbezog. Er unterstützte nicht nur seine Mitarbeiter finanziell, sondern sogar die Eltern der zum Personal der H. gehörenden Brüder S. . Der Angeklagte reagierte "indigniert bis beleidigt", wenn sich die Mitarbeiter seinem Wunsch nach engem Kontakt verschlossen.
9
Das Landgericht hat ausgeführt, zwar liege das Vollbild einer Persönlichkeitsstörung vor; jedoch habe diese Störung nicht dasselbe Belastungsgewicht wie eine seelische Krankheit. Sie erfülle nicht das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB.
10
Die Störung habe allerdings dazu geführt, dass der Angeklagte sich in der gesamten Tatstruktur ein Konstrukt geschaffen habe, in welchem er nicht nur beruflich, sondern auch im Persönlichen der "Chef" gewesen sei. Die Störung sei in seiner Persönlichkeit absolut prägend. Aufgrund einer Selbstwertstö- rung habe er eine Rolle eingenommen, die ihn besonders „großartig“ erschie- nen ließ. In Fantasien über einen Finanzierungserfolg und der Behandlung des gesondert verfolgten S. als seinen künftigen "Nachfolger" im Sinne dynastischer Großkonzerne seien narzisstische Züge zu erkennen. Er habe sich in Beziehungen verstrickt, über deren Motivation man nur spekulieren könne und die scheitern mussten, weil er seine "Ziehsöhne" stets nach seinen Vorstellungen "umzugestalten" versucht habe.
11
Gleichwohl habe die Störung das Leben des Angeklagten nicht vergleichbar schwer und mit ähnlichen sozialen Folgen beeinträchtigt, wie eine krankhafte seelische Störung. Sein "soziales Funktionsniveau" sei dafür zu hoch gewesen. Eine stereotype Lebensgestaltung wie bei einem Drogenabhängigen habe nicht vorgelegen, sondern ein unauffällig strukturierter Tagesablauf, der sowohl Arbeit als auch Freizeitverhalten eingeschlossen habe. Beruflich wie privat habe der Angeklagte ein Maß an Flexibilität gezeigt, das von einem Menschen mit einer krankhaften seelischen Störung nicht erwartet werden könne. Er sei auch grundsätzlich in einer Weise kontaktfähig gewesen, wie sie "von einem Patienten mit einer krankhaften seelischen Störung - etwa mit einem psychotischen Residualsyndrom - keinesfalls zu erwarten" gewesen sei. Probleme bei der Affektregulation und ähnliche störungsbedingte Beeinträchtigungen seien nicht zu beobachten gewesen. Vor diesem Hintergrund sei festzustellen , dass die Einsicht des Angeklagten in das Unrecht der Serientaten nicht ausgeschlossen gewesen sei.
12
b) Gegen diese Beurteilung bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken. Sie lenken den Blick auf die Unrechtseinsicht des Angeklagten und vernachlässigen die Frage einer Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens.
13
aa) Richtig ist zwar, dass nicht bereits die gesicherte Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und dissozialen Anteilen mit einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" in § 20 StGB gleichzusetzen ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52). Jedoch kann das Eingangsmerkmal im Einzelfall bei einem solchen Befund erfüllt sein. Dabei sind der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit von Bedeutung.
14
Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist im Allgemeinen maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des Delikts zu Einschränkungen des sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (BGH aaO). Insoweit ist die Unterscheidung von beruflichen und privaten Aktivitäten des Angeklagten dadurch erschwert, dass seine vielfältigen "privaten" Aktivitäten - "durchgängig" unter Einbeziehung der Mitglieder seiner "Ersatzfamilie" - gerade Ausdruck seiner Persönlichkeitsstörung waren. Im Vordergrund der Prüfung müssten daher die Wahrnehmung der eigenen und anderer Personen, die emotionalen Reaktionen , die konkrete Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Impulskontrolle stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12, BGHR StGB § 20 seelische Abartigkeit 6). Damit hat sich das Landgericht unter einem falschen Blickwinkel beschäftigt.
15
So wäre etwa auch die Unfähigkeit des Angeklagten, eine intime Partnerschaft einzugehen und deren vollständige Ersetzung durch die intensive berufliche wie private Beziehung zu den Mitarbeitern als Ausdruck der Störung in die Gesamtschau einzubeziehen. Deshalb grenzt die landgerichtliche Annahme des Vorliegens eines normalen Sozialverhaltens mit "hohem Funktionsniveau" ein nur scheinbar intaktes Privatleben in unzutreffender Weise von Störungssymptomen ab. Zumindest hat das Landgericht die Bedeutung dieses Aspekts im Unklaren gelassen, indem es angemerkt hat, über die Gründe dafür, dass der Angeklagte zweifelhafte Beziehungen mit Personen aufgenommen hat, die ihn - wie er wusste - stets ausgenutzt haben, können "nur spekuliert" werden.
16
bb) Das Landgericht hat die Zielrichtung der Prüfung, ob ein Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB vorliegt und die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB erheblich beeinträchtigt war, im Hinblick auf die Frage des Hemmungsvermögens vernachlässigt, weil es sich auf die Frage der Unrechtseinsicht konzentriert hat. Auch deshalb hat es eine fragwürdige Gewichtung der Störung vorgenommen.
17
Die Entscheidung, ob das Hemmungsvermögen des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (vgl. BGH, Urteil vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12, StV 2013, 694); jedoch sind die Prüfungspunkte miteinander verzahnt (vgl. zur Problematik Fischer, StGB 62. Aufl. § 20 Rn. 5, 5a m.w.N.). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine Störung im psychiatrischen Sinn vorliegt, was hier mit dem "Vollbild einer Persönlichkeitsstörung" eindeutig der Fall ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung im Hinblick auf das Vorliegen eines Eingangsmerkmals und anschließend die Erheblichkeit des Einflusses auf das Hemmungsvermögen gemäß § 21 StGB zu untersuchen. Hierzu ist der Richter jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befundes wie bei der Prüfung erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit um Rechtsfragen. Diese Fragen hat das Landgericht nicht in einer nachvollziehbaren Weise beantwortet.
18
Sein Vergleich der Bedeutung der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten mit der Beeinträchtigung eines Drogensüchtigen wirkt unpassend. Jedenfalls hat die Strafkammer nicht näher überprüft, inwieweit die störungsbedingte Sucht des Angeklagten danach, die Mitglieder seiner Ersatzfamilie an sich zu binden, sein Sozialverhalten und das hiermit auf das Engste verknüpfte Tatverhalten beherrscht hat. In diese Prüfung wäre zudem der festgestellte Konsum des angstlösenden Medikaments Lorazepam (Tavor) als konstellativer Faktor einzubeziehen gewesen.
19
Schließlich liegt der Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe die Abläufe in dem - ausschließlich auf Betrug ausgerichteten - Unternehmen zu organisieren und dabei auch Verträge zu entwerfen vermocht, was ein Mensch im Residualsyndrom einer Psychose nicht hätte leisten können, ein fehlerhafter Vergleich zu Grunde. Die Fähigkeit zu einem bestimmten Handeln des Täters enthält keine abschließende Aussage über seine Möglichkeit, ausreichende Hemmungen gegen dieses Handeln aufzubauen. Fischer Krehl Eschelbach Zeng Bartel

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 42/13
vom
12. März 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 12. März 2013 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 17. Juli 2012 mit den Feststellungen aufgehoben
a) im Fall II. 1 der Urteilsgründe sowie
b) im gesamten Strafausspruch. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung in zwei Fällen, gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen und wegen sexueller Nötigung (Vergewaltigung) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB im Fall II. 1 der Urteilsgründe begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
3
a) Das Landgericht hat insoweit festgestellt, dass der Angeklagte die Nebenklägerin im Zuge einer zunächst nur verbalen Auseinandersetzung zu Boden stieß und sie dort mit beiden Händen am Hals würgte, bis diese keine Luft mehr bekam, was der Angeklagte auch erkannte. Diese Feststellungen belegen eine das Leben gefährdende Behandlung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nicht.
4
b) Zwar muss die Tathandlung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; die jeweilige Einwirkung muss lediglich abstrakt geeignet sein, eine solche Gefährdung herbeizuführen. Danach kommt festes Würgen am Hals zwar grundsätzlich als geeignete Tathandlung in Betracht; von maßgeblicher Bedeutung sind insoweit jedoch Dauer und Stärke der Einwirkung, zu denen sich die Urteilsfeststellungen je nach Lage des Falles verhalten müssen (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2004 – 4 StR 403/04, NStZ-RR 2005, 44 mwN). Zu den näheren Umständen der konkreten Tatausführung , etwa dazu, ob der Nebenklägerin durch die Einwirkung des Angeklagten die Halsschlagader abgeschnürt wurde, enthalten die Urteilsgründe indes keine Feststellungen. Dies gilt auch für die hier möglicherweise bedeutsame Zeitspanne zwischen dem Eintritt der Atemnot bei der Nebenklägerin und dem Nichtweiterhandeln des Angeklagten.
5
2. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts hält der Senat es nicht für sicher ausgeschlossen, dass zu Art und Dauer der Einwirkung noch weitere Feststellungen getroffen werden können. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.

II.


6
1. Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat sich die Strafkammer sachverständig beraten lassen und angenommen, dass der Angeklagte bei der Begehung der abgeurteilten Taten einerseits unter einem Syndrom der Abhängigkeit von Stimulanzien und Cannabinoiden und andererseits unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit emotional instabilen, dissozialen und narzisstischen Anteilen litt. Das Abhängigkeitssyndrom habe indes nicht zu einer „derart erheblichen krankhaften seelischen Störung“ geführt , dass die „psychische Befindlichkeit“ des Angeklagten dadurch wesentlich beeinträchtigt worden sei. Eine „andere schwere seelische“ Abartigkeit liege insoweit nicht vor, weil das Syndrom keine tatdeterminierenden Konsequenzen gehabt habe und eine Persönlichkeitsdepravation, ein Verfall oder eine Verwahrlosung des Angeklagten ebenso wenig festgestellt werden könne wie eine akute Intoxikationspsychose zu den jeweiligen Tatzeitpunkten. Auch die beim Angeklagten diagnostizierte Persönlichkeitsstörung habe nicht das Gewicht einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“, da sie weder mit schweren überdauernden Störungen der Affektregulation einhergegangen sei, noch zu einer Stereotypisierung des Verhaltens des Angeklagten geführt habe und schwere Störungen des Selbstwertgefühls sowie der sozialen Bindungsfähigkeit ebenfalls nicht festzustellen seien. Der Angeklagte sei daher bei Begehung aller Taten uneingeschränkt schuldfähig gewesen. Den Darlegungen des Sachverständigen hat sich das Landgericht angeschlossen; seine Würdigung hat es dabei auf die Bemerkung beschränkt, sie seien überzeugend. Dies hält hier rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7
a) Als stoffgebundene Suchterkrankung kann die Abhängigkeit von Drogen wegen der Vielzahl möglicher Ursachen, Ausprägungen sowie körperlicher und psychischer Folgen sowohl die Voraussetzungen des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB als auch – vor allem bei körperlicher Abhängigkeit – jene einer krankhaften seelischen Störung erfüllen (SSW-StGB/Schöch, § 20 Rn. 46; vgl. auch Fischer, StGB, 60. Aufl., § 20 Rn. 41). Unabhängig von dieser Einordnung begründet die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für sich allein noch nicht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit. Diese Folge ist bei einem Rauschgiftabhängigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa dann, wenn langjähriger Betäubungsmittelkonsum zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat, der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn er die Tat im Zustand eines akuten Rausches verübt (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. August 2001 – 1 StR 470/00, NJW 2002, 150, 152 mwN). Dabei erfolgt die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich vermindert war, in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl. im Einzelnen Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57). Zuerst ist die Feststellung erforderlich, dass beim Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Aus- prägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden; erforderlich ist in solchen Fällen vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung (BGH, Beschluss vom 23. August 2000 – 2 StR 281/00, BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 14; Beschluss vom 3. September 2004 – 1 StR 359/04, NStZ-RR 2004, 360). Der Tatrichter hat bei der Entscheidung über die Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme eingeschränkter Schuldfähigkeit nicht nur die Darlegungen des medizinischen Sachverständigen eigenständig zu überprüfen; er ist auch verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen (BGH, Beschluss vom 7. März 2006 – 3 StR 52/06, NStZ-RR 2007, 74). Das abschließende Urteil über die Erheblichkeit der Verminderung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ist als Rechtsfrage ausschließlich Sache des Richters (BGH, Urteil vom 17. April 2012 – 1 StR 15/12; Beschluss vom 22. August 2012 – 4 StR 308/12, jeweils mwN).
8
b) Gemessen daran sind die im angefochtenen Urteil wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen schon für sich genommen nicht bedenkenfrei , soweit eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen wird.
9
aa) So legen die Urteilsgründe schon nicht dar, ob der Sachverständige beim Angeklagten die allgemeinen psychiatrischen Kriterien einer Substanzabhängigkeit gemäß ICD-10 oder DSM-IV als erfüllt angesehen hat. Zwar besagt das Vorliegen eines bestimmten Zustandsbildes nach einer der beiden Klassifikationen noch nichts über das Ausmaß drogeninduzierter Störungen. Gleichwohl weist eine solche Zuordnung in der Regel auf eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung hin, der der Tatrichter mit Hilfe des Sachverständigen nachgehen muss (vgl. BGH, Urteil vom 19. September 2000 – 1 StR 310/00, NStZ 2001, 83, 84 mwN). Die Urteilsgründe beschränken sich in diesem Zusammenhang auf die Wiedergabe der Ausführungen des medizinischen Sachverständigen , wonach beim Angeklagten ein Abhängigkeitssyndrom vorliege, die drogeninduzierte Beeinflussung aber nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der „psychischen Befindlichkeit“ des Angeklagten geführt habe. Der Senat kann daher nicht nachprüfen, ob sich der Tatrichter insoweit von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab hat leiten lassen.
10
bb) Die Urteilsgründe lassen ferner besorgen, dass die Strafkammer die für das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit einerseits und der krankhaften seelischen Störung andererseits erforderlichen unterschiedlichen Voraussetzungen und deren Verhältnis zueinander nicht hinreichend in den Blick genommen hat; dies kann die Beurteilung der Schuldfähigkeit hier zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst haben. So erörtert die Strafkammer vor dem Hintergrund der entsprechenden Ausführungen des medizinischen Sachverständigen das Vorliegen einer akuten Intoxikationspsychose in unmittelbarem Zusammenhang mit der Prüfung des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit, nicht aber in Bezug auf eine mögliche krankhafte seelische Störung, was näher liegt. Ob das Landgericht die Vernachlässigung anderer Interessen durch den Angeklagten neben seinem starken Wunsch nach Betäubungsmittelkonsum zutreffend als Anzeichen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit eingeordnet hat (vgl. Fischer aaO), vermögen die Urteilsgründe ebenfalls nicht zu vermitteln; Erwähnung findet die- ser Gesichtspunkt bei der Erörterung des Eingangsmerkmals der krankhaften seelischen Störung.
11
c) Die Erörterung der Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten erweist sich zudem als lückenhaft.
12
So findet der Umstand, dass der Angeklagte, wie vom Landgericht ausdrücklich festgestellt (UA S. 4), während einer auf eigene Initiative durchgeführten Entgiftung im April 2011, also zu Beginn des verfahrensgegenständlichen Tatzeitraums, unter intensiven und quälenden akustischen Halluzinationen litt und erst zwei bis drei Wochen vor der letzten Tat seinen Rauschgiftkonsum wieder aufnahm, bei der Erörterung der Eingangsmerkmale des § 20 StGB keine Erwähnung. Der Senat kann daher nicht überprüfen, ob der Sachverständige diesen gewichtigen Umstand bei seiner Begutachtung berücksichtigt und in welcher Weise die Strafkammer dessen Äußerungen bewertet hat. Die bloße Erwähnung eines zeitlich nicht näher eingegrenzten Entzugssyndroms (UA S. 9) ist in diesem Zusammenhang unzureichend. Die Urteilsgründe lassen ferner nicht erkennen, ob die Strafkammer in einer umfassenden Gesamtwürdigung berücksichtigt hat, dass der Sachverständige neben dem Abhängigkeitssyndrom beim Angeklagten auch eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert hat. Dies lässt besorgen, dass diese Prüfung hier nicht oder nur unzureichend vorgenommen wurde und das Landgericht seine Beurteilung lediglich isoliert auf die vom Sachverständigen angesprochenen Gesichtspunkte gestützt hat.
13
2. Die Frage der Schuldfähigkeit muss daher umfassend neu geprüft werden, gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen. Da der Senat auszuschließen vermag, dass beim Angeklagten bei allen Taten Schuldunfähigkeit vorlag, führt der Rechtsfehler lediglich zur Aufhebung der Strafaussprüche.

III.


14
Der zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufene Tatrichter wird in den Blick nehmen müssen, dass vor dem Hintergrund der neuen Feststellungen zur Schuldfähigkeit gegebenenfalls die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt zu prüfen sein wird.
15
Im Hinblick auf die diesbezüglichen Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 6. Februar 2012 merkt der Senat an, dass die Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB die Betätigung tatrichterlichen Ermessens voraussetzt (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 14. Dezember 1999 – 4 StR 554/99, NStZ-RR 2000, 364).
Mutzbauer Cierniak Franke
Bender Quentin

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

11
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (BGH, Urteil vom 1. Juli 2015 – 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319 und Beschluss vom 12. März 2013 – 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519 jeweils mwN). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung jeweils auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beur- teilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135 und vom 19. Dezember 2012 – 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146).
8
a) Beschränkt sich das Tatgericht – wie hier – darauf, der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit zu folgen, muss es die hierfür wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben , wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Urteil vom 23. November 2016 – 2 StR 108/16, Rn. 8; Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135; Beschluss vom 30. Juli 2013 – 4 StR 275/13, NStZ 2014, 36, 37 mwN).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 521/15
vom
28. Januar 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:280116B3STR521.15.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 28. Januar 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 29. Juni 2015 - mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidung - mit den Feststellungen aufgehoben ; jedoch bleiben die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen aufrecht erhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen, der Zuwiderhandlung gegen eine vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz , der Körperverletzung in Tateinheit mit einer Zuwiderhandlung gegen eine vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz sowie der Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte schuldig und ihn im Übrigen freigesprochen. Es hat wegen eines Teils der De- likte unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt und wegen der übrigen Straftaten auf eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten erkannt. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen und der Unterbringung hat es zur Bewährung ausgesetzt. Schließlich hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
2
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen leidet der Angeklagte an einer paranoid-psychotischen Störung bei affektiver Grunderkrankung mit umschriebener Wahnbildung. Die affektive Grunderkrankung verursacht überwiegend manische, teils auch depressive Phasen. In der Zeit vom 20. November 2010 bis zum 22. September 2013 beging er die abgeurteilten Übergriffe gegen Polizeibeamte, einen Bekannten und Familienangehörige. Die Strafkammer hat dem gehörten Sachverständigen folgend für den gesamten Tatzeitraum nicht auszuschließen vermocht, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner Grunderkrankung erheblich eingeschränkt war; bei einem Teil der Taten hat sie eine solche Einschränkung positiv festgestellt. Bei zwei Vorfällen hat sie nicht ausschließen können, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben und seine Einsichtsfähigkeit erheblich eingeschränkt war.
3
2. Der Schuldspruch kann insgesamt nicht bestehen bleiben; denn die Ausführungen des Landgerichts zur Schuldfähigkeit des Angeklagten sind rechtsfehlerhaft. Letzteres bedingt auch die Aufhebung des Strafausspruchs und der Unterbringungsanordnung.
4
a) Wenn sich das Tatgericht - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2007 - 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall in mehrfacher Hinsicht:
5
Das Landgericht hat es bereits unterlassen, das vom Sachverständigen diagnostizierte Störungsbild einem der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB zuzuordnen. Sodann fehlt die Darlegung, wie die paranoid-psychotische Störung auf den Angeklagten und seine Handlungsmöglichkeiten in den konkreten Tatsituationen eingewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juli 2014 - 3 StR 274/14, juris Rn. 4). Die §§ 20, 21 StGB setzen voraus, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit "bei Begehung der Tat" aufgehoben bzw. erheblich vermindert sind. Die Schuldfähigkeit ist deshalb in Bezug auf jede einzelne Tat zu prüfen. Erforderlich ist stets die konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts - oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146). Hierauf kann allein unter Hinweis auf die allgemeine Diagnose nicht verzichtet werden (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. August 2013 - 2 StR 128/13, NStZ-RR 2013, 368, 369; vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98; vom 2. Oktober 2007, aaO), denn deren Feststellung ist insbesondere auch bei bipolaren Störungen, bei denen eine große Bandbreite von Ausprägungen und Schweregraden besteht, für die Frage der Schuldfähigkeit nicht ausreichend aussagekräftig. In manischen Phasen kann es, je nach Ausprägung und Schwere, zur Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit, aber auch der Ein- sichtsfähigkeit kommen. Vor diesem Hintergrund genügen die Ausführungen in den Urteilsgründen nicht, die sich in den Verurteilungsfällen insoweit im Wesentlichen in der Mitteilung im Rahmen der Beweiswürdigung erschöpfen, der Sachverständige habe bei vier Taten eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit positiv festgestellt und im Übrigen auf der Grundlage der festgestellten Grunderkrankung nicht ausschließen können, dass der Angeklagte im gesamten Tatzeitraum krankheitsbedingt in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen sei.
6
b) Da deshalb weder auszuschließen ist, dass der Angeklagte in den Verurteilungsfällen voll schuldfähig war, noch dass er im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte, muss über den Schuldspruch und die strafrechtlichen Rechtsfolgen der Tat insgesamt neu verhandelt und entschieden werden. Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Aufhebung auch des freisprechenden Teils des Urteils nicht; denn nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist es möglich, in einer neuen Hauptverhandlung an Stelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen (BGH, Beschlüsse vom 29. Juli 2015 - 4 StR 293/15, NStZ-RR 2015, 315, 316; vom 5. August 2014 - 3 StR 271/14, BGHR StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1). Die jeweiligen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bei den einzelnen Taten beruhen auf einer mangelfreien Beweiswürdigung und sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben. Das neue Tatgericht kann insoweit ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen. Der Adhäsionsausspruch unterliegt ebenfalls nicht der Aufhebung (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 406a Rn. 8 mwN).
7
3. Im Übrigen ist das neue Tatgericht auf Folgendes hinzuweisen:
8
a) Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen der Zuwiderhandlung gegen eine vollstreckbare Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz verurteilt hat, belegen die bisherigen Feststellungen in den Fällen II. 2. und II. 3. der Urteilsgründe bereits die Voraussetzungen des § 4 GewSchG nicht. Die Verurteilung nach § 4 Satz 1 GewSchG wegen Zuwiderhandlung gegen eine Anordnung nach § 1 GewSchG setzt u.a. voraus, dass das Strafgericht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung überprüft und dabei deren tatbestandliche Voraussetzungen eigenständig feststellt; an die Entscheidung des Familiengerichts ist es insoweit nicht gebunden (BGH, Beschluss vom 28. November 2013 - 3 StR 40/13, BGHSt 59, 94). Tragfähige diesbezügliche Ausführungen enthalten die bisherigen Urteilsgründe - auch in ihrem Gesamtzusammenhang - nicht.
9
b) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme , die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht , dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat (en) zu entwickeln. Dabei sind an die Darlegungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt um einen Grenzfall handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338 mwN). Der Tatrichter muss die eine Unterbringung tragenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darstellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 349/13, juris Rn. 5). Hieran gemessen erscheinen die bisherigen, eher knappen Urteilsausführungen nicht bedenkenfrei.
10
c) Sollte das neue Tatgericht für die einzelnen Taten ebenfalls Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten verhängen, wird es § 47 StGB und die diesbezüglichen Darlegungsanforderungen zu beachten haben.
Becker Schäfer Gericke
Spaniol Tiemann

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 314/15
vom
27. Januar 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Diebstahls u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:270116B2STR314.15.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 27. Januar 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 26. März 2015 mit den Feststellungen aufgehoben; die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben jedoch aufrechterhalten. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Diebstahls in vier Fällen unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer vorangegangenen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und wegen Diebstahls in drei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es hat zudem angeordnet, den Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang weitgehend Erfolg.
2
1. Nach Überzeugung der Strafkammer entwendete der Angeklagte im Zeitraum von Juli 2012 bis März 2013 in fünf Fällen Tabakdosen, Parfum und Spirituosen aus Supermärkten und Kaufhäusern, um durch deren Verkauf seine Drogen- und Alkoholsucht zu finanzieren; im April 2013 stahl der Angeklagte einen unverschlossenen Pkw, mit dem er umherfuhr, ohne im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein. Im Dezember 2013 entwendete der Angeklagte in einem Hotelrestaurant aus der Handtasche einer Servicekraft deren Portemonnaie. Das Landgericht hat – stereotyp – in allen diesen Fällen „aufgrund der Psychose des Angeklagten“ einen „Zustand der erheblich verminderten Schuld- fähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen“ vermocht.
3
Hinsichtlich weiterer angeklagter Taten – Nötigung und versuchte Nötigung im Februar 2013, drei Fälle des (versuchten) Diebstahls aus unverschlossenen Kraftfahrzeugen sowie Körperverletzung und Beleidigung im Dezember 2013, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung im April 2014 – hat das sachverständig beratene Landgericht den Angeklagten freigesprochen, weil entweder die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner schizophrenen Erkrankung bzw. Psychose aufgehoben bzw. „die vollständige Auf- hebung der Steuerungsfähigkeit“ nicht ausgeschlossen werden könne.
4
Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Danach bestünde beim Angeklagten eine paranoide, aktuell unvollständig remittierte Schizophrenie und ein Abhängigkeitssyndrom von multiplen psychotropen Substanzen.
5
2. Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Gegen die Schuldfähigkeitsprüfung der Strafkammer bestehen durchgreifende Bedenken, so dass auch die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht rechtsfehlerfrei belegt sind.
6
a) Wenn sich der Tatrichter – wie hier – darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 mwN). Dies gilt auch in Fällen paranoider Schizophrenie; denn die Diagnose einer solchen Erkrankung führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 24. April 2012 - 5 StR 150/12, NStZ-RR 2012, 239; vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 mwN). Erforderlich ist vielmehr die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung sowie die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307).
7
b) Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
8
Dabei kann dahinstehen, ob die im Allgemeinen verbleibende Darlegung der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen schon nicht hinreichend deutlich macht, ob die Einschränkung der Schuldfähigkeit auf dem für die Anordnung der Maßregel erforderlichen, länger andauernden Defekt beruht (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. November 1987 - 5 StR 575/87, BGHR StGB § 63 Zustand 6 mwN). Jedenfalls fehlt eine nähere Darlegung des Ein- flusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den jeweils konkreten Tatsituationen, insbesondere in den Fällen, in denen der Angeklagte im Dezember 2013 Gegenstände aus Kraftfahrzeugen entwendet hat, um diese „zur Befriedigung seiner Alkohol- und Dro- gensucht gewinnbringend zu verkaufen“. Dies gilt umso mehr, als dass das Landgericht andererseits hinsichtlich des wenige Tage zuvor verübten Dieb- stahls aus einem Hotelrestaurant „lediglich“ nicht ausschließen konnte, dass der Angeklagte im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt habe.
9
Auch der als Anknüpfungstatsache herangezogene Umstand einer Unterbringung des Angeklagten im Dezember 2013 ist hinsichtlich der im Februar 2013 begangenen Tat, bei der die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen sein soll, von nicht näher erläuterter Aussagekraft, zumaldas Landgericht andererseits bei den Taten im März und April 2013 wiederum nicht ausschließen konnte, dass der Angeklagte „lediglich“ im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt habe.
10
c) Die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten – auch als Grundlage für die Anordnung nach § 63 StGB – bedarf daher insgesamt neuer Prüfung durch den Tatrichter. Das gilt auch hinsichtlich der Fälle, in denen das Landgericht „aufgrund der Psychose des Angeklagten“ einen „Zustand der er- heblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen“ vermocht hat; wegen des untrennbaren Zusammenhangs der Schuldfähigkeitsbeurteilung kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer erneuten – einheitlichen – Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten auch insoweit die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben war (zum Zweifelsgrundsatz bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung vgl. auch BGH, Beschluss vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14, NStZ-RR 2015, 71 [Leitsatz]).
11
3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass sich der neue Tatrichter zum Vollstreckungsstand des Urteils des Amtsgerichts Wiesbaden vom 10. März 2013 und des Strafbefehls des Amtsgerichts Offenbach am Main vom 14. März 2013 zu verhalten haben wird. Sollten die dort jeweils verhängten Geldstrafen im Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils erledigt gewesen sein und deshalb im Falle erneuter Verurteilung eine Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB ausscheiden, wäre ein Härteausgleich zu erwägen (vgl. auch BGH, Urteil vom 25. April 1990 - 3 StR 59/89, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 3; Beschluss vom 17. September 2014 - 2 StR 325/14). Fischer RiBGH Dr. Appl ist wegen Eschelbach Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. Fischer Zeng Bartel

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR171/14
vom
17. Juni 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 17. Juni 2014 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 7. Januar 2014 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrecht erhalten. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Körperverletzung und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit bei Begehung der Taten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Jedoch können die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den Anlasstaten bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).
2
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

I.


3
1. Nach den Feststellungen kam es in einem Zeitraum von vier Jahren bis zum Tattag, dem 6. Januar 2013, zwischen dem u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, vorbestraften Angeklagten und der Geschädigten, seiner Wohnungsnachbarin in einem Zweifamilienhaus in P. , regelmäßig zu Spannungen. Am Tattag schlug er der Geschädigten im Treppenhaus zunächst zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht, brachte sie danach durch einen Stoß mit seinen Händen so zu Fall, dass sie die Treppe zunächst bis zur Hälfte und dann – infolge erneuten Schubsens und Schlagens – die restlichen Stufen der Treppe hinunterfiel, wo sie vor ihrer Wohnungstür liegen blieb. Dort versetzte ihr der Angeklagte noch einen Fußtritt gegen die Rippen. Die Geschädigte erlitt durch den Vorfall eine Teilruptur des vorderen Kreuzbandes an ihrem rechten Knie sowie multiple Prellungen. Beim Einschreiten der daraufhin herbeigerufenen Polizeibeamten schlug der Angeklagte mehrfach um sich und versuchte, sich aus den Haltegriffen der Beamten zu befreien. Zum Tatzeitpunkt betrug seine Blutalkoholkonzentration 1,2 ‰.
4
2. Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat nach Auswertung der Akten und Anwesenheit in der Hauptverhandlung , jedoch – mangels Einwilligung – ohne Exploration des Angeklagten, ausweislich der Urteilsgründe im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
5
Der „ursprünglich intelligent“(e) Angeklagte habe um das Jahr 2000 einen „Leistungsknick“ erlebt. 2002 sei bei ihm zunächst ein „sensitiver Bezie- hungswahn“ diagnostiziert worden, später sei man „ziemlich sicher“ von einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie ausgegangen. Die häufigen Umzüge seien aus medizinischer Sicht als paranoide Symptomatik gedeutet worden; der Angeklagte habe dadurch versucht, sich den wahnhaft empfundenen negativen Einflüssen seiner Nachbarn zu entziehen. Er leide gegenwärtig unter einer zunehmenden Unfähigkeit zur Fortsetzung seiner Ausbildung; die auftretenden Verwahrlosungstendenzen sowie psychosozialen Defizite „sprä- chen für eine Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie“ mit „möglicherweise“ bereits eingetretener Chronifizierung und einer Neigung zu akuten Exazerbationen. Es „spreche viel dafür“, dass das Verhalten des Angeklagten gegenüber der Geschädigten aus einer krankheitsbedingten paranoiden Symptomatik resultiere; jedenfalls sei es „am ehesten“ mit dem Vorliegen einer solchen Symptomatik erklärbar. Für ein anderes Eingangsmerkmal des § 20 StGB hätten sich keine Hinweise ergeben; eine isolierte Alkoholproblematik liege beim Angeklagten nicht vor. Seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sei „mit allerhöchster Sicherheit“ eingeschränkt gewesen. Deren vollständige Aufhe- bung sei nicht sicher festzustellen, zumal beim Angeklagten statt eines Wahns auch psychotisch bedingter Ärger „ernsthaft in Betracht komme“. „Allgemein“ gelte, dass an Schuldunfähigkeit in einem akuten psychotischen Schub „kaum je“ ein Zweifel bestehe.

II.


6
Mit diesen Ausführungen werden die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht rechtsfehlerfrei belegt.
7
1. Wenn sich der Tatrichter – wie hier – darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2007 – 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39 mwN). Dies gilt auch in Fällen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie; denn die Diagnose einer solchen Erkrankung führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 24. April 2012 – 5 StR 150/12, NStZ-RR 2012, 239; vom 23. August 2012 – 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98; Beschluss vom 29. April 2014 – 3 StR 171/14). Erforderlich ist vielmehr die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung sowie die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2007 aaO; Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307). Diese Darlegungsanforderungen hat der Tatrichter auch dann zu beachten, wenn der Angeklagte – wie im vorliegenden Fall – eine Exploration abgelehnt hat (BGH, Beschluss vom 31. Januar 1997 – 2 StR 668/96, BGHR StGB § 63 Zustand 21).
8
2. Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
9
Dabei kann dahinstehen, ob die im Allgemeinen verbleibende, zusammenfassende Darlegung der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen schon nicht hinreichend deutlich macht, ob die Einschränkung der Schuld- fähigkeit auf dem für die Anordnung der Maßregel erforderlichen, länger andauernden und nicht nur vorübergehenden Defekt beruht hat (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. November 1987 – 5 StR 575/87, BGHR StGB § 63 Zustand 6 mwN), weil der Sachverständige eine Chronifizierung der in Betracht gezogenen Erkrankung lediglich für möglich gehalten hat. Jedenfalls fehlt eine nähere Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation. Die Urteilsgründe teilen auch insoweit lediglich das Ergebnis der medizinischen Diagnose des psychiatrischen Sachverständigen mit, wonach das Verhalten des Angeklagten gegenüber der Geschädigten und den Polizeibeamten die Annahme einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie mit paranoider Symptomatik nahelege. Als Anknüpfungspunkte für diese Diagnose werden Umstände herangezogen, die zum einen in der früheren Krankengeschichte des Ange- klagten liegen, so etwa sein vor über zehn Jahren eingetretener „Leistungsknick“ , zum anderen Umstände von nur begrenzter und nicht näher erläuterter Aussagekraft, wie etwa häufige Umzüge, durch die der Angeklagte versucht habe, sich wahnhaft empfundenen negativen Einflüssen seiner Nachbarn zu entziehen. Demgegenüber wird das Vorliegen eines akuten psychotischen Schubs – im Rahmen der Erörterung einer möglicherweise vollständig aufgehobenen Schuldfähigkeit – lediglich abstrakt als Möglichkeit in Betracht gezogen und mit der Erwägung, es komme auch psychotisch bedingter Ärger ernsthaft in Betracht, wieder relativiert. Eine situationsbezogene Erörterung der Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten unter dem Einfluss der psychischen Erkrankung zum Zeitpunkt der Taten fehlt. So wird auch nicht erkennbar erwogen, dass der Angeklagte vor den Widerstandshandlungen gegenüber den Polizeibeamten freiwillig in den Streifenwagen stieg, sich mithin situationsangepasst verhielt.
10
3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass die vom Landgericht zur ersten Anlasstat getroffenen Feststellungen auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in seiner Auslegung durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 – 2 BvR 298/12, RuP 2014, 31) grundsätzlich geeignet sind, die Anordnung der Maßregel zu tragen. Der neue Tatrichter wird jedoch bei der Gefährlichkeitsprognose das bislang nicht näher erläuterte spannungsgeladene Verhältnis zwischen dem Angeklagten und der in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnenden Geschädigten in einem Zeitraum von vier Jahren vor der hier verfahrensgegenständlichen Tat eingehender in den Blick nehmen müssen.
Mutzbauer Roggenbuck Cierniak
Franke Quentin

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 S t R 2 8 7 / 1 5
vom
29. September 2015
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 29. September
2015, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß
als Vorsitzender,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Jäger,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Cirener,
der Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Radtke
und die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Fischer,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 2. Februar 2015 mit den Feststellungen aufgehoben; die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben jedoch aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB angeordnet. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer unbeschränkten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, insgesamt die Verletzung materiellen Rechts, wobei sie die Anordnung der vom Landgericht abgelehnten Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB anstrebt.
2
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat weitgehend Erfolg.

I.

3
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
4
Der Beschuldigte, der bereits sieben Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, davon auch zweimal wegen Körperverletzungsdelikten und zweimal wegen Bedrohung, wobei eine der Bedrohungen mit einem gefährlichen Gegenstand vorgenommen wurde, leidet an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des impulsiven Typs (ICD-10: F60.30) und erheblichem Alkoholmissbrauch.
5
Am 3. Juni 2014 konsumierte er nach einem für ihn enttäuschenden Gang zum Arbeitsamt unbekannte Mengen an Bier und Schnaps. Als seine Ehefrau ihm gegen 16.00 Uhr begegnete, beschimpfte der erheblich alkoholi- sierte Beschuldigte sie als „Schlampe“ und dass sie mit anderen Männern schlafe, und folgte ihr auf ihrem Weg zur Bank. Hierbei passierte er den Biergarten eines Spielcenters, in dem sich die Gäste unterhielten und lachten. Der Beschuldigte war der Ansicht, die besagten Biergartengäste würden über ihn lachen, und ging nach Hause, um ein Samuraischwert (Gesamtlänge 98,5 cm, Klingenlänge 69,5 cm) und eine Machete (Gesamtlänge 49 cm, Klingenlänge 36,5 cm) zu holen. Hiermit fuchtelnd stellte er sich gegen 17.00 Uhr vor den Biergarten und rief den circa fünf bis sieben Metern entfernten Biergartengäs- ten, die seines Erachtens zuvor über ihn gelacht hatten, zu: „Dein Kopf gehört mir“ sowie „Rufts die Polizei“. Der Beschuldigte wollte sichmit dieser Drohung rächen, jedoch niemandem wirklich den Kopf abschlagen. Die Geschädigten verließen hierauf den Biergarten und riefen um 17.02 Uhr die Polizei, während der Beschuldigte in seine benachbarte Wohnung zurückkehrte und eine Langwaffe , Modell Carcano 1891, 6,5 mm Kaliber, bei der das Patronenlager ver- schlossen war, so dass die Waffe nicht mehr zum Verschießen von Munition geeignet war, holte.
6
Wieder am Biergarten angekommen richtete der Beschuldigte die Waffe auf die dort ermittelnden Polizeibeamten, PHM R. , PK W. und POK S. , und rief diesen zu, dass es sich um eine scharfe Waffe handele , die geladen sei, und er auch mit dieser umgehen könne. Daraufhin gingen die Polizeibeamten in Deckung und konnten ihre Ermittlungen nicht fortsetzen. Der Beschuldigte legte die Langwaffe ab und nahm erneut das Samuraischwert und die Machete zur Hand, ging mit diesen zur nächsten Kreuzung und forderte mit dem Samuraischwert und der Machete fuchtelnd wiederholt die Polizeibeamten auf, ihn zu erschießen. Dabei ging er zunächst aggressiv auf PHM R. zu, der rückwärts wich und den Beschuldigten aufforderte, die Messer wegzulegen. Als der Beschuldigte sich kurzzeitig neben dem Polizeibus niederkniete , erweckte er den Eindruck, er würde aufgeben, stand dann jedoch wieder auf und ging - erneut mit Samuraischwert und Machete in der Hand - diesmal auf POK S. mit der Forderung zu, ihn zu erschießen. POK S. wich circa 15 Meter mit gezückter Waffe zurück, aber der Beschuldigte schloss immer weiter auf. Auch PHM R. , PHM A. und PK W. hatten jeweils die Dienstwaffe gezückt und waren schussbereit. Als der Beschuldigte nur noch circa zwei Meter von POK S. entfernt war, feuerte PHM R. auf den Beschuldigten. Das Projektil ging durch den rechten Oberschenkel des Beschuldigten und schlug letztlich im linken Knie ein. Da der Beschuldigte nicht direkt zu Boden ging, folgten zwei weitere Schüsse, bis der Beschuldigte überwältigt werden konnte.
7
Der Beschuldigte hatte nach den Feststellungen des Landgerichts nicht vor, einen der Polizeibeamten zu verletzen und erachtete dies, da er die Messer zuletzt nach unten gerichtet hielt, auch nicht für möglich. Er wollte mit sei- nem Vorgehen ausschließlich die vier Polizeibeamten zur Schussabgabe auf ihn zwingen. Eine Blutprobe des Beschuldigten ergab im Wege der Rückrechnung eine maximale BAK von 2,6 Promille zum Tatzeitpunkt. Die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten war bei der Tat aufgrund einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen sowie eines leicht- bis mittelgradigen Rauschzustands mit kognitiven Funktionseinbußen wie Stimmungslabilität und deutlichen Aufmerksamkeitsstörungen sicher erheblich vermindert (§ 21 StGB) und nicht ausschließbar aufgehoben (§ 20 StGB).
8
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat das Landgericht abgelehnt.

II.

9
Das Urteil hält materiell-rechtlicher Nachprüfung weitgehend nicht stand.
10
1. Die Ablehnung der Maßregelanordnung nach § 63 StGB weist durchgreifende Rechtsfehler auf.
11
a) Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten bei den am 3. Juni 2014 begangenen Taten in Folge einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen sowie eines leicht- bis mittelgradigen Rauschzustands mit kognitiven Funktionseinbußen wie Stimmungslabilität und deutlichen Aufmerksamkeitsstörungen sicher erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB und nicht ausschließbar sogar aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war. Hierbei teilt das landgerichtliche Urteil jedoch nicht mit (wie aber erforderlich, vgl. u.a. BGH, Be- schluss vom 21. Juli 2015 - 2 StR 163/15), welches Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB vorliegend erfüllt ist und ob es sich dabei nur um eine vorübergehende Störung oder einen länger andauernden Defektzustand gehandelt hat. Dabei muss vom Tatgericht im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte , einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 18.November 2013 - 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 75, 76 mwN). Dies kann schon deshalb nicht offen bleiben, weil die im Rahmen des § 63 StGB zu erstellende Gefährlichkeitsprognose maßgeblich an den Zustand des Betroffenen anknüpft (BGH, Beschluss vom 18. November 2013 - 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 75, 77) und eine Unterbringung nach § 63 StGB nur in Betracht kommt, wenn eine länger andauernde Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Gesundheit vorliegt. Vorübergehende Defekte genügen nicht (BGH, Urteil vom 10. August 2005 - 2 StR 209/05, NStZ-RR 2005, 370, 371; van Gemmeren in MüKoStGB, 2. Aufl., § 63 Rn. 31; Schöch in Leipziger Kommentar, 12. Aufl., § 63 Rn. 8). Auch bei Zusammenwirken von Persönlichkeitsstörung und Alkoholkonsum kann eine Unterbringung nach § 63 StGB angebracht sein, wenn der Beschuldigte an einer krankhaften Alkoholsucht leidet, in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist oder an einer länger andauernden geistig-seelischen Störung leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können und dies getan haben (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 1. April 2014 - 2 StR 602/13, NStZ-RR 2014, 207). Die Ausführungen des Landgerichts hierzu ermöglichen jedoch keine abschließende Beurteilung, ob ein solcher Fall hier gegeben ist.
12
b) Bei der Prüfung der Maßregelanordnung führt das Landgericht weiter aus, der Beschuldigte habe zwar im Zustand sicher verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) rechtswidrige Taten begangen, nämlich Bedrohungen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung und versuchte Nötigungen, und es müsse bei dem Beschuldigten auch künftig mit vergleichbaren Taten gerechnet werden. Gleichwohl lehnt es die Maßregelanordnung ab, weil es - sich dem Sachverständigen diesbezüglich anschließend - keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür erkenne, dass der Beschuldigte künftig eine versuchte oder vollendete Körperverletzung begehen werde. Unter Berücksichtigung der Vorstrafen des Beschuldigten und der hiesigen Tatbegehung, die ebenfalls nicht auf eine Körperverletzung, sondern nur auf Bedrohungs-, Nötigungs- und Widerstandshandlungen abzielte, sei auch für die Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades nur mit Bedrohungs- und Nötigungsdelikten zu rechnen.
13
Zutreffend hat das Landgericht zwar erkannt, dass die Anlasstat selber nicht erheblich im Sinne des § 63 StGB sein muss. Maßgeblich ist vielmehr, welche Taten künftig von dem Täter infolge seines Zustands zu erwarten sind und ob diese erheblich sind (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 15. August 2013 - 4 StR 179/13). Die Ausführungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose lassen jedoch besorgen, dass es einen zu strengen Maßstab angelegt und verkannt hat, dass es nicht zwingend einer Körperverletzung als künftig zu erwartender Straftat bedarf. Bereits der erneut zu erwartende Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, bei dem jedenfalls von einem unbenannten besonders schweren Fall gemäß § 113 Abs. 2 Satz 1 StGB auszugehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 1972 - 2 StR 264/72), kann als mittlere Kriminalität gewertet werden. Ohnehin müssen die zu erwartenden Taten zwar grundsätzlich im Bereich mittlerer Kriminalität liegen, jedoch ist eine Unterbringung nach § 63 StGB auch unter dieser Schwelle nicht völlig ausgeschlossen. Dann ist allerdings eine besonders sorgfältige Darlegung der Gefährlichkeitsprognose und der konkreten Ausgestaltung der Taten erforderlich (BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14, NStZ 2014, 571, 573; vom 18. November 2013 - 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 75 und vom 6. März 2013 - 1 StR 654/12, NStZ-RR 2013, 303, 304 f.). Auch Todesdrohungen können eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechtsfriedens darstellen, insbesondere wenn diese unter Einsatz gefährlicher Gegenstände ausgesprochen werden (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. November 2013 - 1 StR 594/13, NStZ-RR 2014, 75, 77) und den Bedrohten nachhaltig und massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden beeinträchtigen , da die Bedrohung aus Sicht des Betroffenen die nahe liegende Gefahr ihrer Verwirklichung in sich trägt (BGH, Urteil vom 21. Mai 2014 - 1 StR 116/14; Beschlüsse vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338; vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 271, 272 und vom 3. April 2008 - 1 StR 153/08, StraFo 2008, 300, 301).
14
Vorliegend hat sich das Landgericht weder mit der Tatsache, dass sich der Beschuldigte mit einem Samuraischwert und einer Machete bis auf zwei Meter POK S. näherte und mit diesen Gegenständen bereits zuvor die Gäste des Biergartens mit einem derart massiven Auftreten bedroht hatte, dass diese sich ins Gebäude in Sicherheit brachten, noch mit dem Umstand, dass der Beschuldigte zwischenzeitlich eine für die Betroffenen nicht erkennbar funktionsunfähige Langwaffe zur Unterstreichung seiner Drohungen verwendete , auseinandergesetzt. Auch die Vorstrafen des Beschuldigten, unter anderem wegen Körperverletzungsdelikten und Bedrohungen mit gefährlichen Gegenständen , bleiben in diesem Zusammenhang unerörtert. Dies genügt nicht den Anforderungen an eine rechtsfehlerfreie Ablehnung der Unterbringung nach § 63 StGB.
15
Das Übermaßverbot nach § 62 StGB würde hier einer Anordnung gemäß § 63 StGB nicht grundsätzlich entgegenstehen. Bei einer Abwägung der Gefahr für die Allgemeinheit aufgrund der vom Beschuldigten begangenen und zu erwartenden Taten gegenüber willkürlichen Opfern und des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht der von der Maßregel nach § 63 StGB Betroffenen stünde dieser Eingriff nicht von vorneherein außer Verhältnis (vgl. auch BGH, Urteil vom 30. November 2011 - 1 StR 341/11).
16
Die Ablehnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB ist auch nicht deshalb hinzunehmen, weil eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet worden ist. Da das Landgericht sich nicht dazu verhält, ob in erster Linie die Behandlung der Persönlichkeitsstörung oder des Alkoholmissbrauchs oder beider Phänomene erforderlich ist, können die Voraussetzungen des § 72 StGB ebenfalls nicht überprüft werden.
17
2. Die Anordnung der Unterbringung in einer Enziehungsanstalt nach § 64 StGB ist ohnehin nicht frei von Rechtsfehlern. Die Bejahung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB begegnet rechtlichen Bedenken. Das Landgericht setzt sich insoweit über den Sachver- ständigen hinweg, der „Zweifel geäussert (hat), ob der Beschuldigte kognitiv und intellektuell in der Lage sei, eine Entziehungsbehandlung erfolgreich durchzustehen“ (UA S. 15). Genauere Ausführungen zu den wesentlichen An- knüpfungspunkten und Ausführungen des Sachverständigen lässt das landgerichtliche Urteil jedoch vermissen und verhält sich auch nicht zu der vom Sachverständigen für erforderlich gehaltenen testpsychologischen Zusatzuntersuchung. Zwar darf das Landgericht von der Einschätzung des Sachverständigen abweichen, doch hätte es sich dafür erschöpfend mit dessen Ausführungen auseinandersetzen und diese im Einzelnen darlegen müssen, da andernfalls dem Revisionsgericht eine Prüfung nicht möglich ist, ob der Tatrichter das Gut- achten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat sowie woher sich sein besseres Fachwissen ergibt, nachdem er zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (BGH, Urteile vom 12. Juni 2001 - 1 StR 190/01 und vom 10. Dezember 2009 - 4 StR 435/09, NStZ-RR 2010, 105, 106; BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05, NStZ-RR 2006, 242, 243). Dem genügt der bloße Verweis auf die Ernüchterung des Beschuldigten durch die eigenen Verletzungen als Tatfolgen und die dadurch bedingte Therapiebereitschaft nicht.
18
Ohne eine Bestimmung des Eingangsmerkmals im Sinne der §§ 20, 21 StGB einerseits und nähere Ausführungen zur Therapierbarkeit der Persönlichkeitsstörung und des Alkoholmissbrauchs andererseits ist die erforderliche Grundlage für die Beurteilung der hinreichend konkreten Erfolgsaussicht nicht gegeben (vgl. z.B. auch BGH, Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11).
19
3. Das angefochtene Urteil war daher (sowohl als die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet als auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt worden war) aufzuheben.
20
Die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass erneut eine Unterbringung des Beschuldigten angeordnet wird.
21
4. Von der Aufhebung nicht betroffen sind jedoch die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die deshalb bestehen bleiben. Denn die diesen Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung weist keinen Rechtsfehler auf (§ 353 Abs. 2 StPO). Insoweit war die Revision zu verwerfen. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen. Rothfuß Jäger Cirener Radtke Fischer

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 56/15
vom
14. Oktober 2015
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Oktober 2015 gemäß
§ 349 Abs. 1 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 14. August 2014 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

1
Die Revision des Angeklagten richtet sich gegen das freisprechende Urteil des Landgerichts Regenburg vom 14. August 2014, durch dessen Entscheidungsgründe sich der Angeklagte beschwert sieht.
2
Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unzulässig.

I.


3
Das Landgericht Regensburg hat den Angeklagten mit Urteil vom 14. August 2014 freigesprochen und ihm für näher bezeichnete Zeiträume der Unterbringung eine Entschädigung zugesprochen.
4
1. Der Angeklagte war zunächst durch Urteil des Landgerichts NürnbergFürth vom 8. August 2006 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und von den angeklagten Tatvorwürfen zum Teil aus rechtlichen und zum Teil aus tatsächlichen Gründen freigesprochen worden. Das Landgericht NürnbergFürth hatte die Vorwürfe der gefährlichen Körperverletzung am 12. August 2001, der Körperverletzung mit Freiheitsberaubung am 31. Mai 2002 und der Sachbeschädigung in acht Fällen im Zeitraum zwischen dem 31. Dezember 2004 und dem 1. Februar 2005 in tatsächlicher Hinsicht für erwiesen erachtet, die Schuldfähigkeit des Angeklagten dabei jedoch für nicht ausschließbar aufgehoben gehalten. Von dem weiteren Vorwurf des Diebstahls am 23. November 2002 hatte sich das Landgericht Nürnberg-Fürth in tatsächlicher Hinsicht nicht zu überzeugen vermocht. Sachverständig beraten war das Landgericht Nürnberg -Fürth ferner zu der Überzeugung gelangt, der Angeklagte werde auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen und sei daher für die Allgemeinheit gefährlich. Es hatte deshalb seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.
5
Die Revision des Angeklagten gegen die Anordnung dieser Maßregel hat der Senat mit Beschluss vom 13. Februar 2007 gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
6
Die Anträge des Angeklagten wie auch der Staatsanwaltschaft Regensburg , die Wiederaufnahme des Verfahrens zuzulassen und die Erneuerung der Hauptverhandlung anzuordnen, hat das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 24. Juli 2013 als unzulässig verworfen. Auf die sofortigen Beschwerden der beiden Antragsteller hat das Oberlandesgericht Nürnberg die Wiederaufnahme des Verfahrens mit Beschluss vom 6. August 2013 zugelassen, die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen. Die erneute Hauptverhandlung ist dabei auf die beiden Vorwürfe der Körperverletzung sowie die Vorwürfe der Sachbeschädigung beschränkt worden; der Freispruch vom Vorwurf des Diebstahls ist rechtskräftig verblieben.
7
2. Das Landgericht Regensburg hat den Angeklagten mit Urteil vom 14. August 2014 freigesprochen, ohne eine Maßregel anzuordnen. Die Vorwürfe der Körperverletzung mit Freiheitsberaubung vom 31. Mai 2002 sowie der Sachbeschädigung in den Jahren 2004 und 2005 hat es nach der Beweiswürdigung als nicht erwiesen angesehen und den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Im Hinblick auf den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung vom 12. August 2001 ist das Landgericht Regensburg zu der Überzeugung gelangt, der Angeklagte habe den gesetzlichen Tatbestand vorsätzlich und rechtswidrig erfüllt, habe im Tatzeitpunkt aber nicht ausschließbar ohne Schuld im Sinne des § 20 StGB gehandelt. Der Freispruch des Angeklagten von diesem Vorwurf fußt auf diesen rechtlichen Erwägungen.
8
3. Der Angeklagte beanstandet nunmehr mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Revision seine Freisprechung, soweit diese (nur) aus Rechtsgründen erfolgt ist; die für die Zulässigkeit seines Rechtsmittels erforderliche Be- schwer leitet er aus den vom Landgericht Regensburg zum objektiven Tatgeschehen getroffenen Feststellungen ab.

II.


9
Die Revision des Angeklagten ist unzulässig und war daher gemäß § 349 Abs. 1 StPO zu verwerfen.
10
Die Freisprechung wegen nicht erwiesener Schuldfähigkeit im Sinne von § 20 StGB beschwert den Angeklagten nicht. Sie kann deshalb von ihm nicht mit der Revision angefochten werden.
11
1. Ein Angeklagter kann eine Entscheidung nur dann zulässig anfechten, wenn er durch sie beschwert ist. Dies bedeutet, dass die Urteilsformel einen unmittelbaren Nachteil für den „Beschwerten“ enthalten muss, der seine Rechte und geschützten Interessen unmittelbar beeinträchtigt. Es genügt nicht, wenn ihn nur der Inhalt der Urteilsgründe in irgendeiner Weise belastet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1955 – 5 StR 499/54, BGHSt 7, 153 ff. [Freisprechung aus sachlichen Gründen]; Urteil vom 26. März 1959 – 2 StR 566/58, BGHSt 13, 75, 76 f. [Einstellung wegen Verjährung]; Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 376 ff.; Urteil vom 4. Mai 1970 – AnwSt (R) 6/69, BGHSt 23, 257, 259 [Verurteilung vor dem Ehrengericht ]; Urteil vom 21. März 1979 – 2 StR 743/78, BGHSt 28, 327, 330 f. [Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB]; Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15 [Nichtanordnung der Maßregel nach § 63 StGB]; KG, Beschluss vom 11. Juli 2014 – 2 Ws 252/14141 AR 316/14; OLG München NJW 1981, 2208; zuvor bereits RGSt 4, 355, 359).
12
a) Bei dem Erfordernis der Tenorbeschwer handelt es sich um ein richterrechtlich entwickeltes Rechtsmittelerfordernis, hinter dessen historischer Entstehung der Gedanke vom staatlichen Strafanspruch steht. Die Aufgabe eines Strafverfahrens liegt in der justizförmigen Prüfung, ob gegen den Angeklagten ein staatlicher Strafanspruch besteht (vgl. BVerfGE 80, 244, 255; 95, 96, 140; BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 378; und vom 18. März 2015 – 2 StR 656/13, Rn. 13, NJW-Spezial 2015, 569 f.). Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechtspflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt. Dem Angeklagten mag im Einzelfall zwar daran liegen, aus einem bestimmten Grund – etwa wegen erwiesener Unschuld – freigesprochen zu werden. Insoweit stehen seinem Verlangen aber die Interessen der staatlichen Rechtspflege entgegen, der die Feststellung genügt, dass gegen den Angeklagten kein Strafanspruch besteht und keine Maßregel in Betracht kommt. So wird etwa auch bei nicht hinreichendem Tatverdacht gegen den Angeschuldigten das Hauptverfahren nicht eröffnet (§ 203 StPO), selbst wenn dieser das Interesse haben sollte, sich öffentlich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu reinigen. Die allgemeine Aufgabe der Strafrechtspflege zwingt aus prozesswirtschaftlichen Gründen zur Beschränkung im einzelnen Strafverfahren, insbesondere um eine uferlose Ausweitung der Beweisaufnahme zu vermeiden. Hat der Angeklagte daher keinen Anspruch darauf, aus einem bestimmten Grund freigesprochen zu werden, so kann ihm auch nicht das Recht zustehen, einen solchen Anspruch durch ein Rechtsmittel geltend zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 380). Etwaige durch die Entscheidungsgründe des Tatgerichts verursachte Folgen tatsächlicher Art würden durch ein Rechtsmittel ohnehin nicht rückgängig gemacht werden können (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15).
13
Eine Beschwer kann sich deshalb für den Angeklagten nur aus der Entscheidungsformel des Urteils ergeben. Ein ihm günstigeres Ergebnis als die Freisprechung kann der Angeklagte nicht erzielen. Sonstige Rechts- und Interessenverletzungen durch die Gründe der Entscheidung, die nur die „Unterla- gen des Urteils“ bilden (vgl. RGSt 4, 355, 359), sind der Überprüfung durch ein Rechtsmittelgericht demgegenüber entzogen. Auch mittelbare Folgen des Verfahrens , etwa der gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 BZRG zwingende Registereintrag oder Verwaltungsangelegenheiten, begründen keine Beschwer, die zur Zulässigkeit der Revision führt. Dem hat sich das Schrifttum überwiegend angeschlossen (vgl. Cirener in: Graf, StPO, 2. Aufl., § 296 Rn. 8; Hannich in: Karlsruher Kommentar, 7. Aufl., vor § 296 Rn. 5a; Jesse in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., vor § 296 Rn. 57; Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., vor § 296 Rn. 11 und 13; Krack, Die Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 186 ff. und S. 194 ff.; Radtke in: FS für Roxin, Bd. 2, S. 1419, 1427 ff.).
14
Auf den Fall der Freisprechung wegen Schuldunfähigkeit hat der Bundesgerichtshof diese Grundsätze in der Vergangenheit bereits angewendet und dem Angeklagten die Rechtsmittelbefugnis mangels Beschwer verwehrt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 376 ff.). Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
15
b) Nach Maßgabe dessen ist der Angeklagte durch das freisprechende Urteil der Strafkammer nicht beschwert. Eine Beschwer ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass die Strafkammer in tatsächlicher Hinsicht für den Angeklagten nachteilige Feststellungen zu dem Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung am 12. August 2001 getroffen und die Freisprechung in Anwendung des Zweifelssatzes auf die Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Sinne von § 20 StGB gestützt hat.
16
aa) Erfolgt ein Freispruch aus rechtlichen Gründen, sind Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen in den Urteilsgründen aus Rechtsgründen erforderlich und geboten. Dies gilt mit Blick auf die für den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft gleichermaßen bestehende Rechtsmittelbefugnis in besonderem Maße in Konstellationen wie der vorliegenden, wenn der Freispruch wegen fehlender Schuldfähigkeit erfolgt. Denn Schuld im Sinne von § 20 StGB bedeutet Vorwerfbarkeit und ist ein Rechtsbegriff, keine empirisch-medizinische Diagnose. Für deren Vorliegen kommt es auf den Zustand des Angeklagten bei Begehung der Tat (§ 8 StGB) an; sein Zustand ist genau für diesen Zeitpunkt festzustellen und zu bewerten (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 77; und vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45,

53).


17
So setzt die rechtsfehlerfreie Anwendung des auch für die Frage der (vollen ) Schuldfähigkeit geltenden Zweifelssatzes die umfassende Prüfung des Vorliegens und der Schwere eines festgestellten Eingangsmerkmals des § 20 StGB voraus. Hat ein Sachverständiger eine schwere Abartigkeit weder bejaht noch ausgeschlossen, liegt ein Rechtsfehler vor, wenn der Tatrichter “deshalb” “zu- gunsten” des Angeklagten ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchti- gung dessen Hemmungsvermögens ausgeht. Die Urteilsgründe müssen sich vielmehr dazu verhalten, in welchem Ausmaß sich das Eingangsmerkmal beim Tatentschluss oder der Tatausführung ausgewirkt hat. Etwa das Gewicht der Tat und die dadurch beeinflusste Höhe der von ihr ausgehenden Hemmschwelle können dabei für die Beurteilung Bedeutung gewinnen. Sie müssen deshalb festgestellt und in den Urteilsgründen in für das Revisionsgericht nachprüfbarer Weise dargelegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1960 – 2 StR 640/59, BGHSt 14, 114, 116; vom 21. September 1982 – 1 StR 489/82, NJW 1983, 350; und vom 6. Mai 1997 – 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485, 486; Beschluss vom 28. Oktober 2009 – 2 StR 383/09, NStZ-RR 2010, 73, 74).
18
Auch der allgemein anerkannte Grundsatz, dass die Schuldfähigkeit regelmäßig nur in Beziehung auf einen bestimmten Straftatbestand, nicht aber unabhängig von diesem beurteilt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1960 – 2 StR 640/59, BGHSt 14, 114, 116; und vom 21. September 1982 – 1 StR489/82, NJW 1983, 350), erfordert Feststellungen zum Tatgeschehen im Urteil. Vor allem die Frage der Hemmungsfähigkeit lässt sich bei den verschiedenartigen Straftaten nur selten einheitlich beantworten. So kann ein Betrunkener , der seinen Geschlechtstrieb nicht mehr zu beherrschen vermag und deshalb im Rausch den Versuch einer Sexualstraftat begeht, möglicherweise sehr wohl noch fähig sein, Hemmungen gegenüber einem Raubmotiv einzuschalten ; wer sich infolge seines Rausches schuldlos zu einer Beleidigung hinreißen lässt, kann für eine gefährliche Körperverletzung noch verantwortlich sein (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1960 – 2 StR 640/59, BGHSt 14, 114, 116).
19
Soweit entsprechende Feststellungen für den freigesprochenen Angeklagten ungünstig sind und ihn in tatsächlicher Hinsicht beschweren, hat der Gesetzgeber dies grundsätzlich als Folge des justizförmigen Strafverfahrens hingenommen.
20
bb) Diesen Erwägungen hat das Landgericht in dem angegriffenen Urteil Rechnung getragen. Es hat in nicht zu beanstandender Weise dargelegt, von welchem Tatablauf es im Hinblick auf den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung am 12. August 2001 ausgegangen ist. Dabei hat das Landgericht die Feststellungen auf das aus Rechtsgründen Erforderliche beschränkt. Es hat seine Darstellung des Tatgeschehens und der Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin sachlich gehalten und sich weitgehend auf die Angabe der für erwiesen erachteten Tatsachen beschränkt. Diese Feststellun- gen bilden die von Gesetzes wegen notwendige „Unterlage“ (vgl.RGSt 4, 355, 359 f.) der Entscheidungsformel. Sie vermittelt dem Angeklagten keine Rechtsmittelbefugnis.
21
2. Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben, die in extrem gelagerten Ausnahmefällen zu einer Durchbrechung dieser Grundsätze führen können, ergibt sich vorliegend nichts anderes. Das Bundesverfassungsgericht hält den einfachrechtlichen Grundsatz der Tenorbeschwer nicht nur in ständiger Rechtsprechung für verfassungsgemäß, sondern hat diesen auf die Prüfung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden sogar jedenfalls grundsätzlich übertragen (vgl. BVerfGE 28, 151, 160 f.; BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 2012 – 2 BvR 800/12, 2 BvR 12 BvR 1003/12 (3. Kammer des 2. Senats), Rn. 8 mwN, juris).
22
a) Die Gestaltung des strafprozessualen Rechtsmittelverfahrens und die Auslegung der dafür geltenden Rechtsnormen (§§ 296 ff. StPO) ist originäre Anwendung des einfachen Rechts. Einen verfassungsrechtlich verbürgten An- spruch auf Rechtsmittelkontrolle durch eine übergeordnete Instanz schlechthin gibt es nicht (vgl. BVerfGE 4, 74, 94 f.; 6, 7, 12).
23
b) Indes kann in seltenen Ausnahmefällen auch ein freisprechendes Urteil durch die Art seiner Begründung Grundrechte verletzen (vgl. BVerfGE 6, 7, 9; 28, 151, 160). So kann in einzelnen Ausführungen der Entscheidungsgründe eine Grundrechtsverletzung dann erblickt werden, wenn sie – für sich genommen – den Angeklagten so schwer belasten, dass eine erhebliche, ihm nicht zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird. Das ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die Entscheidungsgründe einzelne, den Beschwerde- führer belastende oder für ihn „unbequeme“ Ausführungen enthalten (vgl. BVerfGE 28, 151, 161).
24
c) Unter Anwendung dieser Maßstäbe liegt ein Ausnahmefall, der zum Zwecke der Wahrung der verfassungsmäßig verbürgten Rechte des Angeklagten einfachrechtlich die Zulässigkeit seiner Revision zur Folge hat, nicht vor. Wie bereits dargelegt, beschränken sich die von der Strafkammer getroffenen Feststellungen auf das gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO für die Überprüfung der Urteilsgründe auf Rechtsfehler erforderliche Maß. Aus welchen Feststellungen genau sich eine schlechthin unerträgliche Beschwer für den Angeklagten ergeben soll, legt auch die Revision nicht dar. Ihr Vortrag, das Urteil enthalte „seitenweise negative Aussagen über den Revisionsführer“ (RB S. 5) und setze diesen dem Vorwurf des „gefährlichen Gewaltverbrechers“ (RB S. 15)aus, belegen dies nicht. Für den Angeklagten schlicht unangenehme Aussagen reichen nicht aus. Auch aus der Medienwirksamkeit des Strafverfahrens kann sich eine Beschwer im genannten Sinne nicht ergeben, denn diese ist nicht Folge des Urteils und der Entscheidungsgründe selbst. Beeinträchtigungen des Angeklag- ten aufgrund öffentlicher Berichterstattung können im Falle seiner Verurteilung im Rahmen der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen sein, wenn der Druck der medialen Berichterstattung erheblich über das hinaus geht, was jeder Straftäter über sich ergehen lassen muss (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2007 – 1 StR 164/07, NStZ-RR 2008, 343, 344). Die damit einhergehende seelische Belastung eines Angeklagten kann unter Umständen das Maß des staatlichen Strafanspruchs beeinflussen, seine Rechtsmittelbefugnis bleibt davon indessen unberührt.
25
3. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt gleichfalls keinen Anlass, das Erfordernis der Tenorbeschwer für die Zulässigkeit der strafprozessualen Revision aufzugeben.
26
a) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann die durch Art. 6 Abs. 2 MRK garantierte Unschuldsvermutung auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es soll dafür nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung ankommen. Ein Konventionsverstoß kann etwa zu bejahen sein, wenn das nationale Gericht im Fall des Freispruchs aus sachlichen Gründen durch die Urteilsgründe zum Ausdruck bringt, es sei von der Schuld des Angeklagten tatsächlich überzeugt (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland).
27
Bereits zuvor hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger Rechtsprechung eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 MRK bejaht, wenn eine Gerichtsentscheidung oder die Äußerung eines Amtsträgers nach seiner Bewertung zu erkennen gab, eine einer Straftat angeklagte Person sei schuldig, obwohl der gesetzliche Beweis ihrer Schuld noch nicht erbracht war. Dabei hat der Gerichtshof der konkreten Wortwahl der jeweils angegriffenen Entscheidung maßgebliche Bedeutung beigemessen und diese im Kontext mit der gegebenen Verfahrenslage gewürdigt (vgl. EGMR, Slg. 2000-X Nr. 39, 41 – Daktaras/ Litauen; EGMR, NJW 2004, 43 Nr. 54, 56 – Böhmer/Deutschland; EGMR, Urteil vom 27. Februar 2007 – 65559/01 Nr. 88 f. – Nešťák/Slowakei; EGMR, Urteil vom 23. Oktober 2008 – 13470/02 Nr. 94 – Khuzhin u.a./Russland; EGMR, Urteil vom 2. Juni 2009 – 24528/02 Nr. 45 ff. – Borovský/Slowakei).
28
Die Garantie des Art. 6 Abs. 2 MRK hat der Gerichtshof dabei vornehmlich in Fällen für verletzt erachtet, in denen der Beschwerdeführer einer Straftat nur verdächtig war, ohne ihretwegen rechtskräftig verurteilt zu sein. Der Gerichtshof hat dabei abermals betont, die Wortwahl der Entscheidung sei im Zusammenhang mit den besonderen Umständen, unter denen die angegriffene Äußerung gemacht wurde, zu bewerten. So hat der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 MRK abgelehnt, soweit eine faktische Belastung des Beschwerdeführers für die justizförmige Durchführung des Verfahrens erforderlich oder dessen zwangsläufige Folge war (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland; Urteil vom 27. Februar 2014 – 17103/10 – Karaman/Deutschland, Rn. 63 mwN; Slg. 2013 Nr. 126 – Allen/Vereinigtes Königreich

).


29
b) Der im nationalen Recht geltende Grundsatz der Tenorbeschwer steht zu dieser Rechtsprechung nicht in Widerspruch; er fügt sich in seiner richterrechtlichen Ausprägung sogar in diese ein.
30
aa) Ein Anspruch des Betroffenen auf einen Instanzenzug im Strafverfahren schlechthin lässt sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht ableiten. Art. 6 MRK garantiert bereits nicht das Recht auf ein bestimmtes Ergebnis eines Strafverfahrens, etwa nicht auf Verurteilung oder Freispruch wegen einer angeklagten Straftat (vgl. EGMR, Urteil vom 26. August 2003 – 59493/00 – Withey/Vereinigtes Königreich; Urteil vom 3. Dezember 2009 − 8917/05 − Kart/Türkei, NJOZ 2011, 619, 621). Die Bereitstellung und Ausgestaltung des Instanzenzugs ist vielmehr der Regelung durch den nationalen Gesetzgeber unter Wahrung der von der Konvention vorgesehenen Verfahrensgarantien vorbehalten.
31
bb) Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar 2015 (Nr. 48144/09 – Cleve/Deutschland) lässt sich für die hier vorliegende Konstellation nichts Gegenteiliges ableiten.
32
(1.) Dies gilt zum einen deshalb, weil der Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht andere Umstände zugrunde lagen. Der dem Gerichtshof vorgelegte Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, dass sich das erkennende nationale Gericht nach Abschluss der Beweisaufnahme keine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten verschafft und diesen aus sachlichen Gründen freigesprochen hatte. Die schriftlichen Urteilsgründe standen hierzu aber in Diskrepanz , denn sie enthielten Äußerungen, aus denen hervorging, der Angeklagte habe die ihm vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen, lediglich fehle wegen einer unzureichenden Zeugenaussage die hinreichende Gewissheit hinsichtlich eines bestimmten, für die Verurteilung erforderlichen Tathergangs (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland, Nr. 57 f.).
33
So liegt es hier nicht. Das Landgericht hat den Angeklagten vorliegend nicht aus sachlichen, sondern aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Die Überzeugung von einem bestimmten äußeren Ablauf der angeklagten Tat hat sich das Landgericht verschafft; Zweifel verblieben (nur) an der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Eine der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar 2015 vergleichbare Divergenz zwischen dem Tenor und den Gründen des Urteils besteht deshalb nicht. Wie oben ausgeführt war das Landgericht zur rechtsfehlerfreien Anwendung des § 20 StGB sogar gehalten, den für erwiesen erachteten Tatablauf und den Zustand des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt im Urteil darzulegen.
34
(2.) Darüber hinaus ist die Entscheidung des Gerichtshofs vom 15. Januar 2015 im Kontext mit seiner seit langem gefestigten Rechtsprechung in den Blick zu nehmen, wonach es für die Verletzung der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK entscheidend auf Wortwahl und Formulierung der Urteilsgründe unter Betrachtung der konkreten Verfahrenssituation ankommt. Hieran hat der Gerichtshof unverändert angeknüpft und der Wortwahl der gerichtlichen Äußerungen das maßgebliche Gewicht beigemessen (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 48144/09 – Cleve/Deutschland, Nr. 54 f.).
35
Nach Maßgabe dessen ist die Revision des Angeklagten hier nicht ausnahmsweise zulässig, denn eine übermäßige Beschwer liegt bei Gesamtwürdigung der getroffenen Formulierungen nach Freispruch aus rechtlichen Gründen nicht vor. An dieser Stelle fügt sich der Grundsatz der Tenorbeschwer in die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überdies zwanglos ein, denn eine Ausnahme von der Formalbeschwer für extrem gelagerte Fälle, in denen sich die Belastung des Angeklagten aus Begleitumständen, etwa der Wortwahl des Tatgerichts, ergibt, sieht bereits die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit jeher vor (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1955 – 5 StR499/54, BGHSt 7, 153 ff.; Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374; vgl. BGHSt 13, 75, 77; 16, 374; 23, 257, 259; 28, 327, 330; Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15).
36
c) Im Übrigen hat auch das Bundesverfassungsgericht nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 15. Januar 2015 am Erfordernis der Tenorbeschwer nach verfassungsrechtlichen Maßstäben festgehalten (vgl. BVerfG, NZA 2015, 1117, 1119 mwN).
37
4. All dies unbeschadet wäre die Revision des Angeklagten auch unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Die Beweiswürdigung lässt angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts Rechtsfehler nicht erkennen. Graf Cirener Radtke RiBGH Prof. Dr. Mosbacher Fischer ist infolge Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert. Graf
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung ja
Zur Beurteilung des Schweregrads einer anderen seelischen Abartigkeit (hier
„dissoziale und schizoide Persönlichkeitsstörung“) und der Erheblichkeit der
Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat (Fortführung von BGHSt
37, 397).
BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03 – LG Stuttgart

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 346/03
vom
21. Januar 2004
in der Strafsache
gegen
wegen erpresserischen Menschenraubs u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Januar
2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Hebenstreit,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 8. April 2003 wird verworfen. 2. Die Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels sowie die durch dieses Rechtsmittel entstandenen notwendigen Ausla- gen der Nebenklägerin zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen räuberischen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der Sachrüge hat keinen die Angeklagte belastenden Rechtsfehler ergeben.

II.

Die Beschwerdeführerin deckt mit ihrem Revisionsvorbringen auch im Strafausspruch keinen Rechtsfehler auf. Näherer Erörterung bedarf allerdings die Rüge, die Angeklagte leide unter einer schweren Persönlichkeitsstörung
und habe sowohl bei dem verfahrensgegenständlichen räuberischen Diebstahl im Oktober 2001 als auch beim erpresserischen Menschenraub im Juli 2002 unter einem so starken Motivationsdruck gestanden, daß sie für beide Taten - anders als vom Landgericht angenommen - strafrechtlich nicht voll verantwortlich gewesen sei. 1. Die sachverständig beratene Strafkammer hat zur Persönlichkeitsentwicklung der Angeklagten und zum Tatgeschehen folgende Feststellungen getroffen :
a) Die Angeklagte, deren Eltern aus Kroatien stammen, wuchs in Deutschland gemeinsam mit einer Schwester auf. Sie hatte trotz durchschnittlicher Begabung bereits früh Probleme in der Grundschule. Nachdem sie die zweite Klasse wiederholen mußte, kam sie in die Sonderschule. Diese verließ sie im Jahre 1988 nach der 9. Klasse ohne Abschluß und besuchte danach ein Jahr eine Hauswirtschaftsschule. Die Kammer hat zu Gunsten der Angeklagten als wahr unterstellt, sie sei von ihrem Vater seit ihrem siebten Lebensjahr bis kurz vor ihrer Verhaftung immer wieder sexuell mißbraucht und regelmäßig geschlagen worden. Ab dem zehnten Lebensjahr unternahm sie mehrere Suizidversuche. Im Jugendalter wurde sie dreimal in stationäre psychiatrische Behandlung nach Kroatien gebracht, wurde allerdings nach wenigen Tagen wieder entlassen, ohne daß eine klare Diagnose gestellt werden konnte. Es wurden ihr Antidepressiva und regelmäßig ein Schmerzmittel verschrieben. Sie konsumierte außerdem seit dem 14. Lebensjahr in erheblichem Umfang Alkohol , ohne daß sich jedoch eine Suchtproblematik herausgebildet hätte. Gelegentlich konsumierte die Angeklagte auch Haschisch. Im Jahre 1991 heiratete die Angeklagte. Aus der Ehe gingen zwei Kinder im Alter von nunmehr elf und sechs Jahren hervor. Nach der Heirat arbeitete
sie halbtags als Textilverkäuferin; später übte sie verschiedene Tätigkeiten aus, zuletzt war sie in einem Fitneß-Studio tätig, wo sie rund 500 Euro im Monat verdiente. Etwa Mitte der neunziger Jahre spitzten sich ihre persönlichen Probleme zu. Sie praktizierte einen gehobenen Lebensstil, der nicht ihren bescheidenen finanziellen Verhältnissen entsprach, unter anderem mit häufigen Urlauben, teurer Kleidung für sich und ihre Kinder und häufigem Ausgehen mit Einladungen von Freunden. Diesen Lebensstil konnte sie nur durch zahlreiche Vermögensstraftaten finanzieren. Deshalb wurde sie am 24. Mai 1995 u. a. wegen Diebstahls in vier Fällen sowie wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug in 104 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Strafe wurde 1999 erlassen. Am 23. Mai 2000 wurde sie wegen Betrugs in zehn Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung in neun Fällen und wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde nochmals zur Bewährung ausgesetzt. Im Jahr 1999 lernte sie während eines Urlaubs in Tunesien einen Tunesier kennen, der Mitglied einer sektenartigen Bewegung war, in der sich die Angeklagte aufgehoben fühlte. Seit 2000 leben die Eheleute getrennt.
b) Der räuberische Diebstahl Im Oktober 2001 betrat die Angeklagte gegen Mittag ein Schreibwarengeschäft mit Lottoannahmestelle und ließ sich einschließen. Sie entnahm der Lottokasse Bargeld in Höhe von mindestens 1.200 DM und packte drei Plastiktüten mit rund 320 Schachteln Zigaretten ein. Als die Ladenbesitzerin nach der Pause das Geschäftslokal betrat, gab die Angeklagte vor, versehentlich eingeschlossen worden zu sein. Die Ladenbesitzerin wollte die Angeklagte einschließen und die Polizei benachrichtigen. Dies verhinderte die Angeklagte
mit einem kräftigen Stoß, bei der die Frau zu Boden ging. Sie forderte nach einem Faustschlag von ihr das Mobilteil des Telefons, das sie in die Tasche steckte. Dann flüchtete sie. Die Angeklagte konnte aufgrund von Fingerabdrükken ermittelt und am 12. März 2002 festgenommen werden. Nach einem über ihren Verteidiger abgegebenen Geständnis wurde sie am 26. März 2002 wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Angeklagte rechnete wegen dieser Tat mit einer erheblichen Freiheitsstrafe ohne Bewährung und befürchtete den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung aus einer früheren Verurteilung. Außerdem hatte sie Probleme mit ihrem Vater, der sich im Jahre 2001 von ihrer Mutter getrennt hatte und seitdem bei ihr der Wohnung wohnte. Die Probleme trieben einem Höhepunkt zu, als der Vater den Wunsch äußerte, mit ihrer Tochter ein Wochenende allein im Schwarzwald zu verbringen. Die Kammer hat zu Gunsten der Angeklagten angenommen, sie habe befürchtet, der Vater könne sich auch an ihrer Tochter vergehen. Um den Problemen zu entgehen, faßte die Angeklagte den Plan, Deutschland zu verlassen und in Tunesien eine neue Existenz aufzubauen. Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft feierte sie dort aufwendig die Verlobung mit dem Tunesier, obwohl sie noch verheiratet war. Sie versprach dem Verlobten, dem gegenüber sie sich als wohlhabend ausgab, daß sie im Juli 2002 mit ihren Kindern endgültig zu ihm nach Tunesien ziehen werde. Dabei werde sie einen großen Geldbetrag mitbringen, mit dem man dort gemeinsam ein Mietwagenunternehmen aufbauen könne.
c) Die Kindesentführung
Anfang Juli 2002 faßte die Angeklagte den Entschluß, sich die Mittel zur Durchführung ihrer Tunesien-Pläne durch eine Kindesentführung mit Lösegeldforderung zu beschaffen. Als Erpressungsopfer erschien ihr hierfür die als wohlhabend geltende Familie R. geeignet, die nach ihren Informationen in der Lage sein würde, einen größeren Geldbetrag auch kurzfristig besorgen zu können. Der Plan der Angeklagten ging dahin, die 7jährige Tochter J. auf dem Schulweg in ihre Gewalt zu bringen und für ihre Freilassung ein "Löse- ! " # %$ &' ( &' *)+ , - ' . 0/1& geld" von 250.000 dem Geld sofort nach Tunesien absetzen. Zur Vorbereitung der Tat observierte die Angeklagte ab Anfang Juli 2002 die Verhaltensgewohnheiten der Familie R. . Insbesondere erforschte sie durch zahlreiche Anrufe, bei denen sie sich nicht meldete, zu welchem Zeitpunkt sich die Mitglieder der Familie zu Hause aufhielten. Zur Durchführung der Tat, die zunächst für den 12. Juli 2002 geplant war, kaufte sie einen gebrauchten Pkw BMW der 7er-Klasse. Da sie das Fahrzeug mit nach Tunesien mitnehmen wollte, ließ sie das Fahrzeug mit Ausfuhrkennzeichen zu. Am gleichen Tag buchte sie unter ihrem eigenen Namen zwei Flugreisen für den 12. Juli 2002 von Stuttgart nach Tunesien. Als Passagiere gab sie ihren Sohn und eine Person namens E. an. Sie war auf unbekannte Weise in Besitz eines Personalausweises mit diesem Namen gelangt und wollte unter diesem Namen nach Tunesien reisen. Am 10. Juli 2002 suchte sie ihre Cousine und deren Ehemann auf und teilte diesen mit, sie habe die Absicht nach Tunesien auszuwandern. Beide erklärten sich bereit, das Fahrzeug nach Tunesien zu überführen und die Tochter der Angeklagten mitzunehmen. Am 12. Juli 2002 gab sich die Angeklagte gegenüber der Sekretärin der Schule, in der J. in die erste Klasse ging, als deren Mutter aus und forderte sie auf, das Kind nach Hause zu schicken. Da J. jedoch krankheits-
bedingt nicht in der Schule war, brach die Angeklagte den Entführungsversuch an diesem Tag ab. Sie stornierte den geplanten Flug nach Tunesien und buchte den Flug auf den nächsten Tag um, in der Hoffnung die Tat an diesem Tag durchzuführen. Der Entführungsversuch fand aus nicht feststellbaren Gründen jedoch nicht statt.
Am 15. Juli 2002 überlegte die Angeklagte, wie sie auf anderer Weise Jasmin in ihre Gewalt bringen könnte. Sie wurde dabei gesehen, wie sie gegen 8.00 Uhr morgens aus ihrem Fahrzeug das Wohnhaus der Eheleute R. beobachtete. Die Angeklagte entschloß sich schließlich, die Entführung am 18. Juli 2002 durchzuführen. Sie buchte am 16. Juli 2002 für dieselben Personen einen Flug nach Tunesien für den 19. Juli 2002. Der Flug sollte jedoch von München stattfinden, wo sie die Nacht verbringen wollte. Sie buchte für sich und ihre Tochter eine Übernachtung im Hotel K. . Nachdem die Angeklagte am 18. Juli 2002 mehrere Kontrollanrufe bei der Familie R. getätigt hatte, fuhr sie mit ihrem Fahrzeug, in dem sie eine geladene Schreckschußpistole und ein Elektroschockgerät mit sich führte, gegen 8.00 Uhr zu der Schule. Gegen 9.00 Uhr sprach sie auf dem Schulgelände zwei 8jährige Schüler an und bat sie, J. aus dem Klassenzimmer zu holen ; sie solle zu der Sekretärin ins Rektorat kommen. Die Schüler, die die Angeklagte als Mutter von J. ansahen, holten J. mit Zustimmung der Klassenlehrerin heraus und begleiteten sie in Richtung Rektorat. Die Angeklagte paßte die beiden Schüler und J. zwischen dem Klassenraum und dem Rektorat ab. Die arglosen Jungen ließen J. mit der Angeklagten al-
lein. Sie vergewisserte sich, ob es sich bei dem Kind um J. handele und schüchterte es mit dem mitgebrachten Elektroschockgerät ein, indem sie dieses am Hals des Mädchens auslöste. Als J. zu schreien begann, drohte ihr die Angeklagte, sie werde sie töten, wenn sie nicht ruhig sei. Das Kind verhielt sich ruhig, weigerte sich aber, mit der Angeklagten zu gehen. Die Angeklagte nahm es unter den Arm und trug es zu ihrem Fahrzeug. J. wehrte sich dagegen mit Strampeln und verlor dabei ihre Sandalen und ihre Brille. Die Angeklagte setzte J. zunächst auf den Beifahrersitz und drückte das Kind nach unten, um zu verhindern, daß es bei der Abfahrt gesehen wurde. Um J. weiterhin gefügig zu machen, löste die Angeklagte das Elektroschockgerät nochmals an ihrer Wange aus, wodurch es zu einer leichten Verbrennung kam. Gegen 9.50 Uhr rief die Angeklagte J. s Vater an und forderte ihn auf nach Hause zu kommen, weil J. nach Hause gegangen sei. Er begab sich sofort nach Hause. Dort rief die Angeklagte den Vater erneut an und teilte ihm mit, daß sie J. in ihrer Gewalt habe. Er solle ruhig sein und keine Polizei rufen. Für den Fall, daß er sich nicht an ihre Anweisungen halte, drohte die Angeklagte, es würde für seine Tochter auf dem Markt einen guten Preis geben. Der Vater sollte die Befürchtung haben, sie wolle J. an einen Mädchenhändler verkaufen. Der Vater fuhr danach sofort in die Schule, wo inzwischen die Schuhe und die Brille des Kindes gefunden waren. Die Angeklagte fuhr mit dem Wagen ziellos im Raum L. herum. Da das Kind verängstigt und verzweifelt jammerte, verbrachte sie es spätestens gegen 11.00 Uhr in den Kofferraum des Fahrzeugs, wo es bis zu seiner Befreiung bis gegen 16.00 Uhr verblieb. Gegen 11.50 Uhr rief die Angeklagte den Vater J. s an und forderte ihn auf, binnen einer Stunde 250.000 243 die Freilassung seiner Tochter bereitzustellen. Nachdem der Vater einwandte, er benötige für die Beschaffung des Geldes Zeit bis 16.00 Uhr, erklärte sie sich
bereit, abzuwarten. In der Folgezeit rief sie mehrfach beim Vater an, um sich nach dem Stand der Vorbereitungen für die Geldübergabe zu erkundigen. Um 14.25 Uhr sprach die Angeklagte am Bahnhof in L. einen Taxifahrer an und forderte ihn auf, zum Haus der Familie R. zu fahren, dort ein Päckchen abzuholen und zu ihr zu bringen. Sie einigte sich mit dem Taxifahrer auf 50 Euro für die Fahrt. Um 14.40 Uhr teilte die Angeklagte dem Vater von J. mit, daß sie einen Boten schicken werde, der das Geld abholen werde. Um 14.50 Uhr rief sie den Vater erneut an und erklärte, er werde seine Tochter nicht wiedersehen, da er die Polizei eingeschaltet habe. In Absprache mit der inzwischen eingeschalteten Polizei gab der Vater gegenüber dem Taxifahrer an, daß das Paket noch nicht da sei, er möge noch etwas warten. Der Vater erfuhr dabei, daß der Taxifahrer das Paket zum Bahnhof nach L. bringen solle. Daraufhin begann die Polizei mit der Observation des Bahnhofsgebietes in L. . Dort entdeckte die Polizei die Angeklagte gegen 15.19 Uhr in ihrem Fahrzeug; bis zu ihrer Festnahme um 15.48 Uhr wurde sie lückenlos observiert. J. wurde im Kofferraum des Fahrzeugs in einem zwar erschöpften, jedoch insgesamt zufriedenstellenden Zustand aufgefunden.
2. Die sachverständig beratene Strafkammer hat eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Angeklagten verneint und sie für beide Taten für strafrechtlich voll verantwortlich gehalten. Die Kammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen darin gefolgt, die Angeklagte leide an einer schweren gemischten Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und schizoiden Anteilen, die weitgehend auf einem hochproblema-
tischen Verhältnis zum Vater beruhe. Dazu ist in den Urteilsgründen näher ausgeführt, die Störung äußere sich in einer unausgeglichenen Affektivität mit autoaggressiven Zügen, einer gestörten Beziehungsfähigkeit und einer Neigung , insbesondere problematische Dinge von sich abzuspalten. Die Persönlichkeitsstörung , die auch durch sexuelle Mißbrauchserlebnisse mitbedingt sein könne, sei deshalb so erheblich, daß Symptome vorlägen, die rechtlich als "schwere andere seelische Abartigkeit" im Sinne des § 20 StGB eingeordnet würden. Die Strafkammer ist den Ausführungen des Sachverständigen auch insoweit gefolgt, als keine Anhaltspunkte dafür bestünden, daß sich die Persönlichkeitsstörung bei der konkreten Tat auf ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt habe. Die Angeklagte sei in der Lage, die Realität zu erkennen und richtig einzuschätzen. Angesichts der hohen Komplexität der Tatabläufe , insbesondere der umfänglichen Tatplanung und der Vorbereitungshandlungen , sowie der Tatsache, daß die Angeklagte längerfristige, zukunftsgerichtete Pläne verfolgt habe, lägen keine Hinweise dafür vor, daß sie ihr Verhalten nicht habe steuern können. Dagegen hat die die Revision eingewendet, die Beurteilung der Schuldfähigkeit sei in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer habe bezüglich des ersten Tatvorwurfs, dem räuberischen Diebstahl, die Frage der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit überhaupt nicht geprüft. Hinsichtlich der Kindesentführung habe sie sich zwar mit der Problematik auseinandergesetzt , jedoch schon verkannt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichthofes die Annahme einer schweren seelischen Abartigkeit eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zumindest nahe lege. Ein überlegtes, geplantes, logisches und zielgerichtetes Handeln schließe eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht aus, da auch "bei geplantem und geordnetem Vorgehen" die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein könne,
Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegen- einander abzuwägen und danach den Willensentschluß zu bilden. Deshalb habe die Kammer in erster Linie prüfen müssen, ob die Angeklagte infolge ihrer Persönlichkeitsstörung in der fraglichen Zeit einem zur Tat führenden starken Motivationsdruck ausgesetzt gewesen sei, wie er sonst in vergleichbaren Situationen bei anderen Straftätern nicht vorhanden sei, und ob dadurch ihre Fähigkeit , sich normgerecht zu verhalten, deutlich vermindert gewesen sei. Die Kammer sei zwar davon ausgegangen, daß die schwere Persönlichkeitsstörung möglicherweise auf dem hochproblematischen Verhältnis zum Vater beruhe , habe jedoch außer acht gelassen, daß die Angeklagte mit ihrer Tochter und ihrem Sohn Deutschland verlassen und nach Tunesien auswandern wollte, „weil ihr Vater - der bereits sie über Jahre sexuell mißbraucht und geschlagen hatte - den Wunsch äußerte, mit der Tochter der Angeklagten ein Wochenende allein im Schwarzwald verbringen zu wollen und die Angeklagte befürchtete, daß ihr Vater sich auch an ihrer Tochter vergehen würde“ (UA S. 5, 20). 3. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß die Strafkammer die Angeklagte trotz der angenommenen Persönlichkeitsstörung für beide Taten als strafrechtlich voll verantwortlich angesehen hat.
a) Persönlichkeitsstörung als andere seelische Abartigkeit
aa) Ersichtlich ist der Sachverständige bei der Beurteilung der persönlichen Entwicklung der Angeklagten und ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach den Kriterien der in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen und statistischen Klassifikationssysteme vorgegangen (ICD-10 Kapitel V (F), Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Dil-
ling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 4. Aufl.; DSM-IV, Diagnostisches und Statisti- sches Manual Psychischer Störungen 2. Aufl., Saß/Wittchen/Zaudig [Hrsg.].).
bb) Bei der in ICD-10 F 60.0 (DSM-IV 301.0) genannten Störungsgruppe „Persönlichkeitsstörung“ handelt es sich um einen Oberbegriff. Es werden völlig unterschiedliche typologisch definierte Varianten beschrieben, die je nach Ausprägung als normal oder abnorm zugeordnet werden. Sie reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirksamer Ausprägungen und Beeinträchtigungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, die von ihrem Gewicht her durchaus Krankheitswert erreichen kann (Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 261 f.). Der Begriff der Persönlichkeitsstörung beschreibt abnorme Persönlichkeiten, deren Eigenschaften von einer nicht näher bezeichneten gesellschaftlichen Norm abweichen. Von psychopathischen Persönlichkeiten wird dann gesprochen, wenn die Person an ihrer Abnormität leidet oder wenn die Gesellschaft unter ihrer Abnormität leidet (vgl. Venzlaff und Pfäfflin in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 4. Aufl. S. 248, 250; Rasch, StV 1991, 126, 127; Nedopil, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 149, 152 f.; Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen S. 177, 180).
cc) Für die forensische Unterscheidung zwischen strafrechtlich nicht relevanten Auffälligkeiten in Charakter und Verhalten einer Persönlichkeit und einer psychopathologischen Persönlichkeitsstörung, die Symptome aufweist, die in einer Beziehung zu psychischen Erkrankungen im engeren Sinne bestehen , enthalten die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV eine Vielzahl diagnostischer Kriterien, anhand derer der psychiatrische Sachverständige einzelne Persönlichkeitsstörungen spezifizieren und deren Ausprägungsgrad bewerten kann. Diagnostische Hilfsmittel bei psychischen Störungen sind ne-
ben technischen Untersuchungen (EEG, Laboruntersuchungen etc.) sowie den Selbst- und Fremdbeurteilungen vor allem strukturierte Checklisten und diagnostische Interviews (vgl. DSM-IV aaO S. XVII). Bei der forensischen Begut- achtung hat sich der Sachverständige methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Existieren mehrere anerkannte und indizierte Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Dabei ist der Sachverständige – unbeschadet der Sachleitungsbefugnis durch das Gericht - frei, von welchen inhaltlichen Überlegungen und wissenschaftlichen Methoden er bei Erhebung der maßgeblichen Informationen ausgeht und welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung des Ausprägungsgrades für maßgeblich hält. In seinem Gutachten hat er nach den Geboten der Nachvollziehbarkeit und der Transparenz für alle Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen und auf welchem Weg er zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist (vgl. BGHSt 44, 26, 33; 45, 164, 169; st. Rspr.).
dd) Der Senat hat der forensisch-psychiatrischen Literatur entnommen, daß sich nach dem bestehenden wissenschaftlichen Kenntnisstand für die forensische Schuldfähigkeitsbeurteilung von Persönlichkeitsstörungen folgende Vorgehensweise anbietet, ohne daß die Nichteinhaltung einzelner Schritte nach rechtlichen Maßstäben fehlerhaft sein muß. Dazu gehört, daß der Sachverständige die sozialen und biographischen Merkmale unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Konstanz der pathologischen Auffälligkeiten erhebt. Darüber hinaus bedarf es der Darstellung der pathologischen Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen und deren Veränderungen infolge der natürlichen Reifungs- und Entwicklungsschritte sowie der therapeutischen Maßnahmen (Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen, 2003, S. 177,
178). Weist die untersuchte Person Persönlichkeitszüge auf, die nur auf ein unangepaßtes Verhalten oder auf eine akzentuierte Persönlichkeit hindeuten und die Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nicht erreichen, wird schon aus psychiatrischer Sicht eine Zuordnung zum vierten Merkmal des § 20 StGB auszuschließen sein.

b) Schweregrad der Abartigkeit
Gelangt der Sachverständige – wie hier - zur Diagnose einer „dissozialen oder antisoziale Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10 F 60.2 und DSM-IV 301.7: „Mißachtung sozialer Normen“) und einer „schizoiden Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10 F 60.1. und DSM-IV 301.20: „Distanziertheit in sozialen Beziehungen, eingeschränkte emotionale Ausdrucksmöglichkeiten“), so ist diese psychiatrische Diagnose indes nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Für die forensische Praxis ist mit der bloßen Feststellung, bei dem Angeklagten liege eine Persönlichkeitsstörung vor, nichts gewonnen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluß auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit (Rasch, Die psychiatrisch-psychologische Beurteilung der sogenannten schweren anderen seelischen Abartigkeit, StV 1991 S. 126, 127). Hierfür sind die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit (etwa hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen und dritter Personen, der emotionalen Reaktionen, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Impulskontrolle) durch die festgestellten pathologischen Verhaltensmuster im Vergleich mit jenen krankhaft seelischer Störungen zu untersuchen (vgl. Kröber NStZ 1998, 80 f.). Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Deliktes zu Einschränkungen des
beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (DSM-IV aaO S. 715, 716; Nedopil aaO S. 152). Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als viertes Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden.
Für das Vorliegen der Voraussetzungen einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ werden aus psychiatrischer Sicht genannt: Hervorgehen der Tat aus neurotischen Konflikten; konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor der Tat; abrupter, impulshafter Tatablauf; aktuelle konstellative Faktoren wie z. B. Alkohol und andere Drogen, Ermüdung, affektive Erregung. Gegen das Vorliegen des vierten Merkmals des § 20 StGB können sprechen: Tatvorbereitung; planmäßiges Vorgehen bei der Tat; Fähigkeit zu warten; lang hingezogenes Tatgeschehen; komplexer Handlungsablauf in Etappen; Vorsorge gegen Entdeckung; Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen; Hervorgehen des Delikts aus dissozialen Charakterzügen (Saß in Saß/Herpertz aaO S. 179, 180; Versuche einer empirischwissenschaftlichen Auswertung der am häufigsten in forensischen Gutachten vorkommenden Indikatoren bei Scholz/Schmidt, Schuldfähigkeit bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit, 2003).

c) Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat
Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat "erheblich" im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne Bin-
dung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt (vgl. für den „berauschten Täter“ BGHSt 43, 66, 77; BGH NStZ-RR 1999, 295, 296 jew. m.w.N.). Diese Anforderungen sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (BGH, Urt. v. 21. März 2001 - 1 StR 32/01).
Da Persönlichkeitsstörungen in der Regel die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit nicht vollständig aufheben, wird der Tatrichter Gesichtspunkte bewerten, die für oder gegen eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sprechen können, ohne daß es wegen der fließenden Übergänge zwischen Normalität sowie allen Schweregraden und Konstellationen abnormer Persönlichkeit feste skalierbare Regelungen gibt (Saß in Saß/Herpertz aaO S. 179).
aa) Zudem kommt es nach dem Gesetz nicht darauf an, ob die Steuerungsfähigkeit generell eingeschränkt ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob sie bei Begehung der Tat – und zwar erheblich – eingeschränkt war. Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage wird der Tatrichter auf der Grundlage des Beweisergebnisses über den Ablauf der Tathandlung – auch unter Beachtung möglicher alternativer Tatvarianten - die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und deren innere Beziehung zur Tat in eigener Verantwortung nachprüfen. Stellt er in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen fest, daß das Störungsbild die Merkmale eines oder mehrerer Muster oder einer Mischform die Klassifikationen in ICD-10 oder DSM-IV erfüllen, besagt dies rechtlich noch nichts über das Ausmaß psychischer Störungen (vgl. BGH NStZ 1997, 383). Eine solche Zuordnung hat eine Indizwirkung dafür, daß eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung vorliegt (vgl. zu bestimmten Fallgrup-
pen BGH StV 1998, 342; StV 2002, 17, 18; BGH, Urt. vom 27. August 2003 – 2 StR 267/03). Der Tatrichter wird in einer Gesamtbetrachtung die Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung bewerten, wobei auch Vorgeschichte , unmittelbarer Anlaß und Ausführung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. BGHSt 37, 397, 401 f.; BGH NStZ 1997, 485; BGH, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 10, 20, 23, 36; BGH NStZ 1996, 380; BGH StraFo 2001, 249; BGH StV 2002, 17, 18; vgl. in diesem Sinne auch Venzlaff und Pfäfflin in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung aaO S. 270 f.; Saß in Saß/Herpertz, Persönlichkeitsstörungen S. 177, 180).
bb) Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die mitgeteilte Diagnose des Sachverständigen zum Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsstörung zutreffend war. Dagegen könnte sprechen, daß die in den Urteilsgründen mitgeteilte Tatsachengrundlage wenig tragfähig erscheint. Der Sachverständige hat seine Diagnose im wesentlichen auf die persönlichen Angaben der Angeklagten bei der Exploration gestützt und ausgeführt, „die Persönlichkeitsstörung die durchaus auch auf sexuelle Mißbrauchserlebnisse mitbedingt sein könne, sei auch so erheblich, daß eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB anzunehmen sei“. Auch die Strafkammer ist „ entsprechend ihren Angaben zu ihren Gunsten davon ausgegangen“, die Angeklagte sei vom Vater seit ihrem siebten Lebensjahr immer wieder sexuell mißbraucht worden. Konkrete Feststellungen oder objektivierbare Indizien, die die Behauptungen der Angeklagten stützen, enthalten die Urteilsgründe nicht. Die als Zeugen vernommenen Mutter und Schwester haben sogar ausgesagt, sie hätten zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte für einen sexuellen Mißbrauch der Angeklagten gehabt (UA S. 15).
Die Strafkammer hat zum räuberischen Diebstahl im Oktober 2001 keine näheren Ausführungen zu einer möglichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit gemacht. Eine solche lag auch eher fern, denn hinsichtlich dieser Tat behauptet die Revision selbst nicht, daß die Angeklagte infolge ihrer Persönlichkeitsstörung schon zu diesem Zeitpunkt einem so starken Motivationsdruck ausgesetzt war, daß sie die Wegnahme des Geldes und dessen Sicherung durch Gewaltanwendung nicht habe steuern können.
Die Strafkammer hat auch hinsichtlich der im Juli 2002 begangenen Entführung der siebenjährigen J. nachvollziehbar einen erheblichen Einfluß der Persönlichkeitsstörung auf das komplexe Tatgeschehen ausgeschlossen. Die Angeklagte sei zwar aufgrund ihrer Lebensgeschichte, zu der auch die Mißbrauchsgeschichte gehören könne, in vieler Hinsicht kritikgemindert. Sie sei aber in der Lage, die Realität zu erkennen und richtig einzuschätzen. Ihre gelegentliche Impulsivität sei keine pathologisch überhöhte Erregbarkeit, insbesondere sei auch keine hirnorganisch begründete Affektlabilität festzustellen.
Als Beleg für eine vollständig erhaltene Steuerungsfähigkeit hat die Strafkammer herangezogen, daß es der Angeklagten bei ihrer Tat in erster Linie darum ging, sich mittels des erwarteten Lösegeldes die Basis für ihr zukünftiges Leben in Tunesien zu schaffen. Die Behauptung der Angeklagten, sie habe wegen eines möglichen Übergriffs des Vaters auf ihre Tochter unter einem schwer beherrschbaren Motivationsdruck gestanden, darf die Kammer als widerlegt ansehen. Sie hat ausgeführt, die Angeklagte habe diese Pläne schon seit ihrem Besuch und ihrer Verlobung in Tunesien im April 2002 verfolgt und
sich endgültig im Juli 2002 zu dieser Straftat entschlossen. Das Lösegeld sollte das ihrem neuen Lebensgefährten zugesagte Startkapital sein.
Gegen die erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat sprachen hier die bis ins einzelne gehende Planung der Entführung, die vorbereitende Beobachtung der Familie über mehrere Tage sowie das mehrmalige Umbuchen der Flüge nach Tunesien. Die Kammer hat mit Recht auch als überlegtes kriminelles Handeln angesehen, daß die Angeklagte dem Vater des Entführungsopfers jeweils nur kurze Fristen zur Geldbeschaffung setzte, um ihn aus Furcht um sein Kind unter Druck zu setzen. Die Strafkammer konnte schließlich als Belege für ein kontrolliertes und zielgerichtetes Handeln der Angeklagten auch die kaltblütige Durchführung der Entführung auf dem öffentlichen Schulgelände heranziehen. Sie hat ausgeführt, das Sichbemächtigen des Kindes auf dem Schulgelände zeige, in welchem Maße die Angeklagte in der Lage war, situationsadäquat zu handeln und ihre Impulse instrumental zu steuern. Obwohl sie auf dem Schulgelände mit Zeugen rechnen mußte, habe sie das Kind in der Nähe des Rektorats abgefangen und gezielt - und für das Kind J. äußerst schmerzhaft - das Elektroschockgerät einsetzte und das sich wehrende Kind in den bereitgestellten Pkw verbracht. Damit ist die Strafkammer zu Recht davon ausgegangen, daß bei der Angeklagten eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht vorlag.
Nack Wahl Boetticher Schluckebier Hebenstreit