Bundesgerichtshof Urteil, 11. März 2010 - 4 StR 22/10

published on 11/03/2010 00:00
Bundesgerichtshof Urteil, 11. März 2010 - 4 StR 22/10
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 22/10
vom
11. März 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. März
2010, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann,
Dr. Franke,
Dr. Mutzbauer
als beisitzende Richter,
Bundesanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom 6. August 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat die Angeklagte vom Vorwurf der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
2
Das - vom Generalbundesanwalt vertretene - Rechtsmittel hat schon mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die verfahrensrechtlichen Beanstandungen der Staatsanwaltschaft nicht ankommt.

I.


3
1. Die zugelassene Anklage hat der Angeklagten zur Last gelegt, als alleinerziehende Mutter von drei kleinen Söhnen zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Zeitraum vom späten Nachmittag des 26. November 2007 bis zu den frühen Morgenstunden des 27. November 2007 aus ungeklärter Ursache und - wie ihr bewusst gewesen sei - ohne rechtfertigenden Grund ihren damals vierjährigen Sohn K. entweder über einen längeren Zeitraum am Hals gewürgt oder aber kräftig am Hals gepackt und gleichzeitig die Atemöffnungen des Kindes mit der Hand oder einem weichen Gegenstand zugehalten zu haben. Infolge dessen seien der Blutrückfluss aus dem Kopf des Kindes und die Blutzufuhr für mindestens 30 bis 40 Sekunden unterbrochen gewesen. K. habe dadurch zahlreiche petechiale Einblutungen sowie blauviolette Hautverfärbungen u.a. im Gesicht, in den Augenbindehäuten und im Nacken davongetragen. Dass das Kind diese lebensbedrohlichen Misshandlungen überlebt habe , sei, wie der Angeklagten bewusst gewesen sei, letztlich vom Zufall abhängig gewesen. Das Überleben ihres Sohnes zum Zeitpunkt des Abbruchs der Misshandlungen habe sie nicht mehr verlässlich steuern können.
4
2. Die Angeklagte hat die ihr zur Last gelegte Tat bestritten und sich dahin eingelassen, ihr Sohn habe sich die Verletzung bei einem Sturz in der Badewanne zugezogen. Er sei trotz ihrer nachdrücklichen Ermahnungen ständig in der Badewanne herumgehüpft, sodann ausgerutscht, mit der linken Gesichtshälfte und dem linken Ohr auf den Badewannenrand geprallt und von dort aus in die Wanne gefallen. Da sein Kopf kurzzeitig unter Wasser geraten sei, habe sie sofort in die Wanne gegriffen, um ihren Sohn herauszuziehen. Dabei habe sie ihn am Hals zu fassen bekommen und wieder auf die Füße gestellt. Anschließend sei beim Abduschen noch Seifenwasser in seine Augen gekommen. Das Geschehen seit dem Sturz habe nur wenige Sekunden gedauert; währenddessen habe ihr Sohn ständig geschrien.
5
3. Das Landgericht hat die Einlassung der Angeklagten mangels weiterer unmittelbarer Tatzeugen – ihr Sohn hat von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht – nicht zu widerlegen vermocht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere vor dem Hintergrund der Ausführungen des medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. M. , lasse sich das Verletzungsmuster trotz dessen Intensität "problemlos" mit dem von der Angeklagten geschilderten, nur wenige Sekunden dauernden Unfall in der Badewanne erklären. Auch angesichts der großen Zahl und der Beschaffenheit der aufgetretenen Petechien verblieben daher vernünftige Zweifel am Erwiesensein des Tatvorwurfs.

II.


6
Der Freispruch hat keinen Bestand.
7
1. Dabei kann dahinstehen, ob die Ausführungen des Landgerichts den gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellenden Anforderungen insgesamt gerecht werden (vgl. dazu nur BGHSt 37, 21, 22 m.w.N.). Jedenfalls enthalten die Urteilsgründe keine Feststellungen zu Werdegang , Vorleben und Persönlichkeit der Angeklagten. Solche Feststellungen sind zwar in erster Linie bei verurteilenden Erkenntnissen notwendig, um nachvollziehen zu können, ob der Tatrichter die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 StGB) ermittelt und berücksichtigt hat. Aber auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu solchen Feststellungen verpflichtet , wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind; das ist auch dann der Fall, wenn vom Tatrichter getroffene Feststellungen zum Tatgeschehen ohne solche zu den persönlichen Verhältnissen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb lü- ckenhaft sind (vgl. dazu BGHSt 52, 314, 315; BGH, Urteile vom 13. Oktober 1999 - 3 StR 297/99, NStZ 2000, 91 und vom 14. Februar 2008 - 4 StR 317/07, NStZ-RR 2008, 206). So liegt es hier.
8
2. a) Die Notwendigkeit, die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten umfassend in den Blick zu nehmen und nähere Feststellungen zu deren Lebenslauf , Werdegang und Persönlichkeit zu treffen und in den Urteilsgründen darzulegen, ergibt sich im vorliegenden Fall bereits aus der ihr zum Vorwurf gemachten Straftat. Sie beruht auf einer Handlung, die sich im familiären, häuslichen Bereich ereignet haben soll. Ist ein solcher Vorwurf, wie hier, von erheblichem Gewicht, liegt es nahe, dass der Persönlichkeitsentwicklung der Beteiligten , insbesondere des Beschuldigten, und seinen individuellen Lebensumständen Bedeutung auch für die Beurteilung des Tatvorwurfs zukommen kann. Dies gilt nicht nur, wenn der Verdacht einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung besteht, sondern gleichermaßen, wenn der Vorwurf eine Gewalttat im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern zum Gegenstand hat. Schon deshalb durfte sich die Strafkammer im vorliegenden Fall nicht darauf beschränken, im Zusammenhang mit der Schilderung des Anklagevorwurfs zur Person der Angeklagten mitzuteilen, sie sei zum Zeitpunkt des Vorfalls allein erziehende Mutter von drei kleinen Söhnen gewesen. Vielmehr waren insoweit detaillierte Feststellungen geboten, die genaueren Aufschluss über die Persönlichkeit der Angeklagten und deren Lebensumstände hätten geben können, was gegebenenfalls – etwa im Hinblick auf eine mögliche Überlastungssituation – Rückschlüsse auf den Tatvorwurf zugelassen hätte.
9
b) Auch vor dem Hintergrund der zum Tatvorwurf getroffenen Feststellungen hätten die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten nicht unerörtert bleiben dürfen.
10
So ergibt sich aus den Urteilsgründen u.a., dass die Zeugin S. , Erzieherin in der Kindertagesstätte, in der der Geschädigte betreut wurde, beim Anblick der Verletzungen in dessen Gesicht sofort die Frage stellte, ob „das die Mama gemacht habe“ und gegenüber den anderen Mitarbeiterinnen die Vermutung äußerte, der Geschädigte sei geschlagen worden. Ohne Rücksprache mit der Angeklagten wurde daraufhin umgehend das Jugendamt verständigt, das noch am gleichen Vormittag eine Mitarbeiterin, die Zeugin Mo. , zu der Betreuungseinrichtung entsandte, um dem Vorfall nachzugehen. Zu dieser für sich genommen ungewöhnlichen Vorgehensweise der Betreuungseinrichtung, in die die Angeklagte als Erziehungsberechtigte gezielt nicht einbezogen wurde, wird im angefochtenen Urteil lediglich mitgeteilt, dass dem Jugendamt schon vor dem verfahrensgegenständlichen Vorfall die „problematische familiäre Situation der Angeklagten“ bekannt gewesen sei, die als allein erziehende Mutter von drei kleinen Kindern „bisweilen überfordert gewirkt“ habe. Die Zeugin Mo. habe als für die Familie der Angeklagten zuständige Sachbearbeiterin des Jugendamtes die Mitarbeiter der Kindertagesstätte deshalb gebeten, „ein Auge auf K. zu haben“ und „etwaige Unregelmäßigkeiten zu melden“. Dass eingehende Feststellungen zum persönlichen und familiären Hintergrund hier möglicherweise geeignet gewesen wären, vor dem Hintergrund der komplexen Beweislage auch den Tatvorwurf zu erhellen, liegt jedenfalls nicht fern, zumal die Angeklagte nach den Feststellungen (sinngemäß) äußerte, sie habe mit dem Eingreifen des Jugendamtes gerechnet, wenn ihr Sohn mit den festgestellten Verletzungsanzeichen in der Kindertagesstätte erscheine, weil man annehmen werde, sie habe ihn geschlagen. Zudem erscheint das von der Angeklagten geschilderte Geschehen – Packen eines vierjährigen Kindes am Hals, um es aus der Badewanne zu heben – eher lebensfremd.

III.


11
Das Fehlen der vermissten Feststellungen ist ein sachlich-rechtlicher Mangel, der zur Aufhebung des Urteils führt, weil es dem Senat nicht möglich ist zu prüfen, ob der Freispruch auf einer tragfähigen Grundlage beruht. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer
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(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Um

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese
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Annotations

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.

(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.

(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.

(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.

(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.