Bundesgerichtshof Beschluss, 11. März 2008 - X ZR 49/07

bei uns veröffentlicht am11.03.2008
vorgehend
Amtsgericht Duisburg, 35 C 5083/05, 03.05.2006
Landgericht Duisburg, 12 S 67/06, 15.03.2007

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

HINWEISBESCHLUSS
X ZR 49/07
vom
11. März 2008
in dem Rechtsstreit
Nachträglicher Leitsatz
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
EGV 261/2004 Art. 7
Ansprüche auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 EGV 261/2004 können nicht
gegen den Reiseveranstalter, sondern nur gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen
geltend gemacht werden.
BGH, Hinweis-Beschl. v. 11. März 2008 - X ZR 49/07 - LG Duisburg
AG Duisburg
(Nach dem Hinweisbeschluss ist die Revision zurückgenommen worden.)
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2008 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter Scharen, die Richterin Mühlens und
die Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Gröning

beschlossen:
Der Senat beabsichtigt, die Revision des Klägers gegen das Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg vom 15. März 2007 durch Beschluss zurückzuweisen.
Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 30. April 2008.

Gründe:


1
I. Der Kläger macht aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Ehefrau Ansprüche aus einem Reisevertrag geltend.
2
Der Kläger und seine Ehefrau buchten bei der Beklagten für die Zeit vom 14. bis 28. April 2005 eine Urlaubsreise auf die Insel Teneriffa. Der Rückflug sollte über Nürnberg nach Berlin-Tegel erfolgen. Die Ankunft in Berlin war für 22:25 Uhr vorgesehen. Am Abreisetag wurde dem Kläger auf dem Flughafen in Teneriffa mitgeteilt, dass das Flugzeug überbucht sei. Das ihm unterbreitete Angebot, nach Bremen zu fliegen und mit seiner Ehefrau von Bremen aus in einem adäquaten Fahrzeug nach F. weiterzufahren, nahm der Kläger an. Mit einem in Bremen gemieteten Pkw fuhren der Kläger und seine Ehefrau nach Berlin, wo sie am 29. April 2005 um 0:45 Uhr und später in F. eintrafen.
3
Der Kläger macht gegen die Beklagte eine Minderung des Reisepreises von 30 % für einen Tag in Höhe von 27,94 €, Mietwagenkosten in Höhe von 164,21 €, Benzinkosten in Höhe von 45 €, auf dem Flughafen Bremen angefallene Bewirtungskosten in Höhe von 10,60 € sowie eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 in Höhe von 600 € geltend. Auf den Gesamtbetrag in Höhe von 847,75 € zahlte die Beklagte 171 €.
4
Mit seiner Klage verlangt der Kläger die Zahlung der Differenz in Höhe von 676,75 €. Das Amtsgericht hat der Klage nur in Höhe von 76,75 € stattgegeben. Die zugelassene Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, der die Beklagte entgegentritt, verfolgt der Kläger sein Begehren auf Ausgleichszahlung in Höhe von 600 € weiter.
5
II. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, und die Revision hat keine Aussicht auf Erfolg (§ 552 a ZPO).
6
1. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO).
7
a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Verweisung auf einen anderen Flug mit abweichender Destination eine Nichtbeförderung oder eine Annullierung i.S. der Art. 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 darstelle oder ob es sich, wie das Amtsgericht angenommen habe, lediglich um eine Störung im Flugverkehr handele, die keine Ausgleichsansprüche auslöse. Jedenfalls seien Ansprüche gemäß Art. 7 der Verordnung nicht gegen die Beklagte, sondern ausschließlich gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen zu richten. Die Durchführung des Fluges habe nicht der Beklagten oblegen, sondern der von dieser beauftragten Fluggesellschaft. Die Beklagte als Veranstalterin der vom Kläger gebuchten Pauschalreise sei demgegenüber als Reiseunternehmen i.S. von Art. 2 Buchst. d der Verordnung anzusehen. Unmittelbare Ansprüche gegen Reiseunternehmen sehe die Verordnung indessen nicht vor.
8
b) Da das Berufungsgericht die Zurückweisung der Berufung allein auf die fehlende Passivlegitimation der Beklagten gestützt hat, kann sich ein Zulassungsgrund nur auf die Frage beziehen, ob ein Reiseunternehmen auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (kurz: Verordnung) in Anspruch genommen werden kann. Dies sieht auch die Revision nicht anders. Ein Zulassungsgrund ist jedoch nicht gegeben.
9
aa) Die als grundsätzlich angesehene Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig. Ansprüche auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 der Verordnung können nicht gegen den Reiseveranstalter, sondern nur gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen geltend gemacht werden, das gegebenenfalls nach Art. 13 der Ver- ordnung Regress nehmen kann (Führich, Sonderbeilage MDR 7/2007, S. 4; ders., Reiserecht, 5. Aufl., § 45 Rdn. 959; Schmid, NJW 2007, 261, 267; Niehuus, Reiserecht , 3. Aufl., § 16 Rdn. 15; AG Oberhausen RRa 2007, 91, 92 mit Zustimmung Führich, RRa 2007, 58; vgl. auch Palandt/Sprau, 67. Aufl., Einf. v. § 631 Rdn. 17b). Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel sind insoweit auch nicht ersichtlich , so dass es einer klärenden Entscheidung des Senats nicht bedarf.
10
(1) Dass nur das ausführende Luftfahrtunternehmen zur Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 verpflichtet ist, ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut der Verordnung. Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung bestimmen ausdrücklich , dass im Fall der Nichtbeförderung oder Annullierung eines Flugs das ausführende Luftfahrtunternehmen neben Unterstützungsleistungen auch Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 zu erbringen hat. Reiseunternehmen nennt die Verordnung in diesem Zusammenhang nicht. Nach der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. b der Verordnung ist "ausführendes Luftfahrtunternehmen" ein Luftfahrtunternehmen , das im Rahmen eines Vertrages mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen - juristischen oder natürlichen - Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt. Demgegenüber bezeichnet die Verordnung gemäß Art. 2 Buchst. d mit "Reiseunternehmen" einen Veranstalter i.S. von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen. Nach der Legaldefinition der Verordnung sind mithin Pauschalreiseveranstalter gerade keine ausführenden Luftfahrtunternehmen ; vielmehr unterscheidet die Verordnung in Art. 2 ausdrücklich zwischen ausführenden Luftfahrtunternehmen und Reiseunternehmen und legt im folgenden nur den ausführenden Luftfahrtunternehmen die Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen auf.

11
(2) Dass Anspruchsgegner nur das ausführende Luftfahrtunternehmen ist, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Schutzzweck der Verordnung, wie er in den Erwägungsgründen beschrieben ist. Danach soll ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in vollem Umfang Rechnung getragen werden (Erwägungsgrund 1; vgl. Sen.Beschl. v. 17.7.2007 - X ZR 95/06). Die Verordnung ersetzt die Verordnung (EWG) 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr, die bereits Ansprüche gegen Luftfahrtunternehmen regelte, jedoch noch nicht Annullierungen und Verspätungen umfasste. Mit der Neuregelung beabsichtigte der Verordnungsgeber , die vorhandenen Schutzstandards zu erhöhen und die Geschäftstätigkeit der Luftfahrtunternehmen zu harmonisieren (Erwägungsgrund 4). Auch sollte der Schutz der Fluggäste auf den Bedarfsflugverkehr einschließlich der Flüge bei Pauschalreisen erweitert werden (Erwägungsgrund 5). Durch die Neuregelung sollte also der Anwendungsbereich der Verordnung gegenüber der Vorgängerverordnung erweitert werden, nicht aber der Kreis der Anspruchsgegner. In Erwägungsgrund 7 hat der Verordnungsgeber unmissverständlich dargelegt: "Damit diese Verordnung wirksam angewandt wird, sollten die durch sie geschaffenen Verpflichtungen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegen, das einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, …" Dementsprechend gilt gemäß Art. 3 Abs. 5 Satz 1 die Verordnung für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen.
12
Auch in der Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 27/2003 vom 18. März 2003 (ABl. C 125 E v. 27.5.2003, S. 63, 70 erster Spiegelstrich ) heißt es: "Der Rat kam überein, den Text dadurch zu vereinfachen, dass sämtliche Ausgleichs- und Unterstützungsverpflichtungen gegenüber Fluggästen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen auferlegt werden , da dieses aufgrund seiner Präsenz auf den Flughäfen in der Regel am besten in der Lage ist, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Allerdings ist das ausführende Luftfahrtunternehmen berechtigt, nach geltendem Recht Regressansprüche geltend zu machen; insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in Vertragsbeziehung steht."
13
Schließlich bestimmt Art. 3 Abs. 6 Satz 1, dass die Verordnung die aufgrund der Richtlinie 90/314 EWG über Pauschalreisen bestehenden Fluggastrechte unberührt lässt. Diese Richtlinie und deren Umsetzung durch die nationalen Gesetzgeber regeln die Rechte des Pauschalreisenden gegenüber dem Reiseveranstalter. Der von der Verordnung beabsichtigte erweiterte Schutz des Fluggastes einer Pauschalreise soll also auch dadurch erreicht werden, dass die Verordnung dem Fluggast neben der nach nationalem Recht schon bestehenden vertraglichen Haftung des Reiseunternehmens eine gesetzliche Haftung des ausführenden Luftfahrtunternehmens als eines weiteren Schuldners gewährt (zutreffend AG Oberhausen RRa 2007, 91, 92).
14
Nach allem besteht auch kein Anlass, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften einzuholen. Der Senat hat keine Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts noch daran, dass diese Auslegung für Gerichte anderer Mitgliedstaaten eindeutig ist.
15
bb) Andere Zulassungsgründe sind ebenfalls nicht zu erkennen.
16
2. Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg.
17
Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die Passivlegitimation der Beklagten verneint, weil sich der Anspruch auf Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung nur gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen richtet, der Beklagten aber nicht die Durchführung des Fluges oblegen hatte.
18
Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 5 Satz 2 der Verordnung herleiten, dass das Reiseunternehmen Ausgleichsleistungen zu erbringen hätte. Nach dieser Vorschrift wird dann, wenn ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen der Verordnung erfüllt, davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht. Auch insoweit erscheint die Auslegung nicht zweifelhaft. Die Vorschrift greift bereits nach ihrem Wortlaut erst, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen die es gesetzlich aus Art. 7 ff. der Verordnung treffenden Verpflichtungen erfüllt. Erst dann handelt das ausführende Luftfahrtunternehmen mit Wirkung für und gegen den Reiseveranstalter, und nicht schon, wie die Revision meint, bei Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung. Dies erlangt etwa Bedeutung, wenn das Luftfahrtunternehmen dem Reisenden den Flugpreis gemäß Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung erstattet oder - was auch das Berufungsgericht angenommen hat - die Ausgleichs-, Unterstützungs- und Betreuungsleistungen mangelhaft erbringt.
19
Soweit die Revision weiter geltend macht, jedenfalls seien die in der Verordnung geregelten Ansprüche als pauschalisierter Schadensersatz im Rahmen des Schadensersatzanspruchs gemäß § 651 f BGB gegen den Reiseveranstalter zu berücksichtigen, sind Ausführungen hierzu durch den vorliegenden Fall nicht veranlasst.
Melullis Scharen Mühlens
Meier-Beck Gröning
Vorinstanzen:
AG Duisburg, Entscheidung vom 03.05.2006 - 35 C 5083/05 -
LG Duisburg, Entscheidung vom 15.03.2007 - 12 S 67/06 -

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 543 Zulassungsrevision


(1) Die Revision findet nur statt, wenn sie1.das Berufungsgericht in dem Urteil oder2.das Revisionsgericht auf Beschwerde gegen die Nichtzulassungzugelassen hat. (2) Die Revision ist zuzulassen, wenn1.die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat

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(1) Die Revision findet nur statt, wenn sie

1.
das Berufungsgericht in dem Urteil oder
2.
das Revisionsgericht auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung
zugelassen hat.

(2) Die Revision ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.
Das Revisionsgericht ist an die Zulassung durch das Berufungsgericht gebunden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
X ZR 95/06 Verkündet am:
17. Juli 2007
Potsch
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte) Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c, 7
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung von
Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung
für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der
Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und
zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist bei der Auslegung des Begriffs "Annullierung" entscheidend
darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben
wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer
keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung
des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt?
2. Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist
eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung
, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung
dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?
BGH, Beschl. v. 17. Juli 2007 - X ZR 95/06 - LG Darmstadt.
AG Rüsselsheim
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. Juli 2007 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter
Keukenschrijver, die Richterinnen Ambrosius und Mühlens und den Richter
Gröning

beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung von Artt. 2 lit. l, 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs - und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist bei der Auslegung des Begriffs "Annullierung" entscheidend darauf abzustellen, ob die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben wird, so dass eine Verzögerung unabhängig von ihrer Dauer keine Annullierung darstellt, wenn die Fluggesellschaft die Planung des ursprünglichen Fluges nicht aufgibt ? 2. Falls die Frage zu 1 verneint wird: Unter welchen Umständen ist eine Verzögerung des geplanten Fluges nicht mehr als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln? Hängt die Beantwortung dieser Frage von der Dauer der Verspätung ab?

Gründe:


1
I. Die Kläger verlangen von der beklagten Charterfluggesellschaft unter anderem Ausgleichszahlungen nach Art. 7 VO (EG) 261/2004 (im Folgenden: VO), weil sie mit einer Verspätung von etwa 25 Stunden am Zielflughafen ankamen.
2
Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau, die ihre Ansprüche an ihn abgetreten hat, buchten für sich und ihre beiden Kinder, die Kläger zu 2 und 3, bei der Beklagten einen Flug von F. nach T. und zurück. Der für den 9. Juli 2005 mit der Abflugzeit 16:20 Uhr gebuchte Rückflug von T. erfolgte erst am nächsten Tag; die Kläger kamen etwa 25 Stunden später als geplant am 11. Juli 2005 um 7:00 oder 7:15 Uhr in F. an. Sie tragen vor, dass am 9. Juli 2005 gegen 23:30 Uhr der Flugkapitän mitgeteilt habe, der Flug werde annulliert ("cancelled"). So stand es auch auf der Anzeigetafel. Das bereits abgegebene Gepäck wurde den Fluggästen gegen Mitternacht wieder ausgehändigt. Sie wurden per Bus zur Übernachtung in ein Hotel gebracht, wo sie erst gegen 2:30 Uhr eintrafen. Am nächsten Tage mussten sie - am Schalter einer anderen Fluggesellschaft - erneut einchecken, erhielten andere Sitzplätze zugeteilt als am Vortag und mussten die Sicherheitsüberprüfung wiederholen. Die Flugnummer des einen Tag später durchgeführten Rückflugs entsprach der Bu- chung. Die Beklagte hatte für diesen Tag keinen weiteren, neuen Flug unter der gleichen Flugnummer geplant. Die Passagiere wurden auch nicht auf einen von einer anderen Gesellschaft geplanten Flug umgebucht.
3
Die Kläger meinen, es habe sich aufgrund aller dieser Umstände, vor allem wegen der 25-stündigen Dauer der Verzögerung, nicht um eine Verspätung , sondern um eine Annullierung gehandelt, so dass ihnen die bei einer Annullierung geschuldete Ausgleichszahlung von 600,-- € pro Person zustehe. Daneben verlangen sie Schadensersatz für Verdienstausfall, nutzlose Sitzplatzreservierungen und verfallene Bahnfahrscheine. Hilfsweise stützen sie ihre Klage auf eine Minderung des Flugpreises um 30 %.
4
Die Kläger haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1 1.381,45 € und an die Kläger zu 2 und 3 je 600,-- € nebst Zinsen zu zahlen.
5
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
6
Nach Auffassung der Beklagten lag lediglich eine Verspätung vor. Nachdem die Beklagte diese vorgerichtlich mit einem Hurrikan in der Karibik erklärt hatte, hat sie im Prozess technische Defekte am Flugzeug und eine Erkrankung der Besatzung als Ursachen angegeben. Die Reparaturarbeiten seien am 9. Juli 2005 um 23:10 Uhr beendet gewesen, jedoch habe die vorgesehene Crew Grippesymptome gezeigt. Im ersten Rechtszug, aber nicht mehr im Berufungsverfahren hat die Beklagte weiter vorgetragen, es habe sich um außergewöhnliche , unvermeidbare Umstände gehandelt.
7
Das Amtsgericht hat eine Verspätung, keine Annullierung, angenommen und deshalb die Ausgleichsansprüche der Kläger zurückgewiesen. Es hat ihnen lediglich für Verdienstausfall und Bahnfahrkarten Schadensersatz wegen Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags zugesprochen, da die Beklagte den Entlastungsbeweis für ihr fehlendes Verschulden nicht geführt, nämlich zur Wartung des Flugzeugs nicht konkret vorgetragen habe. Weiter hat das Amtsgericht den Klägern einen Bereicherungsanspruch bezüglich der Sitzplatzreservierungen und eine Minderung des Flugpreises für den Rückflug um 30 % zuerkannt. Insgesamt hat es der Klage in Höhe von 350,75 € nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist vom Landgericht zurückgewiesen worden. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Kläger, mit der sie ihre Klage in vollem Umfang weiterverfolgen. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
II. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt : Das Amtsgericht sei zu Recht von einer bloßen Verspätung des Fluges ausgegangen. Nach Art. 2 lit. l VO sei unter "Annullierung" die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war, zu verstehen. Deshalb sei mit "Flug" die kollektive Beförderung einer Gruppe von Passagieren gemeint, die sich bei der Buchung für diesen Transport entschieden hätten, und sei darauf abzustellen, ob diese Gruppe, wie hier geschehen, im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert werde, möge dies auch zu einem anderen Zeitpunkt als ursprünglich vorgesehen erfolgen. Aus dem Erwägungsgrund 12 und aus Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung, deren Ziel es sei, die Flugunternehmen zu rechtzeitiger Unterrichtung der Fluggäste über die Annullierung zu veranlassen, folge weiter, dass mit "Annullierung" nur solche Fälle gemeint seien, in denen sich die Fluggesellschaft aus eigenem Willen, z.B. aus wirtschaftlichen Gründen, entschließe, einen Flug nicht durchzuführen. Im vorliegenden Fall sei jedoch ein plötzlich und unvorhergesehen eingetrete- nes Ereignis der Grund dafür gewesen, dass der Flug am 9. Juli 2005 nicht mehr habe durchgeführt werden können, obwohl die Beklagte ihn grundsätzlich habe durchführen wollen. Ob es maximale zeitliche Grenzen für die Verspätung gebe, brauche im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, weil jedenfalls bei 25 Stunden eine Verspätung begrifflich noch nicht ausgeschlossen sei. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Abgrenzung der Annullierung von einer Verspätung ungeklärt sei und grundsätzliche Bedeutung habe.
9
III. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung von Art. 2 lit. l und eventuell Art. 5 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46, S. 1) ab. Das Revisionsverfahren ist deshalb auszusetzen, und es ist gemäß Art. 234 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuholen.
10
1. Die Kläger erheben den schadens- und verschuldensunabhängigen, in der Höhe standardisierten Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung, der bei einem Flug von mehr als 3.500 km Länge 600,-- € beträgt. Weder das deutsche autonome Recht noch internationale Abkommen sehen einen derartigen Anspruch vor (BGH, Beschl. v. 12.07.2006 - X ZR 22/05, NJW-RR 2006, 1719). Die Revision der Kläger ist daher nur begründet, wenn die Verordnung ihnen einen Ausgleichsanspruch gewährt. Nach dem Text der Verordnung sind Ausgleichsleistungen nur für den Fall einer Annullierung vorgesehen (Art. 5 Abs. 1 lit. c VO), während bei einer Verspätung den Fluggästen keine Ausgleichszahlungen , sondern lediglich Betreuungs- und Unterstützungsleistungen zustehen, die z.B. in Mahlzeiten, Hotelunterbringung, Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung zum Endziel sowie bei einer Verspätung von mehr als fünf Stunden in Erstattung des Flugpreises oder anderweitiger Beförderung bestehen (Artt. 6, 8, 9 VO). Die Ausgleichsansprüche der Kläger sind somit nur begründet, wenn ihre verzögerte Rückbeförderung keine Verspätung war, sondern unter den Begriff der Annullierung einzuordnen bzw. wie eine solche zu behandeln ist. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die vorgelegte Frage 1, ob eine Annullierung bzw. die Behandlung einer Verzögerung als Annullierung in jedem Fall, insbesondere ungeachtet der Dauer der Verzögerung, ausscheidet, wenn der ursprüngliche geplante Flug nicht aufgegeben wird, ob also eine Verzögerung ohne Aufgabe der ursprünglichen Flugplanung niemals eine Annullierung darstellt. Falls dies verneint wird, soll die Vorlagefrage 2 klären , unter welchen besonderen Umständen die Verzögerung eines Fluges trotz Aufrechterhaltung der ursprünglichen Planung wie eine Annullierung zu behandeln ist. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob ab einer bestimmten Dauer der Verzögerung eine Verspätung in eine Annullierung umschlägt. Hierbei handelt es sich um Fragen, die im Wege der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung zu klären sind. Dazu ist nach Art. 234 EG der EuGH berufen. Eine Vorlagepflicht besteht nur dann nicht, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts so offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257 - CILFIT; BGHZ 153, 82, 92 und ständig). Das ist hier aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht der Fall.
11
2. Einerseits kommt eine am Wortlaut der VO orientierte Auslegung in Betracht, nach der bei einer 25-stündigen Verzögerung den Fluggästen kein Ausgleichsanspruch zustehen würde.
12
a) Art. 2 lit. l VO enthält folgende Legaldefinition der Annullierung: "die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war". Die Fluggesellschaft muss also ursprünglich einen Flug geplant, d.h. in ihren Flugplan aufgenommen und somit nach Abflug- und Zielort, Abflugsund Ankunftszeit festgelegt, mit einer Flugnummer versehen und zur Buchung freigegeben haben. Letzten Endes darf sie diesen geplanten Flug dann aber doch nicht durchgeführt haben.
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b) Entscheidend für die Annullierung könnte somit sein, dass ein bestimmter Flug, den die Fluggesellschaft in ihren Flugplan aufgenommen und zur Buchung angeboten hatte, endgültig aufgegeben wird (so AG Charlottenburg, Urt. v. 15.11.2005 - 218 C 290/05, nicht veröffentlicht; für Unmaßgeblichkeit des Zeitfaktors auch Bezirksgericht für Handelssachen Wien, Urt. v. 04.08.2006 - 8 C 2016/05m, RRa 2006, 276; AG Frankfurt a.M., Urt. v. 31.08.2006 - 30 C 1370/06, nicht veröffentlicht; so auch Führich, MDR 7/2007 Sonderbeilage S. 8). Dies bedeutet nicht - worauf die Revision zu Recht hinweist -, dass die Buchungspassagiere von der Luftfahrtgesellschaft gar nicht zum Zielort befördert werden. Vielmehr muss die Luftfahrtgesellschaft bei einer Annullierung den Fluggästen, wenn diese nicht Erstattung des Flugpreises wählen, eine anderweitige Beförderung zum Endziel verschaffen (Artt. 5 Abs. 1 lit. a, 8 Abs. 1). Diese anderweitige Beförderung erfolgt mittels eines Fluges, der "neuer Flug" (Art. 5 Abs. 1 lit. b) oder "Alternativflug" (Art. 7 Abs. 2) genannt wird. Das ausschlaggebende Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem alten, d.h. dem ursprünglich geplanten Flug und dem neuen bzw. Alternativflug könnte daher die Aufgabe der ursprünglichen Planung bzw. die Beförderung der Fluggäste auf einem vorher gar nicht oder auf einem von vornherein anders geplanten Flug sein, sei es dass dieser Alternativflug von einer anderen Fluggesellschaft gemäß deren Planung, sei es, dass er von der Vertragsgesellschaft, aber zu einer anderen Abflugzeit, von einem anderen Abflugort oder zu einem anderen Zielort als ursprünglich geplant durchgeführt wird. Werden die Passagiere zum Beispiel mit einem Flug der Vertragsgesellschaft befördert, der von vornherein für eine andere Abflugzeit, für einen anderen Tag oder für eine andere Route geplant war, oder werden die Passagiere auf den geplanten Flug eines anderen Luftfahrtunternehmens umgebucht, so würde es sich nach dieser Definition um eine Annullierung handeln, selbst wenn keine oder nur eine geringfügige Verspätung eintritt. Umgekehrt würde nur eine Verspätung vorliegen, wenn der Flug, mit dem die Passagiere schließlich befördert werden, weder von der Vertragsgesellschaft für eine andere Strecke oder Zeit noch von einer anderen Fluggesellschaft geplant war, selbst wenn der Flug außerordentlich viel später erfolgt als geplant.
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c) Wäre das Kriterium der aufgegebenen Planung maßgeblich, so könnte daraus die Unmaßgeblichkeit anderer Umstände folgen, die indessen in Rechtsprechung und Schrifttum zum Teil als Indizien für eine Annullierung angesehen werden. Die Wiederausgabe des Gepäcks und eine neue Abfertigung können darauf zurückzuführen sein, dass die Passagiere im Hotel übernachten mussten. Die Ausgabe einer neuen Bordkarte ist notwendig, wenn ein andersartiges Ersatzflugzeug verwendet wird. Beides steht daher der Annahme einer bloßen Verspätung nicht zwingend entgegen (so auch Tonner, RRa 2006, 278 f.; a.A. Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Führich, aaO). Die Bezeichnung des Fluges durch den Piloten und/oder auf der Anzeigetafel als "cancelled" statt "delayed" kann auf einer falschen rechtlichen Einordnung der Störung durch Dritte, nämlich den Piloten oder das Flughafenpersonal, beruhen und dürfte daher allenfalls ein schwaches Indiz für eine Annullierung sein. Wenig Indizwirkung dürften auch die Auswechslung des Flugzeugs und die der Besatzung haben (a.A. AG Frankfurt am Main, Urt. v. 12.10.2006 - 30 C 1726/06-75, nicht veröffentlicht), da die Identität der Maschine und des Flugpersonals nichts mit der Planung des Fluges zu tun hat, sondern nur mit dessen Organisation und Durchführung.
Selbst die Beförderung durch ein anderes als dasjenige Luftfahrtunternehmen, mit dem die Fluggäste den Beförderungsvertrag geschlossen haben, indiziert nicht ohne weiteres eine Annullierung. Werden beispielsweise wegen eines Flugzeugdefektes die Passagiere statt von der vertragschließenden Fluggesellschaft mit dem Flugzeug einer anderen Gesellschaft befördert, das die vertragliche Gesellschaft als Ersatz für ihr eigenes defektes Flugzeug angemietet hat (sogenannte Subcharter), so liegt keine Annullierung vor (Schmid, aaO, S. 1843). Auch die vom Berufungsgericht für erheblich gehaltene Frage, ob der Veranstalter den Flug aus wirtschaftlichen Erwägungen oder gezwungenermaßen abgesagt hat, dürfte nicht maßgeblich sein. Erwägungsgrund 12 und Art. 5 Abs. 1 lit. c VO die das Berufungsgericht herangezogen hat, geben für dessen Ansicht, bei einer Annullierung müsse die Fluggesellschaft schon längere Zeit vor der geplanten Abflugszeit Kenntnis von dem Hindernis gehabt haben, nichts her; die jeweilige Erwähnung von Annullierungen, die auf außergewöhnliche Umstände zurückgehen - zu denen laut Erwägungsgrund 14 Wetterbedingungen und unerwartete Flugsicherheitsmängel gehören - spricht vielmehr dagegen.
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Umgekehrt folgt aus der Beibehaltung der gleichen Flugnummer nicht zwingend eine Verspätung (so auch AG Frankfurt aaO; Tonner, aaO). Denn wenn eine Fluggesellschaft täglich zur gleichen Zeit den gleichen Flug durchführt , trägt der Flug auch jeden Tag die gleiche Nummer, so dass Fluggäste, die wegen des Ausfalls eines geplanten Fluges erst 24 Stunden später mit dem für diesen Tag geplanten Flug befördert werden, trotz Annullierung ihres Fluges unter der gleichen Flugnummer reisen (Schmid, aaO, S. 1843). Auch der Umstand , den das Berufungsgericht als wesentlich für die Annahme einer Verspätung angesehen hat, dass die Gruppe der ursprünglich gebuchten Passagiere im Wesentlichen in gleicher Zusammensetzung befördert wird, wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt, dürfte eine eindeutige Zuordnung nicht zulassen.
Denn wenn diese Gruppe verhältnismäßig klein ist, kann es der Fluggesellschaft gelingen, sie insgesamt auf einem noch nicht ausgebuchten Alternativflug unterzubringen. Ein schwerwiegendes Indiz für eine Annullierung und gegen eine Verspätung wird demgegenüber eine andere Flugnummer sein (so auch Schmid, S. 1843), da eine solche in der Regel zu einem anders geplanten Flug gehört.
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2. Andererseits kommt aber auch eine Auslegung in Betracht, nach der die im vorliegenden Fall geschehene Verzögerung von 25 Stunden nicht als Verspätung, sondern als Annullierung zu behandeln wäre. Diese Auslegung wäre weniger am Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 VO und mehr am Schutzbedürfnis der Fluggäste orientiert.
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a) Möglicherweise schlägt eine Verspätung unter besonders belastenden Umständen und insbesondere bei einer bestimmten Dauer in eine Annullierung um. Der Text der Verordnung enthält zwar keine ausdrückliche Obergrenze für die Dauer der Verspätung. Aus Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO ergibt sich lediglich, dass die Verspätung mehr als fünf Stunden betragen kann, und aus Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO sowie aus Erwägungsgrund 15 geht hervor, dass bei einer Verspätung der Abflug auch erst am nächsten Tag erfolgen kann. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass es für die Verspätung keine zeitliche Grenze gibt, jenseits derer es sich um eine Annullierung handelt.
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b) Für die Behandlung einer besonders belastenden Verzögerung und insbesondere einer besonders langen Verzögerung als Annullierung könnte die Schutzlücke sprechen, die sich anderenfalls auftun würde.
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aa) Der allgemeine Schutzzweck der Verordnung ist es, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in vollem Umfang Rechnung zu tragen (Erwägungsgrund 1). In den Erwägungsgründen wird weiter ausgeführt, dass Annullierungen und große Verspätungen für die Fluggäste ein Ärgernis seien und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachten (Grund 2), dass ihre Zahl immer noch zu hoch sei (Grund 3) und dass die Gemeinschaft deshalb die Schutzstandards erhöhen sollte, um die Fluggastrechte zu stärken (Grund 4). Speziell zum Zweck der Ausgleichszahlungen bei Annullierung besagt der an die Erörterung der Nichtbeförderung gegen den Willen der Fluggäste (Überbuchung) anschließende Erwägungsgrund 12: "Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären."
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bb) Die Verordnung erklärt also nicht ausdrücklich, weshalb der Fluggast im Falle einer Annullierung weitergehende Ansprüche hat als bei einer Verspätung , nämlich unabhängig von seinem tatsächlichen Schaden eine Ausgleichszahlung beanspruchen kann (vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006 - C-344/04 IATA v. Department of Transport, Slg. 2006, S. I-00403, LS 3 Rdn. 69 ff.). Die Besserstellung des Fluggastes bei Annullierung lässt sich indessen vernünftigerweise nur durch die Vorstellung des Gesetzgebers erklären, dass der Fluggast im Regelfall durch eine Annullierung schwerer beeinträchtigt wird als durch eine Verspätung. Dazu passt die Feststellung des EuGH (aaO Rdn. 85), dass der Um- fang der vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegten Leistungen - von deren Art hat der Gerichtshof allerdings nicht ausdrücklich gesprochen - sich nach der Schwere des Schadens richtet, der den Fluggästen entstanden ist, und entweder anhand des Ausmaßes der Verspätung und der Wartezeit oder anhand der Frist, innerhalb derer die Betroffenen über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurden, bemessen werde. Der EuGH hat also zum einen die Dauer der Verspätung als Kriterium für die Schwere des Schadens und zum anderen die Schwere des Schadens als Maßstab für den Umfang der Leistung anerkannt.
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Eine Vermutung, dass eine Annullierung in der Regel stärker belastet als eine Verspätung, könnte der Lebenserfahrung entsprechen. Dem Totalausfall eines Fluges gehen oft langwierige Reparaturversuche voraus, während derer die Fluggäste warten müssen. Erst nach deren letztendlichem Fehlschlag beginnt dann die Suche nach noch nicht ausgebuchten Alternativflügen. Diese sind häufig erst am nächsten Tage zu finden und führen dann nicht selten zu anderen Zielorten, von denen die Fluggäste zu dem von ihnen gebuchten Zielort weiterbefördert werden müssen. Demgegenüber erschöpfen sich die Unannehmlichkeiten einer Verspätung häufig in einer Wartezeit von wenigen Stunden am Abflughafen und der entsprechend späteren Ankunft am Zielort.
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cc) Im Einzelfall kann es aber umgekehrt liegen, wenn z.B. bei einer Annullierung der Fluggast in kürzester Frist einen Ersatzflug zum gewünschten Zielort antreten kann oder wenn andererseits, wie im vorliegenden Fall, eine Verspätung mehr als einen Tag lang andauert. Für diese Fälle würde dann eine Schutzlücke bestehen (Staudinger, DAR 2007, 1324 f.). Es könnte der Billigkeit widersprechen, dass eine Annullierung, deren belastende Auswirkungen sich in einer Verspätung von, je nach Entfernung, zwei, drei oder vier Stunden zuzüglich einer Minute erschöpfen, zum ungekürzten Ausgleichsanspruch führen würde und dass selbst bei rechtzeitiger Ankunft eine Annullierung das Luftfahrt- unternehmen immerhin zur hälftigen Ausgleichszahlung verpflichtet wäre (Art. 7 Abs. 2 VO), während eine Verspätung von 25 Stunden, wie sie im vorliegenden Fall geschehen ist, überhaupt keinen Ausgleichsanspruch erzeugen würde. Eine Schutzlücke liegt aber möglicherweise auch schon darin, dass Passagiere einen für sie im Wesentlichen gleich belastenden Lebenssachverhalt, nämlich eine gleich lange Verzögerung ihrer Beförderung, erleben und doch ganz unterschiedliche Ansprüche erwerben können (Wagner, VUR 2006, S. 338).
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c) Falls der Gesetzgeber die Schutzlücke erkannt und bewusst in Kauf genommen hat, wäre es den Gerichten möglicherweise versagt, sie im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen. Die Absicht des Gesetzgebers ist jedoch nicht klar.
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Ambivalent ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Verordnung für den umgekehrten Fall der außergewöhnlich wenig belastenden Annullierung ausdrücklich eine Ausnahmeregelung vorsieht. Das Luftfahrtunternehmen darf die Ausgleichszahlungen um 50 % kürzen, wenn den Fluggästen ein Alternativflug zu ihrem Endziel angeboten wird, der, gestaffelt nach der Flugentfernung , nicht später als zwei, drei oder vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Fluges ankommt (Art. 7 Abs. 2 VO). Diese ausdrückliche Ausnahmeregelung kann jedoch entweder darauf hindeuten , dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit einer reziproken Regelung für ungewöhnlich belastende Verspätungen übersehen hat, oder sie kann im Gegenteil den Rückschluss erlauben, dass der Gesetzgeber sich bewusst dagegen entschieden hat.
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Letzteres erscheint möglich, weil Art. 7 Abs. 2 VO zeigt, dass der Gesetzgeber bestrebt war, die finanzielle Belastung der Fluggesellschaften durch Ausgleichszahlungen in Grenzen zu halten. Dieselbe Absicht geht aus der An- spruchsversagung im Falle außergewöhnlicher und unvermeidlicher Umstände hervor (Art. 7 Abs. 3). Die Erstreckung der Ausgleichszahlungen auf besonders schwerwiegende Verspätungen würde die finanzielle Belastung der Luftfahrtunternehmen hingegen erhöhen. Zu berücksichtigen ist weiter, dass der Fluggast, der infolge einer nicht entschuldigten Verspätung nachweisliche Schäden erleidet , nicht leer ausgeht, sondern nach dem Montrealer Übereinkommen und nach deutschem Recht auch nach dem Werkvertragsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs Ersatz verlangen kann. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 schließt die Verordnung einen weitergehenden Schadensersatzanspruch des Fluggastes nicht aus. Die Verordnung enthält standardisierte sofortige Maßnahmen zur Wiedergutmachung, die neben etwaige Ansprüche auf Schadensersatz als individuelle Wiedergutmachung nach Art. 19 des Montrealer Übereinkommens treten (EuGH aaO Rdn. 44 ff.). Dasselbe gilt für Schadensersatzansprüche aus Beförderungsvertrag (vgl. Führich, aaO, S. 10). Nach Ansicht mehrerer deutscher Gerichte steht dem Fluggast außerdem eine Minderung des Flugpreises zu, wenn eine große Verspätung einen Mangel der Beförderungsleistung darstellt.
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Dass gleichwohl nicht klar ist, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber die aufgezeigte Schutzlücke bewusst in Kauf genommen hat, wird auch an der deutschen Rechtsprechung deutlich, die schon mehrfach eine Auslegung des Begriffs Annullierung in dem Sinne vorgenommen hat, dass auch eine außerordentlich große Verspätung darunterfällt. Der beschließende Senat hat die Frage eines Zeitfaktors ausdrücklich offengelassen (Beschl. v. 12.07. 2006, aaO).
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d) Hält man eine derartige Auslegung im Prinzip für zulässig und geboten , so stellt sich die weitere Frage, unter welchen Umständen bzw. ab welcher Dauer eine große Verspätung in eine Annullierung umschlägt.
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Dem Text der Verordnung lässt sich nicht entnehmen, dass die etwaige Obergrenze für eine Verspätung bei 24 Stunden oder sogar bei mehreren Tagen liegt. Soweit bei der Beschreibung der Betreuungsleistungen die Hotelunterbringung bei einem Aufenthalt von mehreren Nächten erwähnt wird (Art. 9 Abs. 1 lit. b VO), braucht sich dies nicht auf eine Verspätung zu beziehen. Denn Hotelunterbringung schuldet das Luftfahrtunternehmen nicht nur bei einer Verspätung des Fluges (Art. 6 Abs. 1 lit. c ii VO), sondern auch bei Annullierung (Art. 5 Abs. 1 lit. b VO). Die Erwähnung eines Aufenthalts von mehreren Nächten kann sich daher auch nur auf den Fall der Annullierung beziehen.
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Das Amtsgericht Frankfurt am Main (Urt. v. 12.10.2006, aaO) hat die Grenze bei 22 Stunden deutlich überschritten gesehen, das Amtsgericht Rüsselsheim (Urt. v. 07.11.2006 - 3 C 717/06 (32), nicht veröffentlicht) hat sie bei 48 Stunden gezogen. Im Schrifttum wird in Anlehnung an Art. 6 Abs. 1 lit. c iii VO die Grenze bei fünf Stunden gesehen (Schmid, NJW 2006, 1841, 1843; Wagner, VuR 2006, 337, 339) oder das Anderthalbfache der Zeiträume des Art. 6 Abs. 1 VO vorgeschlagen, so dass eine Annullierung je nach Länge des Fluges ab drei, viereinhalb oder sechs Stunden anzunehmen wäre (Tonner, aaO). Nach anderer Ansicht muss eine Annullierung jedenfalls dann angenommen werden, wenn sich der Flug um mehrere Tage verschiebt (Führich, aaO).
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3. Nach alledem ist die richtige Auslegung der Verordnung nicht so offenkundig , dass für vernünftige Zweifel kein Raum verbleibt.
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Dies sieht auch die Kommission nicht anders. Nach ihrer gemäß Art. 17 VO erstatteten Mitteilung vom 4. April 2007 über die Anwendung und die Ergebnisse der Verordnung (KOM (2007) 168 endg.) lässt sich schwer bestimmen , ob ein Flug verspätet war oder annulliert wurde, da die Luftfahrtunternehmen bei der Einstufung von Verspätungen oder Annullierungen unterschiedliche Konzepte anwenden, was sich wiederum auf die Zahlungen von Ausgleichsleistungen auswirkt (Nr. 4.1.2.), besteht Unklarheit über die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen gegenüber den Fluggästen bei langen Verspätungen über 24 Stunden (Nr. 5.4.) bzw. haben Fluggäste, einzelstaatliche Durchsetzungsstellen und Luftfahrtunternehmen Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Verspätungen und Annullierungen und bei der Frage, ob eine Verspätung von 24 Stunden z.B. als Annullierung oder große Verspätung einzustufen ist (Nr. 7.3.). Die Kommission selbst geht möglicherweise davon aus, dass eine Verspätung in eine Annullierung umschlagen kann; denn sie beanstandet, dass in einigen Fällen Luftfahrtunternehmen Flüge um 48 Stunden "verschoben", d.h.
als verspätet behandelt hätten, um Entschädigungsforderungen der Fluggäste zu vermeiden, während der Flug in Wirklichkeit infolge technischer Probleme "annulliert" gewesen sei (Nr. 7.3.).
Melullis Keukenschrijver Ambrosius
Gröning Mühlens
Vorinstanzen:
AG Rüsselsheim, Entscheidung vom 17.03.2006 - 3 C 109/06 (33) -
LG Darmstadt, Entscheidung vom 12.07.2006 - 21 S 82/06 -