Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Nov. 2017 - 5 StR 520/17
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 27. November 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier Fällen und wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
- 2
- 1. Die im angefochtenen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung unterliegt durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
- 3
- a) Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen , die Nebenklägerin, seine 1998 geborene Großnichte, von Oktober 2007 bis Mai 2013 in mindestens 69 Fällen sexuell missbraucht zu haben, wobei er in allen Fällen den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB), darüber hinaus in 60 Fällen den Tatbestand des (schweren) sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§§ 176, 176a StGB) verwirklicht habe. Der Freispruch ist aus tatsächlichen Gründen erfolgt, weil sich die Strafkammer namentlich aufgrund von das jeweilige Kerngeschehen betreffenden Inkonstanzen im Aussageverhalten der Nebenklägerin sowie im Blick auf insoweit vage und detailarme Bekundungen keine Überzeugung von deren Glaubhaftigkeit zu verschaffen vermochte. Die Verwerfungen sprächen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung gegen ein tatsächliches Erleben der Nebenklägerin (UA S. 34). Daran könnten auch Bekundungen von deren Mutter nichts ändern, wonach ihr von der Nebenklägerin erzählt worden sei, der Angeklagte kneife sie mit der Folge von blauen Flecken in den Oberschenkel, ziehe sie an den Schamhaaren und habe ihr verboten, jemandem etwas zu erzählen. Denn die Nebenklägerin habe dies in der Hauptverhandlung nicht bestätigt.
- 4
- Ferner hat das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf weiterer drei Körperverletzungstaten freigesprochen. In einem Fall (Ziffer 71 der Anklage) hatte die Nebenklägerin angegeben, die von ihrer Mutter vor der Polizei geschilderte Tat habe nicht stattgefunden.
- 5
- Hingegen hat das Landgericht die Aussage der Nebenklägerin zu den abgeurteilten sechs Körperverletzungsdelikten als glaubhaft eingestuft. Bei den Taten 1 bis 5 habe diese Bestätigung gefunden in – gleichfalls glaubhaften – Angaben ihrer Mutter, im Fall 2 auch in solchen einer Nachbarin.
- 6
- b) Die Darlegungen der Strafkammer in den Verurteilungsfällen genügen nicht den Anforderungen, die die Rechtsprechung in Konstellationen wie der vorliegenden stellt. Zwar existiert kein Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt wer- den darf (vgl. MüKo-StPO/Miebach, 2016, § 261 Rn. 225 mwN). Jedoch müssen die Urteilsgründe dann erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände , die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat; wird dem Zeugen hinsichtlich weiterer Taten nicht gefolgt oder handelt es sich gar um bewusst falsche Angaben, so muss das Tatgericht zudem jedenfalls regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159; vom 17. November 1998 – 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256, 257). Daran fehlt es hier.
- 7
- aa) In Bezug auf alle abgeurteilten Taten lässt das angefochtene Urteil die Entstehung und Entwicklung der Aussage der Nebenklägerin nicht bzw. nicht hinreichend erkennen. So wird in den Urteilsgründen eine „Flucht“ der Nebenklägerin und ihrer Familie aus der Wohnung des Angeklagten in ein Frauenhaus erwähnt (UA S. 35, 36). Die für diese „Flucht“ verantwortlichen Umstände lassen sich den Urteilsgründen nicht mit der notwendigen Klarheit entnehmen; das Gleiche gilt für Anlass und Zeitpunkt der Anzeigeerstattung. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob bei der Nebenklägerin ein Motiv für eine Falschbezichtigung des Angeklagten vorhanden gewesen ist. Entsprechendes gilt für die Bekundungen der Mutter der Nebenklägerin , die die Familie des Angeklagten überdies nach dem Auszug in einer SMS beschimpft hat (UA S. 13). Darüber hinaus haben sich deren Angaben zu einer weiteren Körperverletzungstat des Angeklagten (Fall 71 der Anklage ) als unzutreffend erwiesen (UA S. 36). Deren Aussagen können daher nicht ohne Weiteres als außerhalb der Bekundungen der Nebenklägerin liegende Gründe im vorgenannten Sinne herangezogen werden, sondern hätten einer eingehenden Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt unter Erörterung etwaiger Falschbelastungsmotive bedurft. Die Beweiswürdigung in den Verurteilungsfällen kann bereits deshalb insgesamt keinen Bestand haben.
- 8
- bb) Die Darlegungen der Strafkammer zu den einzelnen Taten sind zudem lückenhaft.
- 9
- (1) So ergibt sich aus der Aussage der Mitarbeiterin des allgemeinen Sozialen Dienstes, dass sich die Nebenklägerin nach anonymen Anrufen einer Nachbarin beim Jugendamt (wohl) im Jahr 2010 oder 2011 „in der Rechtsmedizin“ vorgestellt habe (UA S. 16). Das Ergebnis der Untersuchung wird jedoch nicht mitgeteilt.
- 10
- (2) Der Verurteilungsfall 2 (Ziffer 73 der Anklage) weist starke Ähnlichkeiten mit dem Freispruchsfall unter Ziffer 71 der Anklage auf. In beiden Fällen ist dem Angeklagten vorgeworfen worden, den Kopf der Nebenklägerin während der Hausaufgaben auf die Tischplatte geschlagen bzw. diese so stark auf den Kopf geschlagen zu haben, dass der Kopf auf den Tisch fiel. Aus welchem Grund das Landgericht die hierzu referierte Aussage der Zeugin Si. dem Verurteilungsfall zuordnet, wird nicht deutlich. Der Inhalt der auch hier in Bezug genommenen Bekundungen der Mutter der Nebenklägerin wird nicht wiedergegeben (UA S. 15).
- 11
- (3) Maßgebend auch aufgrund der Angaben der Mutter der Nebenklägerin hat das nicht sachverständig beratene Landgericht zu Tat 3 festgestellt, der etwa 150 kg schwere Angeklagte habe sich mit beiden Beinen auf den „Brustbzw. Rippenbereich“ der damals 12- oder 13-jährigen Nebenklägerin gestellt und mit seinem vollen Körpergewicht so lange „nachgefedert“, bis diese im Gesicht „blau anlief“ (UA S. 7, 19). Die Nebenklägerin bekundete, dass sie „irgendwann weggetreten“ sei (UA S. 19). Zu durch eine solch massive Tat nahe- liegend verursachten bleibenden Verletzungen verhalten sich die Urteilsgründe genauso wenig wie zu den Gründen, aus denen sich die Nebenklägerin und ihre Mutter angesichts dieser gravierenden Tat nicht wenigstens im Nachhinein zu einer Benachrichtigung öffentlicher Stellen entschlossen haben.
- 12
- (4) Zu Fall 4 verweist das Landgericht in Bezug auf einen Erinnerungs- verlust der Nebenklägerin auf einen „Beschluss Anlage 24 zum Hauptverhandlungsprotokoll vom 26.04.2017“ (UA S. 22). Eine solche Verweisung ist unzu- lässig (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 60. Aufl., § 267 Rn. 2 mwN).
- 13
- (5) Zu Fall 5 ist den Urteilsgründen zu entnehmen, dass die Mutter der Nebenklägerin den Vorfall zwar nicht gesehen, aber „mitbekommen“ hat (UA S. 23). Was diese in welcher Weise „mitbekommen“ hat, wird jedoch nicht ausgeführt.
- 14
- (6) Zu Fall 6 fehlen beweiswürdigende Ausführungen des Landgerichts völlig. Solche wären jedoch auch angesichts des eher ungewöhnlichen Ge- schehens („Ohrfeige“ mit der flachen Seite der etwa 30 cm langen Klinge eines massiven Fleischermessers ohne sichtbare Verletzungen der Nebenklägerin) unabdingbar gewesen.
- 15
- Die Sache bedarf danach in Bezug auf die Verurteilungsfälle insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
- 16
- 2. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch die Strafzumessung rechtlicher Prüfung nicht standgehalten hätte. Das Landgericht hat bei der Strafrahmenwahl hinsichtlich der Taten 3 und 6 (jeweils gefährliche Körperverletzung ) und der Strafhöhenbemessung bei Tat 3 (Einsatzstrafe) erschwerend berücksichtigt, dass der Angeklagte die Tat während laufender Bewährung be- gangen hat. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend bemerkt, hätte indessen nach dem Zweifelssatz zugrunde gelegt werden müssen, dass die Tatzeiten außerhalb der Bewährungszeit gelegen haben.
König Mosbacher
moreResultsText
Annotations
(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
(1) Wer sexuelle Handlungen
- 1.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, - 2.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Missbrauch einer mit dem Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder - 3.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt,
(2) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Person bestraft, der in einer dazu bestimmten Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung von Personen unter achtzehn Jahren anvertraut ist, und die sexuelle Handlungen
- 1.
an einer Person unter sechzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder - 2.
unter Ausnutzung ihrer Stellung an einer Person unter achtzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.
(3) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2
- 1.
sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt, um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, oder - 2.
den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt,
(4) Der Versuch ist strafbar.
(5) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 oder des Absatzes 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder mit Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn das Unrecht der Tat gering ist.
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder - 3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.