Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Juni 2005 - 2 StR 118/05

bei uns veröffentlicht am08.06.2005

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 118/05
vom
8. Juni 2005
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 8. Juni 2005 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 10. November 2004 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in einem Fall und schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Die auf § 338 Nr. 3 StPO gestützte, zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet, weil der den Vorsitzenden der Jugendschutzkammer betreffende zweite Befangenheitsantrag des Angeklagten zu Unrecht verworfen worden ist. 1. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die beiden ersten Hauptverhandlungstage waren auf Dienstag, 2. November 2004 und Montag, 8. November 2004 terminiert. Am Freitag,
29. Oktober 2004, teilte der Vorsitzende dem Wahlverteidiger des Angeklagten mit, ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zur Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin S.B. sei eingegangen. Von der Beauftragung der Sachverständigen erfuhr der Verteidiger erstmals durch diese Mitteilung; das 61 Seiten umfassende Gutachten lag ihm im Laufe des Vormittags des 29. Oktober 2004 vor. In einem um die Mittagszeit desselben Tags geführten Telefongespräch teilte der Verteidiger dem Vorsitzenden mit, er müsse das Gutachten mit seinem - bestreitenden - Mandanten besprechen. Am 29. und 30. Oktober 2004 müsse er an einem auswärtigen Fachlehrgang teilnehmen. Im Hinblick darauf, daß Montag, 1. November 2004, ein Feiertag und eine Besprechung nicht mehr möglich sei, beantragte er, den Beginn der Hauptverhandlung vom 2. November 2004 um sechs Tage auf den (als Verhandlungstermin bereits vorgesehenen) 8. November 2004 zu verschieben. Dies lehnte der Vorsitzende unter Hinweis auf die Terminierung der Kammer ab, bot aber an, den Beginn der Sitzung am 2. November um 30 Minuten zu verschieben, um dem Angeklagten Gelegenheit zur Besprechung mit seinem Verteidiger zu geben. Der Verteidiger beantragte daraufhin mit Telefax vom 29. Oktober 2004 nochmals die Aussetzung der Hauptverhandlung "gem. § 265 Abs. 4 StPO bis zum 8. November 2004". In der am 2. November 2004 begonnenen Hauptverhandlung wies die Strafkammer den Aussetzungsantrag zurück. In der Beschlußbegründung führte sie aus, es sei bereits vor der Terminierung mit dem Verteidiger über die mögliche Straferwartung nach einem Geständnis des Angeklagten gesprochen worden. In der Folge habe dieser die Tatvorwürfe bestritten; sein Verteidiger habe die Einholung eines Gutachtens über die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin S.B. beantragt. Der Angeklagte habe daher mit dem kurzfristigen Eingang des vorbereitenden Gutachtens rechnen und sich darauf einstellen müssen.
Der Verteidiger habe das Gutachten wie die Berufsrichter am 1. November 2004 lesen können. Die Vernehmung der Sachverständigen sei nicht für den ersten Verhandlungstag vorgesehen. Eine Aussetzung der Hauptverhandlung sei daher nicht geboten. Rechtsanwalt K. als Verteidiger des Angeklagten beantragte daraufhin, ihm Gelegenheit zu geben, ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden und der beisitzenden Berufsrichterin vorzubringen , welches bereits vorbereitet sei. Er wurde vom Vorsitzenden darauf verwiesen , daß das Ablehnungsgesuch in einer Sitzungspause bei der Geschäftsstelle abzugeben sei; aus der Verzögerung würden dem Angeklagten keine Nachteile entstehen. Der Verteidiger beantragte eine kurze Unterbrechung der Hauptverhandlung , um das Ablehnungsgesuch zur Geschäftsstelle zu bringen, und machte Anstalten, die Robe abzulegen und den Sitzungssaal zu verlassen. Hierauf verfügte der Vorsitzende, der Unterbrechungsantrag werde abgelehnt. Er ordnete dem Angeklagten Rechtsanwalt K. als Pflichtverteidiger bei und belehrte diesen über die mögliche Kostenfolge gemäß § 145 Abs. 4 StPO. Rechtsanwalt K. beantragte nun erneut eine Unterbrechung der Hauptverhandlung , um ein weiteres Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden vorzubereiten. Hierauf verfügte der Vorsitzende: "Auch dieses Gesuch wird abgelehnt. Ablehnungsgründe sind ohnehin zusammenfassend vorzutragen, und das Ablehnungsverfahren findet außerhalb der Hauptverhandlung statt." Der Vorsitzende erklärte überdies an den Verteidiger gewandt, dieser wolle mit dem Ablehnungsgesuch "offenbar nur Sand ins Getriebe streuen".
Sodann entzog er dem Verteidiger das Wort; die Hauptverhandlung nahm ihren Fortgang. Der Angeklagte äußerte sich zur Sache nicht. In einer um 12.00 Uhr verfügten 10-minütigen Sitzungspause reichte Rechtsanwalt K. das vorbereitete erste Ablehnungsgesuch gegen beide Berufsrichter der Kammer sowie ein weiteres Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden bei der Geschäftsstelle ein. Die Begründung des letzteren führte aus, die Äuße rung des Vorsitzenden, der Verteidiger wolle mit dem Befangenheitsantrag ohnehin nur Sand ins Getriebe streuen, sei unsachlich und unangemessen gewesen. Sie gebe zu erkennen , daß der Vorsitzende der Wahrnehmung prozessualer Rechte des Angeklagten grundsätzlich ablehnend gegenüberstehe. Die Ablehnungsgesuche wurden durch Beschlüsse vom 5. November 2004 zurückgewiesen, die ohne Mitwirkung der abgelehnten Richter ergingen. In den Gründen des das erste Gesuch zurückweisenden Beschlusses führte das Landgericht aus, das Befangenheitsgesuch sei offenbar vorgefertigt, auf sieben Seiten begründet und maschinenschriftlich abgefaßt gewesen. Es richte sich gegen eine Sachentscheidung der Kammer, was regelmäßig eine Besorgnis der Befangenheit nicht begründen könne. Die Aussetzung der Hauptverhandlung sei zu Recht abgelehnt worden; der Angeklagte habe ausreichend Zeit gehabt, sich bis zur Vernehmung der Sachverständigen mit dem vorläufigen Gutachten auseinander zu setzen. Die Gründe des Beschlusses, durch den das zweite Ablehnungsgesuch zurückgewiesen wurde, führten aus, nach dem Verfahrensablauf sei für den Angeklagten ohne weiteres erkennbar gewesen, daß sich die Äußerung des Vorsitzenden, der Verteidiger wolle "nur Sand ins Getriebe streuen", allein auf das prozeßordnungswidrige Verhalten des Verteidigers bezog.
2. Jedenfalls das zweite Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden der Kammer ist, wie auch der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift an den Senat ausgeführt hat, zu Unrecht verworfen worden.
a) Das Prozeßverhalten des Verteidigers zu Beginn der Hauptverhandlung am 2. November 2004 war weder rechtsmißbräuchlich noch lag es objektiv aus Sicht des Angeklagten fern. Hierzu zählte namentlich auch die Anbringung des ersten Ablehnungsgesuchs in Form eines vorbereiteten Schriftsatzes. Der wiederholte Hinweis hierauf in den Entscheidungen des Kammervorsitzenden und der über seine Ablehnung entscheidenden Kammer legt die Annahme nahe , die Vorbereitung des Ablehnungsgesuchs sei als mißbräuchlich angesehen worden. Das trifft aber nicht zu. Nach der bereits am 29. Oktober 2004 mündlich erklärten Weigerung des Vorsitzenden, den Hauptverhandlungstermin vom 2. November 2004 aufzuheben, und angesichts des Umstands, daß die beantragte Terminsaufhebung tatsächlich auch nicht erfolgt war, konnte der Verteidiger davon ausgehen, daß sein schriftlich gestellter Antrag in der Hauptverhandlung zurückgewiesen werden würde. Es stand ihm frei, für diesen - zutreffend erwarteten - Fall vorsorglich einen Antrag gemäß §§ 24 Abs. 2, 25 Abs. 1 StPO vorzubereiten.
b) Der Versuch des Verteidigers, eine Unterbrechung der Hauptverhandlung durch Verlassen des Sitzungssaals zu erzwingen, war zwar nicht prozeßordnungsgemäß. Bei der Beurteilung waren aber Zweck und Anlaß dieses Verhaltens zu berücksichtigen. Vorangegangen war die Weigerung des Vorsitzenden , ein Ablehnungsgesuch in der Hauptverhandlung entgegenzunehmen. Die von ihm hierfür gegebene Begründung verkannte die Rechtslage. Dies wird auch durch den Hinweis der Nebenklägervertreterin im Revisionsverfahren bestätigt, wonach es "mehrjährige Praxis" bei Strafkammern des Landgerichts
Bonn sei, die Stellung von Befangenheitsgesuchen in der Hauptverhandlung nur im Einzelfall nach Ermessen zuzulassen. Eine solche Praxis verstößt aber gegen § 26 Abs. 1 StPO. Es gehört, worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat, zu den grundlegenden Rechten eines Angeklagten, in einer laufenden Hauptverhandlung sachdienliche Anträge zu seiner Verteidigung zu stellen. Das Recht, Befangenheitsgesuche in der Hauptverhandlung zu stellen, ist zwar im Rahmen der Sachleitung des Vorsitzenden auszuüben, kann dem Angeklagten aber nicht durch Verweis auf die Möglichkeit des § 26 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz, gänzlich genommen werden. Es steht dem Angeklagten vielmehr frei zu entscheiden, ob er das Gesuch in der Hauptverhandlung vorbringen oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erklären will.
c) Der Vorwurf des Vorsitzenden an den Verteidiger, dieser wolle mit der Stellung des Befangenheitsantrags ohnehin "nur Sand ins Getriebe streuen", war daher sachlich nicht veranlaßt. Hierdurch konnte bei dem Angeklagten die Befürchtung entstehen, die Ausübung seines Verteidigungsrechts werde von dem Vorsitzenden als mißbräuchliche Behinderung des erwarteten Verfahrensgangs angesehen. Zwar begründen bloße Verfahrensverstöße oder unzutreffende Rechtsansichten in der Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit ; auch nicht erst im Verfahren entstandene Spannungen zwischen Richtern und Verteidigern (BGH NJW 1998, 2458, 2459 - in BGHSt 44, 26 ff. nicht abgedruckt ; BGH, Beschluß vom 9. November 2004 - 5 StR 380/04). Anders ist es aber, wenn ein in Verteidigungsrechte des Angeklagten eingreifendes Verhalten des Richters einer gesetzlichen Grundlage entbehrt (vgl. Pfeiffer in KKStPO 5. Aufl. § 24 Rdn. 7; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 24 Rdn. 17) oder wenn ein Richter auf berechtigte Anliegen eines Verteidigers unangemessen reagiert (vgl.
etwa BGH StV 1993, 339; 1995, 396). So lag es hier. Auf die subjektive Überzeugung des Richters von seiner Unparteilichkeit kommt es hierbei nicht an (st. Rspr.; vgl. Meyer-Goßner aaO Rdn. 6 m.w.N.). Bode Rothfuß Fischer Roggenbuck Appl

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Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 265 Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage


(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gel

Strafprozeßordnung - StPO | § 338 Absolute Revisionsgründe


Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, 1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswid

Strafprozeßordnung - StPO | § 24 Ablehnung eines Richters; Besorgnis der Befangenheit


(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. (2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt,

Strafprozeßordnung - StPO | § 26 Ablehnungsverfahren


(1) Das Ablehnungsgesuch ist bei dem Gericht, dem der Richter angehört, anzubringen; es kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Das Gericht kann dem Antragsteller aufgeben, ein in der Hauptverhandlung angebrachtes Ablehnungsgesuch i

Strafprozeßordnung - StPO | § 145 Ausbleiben oder Weigerung des Pflichtverteidigers


(1) Wenn in einem Falle, in dem die Verteidigung notwendig ist, der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt, sich unzeitig entfernt oder sich weigert, die Verteidigung zu führen, so hat der Vorsitzende dem Angeklagten sogleich einen anderen Ver

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Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2004 - 5 StR 380/04

bei uns veröffentlicht am 09.11.2004

5 StR 380/04 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 9. November 2004 in der Strafsache gegen wegen Vergewaltigung Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. November 2004 beschlossen: 1. Auf den Antrag des Angeklagten nach § 346 Abs. 2 StPO w
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Bundesgerichtshof Urteil, 18. Okt. 2012 - 3 StR 208/12

bei uns veröffentlicht am 18.10.2012

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 3 StR 208/12 vom 18. Oktober 2012 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen zu 1.: Bestechung u.a. zu 2.: Bestechlichkeit u.a. Nebenbeteiligte: Baugesellschaft mbH, vertreten durch die Geschäftsführer

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.

(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn

1.
sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen,
2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder
3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.

(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.

(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.

(1) Wenn in einem Falle, in dem die Verteidigung notwendig ist, der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt, sich unzeitig entfernt oder sich weigert, die Verteidigung zu führen, so hat der Vorsitzende dem Angeklagten sogleich einen anderen Verteidiger zu bestellen. Das Gericht kann jedoch auch eine Aussetzung der Verhandlung beschließen.

(2) Wird der notwendige Verteidiger erst im Laufe der Hauptverhandlung bestellt, so kann das Gericht eine Aussetzung der Verhandlung beschließen.

(3) Erklärt der neu bestellte Verteidiger, daß ihm die zur Vorbereitung der Verteidigung erforderliche Zeit nicht verbleiben würde, so ist die Verhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen.

(4) Wird durch die Schuld des Verteidigers eine Aussetzung erforderlich, so sind ihm die hierdurch verursachten Kosten aufzuerlegen.

(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.

(2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.

(3) Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Den zur Ablehnung Berechtigten sind auf Verlangen die zur Mitwirkung bei der Entscheidung berufenen Gerichtspersonen namhaft zu machen.

(1) Das Ablehnungsgesuch ist bei dem Gericht, dem der Richter angehört, anzubringen; es kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Das Gericht kann dem Antragsteller aufgeben, ein in der Hauptverhandlung angebrachtes Ablehnungsgesuch innerhalb einer angemessenen Frist schriftlich zu begründen.

(2) Der Ablehnungsgrund und in den Fällen des § 25 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2 die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens sind glaubhaft zu machen. Der Eid ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen. Zur Glaubhaftmachung kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug genommen werden.

(3) Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern.

5 StR 380/04

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 9. November 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. November 2004

beschlossen:
1. Auf den Antrag des Angeklagten nach § 346 Abs. 2 StPO wird der Beschluß des Landgerichts Hamburg vom 6. Juli 2004, durch den es die Revision des Angeklagten gegen das Urteil vom 9. März 2004 verworfen hat, aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 6. September 2004 aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird dieses Urteil nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung , auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Beschwerdeführers hat mit einer Rüge nach § 338 Nr. 3 StPO Erfolg. Die erkennende Strafkammer hat mit ihrem nach § 26a StPO einstimmig gefaßten Beschluß vom 3. März 2004 den Befangenheitsantrag des Angeklagten vom 1. März 2004, gestellt durch die Verteidigerin , zu Unrecht zurückgewiesen.
1. Anlaß für dieses Gesuch war der Inhalt des ebenfalls einstimmig nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO gefaßten Beschlusses vom 1. März 2003, mit dem ein Befangenheitsgesuch des Angeklagten vom 26. Februar 2004 verworfen worden war. Ausgangspunkte jenes Gesuchs waren eine Intervention des Vorsitzenden während der Befragung der Nebenklägerin W durch die Verteidigung sowie Vorhalte des Vorsitzenden und des Beisitzers auf dem Gerichtsflur, mit denen die Verteidiger – als Folge ihrer Zeugenbefragung – für den angeschlagenen psychischen Zustand der weinenden Nebenklägerin verantwortlich gemacht wurden. In ihrem am übernächsten Verhandlungstag verkündeten Beschluß hat die Strafkammer die Art und Weise der Ausübung des Fragerechts durch die Verteidiger in ungewöhnlich drastischer Weise bewertet, ohne daß Fragen zuvor beanstandet worden wären.
Das Befangenheitsgesuch vom 1. März 2004 greift folgende Wertungen beispielhaft auf: Vorhalte der Verteidiger an die Nebenklägerin W zur Vergewisserung von deren bisheriger Aussage und Vorhalte zur Bestätigung ihrer modifizierten Aussage hätten „den guten Willen des Vorsitzenden zu einem bösen Spiel mißbraucht“. Die ebenfalls unbeanstandet gebliebene Frage, ob der Angeklagte die seinerzeitige Tatsituation dahingehend mißverstanden habe, daß er von einem Einverständnis der Zeugin in die geschlechtlichen Handlungen habe ausgehen können, bewertete die Strafkammer als „eine taktlose Torheit oder eine abgefeimte Perfidie“. Diese Frage sei ferner „quälend und überflüssig“ gewesen. Die Intervention des Vorsitzenden sei das mildeste Mittel gewesen auf die „üble, menschenverachtende Entgleisung“; die Frage habe „die Menschenwürde der Zeugin verletzt.“ Der beisitzende Richter habe das Verhalten der Verteidigerin als „widerwärtig“ empfunden.
Das Befangenheitsgesuch sieht ferner in zwei Wertungen der Strafkammer die Gefahr einer vorzeitigen Festlegung des Beweisergebnisses zum Nachteil des Angeklagten.
2. Die Strafkammer stützt ihre Wertung, das Ablehnungsgesuch vom 1. März 2003 sei wegen Fehlens einer Begründung unzulässig, auch auf eine Auslegung des letzten Satzes des Gesuchs, wonach das Vertrauen des Angeklagten in die Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richter durch den Inhalt des Beschlusses zerstört sei. Dies bedeute, daß bis zur Kenntnisnahme des Angeklagten vom Inhalt des Beschlusses vom 1. März 2004 das Vertrauen in die Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richter noch bestanden habe. Daraus folge, daß der vorherigen Richterablehnung (vom 26. Februar 2004) keine echten Bedenken des Angeklagten zugrundegelegen hätten.
3. Insbesondere mit dieser Begründung ist das Gesuch zu Unrecht zurückgewiesen worden.

a) Die Erwägungen des Landgerichts, mit denen es das auf die Bescheidung des vorangegangenen Ablehnungsantrags gestützte neue Ablehnungsgesuch als unzulässig erachtet hat, begegnen durchgreifenden Bedenken (vgl. BGHSt 48, 4, 8). Der letzte Satz des Befangenheitsgesuchs ist offensichtlich eine wertende Beschreibung der Wirkungen des Beschlusses vom 1. März 2004 auf den Angeklagten. Es liegt absolut fern, darin ein Zugeständnis des Angeklagten in dem Sinne zu erblicken, der Befangenheitsantrag vom 26. Februar 2004 sei mutwillig gestellt gewesen. Das Landgericht entzieht sich darüber hinaus auch jeder sachlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gesuchs. Dies wäre nur dann statthaft gewesen, wenn der Begründung des Gesuchs von vornherein die Eignung zur Ablehnung gefehlt hätte (vgl. BGHR StPO § 26a Unzulässigkeit 9; BGHR StPO § 338 Nr. 3 Revisibilität 1). Dies ist hier nicht der Fall. Der Beschluß, mit dem das erste Ablehnungsgesuch als unzulässig verworfen wurde, enthält schwerwiegende Vorwürfe des Gerichts gegenüber der Verteidigung und Wertungen, die geeignet sein können, aus der Sicht des Angeklagten eine vorzeitige Festlegung des Beweisergebnisses durch die Strafkammer besorgen zu lassen.

b) Das Ablehnungsgesuch war auch sachlich begründet. Die Bewertungen der Strafkammer in deren Beschluß vom 1. März 2004 sind in ihrer Gesamtschau zur Überzeugung des Senats geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu erwecken. Zwar begründen erst im Verfahren entstandene Spannungen zwischen Richtern und Verteidigern in aller Regel nicht die Besorgnis der Befangenheit (vgl. BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 8; BGH NJW 1998, 2458, 2459 – in BGHSt 44, 26 ff. nicht abgedruckt). Hier bestehen aber mehrere Besonderheiten. Die exzessive, die Zeugin bedrängende, zum Teil auf Wiederholungen gerichtete und durch nicht ausreichende Aktenkenntnis motivierte Befragung der Zeugin W durch die Verteidiger am 25. und 26. Februar 2004 war an diesen Sitzungstagen zwar kritikwürdig. Gleichwohl hatte aber am 27. Februar ein weiterer – problemloser – Verhandlungstag stattgefunden, an dem der Vorsitzende bereits das Ende der Beweisaufnahme angekündigt hatte. Jedenfalls danach kann von spontanen Unmutsäußerungen nicht mehr ausgegangen werden. Vielmehr verlassen die im Beschluß vom 1. März 2004 – als Reaktion auf einen Befangenheitsantrag – ungewöhnlich drastisch formulierten Vorwürfe gegen die Verteidigung den Bereich der Sachlichkeit. Dies begründet auch aus der Sicht eines besonnenen Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit. Der Verteidigung wird auf massive Weise die sach- und rechtswidrige Ausübung des Fragerechts vorgeworfen, obwohl das Gericht dafür eine Mitverantwortung trifft. Der Vorsitzende hätte in Ausübung der Verhandlungsleitung unzulässige, ungeeignete und nicht zur Sache gehörende Fragen zurückweisen müssen, um der Achtung der menschlichen Würde der Zeugin sowie dem Rechtsstaatsprinzip zu genügen (BGHSt 48, 372). Namentlich vor dem Hintergrund, daß solches weitgehend unterblieben war, ist die – zudem noch nach einer gewissen „Abkühlungsphase“ erfolgte – mit ungewöhnlich scharfer Negativwertung überzogen formulierte Kritik des Gerichts auch aus der Sicht eines besonnenen Angeklagten als unsachliche Beanstandung der Berufsausübung der Verteidiger zu verstehen, die besorgen läßt, das Gericht werde auch künftiges Verteidigerhandeln und Verteidigungsvorbringen nicht in der erforderlichen abwägenden Distanziertheit zur Kenntnis nehmen (vgl. BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 8).

c) Der Senat weist erneut darauf hin, daß eine Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO auf Befangenheitsanträge mit sachlichem Gehalt das Revisionsgericht wegen der – infolge fehlender dienstlicher Erklärungen – eingeschränkten Tatsachengrundlage dazu nötigen kann, den im Befangenheitsgesuch anwaltlich als richtig versicherten Vortrag der Revisionsentscheidung zugrunde zulegen (vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 3 Revisibilität 1). Zudem kann in solchen Fällen die Gefahr bestehen, daß ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter entzogen wird (vgl. BVerfG – Kammer –, Beschl. vom 9. Juli 2004 – 2 BvR 836/04).
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