Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2017 - 1 StR 554/16
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 9. November 2017
beschlossen:
Ergänzend bemerkt der Senat zu einer Rüge des Angeklagten W. , mit der dieser die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet: 1. Mit der auf die Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerichteten Verfahrensrüge macht dieser Angeklagte geltend, den an der Entscheidungsfindung beteiligten Schöffinnen sei wegen der Anzahl der vom Selbstleseverfahren erfassten Urkunden und dem für die Lektüre zur Verfügung stehenden Zeitraum ein „letztlich unmögliches Selbststudium“ auferlegt worden. Der Beanstandung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am 20. Januar 2016, dem ersten Hauptverhandlungstag, verfügte die Vorsitzende die Durchführung des Selbstleseverfahrens hinsichtlich einer Vielzahl von der Revision durch Einrücken der Selbstleseliste näher bezeichneter Urkunden. Erklärungen zu dieser Verfügung wurden nicht abgegeben. Am zwei- ten Hauptverhandlungstag, dem 29. Januar 2016, erging eine weitere Selbstleseverfügung der Vorsitzenden. Die davon betroffenen Urkunden hat die Revision ebenfalls durch Einrücken der diesbezüglichen Selbstleseliste bezeichnet. Im Anschluss an die zweite Selbstleseverfügung widersprach dieser der Verteidiger des Angeklagten und beantragte gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung. Dem lag das Vorbringen zugrunde, „nach dem derzeitigen Stand“ müssten etwa 12.000 Blatt selbst gelesen werden. Unter Berücksichtigung des insbesondere für die Schöffinnen für das Lesen zur Verfügung stehenden Zeitraums sei ein solches Selbstleseverfahren letztlich unmöglich. Am 26. Februar 2016, dem vierten Hauptverhandlungstag, beschloss die Strafkammer den Umfang der ersten Selbstleseverfügung vom 20. Januar 2016 um näher bezeichnete Teile zu reduzieren. Im Übrigen wurden mit ausführlicher Begründung die Selbstleseverfügungen der Vorsitzenden bestätigt. Am 6. April 2016, dem zehnten Hauptverhandlungstag, wurde festge- stellt, dass „das Gericht und die Schöffen“ vom Wortlaut der von den Selbst- leseverfügungen - bezüglich derjenigen vom 20. Januar 2016 im nachträglich durch den genannten Gerichtsbeschluss reduzierten Umfang - erfassten Urkunden und Schriftstücken Kenntnis genommen haben. 2. Die Rüge dringt im Ergebnis nicht durch.
a) Der Senat versteht ihre Angriffsrichtung dahin, dass im Hinblick auf die Anzahl vom Selbstleseverfahren erfasster Urkunden und Schriftstücke jedenfalls für die beteiligten Laienrichterinnen kein ausreichender Zeitraum zur Verfügung stand, um vom Inhalt Kenntnis zu nehmen. Damit wird die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet (vgl. LR/Mosbacher, 26. Aufl., StPO, § 249 Rn. 105; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 249 Rn. 117b). Die für die Zulässigkeit einer darauf gerichteten Rüge erforderliche gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist herbeigeführt worden. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob eine derartige Rüge überhaupt zulässig erhoben werden kann, weil sie notwendig die Behauptung impliziert , dass die protokollierte Feststellung, Richter und Schöffen haben vom Inhalt der betroffenen Urkunden Kenntnis genommen, inhaltlich unrichtig ist (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Beschluss vom 23. Mai 2012 – 1 StR 208/12, NStZ 2012, 584, 585). Zwar wird durch den entsprechenden Passus in der Niederschrift lediglich die Protokollierung der Feststellung als solche, nicht aber bewiesen, dass tatsächlich gelesen worden ist (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20 f.; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b mwN). Ungeachtet dessen geht mit dem Vorwurf eines verfahrensfehlerhaft unangemessen kurzen Zeitraums für das Selbstleseverfahren (dazu näher LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 79 f.) die Behauptung einher, wegen der nicht ausreichenden Zeit sei auch tatsächlich nicht alles gelesen worden, was Gegenstand des Selbstleseverfahrens war. Deshalb bedarf es bei einer den unzureichenden Zeitraum des Selbstleseverfahrens beanstandenden Rüge Vortrags zu den konkreten tatsächlichen Umständen, aus denen sich das Unterbleiben der Selbstlesung oder die nicht ausreichende Zeit dafür ergeben kann (LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 111; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b und Rn. 118 jeweils mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20, 21). Ob die Revision vor diesem Hinter- grund den aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO resultierenden Anforderungen genügt, kann dahinstehen. Die pauschalen Angaben über den regelmäßigen Umfang des Inhalts von Leitzordnern und der sich daraus ergebenden Blattzahl reichen dafür jedenfalls nicht. Immerhin ermöglicht das Einrücken der Selbstleselisten, die Angaben zu den Blattzahlen der erfassten Schriftstücke enthalten, dem Senat, die Gesamtblattzahl grob selbst zu berechnen.
b) Die Beanstandung erzielt jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Der für das Selbstlesen den Schöffinnen zur Verfügung stehende Zeitraum selbst zwischen der zweiten Selbstleseverfügung am 29. Januar 2016 und dem Abschluss des Verfahrens am 6. April 2016 bei sieben dazwischen liegenden Verhandlungstagen eröffnet erst recht unter Berücksichtigung der Reduktion des Umfangs des ersten Selbstleseverfahrens am 26. Februar 2016 einen ausreichend langen Zeitraum, um die betroffenen Schriftstücke und Urkunden zu lesen. Ausweislich der von der Revision vorgelegten Selbstleselisten handelt es sich bei zahlreichen der Schriftstücke um listenmäßige Aufstellungen, auf die sich die von der Revision geltend gemachten durchschnittlichen Zeiten für das Erfassen einer Seite nicht ohne Weiteres übertragen lassen. In der Person der beiden Schöffinnen liegende konkrete tatsächliche Umstände, die dem Lesen der beiden Selbstlesekonvolute in dem genannten Gesamtzeitraum entgegengestanden haben könnten, teilt die Revision nicht mit.
Daher fehlt es an Anknüpfungstatsachen, die die Angemessenheit der Dauer des Selbstleseverfahrens in Frage stellen. Angesichts dessen war der Senat nicht veranlasst, freibeweislich zu klären, ob die protokollierte Feststellung über das erfolgte Lesen durch die Schöffinnen materiell zu Unrecht erfolgt ist. Raum Jäger Radtke Bär Hohoff
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.
(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.
(1) Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises erfolgt durch den Vorsitzenden.
(2) Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht.
(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.
(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.