Bundesfinanzhof Urteil, 27. Jan. 2011 - III R 65/09
Gericht
Tatbestand
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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte im Februar 2007 für seine Tochter Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23. Mai 2007 ab, weil nach ihrer Ansicht die Einkünfte und Bezüge der Tochter den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes überschritten. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger Klage, die am 20. Dezember 2007 beim Finanzgericht (FG) einging. Zunächst beantragte sein Prozessbevollmächtigter, den Ablehnungsbescheid aufzuheben. Mit Schreiben vom 24. Januar 2008 bat der zuständige Berichterstatter, das Rechtsschutzinteresse an einer isolierten Anfechtung des Ablehnungsbescheids darzulegen. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass eine Umstellung des Anfechtungs- auf ein Verpflichtungsbegehren nicht in Betracht komme, weil dies bei fristgebundenen Klagen nur innerhalb der Klagefrist möglich sei. Der Prozessvertreter des Klägers stellte daraufhin den Klageantrag um, zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 25. Mai 2009, in der er nach entsprechendem richterlichen Hinweis beantragte, die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld ab dem Jahr 2005 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
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Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe innerhalb der Klagefrist eine Anfechtungsklage erhoben. Diese sei unzulässig, weil effektiver Rechtsschutz nur durch Erhebung einer Verpflichtungsklage hätte erreicht werden können. Bei der Anfechtung eines ablehnenden Verwaltungsakts bedürfe es der Darlegung eines Interesses des Klägers, weshalb er sich mit der Aufhebung des Ablehnungsbescheids begnügen wolle. Ein derartiges Rechtsschutzinteresse habe der Kläger nicht dargetan. Einen ausdrücklichen Verpflichtungsantrag habe er erst nach richterlichem Hinweis in der mündlichen Verhandlung gestellt. Aber auch dann, wenn man sein Vorbringen dahin auslege, dass er neben der Kassation des Ablehnungsbescheids auch die Verpflichtung zum Erlass eines Festsetzungsbescheids begehrt habe, so sei dies erstmals mit dem am 4. Januar 2008 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz zum Ausdruck gekommen. Die damit einhergehende Klageänderung sei unzulässig, sie wäre nur innerhalb der Klagefrist möglich gewesen.
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Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, das FG habe die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Es hätte die Klage in diejenige Klageart umdeuten müssen, die dem Klageziel entspreche, somit in eine Verpflichtungsklage.
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Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
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Der Kläger habe in der Klageschrift ausdrücklich die Aufhebung des Ablehnungsbescheids beantragt. Sein Schreiben vom 3. Januar 2008 habe erstmals eine Auslegung des Klagebegehrens über eine Anfechtung hinaus ermöglicht, die damit einhergehende Klageänderung sei jedoch nach § 67 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unzulässig.
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Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 FGO).
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat das Klagebegehren zu Unrecht als Anfechtungsklage beurteilt, die erst verspätet zu einer Verpflichtungsklage umformuliert worden sei. Es hat damit rechtsfehlerhaft ein Prozessurteil erlassen.
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1. Zwar hat das FG zutreffend entschieden, dass in einem Verfahren, in dem es um die Rechtmäßigkeit eines Bescheids geht, durch den ein Antrag auf Gewährung von Kindergeld für einen unbestimmten Zeitraum abgelehnt wird, die Verpflichtungsklage und nicht die Anfechtungsklage die statthafte Klageart ist (Senatsurteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184). Es hat jedoch zu Unrecht den Klageantrag des Klägers nicht als Verpflichtungsantrag behandelt.
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2. Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist das Gericht an die Fassung des Klageantrages nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH- vom 12. Juni 1997 I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38, m.w.N.). Dies ist auch noch in der Revisionsinstanz möglich und geboten. Das Wesen der Klage wird nicht durch den Klageantrag bestimmt, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Urteil vom 29. April 2009 X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, m.w.N.). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung (BFH-Beschluss vom 22. Juni 2010 VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846).
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3. Bei Anwendung dieser Grundsätze war das Klagebegehren von Anfang an als Verpflichtungsantrag zu beurteilen. Der Kläger wendet sich in der Klageschrift gegen den Bescheid der Familienkasse vom 23. Mai 2007 sowie gegen die dazu ergangene Einspruchsentscheidung, durch die die Familienkasse abschlägig über seinen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld entschieden hat. Sein Begehren ist darauf gerichtet, Kindergeld zu erhalten. Die isolierte Aufhebung des Ablehnungsbescheids führt nicht zu diesem Klageziel. Der Interessenlage des Klägers entspricht vielmehr der Antrag, die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld zu verpflichten. Der Klageantrag ist deshalb als Verpflichtungsbegehren zu behandeln. Die Frage einer (verspäteten) Klageänderung stellt sich nicht.
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4. Das FG hat hiernach rechtsfehlerhaft ein Prozessurteil erlassen. Die Sache ist nicht spruchreif und wird an das FG zurückverwiesen.
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Annotations
(1) Kinder sind
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im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder, - 2.
Pflegekinder (Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht).
(2)1Besteht bei einem angenommenen Kind das Kindschaftsverhältnis zu den leiblichen Eltern weiter, ist es vorrangig als angenommenes Kind zu berücksichtigen.2Ist ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind zugleich ein Pflegekind, ist es vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen.
(3) Ein Kind wird in dem Kalendermonat, in dem es lebend geboren wurde, und in jedem folgenden Kalendermonat, zu dessen Beginn es das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, berücksichtigt.
(4)1Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird berücksichtigt, wenn es
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noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat, nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht und bei einer Agentur für Arbeit im Inland als Arbeitsuchender gemeldet ist oder - 2.
noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und - a)
für einen Beruf ausgebildet wird oder - b)
sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten befindet, die zwischen zwei Ausbildungsabschnitten oder zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Ableistung des gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstes, einer vom Wehr- oder Zivildienst befreienden Tätigkeit als Entwicklungshelfer oder als Dienstleistender im Ausland nach § 14b des Zivildienstgesetzes oder der Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes nach § 58b des Soldatengesetzes oder der Ableistung eines freiwilligen Dienstes im Sinne des Buchstaben d liegt, oder - c)
eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann oder - d)
einen der folgenden freiwilligen Dienste leistet: - aa)
ein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Jugendfreiwilligendienstegesetzes, - bb)
ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Jugendfreiwilligendienstegesetzes, - cc)
einen Bundesfreiwilligendienst im Sinne des Bundesfreiwilligendienstgesetzes, - dd)
eine Freiwilligentätigkeit im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps im Sinne der Verordnung (EU) 2021/888 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2021 zur Aufstellung des Programms für das Europäische Solidaritätskorps und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) 2018/1475 und (EU) Nr. 375/2014 (ABl. L 202 vom 8.6.2021, S. 32), - ee)
einen anderen Dienst im Ausland im Sinne von § 5 des Bundesfreiwilligendienstgesetzes, - ff)
einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „weltwärts“ im Sinne der Förderleitlinie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom 1. Januar 2016, - gg)
einen Freiwilligendienst aller Generationen im Sinne von § 2 Absatz 1a des Siebten Buches Sozialgesetzbuch oder - hh)
einen Internationalen Jugendfreiwilligendienst im Sinne der Richtlinie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 4. Januar 2021 (GMBl S. 77) oder
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wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
(5)1In den Fällen des Absatzes 4 Satz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 Buchstabe a und b wird ein Kind, das
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den gesetzlichen Grundwehrdienst oder Zivildienst geleistet hat, oder - 2.
sich anstelle des gesetzlichen Grundwehrdienstes freiwillig für die Dauer von nicht mehr als drei Jahren zum Wehrdienst verpflichtet hat, oder - 3.
eine vom gesetzlichen Grundwehrdienst oder Zivildienst befreiende Tätigkeit als Entwicklungshelfer im Sinne des § 1 Absatz 1 des Entwicklungshelfer-Gesetzes ausgeübt hat,
(6)1Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer wird für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen ein Freibetrag von 3 012 Euro für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie ein Freibetrag von 1 464 Euro für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes vom Einkommen abgezogen.2Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, verdoppeln sich die Beträge nach Satz 1, wenn das Kind zu beiden Ehegatten in einem Kindschaftsverhältnis steht.3Die Beträge nach Satz 2 stehen dem Steuerpflichtigen auch dann zu, wenn
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der andere Elternteil verstorben oder nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder - 2.
der Steuerpflichtige allein das Kind angenommen hat oder das Kind nur zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht.
(1) Eine Änderung der Klage ist zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält; § 68 bleibt unberührt.
(2) Die Einwilligung des Beklagten in die Änderung der Klage ist anzunehmen, wenn er sich, ohne ihr zu widersprechen, in einem Schriftsatz oder in einer mündlichen Verhandlung auf die geänderte Klage eingelassen hat*
(3) Die Entscheidung, dass eine Änderung der Klage nicht vorliegt oder zuzulassen ist, ist nicht selbständig anfechtbar.
(1) Ist die Revision unzulässig, so verwirft der Bundesfinanzhof sie durch Beschluss.
(2) Ist die Revision unbegründet, so weist der Bundesfinanzhof sie zurück.
(3) Ist die Revision begründet, so kann der Bundesfinanzhof
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in der Sache selbst entscheiden oder - 2.
das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
(4) Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision zurückzuweisen.
(5) Das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs zugrunde zu legen.
(6) Die Entscheidung über die Revision bedarf keiner Begründung, soweit der Bundesfinanzhof Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Das gilt nicht für Rügen nach § 119 und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.