vorgehend
Sozialgericht Nürnberg, S 12 R 4234/06, 30.10.2008

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.10.2008 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat.

Die 1954 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben in Kasachstan eine Ausbildung als Bauingenieur durchlaufen. In Deutschland wurde sie in den Jahren 1995 bis 1997 zur Hauswirtschafterin ausgebildet, zuletzt war sie versicherungspflichtig in der Altenpflege tätig.

In einem früheren Rentenrechtstreit (L 20 RJ 201/03) entschied der Senat mit Urteil vom 27.10.2004, dass die Klägerin bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Leistungen der verminderten Erwerbsfähigkeit gehabt habe. Sie sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne quantitative Einschränkung einsatzfähig gewesen. Es habe auch keine Berufsunfähigkeit vorgelegen, da sie in Anbetracht der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als ambulante Pflegekraft auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar gewesen sei.

Am 22.03.2005 stellte die Klägerin zum wiederholten Mal einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und gab an, schon seit längerem erwerbsgemindert zu sein wegen Erkrankungen der Wirbelsäule, des Magens/Darms, Bluthochdrucks, Arthrose, Augen/Netzhaut und Migräne. Bei ihr liege seit April 2003 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 vor; dieser beruhte auf einem Einzel-GdB von 30 für seelische Störung, einem Einzel-GdB von 20 für Migräne und Spannungskopfschmerzen, einem Einzel-GdB von 20 für Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelerscheinungen und einem Einzel-GdB von 20 für chronische Magenschleimhautentzündung.

Auf Veranlassung der Beklagten wurde die Klägerin am 07.06.2005 orthopädisch durch Dr. S. untersucht, der eine Thorakolumbalskoliose, eine chronische Lumbalgie, ein chronisches Cervikalsyndrom und eine beginnende mediale Gonarthrose beidseits diagnostizierte. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Altenpflegehelferin mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten könne die Klägerin weiterhin täglich sechs Stunden und mehr ausüben. Ebenfalls täglich sechs Stunden und mehr seien der Klägerin leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne häufiges Bücken, ohne längere Zwangshaltungen der Wirbelsäule, ohne Heben und Tragen von schweren Lasten und ohne sonstige häufige schwere körperliche Belastungen möglich.

Für ein weiteres Gutachten wurde die Klägerin am 21.06.2005 durch den Internisten Dr. S. untersucht. An Diagnosen stellte dieser in seinem Gutachten vom 14.07.2005 fest:

1. Colon irritabile,

2. Fruktoseintoleranz,

3. Hypercholesterinämie,

4. Zustand nach Helicobacter assoziierter Gastritis,

5. Zustand nach biliärer endoskopischer Sphinkterotomie,

6. Zustand nach Cholecystektomie,

7. Chronische spastische Bronchitis,

8. Zustand nach Tonsillektomie,

9. Psychosomatisches Syndrom mit somatoformer autonomer Funktionsstörung.

Sozialmedizinisch schloss er sich dem Vorgutachten an.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.08.2005 den Rentenantrag ab. Eine zeitliche Einschränkung des Einsatzvermögens der Klägerin bestehe weder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bei dem zuletzt ausgeübten Beruf als Altenpflegerin.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 22.08.2005 Widerspruch ein. Sie machte geltend, dass nur Gutachten für die jeweiligen Fachgebiete erstellt worden seien und es an einem Gesamtgutachten fehle. Die Beklagte beauftragte im Folgenden den Psychiater Dr. B. mit der Erstellung eines weiteren ärztlichen Gutachtens. Die von Dr. B. angebotenen Untersuchungstermine sagte die Klägerin jedoch ab. Daraufhin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2006 den Widerspruch zurück. Eine zeitliche Einschränkung des Einsatzvermögens der Klägerin sei weder für den zuletzt ausgeübten Beruf noch für den allgemeinen Arbeitsmarkt nachgewiesen.

Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 06.06.2006 am 07.06.2006 Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht beim behandelnden Arzt Dr. B. eingeholt und den Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen Dr. H. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, das dieser am 05.06.2008 fertig gestellt hat. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin wurden folgendermaßen umfassend gefasst:

1. Dysthymie mit Somatisierung.

2. Wiederkehrende migräneartige Kopfschmerzen und Spannungskopfschmerzen.

3. Wirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen mit ausreichender Funktion.

4. Belastungsbeschwerden im Hüftbereich bei leicht verminderter Pfannendachausbildung sowie leichtem Verschleiß im Darmkreuzbeingelenk beidseits, Belastungsschmerzen im Kniebereich beidseits bei beginnenden Verschleißerscheinungen jeweils mit ausreichender Funktion.

5. Fruktose- und Sorbitintoleranz, zusätzlich Reizdarmsyndrom.

6. Nicht ausreichend eingestellter Bluthochdruck.

7. Hyperreagibles Bronchialsystem mit leichter, wiederkehrender obstruktiver und leichter restriktiver Funktionseinschränkung.

8. Wiederkehrendes Ohrgeräusch rechts bei Zustand nach Trommelfellschaden rechts mit beginnender Hörminderung.

9. Leichte Störung des Sehvermögens bei Pigmentepitheldefekten und Augenhindergrundveränderungen Grad II.

10. Anamnestisch Helicobacter pylori-assoziierte Magenschleimhautentzündung.

11. Fett- und Cholesterinstoffwechselstörung.

12. Hämorrhoidalleiden.

13. Stressinkontinenz bei Gebärmuttersenkung und Myombildung.

Im Vordergrund stehe die psychische Symptomatik, die aktuell jedoch nicht behandelt werde. Die Klägerin sei trotzdem in der Lage, den Anforderungen des täglichen Lebens zu genügen. Sie könne noch leichte bis zeitweilig mittelschwere körperliche Tätigkeiten im Wechselrhythmus von Gehen, Stehen und Sitzen, ohne Heben und Tragen von schweren Lasten verrichten. Zwangshaltungen wie anhaltendes Bücken oder Knien oder Hocken oder Überkopfarbeiten seien zu vermeiden. Ebenso seien Tätigkeiten mit besonderen nervlichen Belastungen oder mit Verantwortung sowie Akkord- und Fließbandarbeiten, Wechselschicht und Nachtschicht, vermehrte Lärmeinwirkung, das Besteigen von Leitern und Gerüsten nicht abzuverlangen. Auch sollten Tätigkeiten mit Einwirkung von Rauch, Gas, Stäuben oder Dämpfen und die Einwirkung von Nässe, Kälte und Zugluft vermieden werden. Die Klägerin sei in der Lage, ortsübliche Anmarschwege zu Fuß zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Die Klägerin hat geltend gemacht, dass ihr eine Berufstätigkeit schon deshalb unzumutbar sei, da sie entweder keine Nahrung aufnehmen könne oder ständig auf die Toilette müsse. Auch sei sie durch ihre Sehfeldeinschränkung weiter in den Einsatzmöglichkeiten eingeschränkt. Im Hinblick auf die von der Klägerin vorgebrachten Einwände hat der Sachverständige Dr. H. am 23.10.2008 eine ergänzende Stellungnahme zu seinem Gutachten abgegeben. Die Seh- und Hörfähigkeit der Klägerin sei nur in geringem Maße eingeschränkt und dies würde einer Tätigkeit als Pförtnerin nicht entgegenstehen. Gegen den Einwand der ständigen Toilettenbesuche sei anzuführen, dass die Klägerin ihr Gewicht halten könne und sie darüber hinaus bei der Anamneseerhebung selbst angeführt habe, sie hätte keine Beschwerden, wenn sie Brot, Reis, Kartoffeln und Fleisch essen würde. Bei gelegentlichen Durchfällen wegen Diätfehlern sei die Ausübung einer mindestens 6-stündigen Erwerbstätigkeit nicht ausgeschlossen.

Daraufhin hat das Sozialgericht mit Urteil vom 30.10.2008 die Klage abgewiesen. Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin sei nach dem Gutachten nicht belegt. Ein weiteres Zuwarten auf ein noch zu erstellendes Gutachten der Arbeitsagentur sei nicht erforderlich, da dieses nach den dortigen Auskünften erst nach Abschluss des Rentenverfahrens aus der Aktenlage erstellt werde. Auch wäre darauf hinzuweisen, dass bei den im Vordergrund stehenden psychischen Beschwerden die Klägerin zunächst die therapeutischen Möglichkeiten ausschöpfen müsste, sie jedoch derzeit nicht in entsprechender ärztlicher Behandlung stehe. Bei der Klägerin bestehe kein weitergehender Berufsschutz, nachdem bereits vom Bayer. Landessozialgericht in seinem Urteil vom 27.10.2004 (L 20 RJ 201/03) bestandskräftig festgestellt worden sei, dass die Klägerin keine Leistungen wegen Berufsunfähigkeit beanspruchen könne.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 10.12.2008 am 16.12.2008 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Sie hat umfangreich Bezug genommen auf ärztliche Unterlagen aus den Jahren 2002 und 2003, die belegen sollen, dass bereits damals wesentlich mehr gesundheitliche Störungen vorgelegen hätten, als von den Gutachtern berücksichtigt worden seien.

Die Klägerin hat mitgeteilt, dass ihr GdB zwischenzeitlich auf 60 erhöht worden sei. Ferner hat sie ein fachärztliches Attest des Orthopäden Dr. S. vom 30.11.2010 übergeben, wonach die Klägerin wegen eines chronisch rezidivierenden Brustwirbel- und Lendenwirbelsäulensyndroms, Spondylose und Spondylarthrose, einer s-förmigen thorakolumbalen Skoliose, einer beginnenden Hüftgelenksarthrose links, Trochantertendinose links, beginnende medial betonte Gonarthrose beidseits, Verdacht auf Innenmeniskusschaden, Chondromalazia retropatellaris beidseits, Reizknie beidseits und Übergewicht. weiterhin behandlungsbedürftig sei. Der Senat hat ergänzend beim behandelnden Arzt Dr. B. einen Befundbericht eingeholt.

Die Klägerin hat sich im Mai 2011 in stationärer Behandlung befunden wegen einer Koprostase mit konsekutiven Dünndarmmilieus und einer axialen Hiatushernie. Nach der Behandlung habe laut ärztlichem Bericht ein erneuter Kostaufbau stattgefunden und die Klägerin sei am 12.05.2011 in einem guten Allgemeinzustand wieder nach Hause entlassen worden.

Der Senat hat sodann ein Gutachten durch den Internisten und Sozialmediziner Dr. H. eingeholt, das - nach längeren Vorabklärungen - mit Untersuchung der Klägerin erstattet worden ist. Im Gutachten vom 01.08.2012 sind bei der Klägerin als Gesundheitsstörungen aufgeführt worden:

1. Arterieller Bluthochdruck, medikamentös nicht ausreichend kompensiert.

2. Verdauungsbeschwerden bei Fruktose- und Sorbitintoleranz sowie funktionelle Darmpassagestörungen.

3. Chronische Atemwegserkrankung mit geringgradiger funktioneller Beeinträchtigung der Atemleistung.

4. Hypercholesterinämie und beginnende Glukosestoffwechselstörung bei Körperübergewicht.

5. Diffuser Leberparenchymschaden ohne Einschränkung der Syntheseleistung der Leber.

6. Hinweise für beginnende chronische Nierenveränderungen.

7. Verschleißschäden am Skelettsystem mit leichter funktioneller Beeinträchtigung.

8. Erhebliche Fuß- und Zehenverformungen.

9. Chronische Kopfschmerzen.

10. Somatisierungsstörung mit diffuser Schmerzsymptomatik.

11. Stressinkontinenz.

Die Klägerin könne auch weiterhin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden täglich tätig sein, wobei es sich um leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung oder länger im Sitzen in geschlossenen Räumen handeln müsse. Auszuschließen seien vor allem übermäßige nervliche Belastungen, erhöhte Unfallgefährdungen, die Einwirkung ungünstiger äußerer Witterungsbedingungen wie Kälte, Nässe und Zugluft, Heben und Tragen mittelschwerer und schwerer Lasten, Zwangshaltungen, häufiges Bücken und längeres Überkopfarbeiten. Im Hinblick auf die jetzt vorliegenden Befunde und die ausgeprägte Somatisierungsstörung sowie die von der Klägerin angegebenen kognitiven Beeinträchtigungen sei ein psychiatrisches Gutachten erforderlich.

Das Klinikum A-Stadt Nord hat dem Senat auf Nachfrage mitgeteilt, dass die von der Klägerin im Jahr 2002 aufgesuchte Frau Dr. E. dort bereits seit längerem nicht mehr tätig sei. Die Klägerin hat sich darauf berufen, dass jedenfalls bereits 2002 ein chronifiziertes Colon irritabile mit einem Ausschluss einer restitutio ad integrum bestanden habe.

Der Senat hat sodann Dr. D., Oberarzt an der am Klinikum A-Stadt Nord, mit der Erstellung eines Fachgutachtens beauftragt. Dieser hat die Klägerin am 16.05.2013 untersucht und in seinem Gutachten vom 16.08.2013 ausgeführt, dass auf seinem Fachgebiet bei der Klägerin eine undifferenzierte Somatisierungsstörung, eine Zwangsstörung mit vorwiegenden Zwangshandlungen, ein degeneratives Wirbelsäulensyndrom ohne radikuläre Symptomatik und ein chronischer Kopfschmerz mit Spannungskopfschmerz bestehen würde. Die Zwangsstörung mit Waschzwang und Kontrollzwang sei bislang noch nicht diagnostiziert gewesen. Die Störung liege nach Angaben der Klägerin zwar bereits seit Jahren vor, habe sich aber in der letzten Zeit verstärkt. Vor diesem Hintergrund sei der Klägerin die Ausübung von Tätigkeiten, die mit erheblicher Verschmutzung und unhygienischen Zuständen einhergingen, nicht möglich. Bei der Klägerin sei eine eher geringe Leistungsmotivation festzustellen und die Ausdauer sei reduziert. Altersbedingt und im Rahmen der psychischen Gesundheitsstörungen seien auch die Anpassungsfähigkeit an den technischen Wandel und die Umstellungsfähigkeit eingeschränkt. Beschränkungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit und anderer kognitiver Funktionen bestünden nicht. Die Klägerin könne an geeigneten Arbeitsplätzen noch täglich mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein. Es müsse sich um körperlich leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen sowie in wechselnder Stellung in geschlossenen Räumen handeln. Zu vermeiden seien besondere nervliche Belastungen wie Zeitdruck und Akkordarbeit, Fließbandarbeit, Nachtschicht und Tätigkeiten im Gefahrenbereich. Außerdem seien besondere Belastungen des Bewegungs- und Stützsystems, unfallgefährdete Arbeitsplätze und ungünstige äußere Bedingungen zu vermeiden. Teilhabeleistungen seien bei der nur geringen Motivation nicht angezeigt; zur besseren Wiedereingliederung der Klägerin in das berufliche Tätigwerden käme vorab ein Praktikum in Betracht. Mögliche Arbeitsplätze könne die Klägerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit entsprechendem Fußweg erreichen.

Die Klägerin hat nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Einholung eines Gutachtens durch Dr. G. beantragt. Dieser hat jedoch seine Praxistätigkeit und gutachterliche Tätigkeit eingestellt. Auf Anfrage des Senats hat die Klägerin sodann Prof. Dr. F. und Dr. C. als neue Gutachter gewünscht.

Prof. Dr. F. hat die Klägerin am 17.09.2014 untersucht und in seinem Gutachten die Gesundheitsstörungen wie folgt festgestellt:

1. Endlagige Bewegungsbehinderung der Halswirbelsäule und reaktive muskuläre Verspannung bei röntgenologisch nachgewiesenen mäßigen degenerativen Veränderungen ohne Nachweis von Nervenwurzelreizerscheinungen aus der Halswirbelsäule; Spannungskopfschmerz.

2. Skoliose der Lendenwirbelsäule nach rechts; endlagige Bewegungsbehinderung der Lendenwirbelsäule bei röntgenologisch nachweisbaren spondylotischen Randlippen im mittleren Lendenwirbelsäulenbereich; Beinverkürzung rechts.

3. Konzentrische Bewegungsbehinderung des linken Armes im Schultergelenk bei röntgenologisch nachgewiesener sehr geringer Schultereckgelenksumformung.

4. Streckbehinderung des linken Unterarmes im Ellenbogengelenk.

5. Endlagige Bewegungsbehinderung des linken Beines im Hüftgelenk bei röntgenologisch nachgewiesener Praearthrosis coxae beidseits; Trochantertendopathie beidseits.

6. Chondromalazie retropatellar beidseits.

7. Spreizfuß beidseits mit Hallux valgus beidseits und Metatarsale-I-Exostose beidseits.

Die Klägerin könne ohne Gefährdung ihrer Restgesundheit leichte körperliche Arbeiten im Wechselrhythmus verrichten, wobei der sitzende Anteil überwiegen solle. Eine derartige Tätigkeit sei im Umfang von täglich mindestens sechs Stunden möglich. Arbeiten mit ständiger Reklination der Halswirbelsäule, ständige Inklination der Lendenwirbelsäule, Armarbeiten über der Horizontalen, kniende Tätigkeiten, Akkordarbeit, Fließbandarbeit, Nachtschicht, Arbeit an laufenden Maschinen, Arbeiten mit Absturzgefahr sowie Einflüsse von Kälte, Nässe und starken Temperaturschwankungen seien der Klägerin nicht zumutbar. Die Klägerin sei in der Lage öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und die notwendigen Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen.

Die Klägerin hat dieses ärztliche Gutachten als ungenügend angesehen, da nicht ausreichend auf ihre Schriftsätze eingegangen worden sei.

Aus einem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf ist zu ersehen, dass bei der Klägerin vor 1984 die allgemeine Wartezeit durch die Anerkennung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) bereits erfüllt war und bis März 1993 schon wegen Kinderberücksichtigungszeiten keine Lücken in der Beitragsbelegung vorgelegen hatten. In der Folgezeit sind lückenlos rentenrechtlich relevante Zeiten bis Dezember 2013 nachgewiesen, wobei es sich in der Zeit ab Dezember 1995 bis November 1997 um Zeiten einer Bildungsmaßnahme nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gehandelt hat.

Im Anschluss an das Gutachten von Prof. Dr. F. ist Dr. C. mit der Erstellung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG beauftragt worden. Dr. C. hat dem Senat am 03.12.2014 mitgeteilt, dass er aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in seiner Hausarztpraxis keine Möglichkeit sehe, die voraussichtlich sehr umfangreiche Begutachtung zu übernehmen. Der Senat hat daraufhin mit Beschluss vom 11.12.2014 die Beweisanordnung aufgehoben. Die Klägerin hat hiergegen eingewandt, dass der ärztliche Sachverständige ihr gegenüber ein entsprechendes Einverständnis mit der Gutachtenerstattung gegeben gehabt hätte und die Arbeitsüberlastung nicht die Aufhebung der Beweisanordnung rechtfertige, da dem Sachverständigen - ähnlich wie Prof. Dr. F. - eine Zeit von neun Monaten oder mehr zur Gutachtenerstellung zur Verfügung hätte gestellt werden können.

Ausdrücklich hat die Klägerin nochmals die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit geltend gemacht, da sie entgegen dem damaligen Arbeitsvertrag hauswirtschaftlich gearbeitet habe, wie sich aus ihren Arbeitszeugnissen entnehmen lasse. In medizinischer Hinsicht wendet sie ein, dass ihre Schmerzproblematik und insbesondere die tägliche Schmerzmedikation - mit Ibuprofen 600 - in sämtlichen Gutachten nicht berücksichtigt worden sei. Auch wären Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Krankheiten zu Unrecht unberücksichtigt geblieben. Aufgrund der Vielzahl von Krankheiten, Einschränkungen und Wechselwirkungen könne die Klägerin überhaupt nicht mehr arbeiten. Die Klägerseite hat beantragt, dass Dr. D. sein Gutachten noch näher erläutere, wozu auf die eingereichten Schriftsätze Bezug genommen werde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.10.2008 und den Bescheid der Beklagten vom 04.08.2005 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 18.05.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Antragstellung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung und weiter hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.10.2008 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen, der Vorprozessakten, der beigezogenen Akten der Beklagten und der beigezogenen Akten des Zentrums Bayern Familie und Soziales Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht Nürnberg hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass ein Versicherter voll erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzuweisen hat und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, die in gleicher Weise für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gelten, hat die Klägerin bei Rentenantragstellung eindeutig erfüllt gehabt. Da die Klägerin nach ihrer letztmaligen Beschäftigung im Jahr 2001 und dem Ende von Leistungen der Arbeitslosenversicherung im Jahr 2004 zumindest bis Ende 2013 fortlaufend arbeitsuchend gemeldet war - bei einem Pflichtbeitrag für eine Beschäftigung vom 08.02. bis 13.02.2008 -, verlängert sich nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI der maßgebliche 5-Jahreszeitraum um 107 Monate, so dass weit mehr als die mindestens erforderlichen 36 Monate Pflichtbeitragszeiten in diesem verlängerten Zeitraum vorliegen. Zudem hatte die Klägerin in Anbetracht der nach dem FRG anerkannten Zeiten bereits 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt und seitdem bis zur Rentenantragstellung keine Lücke in ihrem Versicherungsverlauf gehabt, so dass unter Beachtung von §§ 198, 197 Abs. 2 i. V. m. 241 Abs. 2 SGB VI selbst ohne diese Mindestanzahl die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen als erfüllt gelten würden.

Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI erfordern, dass ein Versicherter nicht mindestens 3 Stunden täglich einsatzfähig ist. Ergänzend führt § 43 Abs. 3 SGB VI aus, dass nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Sämtliche Ärzte, die sich im Verlauf des Verfahrens sozialmedizinisch geäußert haben, sind sich darin einig, dass das Leistungsvermögen der Klägerin weder aktuell auf weniger als 6 Stunden herabgesunken ist, noch dies in der Vergangenheit - abgesehen von gelegentlichen Zeiten vorübergehender Arbeitsunfähigkeit - so gewesen war. Die weitergehenden Voraussetzungen, wonach die Leistungsfähigkeit auch unter Beachtung der Einschränkungen der Arbeitsbedingungen so weit herabgesunken ist, dass sie nicht einmal mehr 3 Stunden pro Tag beträgt, hat die Klägerin erst recht nicht erfüllt.

Die Leistungsfähigkeit der Klägerin stellt sich zur Überzeugung des Senats folgendermaßen dar: Die Klägerin kann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich noch mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein, wenn die gesundheitlichen Anforderungen an die Arbeitsbedingungen beachtet werden. Es muss sich um eine leichte körperliche Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung in geschlossenen Räumen handeln, wobei der sitzende Anteil überwiegen soll. Auszuschließen sind übermäßige nervliche Belastungen wie Zeitdruck, Akkordarbeit, Fließbandarbeit und Nachtschicht sowie Tätigkeiten im Gefahrenbereich etwa an laufenden Maschinen oder mit Absturzgefahr. Der Klägerin sind das Heben und Tragen mittelschwerer und schwerer Lasten, häufiges Bücken, häufiges Knien, längerdauernde Arbeit über Kopf oder in Zwangshaltungen insbesondere ständige Reklination der Halswirbelsäule und ständige Inklination der Lendenwirbelsäule sowie Armarbeiten über der Horizontalen nicht zumutbar. Vermieden werden soll ferner die Einwirkung ungünstiger äußerer Witterungsbedingungen wie Kälte, Nässe, Zugluft, und starke Temperaturschwankungen.

Der Senat entnimmt dieses Leistungsbild insbesondere den zeitnahen Gutachten des Dr. H. und des Dr. D., von denen auch Prof. Dr. F. nicht abweicht. Die Ausführungen der Klägerin, wonach sich diese Gutachter nicht hinreichend mit den Gesundheitsstörungen auseinandergesetzt hätten, können den Senat nicht überzeugen. Nicht alle von der Klägerin in Erwägung gezogenen, im Rahmen der Untersuchungen jedoch in keiner Weise verifizierbaren Einschränkungen müssen in den Gutachten in allen Einzelheiten erörtert werden. Der Vorwurf, dass die Schmerzsituation der Klägerin nicht beachtet worden sei, trifft nicht zu. So hat beispielsweise Dr. D. die im Verlauf des Verfahrens berichtete Schmerzmedikation referiert, die Angaben der Klägerin zum Schmerzgeschehen mit seinen eigenen Beobachtungen kontrastiert und auf noch bestehende, bisher ungenutzte therapeutische Möglichkeiten hingewiesen sowie - in den Senat überzeugender Art und Weise - die Auswirkungen der Schmerzstörung sozialmedizinisch beurteilt.

Der Senat sah sich nicht gehalten, weitere Sachaufklärung durch Einvernahme des Sachverständigen Dr. D. zu betreiben, da von der Klägerin keine konkreten und beweiserheblichen Fragen benannt worden waren und darüber hinaus noch nicht einmal erläuterungsbedürftige Punkte hinreichend konkret bezeichnet worden waren, sondern pauschal auf umfangreiche Schriftstücke Bezug genommen worden war. Von der Klägerseite wird insbesondere problematisiert, dass gewisse Arbeitsbedingungen bereits nicht mit einer leichten Tätigkeit vereinbar seien, dass es leichte Tätigkeiten der beschriebenen Art auf dem Arbeitsmarkt nicht geben würde und dass ein Einsatz der Klägerin als Praktikantin, wie von Dr. D. gefordert, keine reguläre Beschäftigungsmöglichkeit darstelle. Die Beurteilung, ob die seitens des Gutachters festgestellten sozialmedizinischen Einschränkungen einen Einsatz auf dem Arbeitsmarkt entsprechend den gesetzlichen Anforderungen zulassen, ist aber gerade Angelegenheit des Senats als gesetzlicher Richter und unterfällt nicht der Beurteilung durch einen Sachverständigen. Hinsichtlich der im Gutachten enthaltenen Anregung, durch ein vorgeschaltetes Praktikum den Wiedereinsatz der Klägerin auf dem Arbeitsmarkt zu erleichtern, handelt es sich um keinen Widerspruch gegenüber den sozialmedizinischen Ausführungen zum Umfang der Einsatzmöglichkeiten. Im Übrigen ist auch hier nicht erkennbar, inwiefern eine Befragung des Sachverständigen hierzu angezeigt wäre, da die Frage der Schlüssigkeit eines Gutachtens unabhängig von einer Anhörung zu klären ist und nur im Falle des Feststellens einer Unschlüssigkeit möglicherweise eine zusätzliche Nachfrage sinnvoll sein könnte.

Eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung käme zusätzlich auch dann in Betracht, wenn bei der Klägerin zwar keine quantitative Einschränkung bestehen würde, jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Ausnahmefall (sog. Katalogfall) vorliegen würden. Für die Prüfung ist nach dem BSG (Urt. v. 09.05.2012, B 5 R 68/11 R - zitiert nach juris) mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und, falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im dritten Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären (vgl. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand August 2012, § 43 SGB VI Rn. 37 m. w. N.). Für den Senat ergeben sich bereits keine ernsthaften Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da zumindest Sortieren und Verpacken von Kleinteilen als geeignete Arbeitsfelder anzuführen wären. Die von der Klägerseite erfolgten Ausführungen, wonach leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden seien, widersprechen der ständigen Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit und auch den eigenen Erfahrungen des Senats. Aber selbst wenn man der Klägerseite hinsichtlich der ernstlichen Zweifel noch folgen wollte, so stellen sich die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen jedenfalls nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine - ggf. funktionale - Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Eine solche Summierung würde voraussetzen, dass zu den Einschränkungen der Belastbarkeit, wie sie üblicherweise bei physisch und teilweise psychisch geschwächten Erwerbsfähigen zu beobachten sind, besondere Einschränkungen hinzutreten, die ganze Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes ausschließen. Die bei der Klägerin festgestellten Einschränkungen sind gerade nicht so weitgehend. Die Einschränkungen der Sinneswahrnehmung sind moderat. Die Notwendigkeit besonders häufiger Toilettengänge ist nur im Zusammenhang mit Diätfehlern protokolliert und ist ansonsten nicht beobachtbar gewesen.

Der ärztliche Sachverständige Dr. D. hat deutlich herausgestellt, dass die psychischen Störungen der Klägerin bisher noch nicht adäquat behandelt worden sind und hinsichtlich der Schmerzstörung die Behandlung zu verändern und zu intensivieren wäre.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts werden psychische Erkrankungen jedoch erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (BSG Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89; BSG urteil vom 29.02.2006 - B 13 RJ 31/05 R - jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 - L 19 R 35/08). Unbeachtlich für eine Rentengewährung im Rahmen des SGB VI bleiben nach den gesetzlichen Vorschriften die Zeiten, in denen die Klägerin wegen Arbeitsunfähigkeit vorübergehend nicht arbeiten konnte. Von zentraler Bedeutung in diesem Fall sind daher die ärztlichen Darlegungen, dass bei den Erkrankungen der Klägerin auf psychischem Gebiet die Behandlungsoptionen noch nicht ausgeschöpft sind, weshalb ein nicht mehr beeinflussbarer Gesundheitszustand in dieser Hinsicht nicht besteht.

Da nach dem oben Dargestellten bei der Klägerin auch keine zeitliche Einschränkung des Einsatzvermögens an ansonsten geeigneten Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes auf einen zeitlichen Umfang von mindestens 3 Stunden aber weniger als 6 Stunden bestanden hat (kein Gutachter hat eine derartige sozialmedizinische Beurteilung vorgenommen), besteht bei der Klägerin auch nicht die hilfsweise geltend gemachte teilweise Erwerbsminderung.

Nachdem von der Klägerseite eine weitere Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Klägerin gegenüber dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung beschrieben wird und auch die ärztlichen Gutachten dies tendenziell bestätigen und der Senat für den aktuellen Zeitpunkt das Vorliegen einer Erwerbsminderung im rentenberechtigenden Umfangverneint, ist es auszuschließen, dass für einen umrissenen längeren Zeitraum in der Vergangenheit eine derart starke Erwerbsminderung vorgelegen hätte und die Klägerin einen Anspruch auf eine zeitlich befristete Rente wegen Erwerbsminderung gehabt haben könnte.

Da somit bei der Klägerin weder das Vorliegen von voller noch von teilweiser Erwerbsminderung belegt ist, besteht kein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die weiter hilfsweise geltend gemachte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI. Zwar gehört die Klägerin aufgrund ihres Geburtsjahrganges zu dem von § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI grundsätzlich erfassten Personenkreis. Sie ist jedoch nicht berufsunfähig im Sinne dieser Vorschrift.

Nach § 240 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als 6 Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Die Klägerin hat den zuletzt ausgeübten Beruf in der Altenpflege aus gesundheitlichen Gründen bereits vor Oktober 2004 nicht mehr 6 Stunden täglich ausüben können, wie von der Klägerin geltend gemacht wird, von den Gutachtern bestätigt wurde und auch im Vorprozess so akzeptiert worden war. Im Vorprozess ist aber zugleich rechtskräftig entschieden worden, dass die Klägerin bis zur Entscheidung des damals erkennenden Senats am 27.10.2004 keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gehabt hatte. Die Klägerin war dabei nicht als Facharbeiterin eingeordnet und damit als auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar angesehen worden. Wegen der Rechtskraft der damaligen Entscheidung kommt eine Rentengewährung mit einem Leistungsfall vor Oktober 2004 nicht in Betracht. Ein späterer Eintritt von Berufsunfähigkeit liegt jedoch nicht vor: Er wäre nur durch den später eingetretenen Wegfall von zumutbaren Verweisungstätigkeiten begründbar, da - wie ausgeführt - ein zeitlich nicht eingeschränkter Einsatz der Klägerin als Altenpflegehelferin schon zuvor aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich gewesen ist. Die Argumentation der Klägerin, wonach sie in ihrer letzten Tätigkeit auch oder in erheblichem Umfang hauswirtschaftliche Tätigkeiten verrichtet habe, war einschließlich der zugehörigen Belege - Arbeitszeugnisse - bereits im früheren Verfahren (L 20 RJ 201/03) bekannt und hatte nicht dazu geführt, dass die Klägerin im Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts der Facharbeiterstufe zugeordnet worden wäre. Auch der Senat sieht darin keinen hinreichenden Nachweis dafür, dass eine derartige Zuordnung vorgenommen werden müsste. Zum einen fehlt es schon an Belegen dafür, dass die hauswirtschaftliche Tätigkeit den Schwerpunkt der Arbeitsstelle gebildet hätte, zum anderen ist nicht ersichtlich, dass es sich bei den hauswirtschaftlichen Verrichtungen um solche gehandelt hätte, die eine Facharbeiterausbildung erfordert hätten. Trotz einer Fachausbildung in einem bestimmten Bereich kann sehr wohl überwiegend eine Beschäftigung mit Tätigkeiten eines geringeren Anforderungslevels erfolgen und entsprechende tarifliche Eingruppierung vorgenommen werden. Dies ist etwa bekannt beim Einsatz von gelernten ehemaligen Schneiderinnen in der industriellen Textilfertigung oder beim Einsatz von gelernten ehemaligen Schreinern in der industriellen Möbelfertigung. Da die Klägerin somit der Stufe der Angelernten zuzuordnen ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist und der Senat dort noch eine zeitlich nicht eingeschränkte Einsatzfähigkeit bei Beachtung der erforderlichen Arbeitsbedingungen als gegeben ansieht (vgl. oben), ist auch zwischenzeitlich Berufsunfähigkeit nicht eingetreten. Im Übrigen wäre bei Annahme einer andersartigen Einstufung in das Mehrstufenschema des BSG der Leistungsfall wohl bereits vor Oktober 2004 eingetreten, wofür eine Rentenzahlung aber durch das rechtskräftige Urteil im früheren Verfahren ausgeschlossen wäre, worauf bereits die Vorinstanz hingewiesen hat.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die hierzu ergangene erstinstanzliche Entscheidung sind somit nicht zu beanstanden und die Berufung ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 15. Jan. 2015 - L 20 R 980/08 zitiert 10 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 151


(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. (2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerh

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 43 Rente wegen Erwerbsminderung


(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind,2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 109


(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschieß

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 240 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit


(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die 1. vor dem 2. Januar 1961 geboren und2. berufsunfähigsind. (2) Berufsunfähig

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Bundessozialgericht Urteil, 09. Mai 2012 - B 5 R 68/11 R

bei uns veröffentlicht am 09.05.2012

Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2011 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detm
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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 19. Dez. 2018 - L 19 R 165/17

bei uns veröffentlicht am 19.12.2018

Tenor I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.02.2017 wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand

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(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt.

(2) Das Gericht kann einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Die Berufung ist bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

(2) Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. In diesem Fall legt das Sozialgericht die Berufungsschrift oder das Protokoll mit seinen Akten unverzüglich dem Landessozialgericht vor.

(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2.
Berücksichtigungszeiten,
3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.

(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2011 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 10. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit gewähren muss.

2

Die 1954 geborene Klägerin hat keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie ist auch in ihrer türkischen Muttersprache (primäre) Analphabetin, weil sie keine Zahlen kennt, nur minimale Buchstabenkenntnisse besitzt und deshalb selbst mit fremder Hilfe weder lesen noch schreiben kann. In Deutschland arbeitete sie ab November 1987 bis zum Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit im September 2004 durchgehend als Reinigungskraft bei der Stadt B.

3

Sie leidet an einer Wirbelsäulenerkrankung ohne neurologische Ausfallerscheinungen, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer depressiven Erkrankung. Trotz dieser Krankheiten kann sie noch körperlich leichte Tätigkeiten sechs (und mehr) Stunden an fünf Tagen in der Woche regelmäßig verrichten. Auszuschließen sind Arbeiten mit Knien, Hocken, häufigem Bücken, über Kopf, mit Besteigen von Leitern und Gerüsten, unter Umwelteinflüssen (wie Kälte, Hitze, Temperaturschwankungen, Nässe, Staub, Gas, Dampf, Rauch, Lärm, Schmutzeinwirkung), in Wechsel- und Nachtschicht, unter zeitlichem Druck, wie bei Akkord- oder Fließbandarbeit, sowie mit häufigem Publikumsverkehr. Der Analphabetismus der Klägerin beruht nicht auf einer gesundheitlichen Störung.

4

Ihren Antrag vom 21.6.2005 auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte ab, weil sie noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne (Bescheid vom 22.9.2005 und Widerspruchsbescheid vom 6.1.2006). Die Klage blieb erfolglos (Urteil des SG Detmold vom 10.12.2007).

5

Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend von einem am 21.6.2005 eingetretenen Leistungsfall befristet bis zum 31.1.2014 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen (Urteil vom 21.2.2011): Die Klägerin habe die allgemeine Wartezeit zurückgelegt, erfülle die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und sei voll erwerbsgemindert. Denn ihr sei der Arbeitsmarkt unter dem Gesichtspunkt einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen praktisch verschlossen. Zwar seien die qualitativen Leistungseinschränkungen nach der Rechtsprechung des 5. Senats des BSG, der sich der erkennende Senat anschließe, nicht ungewöhnlich und ließen für sich allein noch keine ernstlichen Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin in einem Betrieb einsetzbar sei. Gleichwohl seien keine beruflichen Tätigkeiten ersichtlich, die sie auf der Grundlage ihres Restleistungsvermögens und ihres muttersprachlichen Analphabetismus noch verrichten könne. Der Analphabetismus sei bei der Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, zu berücksichtigen, wenn das weite Feld der Tätigkeiten, die die Fähigkeit des Lesens und Schreibens nicht unbedingt erforderten, aufgrund weiterer Leistungseinschränkungen und der Beschränkung des Restleistungsvermögens auf nur leichte Arbeiten nicht mehr zweifelsfrei offenstehe. Eine realistische Verwertung des Restleistungsvermögens im Erwerbsleben setze voraus, dass eine Verweisungstätigkeit den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entspreche, wodurch sichergestellt werde, dass keine vom tatsächlichen Leistungsvermögen losgelöste, also fiktive Verweisung erfolge. Eine konkrete Verweisungstätigkeit, die die Klägerin mit den verbliebenen Fähigkeiten noch verrichten könne, sei indes nicht ersichtlich. Die Tätigkeiten als Museumswärterin/Aufseherin, Küchenhilfe, Büglerin, Mitarbeiterin in einer Mangel, Warensortiererin in der Kunststoff- und Metallindustrie oder in der Papier- und Elektroindustrie, die die Beklagte benannt habe, könne die Klägerin teils aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen, teils aufgrund des Analphabetismus nicht mehr ausüben.

6

Mit der Revision, die das LSG zugelassen hat, rügt die Beklagte eine Verletzung von § 43 SGB VI: Nach der Rechtsprechung des BSG sei in der Regel davon auszugehen, dass Versicherte, die noch körperlich leichte Tätigkeiten- wenngleich mit qualitativen Einschränkungen - täglich mindestens sechs Stunden verrichten könnten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dort üblichen Bedingungen erwerbstätig sein könnten. Eine konkrete Verweisungstätigkeit sei in dieser Situation nur zu benennen, wenn ausnahmsweise eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Das LSG führe jedoch selbst nachvollziehbar aus, dass sämtliche Leistungseinschränkungen der Klägerin nicht ungewöhnlich seien und für sich allein keine ernstlichen Zweifel daran aufkommen ließen, dass sie in einem Betrieb einsetzbar sei. Bei der Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, müsse ihr Analphabetismus außer Acht bleiben. Denn er beruhe nicht auf einer gesundheitlichen Störung oder auf intellektuellen Defiziten, sondern darauf, dass sie keine Schule besucht und deshalb weder Lesen noch Schreiben erlernt habe. Ein solcher Analphabetismus sei als Bildungsdefizit und nicht als Erwerbsminderung auslösende Krankheit oder Behinderung zu werten. Soweit sich das Berufungsgericht für seine gegenteilige Ansicht auf das Senatsurteil vom 10.12.2003 (B 5 RJ 64/02 R - SozR 4-2600 § 44 Nr 1) stütze, stehe diese Entscheidung nicht mit dem Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) in Einklang. Danach sei es ausgeschlossen, "einen arbeitslosen Versicherten, der noch vollschichtig arbeiten" könne, "deshalb als erwerbsunfähig anzusehen, weil neben den gesundheitlichen Einschränkungen Risikofaktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit und vorgerücktes Alter oder mangelhafte Ausbildung die Vermittlungschancen zusätzlich" erschwerten. Analphabetismus sei jedoch nichts anderes als "mangelnde Ausbildung". Für die Überwindung des Analphabetismus seien nicht die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern die Bundesagentur für Arbeit, die Grundsicherungsträger sowie die Kommunen und Länder zuständig; das daraus resultierende Arbeitsmarktrisiko dürfe nicht auf die Rentenversicherungsträger verlagert werden. Soweit die Rechtsprechung schließlich zwischen Analphabetismus und mangelnden Deutschkenntnissen unterscheide, sei diese Differenzierung inkonsequent. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl Senatsurteil vom 15.5.1991 - 5 RJ 92/89 - BSGE 68, 288 = SozR 3-2200 § 1246 Nr 11) müssten unzureichende Deutschkenntnisse bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit außer Acht bleiben, weil dem Rentenversicherungsträger sonst ein von der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfasstes Risiko aufgebürdet werde. Nichts anderes müsse für Analphabetismus gelten. Dass der Klägerin der Zugang zum Arbeitsmarkt wegen ihres Analphabetismus erschwert sei, könne ebenso wenig wie der Umstand berücksichtigt werden, dass sie aufgrund mangelhafter deutscher Sprachkenntnisse nicht ausreichend kommunizieren könne.

7

Die Beklagte beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2011 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 10. Dezember 2007 zurückzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

9

Sie trägt vor: Aufgrund einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen erfülle sie die Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, wobei ihr Analphabetismus zu berücksichtigen sei. Als primäre Analphabetin sei sie auf dem Arbeitsmarkt, unter Hinzutreten weiterer ungewöhnlicher Erschwernisse, schlichtweg nicht (mehr) vermittelbar und könne auch auf Alternativtätigkeiten nicht (mehr) verwiesen werden. Selbst wenn man den primären Analphabetismus außer Acht ließe, seien zumutbare Verweisungstätigkeiten weder ersichtlich noch von der Beklagten benannt worden. Vor dem Hintergrund bestehender Fürsorgepflicht hätte die Beklagte durch Rehabilitations- bzw Förderungsmaßnahmen dem Analphabetismus entgegenwirken und hierdurch eine Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen müssen.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG verletzt Bundesrecht (§ 162 SGG). Der Klägerin steht kein Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung zu.

11

1. Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 43 Abs 2 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.2002 (BGBl I 754) in Betracht (§ 300 Abs 1 SGB VI). Danach haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Abs 2 S 1 Nr 2 und 3) bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Abs 2 S 1 Nr 1). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Abs 2 S 2). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs 3). Nach § 102 Abs 2 S 1 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, zu denen auch die Rente wegen voller Erwerbsminderung zählt(§ 33 Abs 3 Nr 2 SGB VI), auf Zeit geleistet. Die Befristung (§ 32 Abs 2 Nr 1 SGB X) erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs 2 S 2 iVm § 101 Abs 1 SGB VI) und kann wiederholt werden (§ 102 Abs 2 S 3 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754).

12

2. Nach den Feststellungen des LSG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angefochten und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), kann die Klägerin körperlich leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden (arbeits)täglich, dh an fünf Tagen in der Woche, verrichten. Dieses zeitliche (quantitative) Leistungsvermögen schließt die Annahme einer "vollen Erwerbsminderung" gemäß § 43 Abs 3 Halbs 1 SGB VI aber noch nicht aus. Vielmehr kommt es nach dieser Vorschrift iVm § 43 Abs 2 S 2 SGB VI entscheidend darauf an, ob die Klägerin "wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande" ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts … erwerbstätig zu sein". Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

13

Die Rentenversicherungsträger und im Streitfall die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben von Amts wegen (§ 20 Abs 1 S 1 SGB X, § 103 SGG) mit Hilfe (medizinischer) Sachverständiger (§ 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB X, § 106 Abs 3 Nr 5 SGG) zu ermitteln und festzustellen,

        

a)    

Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheit(en) oder Behinderung(en), an denen der Versicherte leidet,

        

b)    

Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen) sowie den

        

c)    

Ursachenzusammenhang ("wegen") zwischen a) und b).

14

a) Das LSG hat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, dass die Klägerin "an einer Wirbelsäulenerkrankung ohne neurologische Ausfallerscheinungen, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und an einer depressiven Erkrankung leidet". Dabei handelt es sich - auch soweit psychische Leiden vorliegen (s dazu BSGE 21, 189 = SozR Nr 39 zu § 1246 RVO; SozR Nr 15 zu § 1254 aF RVO) - um Krankheiten iS von § 43 Abs 2 S 2 SGB VI, dh um regelwidrige Körper- bzw Geisteszustände(BSGE 14, 207 = SozR Nr 5 zu § 45 RKG), die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit herabzusetzen (BSGE 13, 255 = SozR Nr 11 zu § 1246 RVO). Den Analphabetismus oder dessen Ursachen hat das Berufungsgericht dagegen nicht als Krankheit bezeichnet, sondern ausdrücklich ausgeführt, dass die komplette Lese- und Schreibinkompetenz "nicht auf einer gesundheitlichen Störung" beruht. Sie ist auch keine "Behinderung", weil dazu rentenversicherungsrechtlich nur (weiter die Begriffsbestimmung in § 2 Abs 1 SGB IX) krankheitsbedingte Störungen zählen (Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 98; Kunze, DRV 2001, 192), deren Entwicklung - anders als bei einer Krankheit (vgl dazu BSGE 28, 114 = SozR Nr 28 zu § 182 RVO) - irreversibel abgeschlossen ist. Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" kann aber durch Erlernen der Schriftsprache überwunden werden.

15

b) Das LSG hat weiter bindend festgestellt, dass die Klägerin noch körperlich leichte Tätigkeiten sechs (und mehr) Stunden an fünf Tagen in der Woche regelmäßig verrichten kann. Auszuschließen sind Arbeiten mit Knien, Hocken, häufigem Bücken, über Kopf, mit Besteigen von Leitern und Gerüsten, unter Umwelteinflüssen (wie Kälte, Hitze, Temperaturschwankungen, Nässe, Staub, Gas, Dampf, Rauch, Lärm, Schmutzeinwirkung), in Wechsel- und Nachtschicht, unter zeitlichem Druck, wie bei Akkord- oder Fließbandarbeit, sowie mit häufigem Publikumsverkehr.

16

c) Zwischen diesen Leistungseinschränkungen (Erwerbsminderung) und den Krankheit(en) bzw Behinderung(en) muss ein Ursachenzusammenhang bestehen ("wegen"). Die Leistungsminderung muss wesentlich (Theorie der wesentlichen Bedingung, vgl BSGE 96, 291, 293 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7 RdNr 15)auf einer Krankheit oder Behinderung (den versicherten Risiken) beruhen und nicht auf sonstigen Umständen wie Lebensalter, fehlenden Sprachkenntnissen (Senatsurteil vom 15.5.1991 - 5 RJ 92/89 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 11 S 38 f; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 9 S 34 f; SozR 2200 § 1246 Nr 61) oder Arbeitsentwöhnung (BSGE 7, 66). Aus den Darlegungen des LSG zum Ursachenzusammenhang geht hinreichend deutlich hervor, dass die beschriebenen Leistungseinschränkungen und Minderbelastbarkeiten aus den zuvor festgestellten Gesundheitsstörungen "resultieren". Außerdem hält das Berufungsgericht ausdrücklich fest, dass der Analphabetismus der Klägerin "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruht", also gerade kein Ursachenzusammenhang zwischen ihm und einer der festgestellten Erkrankungen vorliegt.

17

3. Steht das krankheits- bzw behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob der Versicherte damit außerstande ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" tätig zu sein. Diese Frage ist hier zu verneinen. Die zitierte Formulierung verwendete der Gesetzgeber ursprünglich im Arbeitsförderungsrecht (§ 103 AFG, § 119 SGB III, seit dem 1.4.2012: § 138 Abs 5 SGB III) und übertrug sie später auf das Recht der Renten wegen Erwerbsminderung. Mit dieser Übernahme griff er gleichzeitig die Rechtsprechung des BSG auf, wonach dem Betroffenen der Zugang zum Arbeitsmarkt trotz vollschichtigem Leistungsvermögen praktisch verschlossen war, wenn er krankheitsbedingt keine "Erwerbstätigkeit unter den in Betrieben üblichen Bedingungen" mehr ausüben konnte (sog 1. Katalog- und Seltenheitsfall, vgl dazu nur Senatsurteil vom 27.5.1977 - 5 RJ 28/76 - SozR 2200 § 1246 Nr 19 und die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Die hierzu und zum Arbeitsförderungsrecht entwickelte Rechtsprechung ist auf die gesetzliche Neuformulierung übertragbar.

18

a) "Bedingungen" sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind (BSGE 11, 16, 20). Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen (BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 29, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 43 Nr 16 vorgesehen; zum Arbeitsförderungsrecht: BSGE 11, 16, 20; 44, 164, 172 = SozR 4100 § 134 Nr 3; BSGE 46, 257, 259 = SozR 4100 § 103 Nr 17; BSG SozR 4100 § 103 Nr 23 S 55; BSG Urteil vom 21.4.1993 - 11 RAr 79/92 - Die Beiträge 1994, 431). Die Bedingungen sind "üblich", wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO, RdNr 29; BSGE 46, 257, 262, 264 = SozR 4100 § 103 Nr 17 S 40, 42; SozR 2200 § 1247 Nr 43 S 86 f; BSG Urteil vom 21.4.1993, aaO, Die Beiträge 1994, 431). Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten (vgl BT-Drucks 14/4230, S 25), für die es faktisch "Angebot" und "Nachfrage" gibt. Das Adjektiv "allgemein" grenzt den ersten vom zweiten - öffentlich geförderten - Arbeitsmarkt, zu dem regelmäßig nur Leistungsempfänger nach dem SGB II und III Zugang haben, sowie von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und andere geschützte Einrichtungen (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO RdNr 27). Die Klägerin kann nach den Feststellungen des LSG an fünf Tagen in der Woche mindestens sechs Stunden arbeiten. Sieht man davon ab, dass ihr Nacht- und Wechselschichten krankheitsbedingt nicht mehr zugemutet werden dürfen, benötigt sie im Hinblick auf Dauer und Verteilung der Arbeitszeit keine Sonderbehandlung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich wäre. Sie hat auch keinen erhöhten, betriebsunüblichen Pausen- oder Urlaubsbedarf und ist in einem Betrieb, also außerhalb geschützter Einrichtungen, einsetzbar. Wer aber in einem Betrieb unter den dort üblicherweise herrschenden Bedingungen arbeiten kann, ist auch imstande, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" tätig zu sein.

19

b) Soweit unter den Begriff der üblichen Bedingungen "auch tatsächliche Umstände" gefasst werden (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO, RdNr 29), "wie zB die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz", handelt es sich ausschließlich um kognitive Grundfähigkeiten, die krankheitsbedingt herabgesetzt sein können. Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" gehört nicht dazu. Wie der berufliche Werdegang der Klägerin exemplarisch und stellvertretend für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen zeigt, zählen Lese- und Schreibkompetenzen keinesfalls zu den üblichen Grundbedingungen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses. Andernfalls könnten primäre Analphabeten nie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig werden, wären schon vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (voll) erwerbsgemindert und könnten Rente wegen voller Erwerbsminderung erst erhalten, nachdem sie die Wartezeit von 20 Jahren zurückgelegt haben (§ 43 Abs 6 iVm § 50 Abs 2 SGB VI).

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4. Folglich kommt es entscheidend darauf an, ob die Klägerin trotz ihrer qualitativen Leistungseinschränkungen noch imstande ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen. Diese Frage ist zu bejahen.

21

a) Um nachprüfbar zu machen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hat das BSG bereits zum Parallelproblem im Recht der Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO bzw §§ 43, 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Altfassung - aF) die Pflicht der Rentenversicherungsträger entwickelt, dem Versicherten zumindest eine zumutbare Tätigkeit (sog Verweisungstätigkeit) konkret zu benennen, die er mit seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch ausüben kann (sog Benennungsgebot), wenn eine Rente wegen fehlender Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit abgelehnt werden sollte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 229; SozR 2200 § 1246 Nr 72, 74, 98 und 104). Zu benennen war eine Berufstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 72 S 229 und Nr 74 S 234; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 229). Die Angabe einzelner Arbeitsvorgänge oder Tätigkeitsmerkmale genügte nicht (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 34 S 130 f mwN; BSG Urteil vom 27.3.2007 - B 13 R 63/06 R - Juris RdNr 30). Andererseits musste kein konkreter Arbeitsplatz bezeichnet werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324). Die zu benennende Tätigkeit musste auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich in ausreichendem Umfang vorkommen (BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28), dh es mussten grundsätzlich mehr als 300 Stellen (besetzt oder offen) vorhanden sein (BSGE 78, 207, 222 f = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 34 f; BSG Urteile vom 29.7.2004 - B 4 RA 5/04 R - Juris RdNr 24, 33 und vom 26.4.2007 - B 4 R 5/06 R - Juris RdNr 18).

22

b) Abweichend von diesem Grundsatz war die Benennung einer Verweisungstätigkeit entbehrlich, sofern der Versicherte - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - noch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage war und auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durfte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 mwN). Auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durften bei der Prüfung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich alle Versicherten (BSGE 19, 147, 149 f = SozR Nr 6 zu § 1247 RVO; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 7 S 12 f; SozR 5850 § 2 Nr 12 S 25; SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 18), bei der Prüfung der Rente wegen Berufsunfähigkeit hingegen nur ungelernte Arbeiter bzw sog Angelernte im unteren Bereich (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 72 f mwN). In diesen Fällen war regelmäßig davon auszugehen, dass das Restleistungsvermögen dem Versicherten noch körperliche Verrichtungen erlaubte, wie sie in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw). Dem lag die Überlegung zugrunde, dass sich die nicht oder nur ganz wenig qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ("Hilfsarbeiten") einerseits einer knappen Benennung, die aussagekräftig Art und Anforderungen der Tätigkeiten beschreiben würde, entzogen, das Arbeitsfeld andererseits aber so heterogen war, dass mit einem Restleistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten jedenfalls noch von ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten ausgegangen werden konnte (BSGE 80, 24, 31 ff = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 ff).

23

c) Trotz der praktischen Schwierigkeiten war - im Sinne einer Rückausnahme - die konkrete Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorlag: In diesen Fällen einer überdurchschnittlich starken Leistungsminderung bestanden - entgegen der oben skizzierten tatsächlichen Vermutung bzw Annahme - ernsthafte Zweifel, dass der allgemeine Arbeitsmarkt für die dem Versicherten an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen bereithielt oder dass der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar war (BSGE 80, 24, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 27; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324 und Nr 136 S 434). Auch die Möglichkeit der praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts durch die sog Katalog- und Seltenheitsfälle ist in diesem Zusammenhang bedeutsam (vgl die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Diese Maßstäbe haben auch für die seit dem 1.1.2001 geltende Rechtslage weiterhin Gültigkeit (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 5 RdNr 18 und BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 19).

24

5. Für den Regelfall darf damit auch für die Renten wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nF (iS einer widerlegbaren tatsächlichen Vermutung) davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der zumindest körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten kann, noch in der Lage ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen(s auch § 43 Abs 3 SGB VI nF). Es ist mehrschrittig zu prüfen (vgl dazu BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 und Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 35):

25

a) Im ersten Schritt ist festzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten Verrichtungen oder Tätigkeiten erlaubt (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw ), die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. Es genügt die Benennung von "Arbeitsfeldern", von "Tätigkeiten der Art nach" oder von "geeigneten Tätigkeitsfeldern", die der Versicherte ausfüllen könnte (vgl BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; Senatsurteile vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 43; vom 11.5.1999 - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 f; vom 10.12.2003 - SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 23; BSG vom 19.8.1997 - 13 RJ 29/95 - SozSich 1998, 111 - Juris RdNr 30; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f; vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 R - Juris RdNr 24; vom 14.7.1999 - B 13 RJ 65/97 R - Juris RdNr 32; sog "kleines Benennungsgebot": vgl Köbl in Ruland/Försterling, Gemeinschaftskommentar zum SGB VI, § 43 RdNr 168, Stand Oktober 2006; Gürtner in Kasseler Komm, § 43 SGB VI RdNr 47, Stand April 2010; Spiolek, SGb 1999, 509, 510; kritisch Kamprad in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 43 RdNr 42, Stand März 2012; aA wohl Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 108). Damit können "ernste Zweifel" an der beschriebenen Einsatzfähigkeit des Versicherten als Folge von qualitativen Leistungseinschränkungen ausgeräumt werden.

26

b) Lassen sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben und kommen deshalb "ernste Zweifel" an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen auf, stellt sich im zweiten Schritt die Rechtsfrage, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine besondere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt (vgl Senatsurteil vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 44 sowie BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f und Nr 21 S 73 f sowie Beschluss vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 - Juris RdNr 24). Hierbei handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die schwierig zu konkretisieren (BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 69 sowie SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f) und vernünftig zu handhaben sind (BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33 ). Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 9 RdNr 23). Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, umso eingehender und konkreter muss das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 9 RdNr 23; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muss aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 ff und BSG Urteil vom 19.8.1997 - 13 RJ 25/95 - SozSich 1998, 113 - Juris RdNr 25).

27

c) Erst wenn nach diesen Maßstäben eine "schwere spezifische Leistungsbehinderung" oder "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vorliegt, ist dem Versicherten im dritten Schritt mindestens eine konkrete Verweisungstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (kein konkreter Arbeitsplatz) zu benennen, um seinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung auszuschließen (vgl BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33). Hierbei sind dann nicht nur das körperliche, geistige und kognitive Leistungsvermögen einerseits und das berufliche Anforderungsprofil andererseits miteinander zu vergleichen und in Deckung zu bringen, sondern es muss auch individuell geprüft werden, ob der Versicherte die notwendigen fachlichen Qualifikationen und überfachlichen Schlüsselkompetenzen besitzt oder zumindest innerhalb von drei Monaten erlernen kann. Außerdem ist dann zu beachten, dass auf Tätigkeiten nicht verwiesen werden darf, die auf dem Arbeitsmarkt nur in ganz geringer Zahl vorkommen (Katalogfall Nr 3), die an Berufsfremde nicht vergeben werden (Katalogfall Nr 4) oder für Betriebsfremde unzugänglich sind, weil es sich um reine Schonarbeitsplätze (Katalogfall Nr 5) oder Aufstiegspositionen (Katalogfall Nr 6) handelt (vgl die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Kann der Versicherte die Verweisungstätigkeit krankheits- oder behinderungsbedingt nicht mehr ausüben, oder kann er sich die fehlenden fachlichen oder überfachlichen Kompetenzen nicht innerhalb von drei Monaten aneignen, so ist er auch dann (voll) erwerbsgemindert, wenn sein zeitliches (quantitatives) Leistungsvermögen uneingeschränkt erhalten ist.

28

6. Zu Recht hat das LSG eine schwere spezifische Leistungsbehinderung verneint. Sie liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60; Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 108; Spiolek, NZS 1997, 415, 416 f). Hierzu können - unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände (vgl BSG SozR 3- 2600 § 43 Nr 17 S 61 ; BSG SozR 3- 2600 § 43 Nr 19 S 68 ; BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 69 ) - beispielsweise Einäugigkeit (Senatsurteile vom 12.5.1982 - 5b/5 RJ 170/80 - Juris RdNr 8 und vom 14.9.1995 - 5 RJ 50/94 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 230; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30, 90), Einarmigkeit (Senatsurteil vom 14.9.1995 - 5 RJ 50/94 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 230; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30) und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 19) sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104, 117; weitere Beispiele bei BSGE 80, 24, 33 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 26 und bei Spiolek, NZS 1997, 415, 416 f). Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" gehört nicht dazu, weil er keine "Behinderung" ist (s Gliederungspunkt 2 a) und damit auch keine "Leistungsbehinderung" sein kann.

29

7. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt auch keine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vor, die es ausnahmsweise notwendig machen könnte, den Ausschluss eines Rechts auf Rente nicht lediglich abstrakt mit der Einsetzbarkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begründen, sondern hierfür die konkrete Benennung einer noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeit zu fordern. Insofern kann vorliegend offen bleiben, ob es sich bei dem muttersprachlichen Analphabetismus der Klägerin für sich um eine ungewöhnliche Leistungseinschränkung in diesem Sinne handelt (vgl dazu Senatsurteile vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R - SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 17 ff und vom 20.10.2004 - B 5 RJ 48/03 R - Juris RdNr 19 sowie BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 13/98 R - SozR 3-2200 § 1246 Nr 62 S 288). Nach der unverändert einschlägigen Verweisungsrechtsprechung des Großen Senats des BSG (BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) begründet nämlich bei zeitlich uneingeschränkt leistungsfähigen Versicherten allein die "Summierung" - notwendig also eine Mehrheit von wenigstens zwei ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen als tauglichen Summanden - die Benennungspflicht, nicht aber, wie das Berufungsgericht meint, bereits das Zusammentreffen einer - potenziell - ungewöhnlichen und einer oder mehrerer "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen. Durch die genannte Rechtsprechung des Großen Senats und den ausdrücklichen Ausschluss einer Berücksichtigung der "jeweiligen Arbeitsmarktlage" in § 43 Abs 3 Halbs 2 SGB VI ist auch bereits entschieden, dass weitere Fälle einer Benennungspflicht nicht in Betracht kommen. Im Hinblick auf die qualitativen Einschränkungen, die bei der Klägerin zu beachten sind, hat das LSG jedoch unangefochten festgestellt, dass diese sämtlich nicht ungewöhnlich sind. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die "vernünftige Handhabung" des unbestimmten Rechtsbegriffs der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gewährleistet nach der Rechtsprechung des Großen und des erkennenden Senats, dass abweichend vom Regelfall der abstrakten Betrachtungsweise die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit als unselbstständiger Zwischenschritt, nur aber auch immer dann erfolgen muss, wenn ernsthafte Zweifel unter anderem an der betrieblichen Einsetzbarkeit bestehen. Ob und ggf in welcher Intensität Zweifel aufkommen und ob in der Gesamtschau eine "Summierung" ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu bejahen ist, lässt sich nur anhand des konkreten Einzelfalls entscheiden, weil die denkbaren Kombinationsmöglichkeiten der qualitativen Leistungseinschränkungen unüberschaubar sind und die Summanden je nach Schweregrad, Anzahl und Wechselwirkungen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff "leichte Arbeiten", auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, erhebliche Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Nur so erscheint eine "vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe" gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG (BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33) vorausgesetzt hat. Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Auch wenn die Leistungseinschränkungen dort gleich oder vergleichbar formuliert sind, handelt es sich keinesfalls um identische Sachverhalte. Vielmehr liefern die jeweiligen Beurteilungen allenfalls Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen; ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Deshalb steht dem Tatrichter bei der Würdigung des Gesamtbildes der Verhältnisse ein weiter Freiraum für Einschätzungen zu (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f und BSG Urteil vom 19.8.1997 - 13 RJ 25/95 - SozSich 1998, 113 - Juris RdNr 25). Denn die Begriffe der "Ungewöhnlichkeit" von Leistungseinschränkungen und ihre "Summierung" lassen sich nicht mit einem abschließenden Katalog unabdingbarer Merkmale und Untermerkmale im Voraus definieren (Klassen- oder Allgemeinbegriff), sondern nur einzelfallbezogen durch eine größere und unbestimmte Zahl von (charakteristischen) Merkmalen umschreiben (offener Typus- oder Ordnungsbegriff), wobei das eine oder andere Merkmal gänzlich fehlen oder je nach Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam sein kann. Ob an der Einsetzbarkeit eines individuellen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Zweifel bestehen und sich ggf überwinden lassen, ob Leistungseinschränkungen "ungewöhnlich" sind und wie sie sich nach Art, Umfang und Ausprägung wechselseitig beeinflussen ("summieren"), beurteilt sich anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Kriterien nach dem Gesamtbild der Verhältnisse durch einen wertenden Ähnlichkeitsvergleich. Eine solche Würdigung des Einzelfalls nach dem Gesamtbild der Verhältnisse vollzieht sich auf tatsächlichem Gebiet und obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter; seine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Bei derartigen richterlichen Wertungsakten gibt es keine logisch ableitbare einzig richtige Entscheidung, sondern einen Bereich, der sich letztlich der logischen Nachprüfbarkeit entzieht. Rational argumentativ ist dieser (originäre) Wertungsakt nur eingeschränkt überprüfbar, nämlich darauf, ob er auf einer zutreffenden und rechtlich verwertbaren Tatsachengrundlage beruht, ob die richtigen Wertungsmaßstäbe erkannt und angewandt wurden und ob er sich innerhalb eines gewissen Spielraums der Angemessenheit bzw des Vertretbaren bewegt ("vernünftige Handhabung"). Bei derartigen genuinen Wertungsakten sind mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig, weil sich nach rein logischen Maßstäben nicht mehr entscheiden lässt, welche innerhalb eines Spielraums nach zutreffenden Maßstäben getroffene Entscheidung richtiger als die andere ist.

30

Das LSG hat vorliegend Inhalt und Grenzen des unbestimmten Rechtsbegriffs der ungewöhnlichen Leistungseinschränkung, wie sie sich hiernach ergeben, berücksichtigt und im Rahmen der ihm vorbehaltenen tatrichterlichen Bewertung die von ihm festgestellten Leistungseinschränkungen - mit Ausnahme des Analphabetismus der Klägerin - als "gewöhnlich", also keine Benennungspflicht auslösend, eingestuft. Dabei hat es sich im Wesentlichen an der vom Großen Senat rezipierten beispielhaften Auflistung derartiger Einschränkungen orientiert. Insofern bedarf es auf der Ebene der Feststellung tatsächlicher Umstände jeweils der Bewertung, ob mit einer festgestellten Leistungseinschränkung für sich und im Zusammenwirken mit gleichwertigen anderen gerade im konkreten Einzelfall die Gefahr verbunden ist, dass der Versicherte auf in Wahrheit nicht existierende Arbeitsmöglichkeiten verwiesen wird, deren Feststellung wiederum Aufgabe des Tatsachengerichts ist. Solange daher der Tatrichter - wie hier das LSG - von einem rechtlich zutreffenden Verständnis der Benennungspflicht und ihrer Voraussetzungen ausgeht, handelt es sich um die Feststellung von Individualtatsachen, an die das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG und in dessen Grenzen gebunden ist. Vorliegend ist daher rechtlich ohne konkreten Vergleich der Leistungsfähigkeit mit dem Anforderungsprofil einer bestimmten Tätigkeit im Sinne einer tatsächlichen Vermutung davon auszugehen, dass die Klägerin ihr Restleistungsvermögen noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwerten kann, also noch imstande ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine (unbenannte) Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen. Damit scheidet auch ein Recht auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung aus (§ 43 Abs 1, § 240 Abs 1 SGB VI).

31

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2.
Berücksichtigungszeiten,
3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.

(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die

1.
vor dem 2. Januar 1961 geboren und
2.
berufsunfähig
sind.

(2) Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.