Amtsgericht Pirmasens Beschluss, 06. Jan. 2016 - 1 Ls 4372 Js 13002/13 jug
Gericht
Tenor
1. Die Erinnerung vom 22.10.2015 gegen den Kostenansatz des Amtsgerichts Pirmasens vom 26.08.2015 wird zurückgewiesen.
2. Die Beschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
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Die Erinnerungsführerin wendet sich gegen den durch das Amtsgericht Pirmasens vorgenommenen Kostenansatz vom 26.08.2015 betreffend ihre Kostenrechnung vom 19.11.2014 (Bl. 705 ff. d.A.). Konkret setzte die Erinnerungsführerin, die durch Beschluss vom 18.02.2014 zur Pflichtverteidigerin bestellt wurde, im Rahmen der vorgenannten Kostennote im Hinblick auf die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Pirmasens die Gebühr Nr. 4110 VV-RVG (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 RVG) an, welche seitens der zuständigen Rechtspflegerin in Abzug gebracht wurde.
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Die Erinnerungsführerin trägt hierzu vor, dass die Hauptverhandlung vom 17.11.2014 um 09.00 Uhr angesetzt gewesen sei und um 14.13 Uhr geendet habe. Sie sei an jenem Tag pünktlich erschienen und es könne insofern nicht zu ihren Lasten gehen, dass die Hauptverhandlung letztendlich um 09.20 Uhr begonnen habe.
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Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 17.11.2014 (Bl. 500 ff. d.A.) begann die Sitzung um 09.20 Uhr und endete um 14.13 Uhr.
II.
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Die zulässige Erinnerung ist unbegründet.
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Die Gebühr Nr. 4110 VV-RVG fällt zusätzlich neben der je Hauptverhandlungstag anfallenden Terminsgebühr Nr. 4108 VV-RVG an, wenn der - wie hier - gerichtlich bestellte oder beigeordnete Rechtsanwalt mehr als 5 und bis 8 Stunden an der Hauptverhandlung teilnimmt.
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Ob und inwieweit bei der Berechnung der Zeit, die ein Rechtsanwalt an „der Hauptverhandlung“ teilnimmt, ein verspäteter Beginn oder die Dauer von Sitzungsunterbrechungen zu berücksichtigen sind, ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt und wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt.
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Aus der amtlichen Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (vgl. BT-Drs. 15/1971) ergibt sich nicht, ob Verspätungen und Pausen bei der Ermittlung der Sitzungsdauer zu berücksichtigen sind. Ziel der Neuregelung war im Hinblick auf die Gebühren Nr. 4108 oder 4109 VV-RVG vielmehr, eine feste Terminsgebühr zu schaffen, „auf deren Höhe die Umstände des Einzelfalls keinen Einfluss haben“ (BT-Drs. 15/1971, S. 224). Deshalb sollte dem gerichtlich bestellten Rechtsanwalt bei „langen Hauptverhandlungen ein fester Zuschlag gewährt werden“, wodurch auch bei diesem der besondere Zeitaufwand für seine anwaltliche Tätigkeit angemessen honoriert werde und er nicht mehr ausschließlich auf die Bewilligung einer Pauschgebühr angewiesen sei (BT-Drs. 15/1971, S. 224).
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Dazu, was unter der „Dauer der Hauptverhandlung“ zu verstehen ist, verhält sich die Gesetzesbegründung nicht. Vielmehr wird - zumindest inzident - auf die Rechtsprechungen der Oberlandesgerichte Bezug genommen (vgl. BT-Drs. 15/1971, S. 225).
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In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird das Anfallen der Gebühr Nr. 4110 VV-RVG sowohl im Zusammenhang mit einer Verzögerung im Sinne eines verspäteten - erstmaligen - Beginns der Hauptverhandlung am jeweiligen Terminstag sowie für den Fall der - vorliegend nicht gegenständlichen - Unterbrechung der Sitzung durch Pausen diskutiert.
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Im hier betreffenden Fall des verspäteten Beginns einer Hauptverhandlung wird von der wohl h.Rspr. vertreten, dass für die Dauer bzw. des Beginns der Hauptverhandlung auf den in der Ladung angeordneten Zeitpunkt und nicht auf den tatsächlichen Aufruf der Sache und somit nicht den tatsächlichen Beginn der Sitzung abzustellen ist, zumindest dann, wenn der Verteidiger pünktlich erschienen ist (vgl. statt vieler z.B. OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.08.2005 - 4 Ws 118/05, zitiert nach juris, Rdnr. 6; Pfälz. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 Ws 342/06, zitiert nach juris, Rdnr. 3; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.09.2006 - III-3 (s) RVG 4/06, 3 (s) RVG 4/06, zitiert nach juris, Rdnr. 18; KG Berlin, Beschluss vom 25.05.2007 - 1 Ws 36/07, zitiert nach juris, Rdnr. 4; Pfälz. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 23.01.2009 - 1 AR 21/08, zitiert nach juris).
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Die Gegenmeinung, der sich das erkennende Gericht anschließt, stellt demgegenüber auf den tatsächlichen Beginn des Hauptverhandlungstermins ab, da die - von Nr. 4110 VV-RVG vorausgesetzte - Teilnahme schon nach dem Wortlaut voraussetzt, dass eine Hauptverhandlung tatsächlich stattfindet (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 13.09.2005 - Ws 676/05, zitiert nach juris, Rdnr. 14; OLG Koblenz, Beschluss vom 06.02.2006 - 2 Ws 70/06, zitiert nach juris, Rdnr. 5; Saarl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20.02.2006 - 1 Ws 5/06, zitiert nach juris, Rdnr. 4 ff.). Nach § 243 Abs. 1 S. 1 StPO beginnt die Hauptverhandlung (erst) mit dem Aufruf der Sache, sodass folglich eine Teilnahme an dieser erst ab diesem Zeitpunkt möglich ist.
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Zudem soll durch Nr. 4110 VV-RVG der besondere Zeitaufwand für die anwaltliche Tätigkeit (BT-Drs. 15/1971, S. 224) in der Hauptverhandlung angemessen honoriert werden. Eine Tätigkeit in diesem Sinne kann jedoch erst dann vorliegen, wenn der Rechtsanwalt an der Hauptverhandlung teilnimmt. Auch unter diesem Aspekt kann daher eine „Wartezeit“ nicht ohne Weiteres mit einer „Tätigkeit“ in diesem Sinne gleichgesetzt werden. Auch wenn ein Verteidiger aufgrund Wartezeit faktisch „in Anspruch“ genommen wird, kann dies nicht mit einer „Tätigkeit“ in diesem Sinne gleichgesetzt werden (so aber möglicherweise OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.08.2005 - 4 Ws 118/05, zitiert nach juris, Rdnr. 7). Zudem würden sich auch in diesem Fall Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben, da es in der Praxis keine Seltenheit ist, dass insbesondere ortsansässige Verteidiger während Wartezeiten sich nochmals in ihre Kanzlei begeben oder auswärtige Verteidiger beispielsweise fernmündlich Anweisungen in die Kanzlei übermitteln oder Mandantengespräche führen. Insofern wären auch hier weitergehende - vom Protokoll nicht vorgesehene und praktisch nicht durchführbare - Feststellungen dazu zu treffen, wie der Verteidiger die Wartezeit verbracht hat (vgl. Saarl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20.02.2006 - 1 Ws 5/06, zitiert nach juris, Rdnr. 15). Auch wäre dann beispielsweise bei einer mehrstündigen Verspätung - etwa bei der Vorführung eines Zeugen - fraglich, ob dies dann zu einer mehrstündigen Hauptverhandlung führen kann. Es ist jedenfalls nicht einzusehen, wieso einem Verteidiger, der möglicherweise ortsansässig ist und diese Zeit sinnvoll nutzen kann, der Längenzuschlag nicht gewährt werden soll, einem nicht ortsansässigen - unterstellt, er könnte die Wartezeit nicht sinnvoll nutzen - der Zuschlag jedoch gewährt werden sollte, zumal es in der persönlichen Risikosphäre des Verteidigers liegt, wenn er auswärtige Mandate annimmt.
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Hinzu kommt, dass der bloße Zeitaufwand eines Verteidigers bereits durch die allgemeine Terminsgebühr abgegolten wird, so dass davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber mit dem Längenzuschlag der Nr. 4110 VV-RVG etwas qualitativ anderes abgelten wollte als den bloßen Zeitaufwand (zutreffend Saarl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20.02.2006 - 1 Ws 5/06, zitiert nach juris, Rdnr. 6).
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Insofern ist es konsequent und insbesondere auch zur Vermeidung von Unsicherheiten (vgl. etwa Saarl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 20.02.2006 - 1 Ws 5/06, zitiert nach juris, Rdnr. 11) angezeigt, bei der Frage, ob die 5- bzw. 8-Stundengrenze erreicht ist, grundsätzlich auf deren durch das Hauptverhandlungsprotokoll festgestellten Beginn bzw. Ende abzustellen.
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Es wird nicht verkannt, dass dies zu Situationen führen kann, die aus Sicht eines Verteidigers „unbillig“ erscheinen, beispielsweise wenn der verspätete Beginn der Sitzung auf Gründen beruht, die nicht in seinen Verantwortungsbereich fallen oder er sich in dieser Zeit noch - fallbezogen - mit seinem Mandanten bespricht. Nichts anderes gilt jedoch in dem Fall, in dem eine (pünktlich beginnende) Hauptverhandlung tatsächlich nur 4:59 Stunden andauert. Im Falle der Besprechung eines Verteidigers mit seinem Mandanten könnte dies gebührenrechtlich zudem zu einer - nicht zu rechtfertigenden - Schlechterstellung der Verteidiger führen, die die Besprechung mit ihrem Mandanten nicht unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung führen, sofern eine solche kurzfristige Besprechung nicht ohnehin als verschuldet angesehen würde, was dann jedoch wieder der Beurteilung des jeweiligen Gerichts obläge und zu Einzelfallentscheidungen führen würde.
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Im Sinne der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist es daher aus hiesiger Sicht angezeigt, hinsichtlich des Beginns und des Endes der Hauptverhandlung auf die Daten des Hauptverhandlungsprotokolls abzustellen.
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In vorliegendem Fall konnte mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt bleiben, ob und in welchem Umfang Pausen während einer laufenden Hauptverhandlung bei der Gebührenansetzung zu berücksichtigen sind bzw. außer Betracht zu bleiben haben und ggfls. ab welcher Dauer dies der Fall ist und ob die in der obergerichtliche Rechtsprechung hierzu vertretenen Ansichten praktikabel und der Rechtssicherheit dienlich sind (vgl. zu dieser Problematik etwa OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.09.2006 - III-3 (s) RVG 4/06, 3 (s) RVG 4/06, zitiert nach juris, Rdnr. 19 ff.).
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Im Hinblick auf die hier vertretene Auffassung konnte auch dahinstehen, ob die „zeitliche Inanspruchnahme“ eines Verteidigers als solche durch Wartezeiten vor Beginn der Hauptverhandlung über die Terminsgebühr hinaus (s.o.) weitergehend auch durch die Abwesenheitsgebühr Nr. 7005 VV-RVG kompensiert wird.
III.
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Die Zulassung der Beschwerde beruht auf §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 2 RVG.
Annotations
(1) In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz nicht anzuwenden ist, entstehen Betragsrahmengebühren. In sonstigen Verfahren werden die Gebühren nach dem Gegenstandswert berechnet, wenn der Auftraggeber nicht zu den in § 183 des Sozialgerichtsgesetzes genannten Personen gehört; im Verfahren nach § 201 Absatz 1 des Sozialgerichtsgesetzes werden die Gebühren immer nach dem Gegenstandswert berechnet. In Verfahren wegen überlanger Gerichtsverfahren (§ 202 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes) werden die Gebühren nach dem Gegenstandswert berechnet.
(2) Absatz 1 gilt entsprechend für eine Tätigkeit außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens.
(1) Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Der Vorsitzende stellt fest, ob der Angeklagte und der Verteidiger anwesend und die Beweismittel herbeigeschafft, insbesondere die geladenen Zeugen und Sachverständigen erschienen sind.
(2) Die Zeugen verlassen den Sitzungssaal. Der Vorsitzende vernimmt den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse.
(3) Darauf verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz. Dabei legt er in den Fällen des § 207 Abs. 3 die neue Anklageschrift zugrunde. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 3 trägt der Staatsanwalt den Anklagesatz mit der dem Eröffnungsbeschluß zugrunde liegenden rechtlichen Würdigung vor; außerdem kann er seine abweichende Rechtsauffassung äußern. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 4 berücksichtigt er die Änderungen, die das Gericht bei der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung beschlossen hat.
(4) Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Diese Pflicht gilt auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, soweit sich Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung ergeben haben.
(5) Sodann wird der Angeklagte darauf hingewiesen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ist der Angeklagte zur Äußerung bereit, so wird er nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 zur Sache vernommen. Auf Antrag erhält der Verteidiger in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird, Gelegenheit, vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen eine Erklärung zur Anklage abzugeben, die den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen darf. Der Vorsitzende kann dem Verteidiger aufgeben, die weitere Erklärung schriftlich einzureichen, wenn ansonsten der Verfahrensablauf erheblich verzögert würde; § 249 Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend. Vorstrafen des Angeklagten sollen nur insoweit festgestellt werden, als sie für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wann sie festgestellt werden, bestimmt der Vorsitzende.
(1) Über Erinnerungen des Rechtsanwalts und der Staatskasse gegen die Festsetzung nach § 55 entscheidet das Gericht des Rechtszugs, bei dem die Festsetzung erfolgt ist, durch Beschluss. Im Fall des § 55 Absatz 3 entscheidet die Strafkammer des Landgerichts. Im Fall der Beratungshilfe entscheidet das nach § 4 Absatz 1 des Beratungshilfegesetzes zuständige Gericht.
(2) Im Verfahren über die Erinnerung gilt § 33 Absatz 4 Satz 1, Absatz 7 und 8 und im Verfahren über die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erinnerung § 33 Absatz 3 bis 8 entsprechend. Das Verfahren über die Erinnerung und über die Beschwerde ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.