| |
|
I. Das Amtsgericht Z. hat den vietnamesischen Angeklagten, der im August 2001 als Asylbewerber nach Deutschland einreiste und von Sozialhilfe lebt, mit Urteil vom 01. Juli 2004 wegen Diebstahls zu der Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung ausgesetzt hat. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte am 25. November 2003 in bewusstem und gewollten Zusammenwirken mit zwei unbekannt gebliebenen männlichen Personen in einem Kaufhaus Zigaretten im Gesamtwert von 30 EUR entwendet. Seine Überzeugung von der Täterschaft des die Tat bestreitenden Angeklagten hat das Gericht auf die Angaben eines Belastungszeugen gestützt.
|
|
|
Mit der gegen seine Verurteilung gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge in vollem Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
|
|
|
II. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 5 StPO greift durch. Ihr liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
|
|
|
Der Angeklagte stammt aus Vietnam, hält sich seit August 2001 in Deutschland auf und lebt von Sozialhilfe. Die deutsche Sprache beherrscht er nicht. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist ihm nur in deutscher Sprache mitgeteilt worden. Erst in der Hauptverhandlung ist ihm der Anklagevorwurf mündlich übersetzt worden. Einen Pflichtverteidiger hat das Gericht dem bereits wegen Diebstahls vorbestraften Angeklagten nicht bestellt.
|
|
|
Diese Verfahrensweise verstößt gegen § 338 Nr. 5 StPO. Der Angeklagte war in der Hauptverhandlung ohne den Beistand eines Verteidigers, obwohl seine Mitwirkung gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen wäre. Die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und der Umstand, dass die Anklageschrift dem Angeklagten entgegen Art 6 Abs. 3 a MRK nicht in einer ihm verständlichen Sprache mitgeteilt worden ist und er sich deshalb nicht sachgerecht selbst verteidigen konnte, forderten die Pflichtverteidigerbestellung, deren Unterlassung den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO erfüllt (vgl. BGHSt 15, 306 <307>; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 338 Rdn. 41 m.w.N.).
|
|
|
1. Nach § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO bestellt der Vorsitzende dem Angeklagten auf Antrag oder von Amts wegen unter anderem dann einen Verteidiger, wenn seine Mitwirkung wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. An der Fähigkeit zu angemessener Selbstverteidigung fehlt es schon dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeit oder seiner besonderen persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer angemessenen Verteidigung auszuschöpfen (vgl. Wohlers in: SK StPO § 140 Rdn. 46).
|
|
|
a) Anlass zur Prüfung der Frage, ob der Angeklagte fähig ist, sich ohne den Beistand eines Verteidigers ausreichend selbst zu verteidigen, besteht insbesondere dann, wenn der Angeklagte sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten hat oder aus einem anderen Kulturkreis stammt und mit dem deutschen Rechtssystem nur unzureichend vertraut ist (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 1987, 522; OLG Brandenburg, StV 2000, 69 <70>). Sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten können dazu führen, dass die Bestellung eines Verteidigers eher in Betracht kommt als dies sonst der Fall ist (vgl. BVerfGE 64, 135 <150> m.w.N.).
|
|
|
b) Die Sprachunkundigkeit eines Angeklagten steht der Annahme einer ausreichenden eigenen Verteidigungsfähigkeit freilich nicht ausnahmslos entgegen (vgl. BGHSt 46, 178 <180 f.> m.w.N.; Tolksdorf, in: KK StPO 5. Aufl. § 140 Rdn. 24 m.w.N.). Einer Pflichtverteidigerbestellung bedarf es deshalb nicht, wenn die mit den sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten einher gehenden Beschränkungen durch den Einsatz von Übersetzungshilfen, insbesondere durch die (unentgeltliche) Hinzuziehung eines Dolmetschers, angemessen ausgeglichen werden können.
|
|
|
c) Eine Pflichtverteidigerbestellung wird demgegenüber regelmäßig in den Fällen geboten sein, in denen darüber hinaus der aus § 201 StPO i. V.m. Art. 6 Abs. 3 a) MRK folgende Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf rechtzeitige Bekanntgabe der Anklageschrift unter Beifügung einer Übersetzung in einer ihm verständlichen Sprache verletzt worden ist.
|
|
|
aa) Nach einhellig in Rechtsprechung und Schrifttum vertretener Ansicht hat der Angeschuldigte gemäß § 201 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 a MRK einen Rechtsanspruch auf Bekanntgabe der Anklageschrift mit einer Übersetzung in einer ihm verständlichen Sprache (vgl. KG, StV 1994, 90; Brandenburgisches OLG, StV 2000, 69 f.; OLG Düsseldorf, StV 2001, 498; OLG Hamm, StV 2004, 364; Gollwitzer, in: LR StPO Art. 6 MRK Rdn. 172; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. Art. 6 MRK Rn. 18 m.w.N., Tolksdorf, in: KK StPO 5. Aufl. § 201 Rdn. 4; Seidl, in: KMR § 201 Rdn. 4; Paeffgen, in: Systematischer Kommentar zur StPO § 201 Rdn. 5 m.w.N.; Kühne, StV 1994, 66 f.). Dieser gesetzlichen Lage trägt Nr. 181 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Rechnung, der in seinem Absatz 2 die Pflicht statuiert, einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Ausländer Ladungen, Haftbefehle, Strafbefehle, Anklageschriften und sonstige gerichtliche Sachentscheidungen mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache bekannt zu geben. Die Mitteilung der Anklageschrift in einer ihm verständlichen Sprache sichert nicht nur den Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Zwischenverfahren (vgl. Seidl, in: KMR § 201 Rdn. 1). Sie gewährleistet darüber hinaus auch, dass er - frühzeitig - von dem Anklagevorwurf der Staatsanwaltschaft Kenntnis erhält und seine Verteidigung daher auf den konkreten Tatvorwurf und die Beweislage einrichten kann. Die vollständige und frühzeitige Information über den Anklagevorwurf und die Beweislage dient der Herstellung von „Waffengleichheit“ zwischen der Staatsanwaltschaft einerseits und dem Angeschuldigten andererseits und ist für ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren essentiell (vgl. EGMR, NJW 1999, 3545 <3546>) und daher auch in sachlich oder rechtlich einfach gelagerten Fällen unerlässlich (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 1991, 504; StraFo 2002, 193 <194>; OLG Hamm, StV 2004, 364 f.; OLG Düsseldorf, StV 2001, 498; Landgericht Heilbronn, StV 1987, 192 <193> für das Bußgeldverfahren; einschränkend HansOLG Hamburg, StV 1994, 65 <66>; OLG Düsseldorf, NJW 2003, 2766 <2767>).
|
|
|
bb) Unterbleibt die gebotene Mitteilung der Anklageschrift in einer dem Angeschuldigten verständlichen Sprache, so kann dieser im Zwischenverfahren geschehene - schwere - Verfahrensfehler im weiteren Verfahren insbesondere durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ausgeglichen werden (vgl. Beschluss des 3. Strafsenats des OLG Karlsruhe vom 17.10.2002, StV 2002, 299 <300>). Die mündliche Übersetzung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung genügt hierfür regelmäßig nicht (OLG Hamm, StV 2004, 364 f.; a.A. HansOLG Hamburg, StV 1994, 65 obiter dictu; OLG Düsseldorf, NJW 2003, 2766 <2767>).
|
|
|
2. Das Amtsgericht hätte dem sprachunkundigen Angeklagten daher für die Hauptverhandlung auch ohne entsprechenden Antrag von Amts wegen einen Pflichtverteidiger beiordnen müssen, zumal die Beweislage rechtlich schwierig war, nachdem der Angeklagte den Tatvorwurf bestritten hat und letztlich Aussage gegen Aussage stand, so dass der Angeklagte nicht zuletzt zur sachgerechten Ausübung seines Fragerechts - einschließlich möglicher Vorhalte früherer Vernehmungen aus den Akten - des Beistands eines Verteidigers bedurfte.
|
|
|
3. Das Urteil war daher bereits wegen des Vorliegens des absoluten Revisionsgrunds des § 338 Nr. 5 StPO aufzuheben, ohne dass es auf die von der Revision weiter erhobenen Rügen, die sich aus den von der Generalstaatsanwaltschaft genannten Gründen gleichfalls als begründet erwiesen hätten, aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Karlsruhe zurückzuverweisen.
|
|
|
III. Zu dem an das Amtsgericht gerichteten Antrag vom 09.09.2004, dem Angeklagten Rechtsanwalt H. aus U. als Pflichtverteidiger beizuordnen (Bl. 191), bemerkt der Senat:
|
|
|
Für diesen Antrag ist der Vorsitzende des Gerichts zuständig, dessen Urteil angefochten wurde (vgl. BGHR StPO § 141 Bestellung 3; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 141 Rdn. 6 m.w.N.). Eines Zuwartens mit der Entscheidung über die Revision bedurfte es jedoch nicht; ein Nachschieben weiterer Verfahrensrügen wäre wegen des Ablaufs der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO) unzulässig.
|
|