Recht auf Vergessen I - BVerfG bejaht den Auslistungsanspruch des Beschwerdeführers
Stellen Sie sich vor, ein Bekannter von hat ein Verbrechen begangen, über das seiner Zeit in der Öffentlichkeit berichtet worden ist. Nachdem der Täter viele Jahre später aus dem Gefängnis entlassen wird, fällt es ihm schwer, sich erneut in die Gesellschaft zu integrieren und sich ein neues Leben aufzubauen, denn die Öffentlichkeit ist über seinen damaligen Fehltritt noch bestens informiert: Der Internetuser erhält bei Eingabe seines Namens auf den Suchmaschinen als erstes Suchergebnis eine detaillierte Schilderung über die sich damals ereignete Tat. Ihr Bekannter denkt sich, er habe seine Tat „abgesessen“ und ein Recht darauf, ein neues Leben zu beginnen. Doch ist das wirklich so?
Der Betroffene könnte hier einen Anspruch auf das Recht auf „Vergessenwerden“ geltend machen. Aber was ist dieses Recht auf Vergessenwerden eigentlich?
Das Recht auf „Vergessenwerden“stellt die Möglichkeit des Bürgers dar, über seine eigenen digitalen Spuren im Internet frei zu bestimmen – Darunter fällt insbesondere das Auslistungsbegehren des Bürgers , d. h. das Begehren, gewisse persönliche Inhalte aus dem Netz löschen zu lassen und damit die digitalen Spuren zu beseitigen. Es handelt sich hier um Personendaten im Internet, über die der Betroffene keine Kontrolle hat und mithin solche auch nicht eigenständig löschen kann.
Das Recht auf Vergessen stellt aber kein absolutes Recht dar, d.h. es gibt kein automatisches Recht auf Vergessenwerden im Internet. Im Einzelfall können auch andere Interessen, wie etwa das Öffentlichkeitsinteresse, von Belang sein. Eine sorgfältige Interessenabwägung ist dann erforderlich.
Was sagen Sie - sollte man ihm in diesem Fall ein Recht auf Vergessenwerden zusprechen, welches ihm eine Löschung dieser Artikel aus den Suchmaschinen garantiert? Oder könnten in der Interessenabwägung gar andere Interessen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen überwiegen? Die Antwort hierauf lesen Sie im folgenden Artikel.
Worum ging es? – Mord auf einer Yacht
Gegenstand dieser Entscheidung war ein Mordfall aus dem Jahr 1981 - Der Beschwerdeführer hatte auf hoher See am Bord einer Yacht zwei Menschen erschossen.
Über dieses Verbrechen berichtete der Spiegel in den Jahren 1982 und 1983. Im Jahr 1999 stellte Spiegel Online die Berichte in einem Online-Archiv zum Abruf bereit. Im Jahr 2002 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Noch Jahre später wurde durch Namenseingabe des Täters die Artikel auf der ersten Seite der Suchergebnisse angezeigt - Hiergegen wandte sich der Kläger. Dies begründete er mit einer Verletzung seines Allgemeinen Persönlichkeitsrechtes aus Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG – Er habe sich von der Tat distanziert und die Auffindbarkeit der alten Berichte beeinträchtigten ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit in erheblichem Maße. Der Bundesgerichtshof wies die Klage ab, mit der Begründung, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers überwiege.
BVerfG begründet Auslistungsanspruch – Privatsphäre des Betroffenen überwiegt der Meinungs- und Pressefreiheit des Verlags aus Art. 5 I GG
Das Bundesverfassungsgericht schätzte die Situation anders als der BGH ein und stellte vielmehr fest, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg hatte. Es hat zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gem. Art 2 I i. V. m. 1 I GG und der Meinungs- und Pressefreiheit des Verlags aus Art. 5 I GG abgewogen.
Nach Ansicht des Gerichtes habe jeder Bürger ein Recht darauf, sich von früheren Fehlern zu distanzieren – Die Rechtsordnung müsse dem Grundsatz nach gewährleisten, dass sich eine Person frühere Handlungen nicht unbegrenzt vorhalten lassen muss. Dennoch wird den Betroffenen nicht die Entscheidungsbefugnis zugesprochen, welche Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und welche hingegen nicht. Bei der Berichterstattung über Verbrechen sei die Namensnennung des Täters durchaus zulässig, insbesondere wenn es ein rechtskräftiges Urteil gibt. Vielmehr sei auch die Bedeutung der Online-Archive zu berücksichtigen: die Information der Öffentlichkeit. Die Archive bilden eine bedeutsame Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen und damit natürlich auch für die demokratische Debatte. Dennoch gehöre die Möglichkeit des Vergessens zur Zeitlichkeit der Freiheit, so das Bundesverfassungsgericht.
Das Schutzbedürfnis der Privatsphäre des Betroffenen überwiegt nach Ansicht des Gerichtes im vorliegenden Fall – Der Verlag musste die Artikel demzufolge löschen.
Das BVerfG begründete, dass ein Verlag anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte in ein Online-Archiv einstelle und auch dauerhaft zum Abruf bereithalten darf, ohne sie auf ihre weitere Rechtmäßigkeit prüfen zu müssen. Schutzmaßnahmen können dennoch dann erforderlich sein, wenn Betroffene bereits mit dem Verlag kommuniziert und ihre Schutzbedürftigkeit deutlich gemacht haben. Diese müsse im Einzelfall umfassend geprüft werden. Nach Ansicht des Gerichts seien im Einzelfall Abstufungen von Schutzmaßnahmen möglich, die für die Anbieter zumutbar sein müssten. Bestrebenswert sei eine Art Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst erhalte, diesen auf entsprechenden Schutzbedarf hin (insb. ggü. namensbezogene Suchabfragen) aber einzelfallbezogen hinreichend begrenze.
Der Nachrichtenverlag hätte die Auffindbarkeit der Artikel über Online-Namenssuchen vielmehr erschweren müssen, da die Tat nun schon so lange verstrichen war.
Sie sehen, liebe Leser, in diesem Fall wurde dem Betroffenen ein Recht auf Vergessenwerden zugesprochen. Doch dies ist allerdings nicht die Regel: Im Fall Recht auf Vergessen II (1 BvR 276/17) wurde der Betroffenen kein Recht auf Vergessenwerden zugesprochen, obwohl die Tat schon 7 Jahre verstrichen war: An der Tat bestand noch ein fortbestehendes öffentliches Interesse.
Kritik – (Zu?) strenge Pflichten für Verläge
Schlussendlich lässt sich feststellen, dass das BVerfG die zeitlich unbegrenzte Aufrufbarkeit-auch ursprünglich rechtmäßiger – von Altmeldungen in Einzelfällen für verfassungsrechtlich problematisch einschätzt. Die Online-Namenssuche muss in gewisser Hinsicht erschwert werden, insb., wenn die Tat schon so lange verstrichen ist. Dennoch sollen Löschungsverlangen von Betroffenen nicht pauschal bejaht werden – ein solches Verhalten würde eine ungewollte Existenzgefährdung von Online-Archiven der Verläge begründen. Inhalteanbieter und Suchmaschinenbetreiber müssen demnach auch nicht von sich aus und ohne gewissen Anlass Archive und mögliche Trefferlisten nach eventuell überholten Altmeldungen durchsuchen – wenn aber ein Betroffener gewisse Altmeldungen unter Berufung auf den Zeitfaktor beanstandet, muss gehandelt werden.
Nur im Einzelfall werden solche Beanstandungen Betroffener Erfolg haben. Hauptanwendungsfälle bleiben wohl Altmeldungen über lange zurückliegende und verbüßte Straftaten. In welchen weiteren Fällen Löschungs- oder Auslistungsansprüche möglich sind, bleibt ungeklärt. Dies gilt auch für die Frage, wie viel Zeit verstrichen werden muss, um ein Anspruch auf Vergessen zu begründen – Denn im Fall von Recht auf Vergessen II reichten 7 verstrichene Jahre nicht aus, um einen Auslistungsanspruch zu begründen.
Wie setzen Verläge bei ihren Online-Archiven eine ggf. erforderliche punktuelle Zugriffssperre in zumutbarer Weise technisch um? Bzw. wie lässt sich ein solcher angesprochener Ausgleich durchsetzen, der zwar einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext erhalte, diesen auf den entsprechenden Schutzbedarf des Betroffenen aber einzelfallbezogen begrenzen?
- Verläge werden hier vor Herausforderungen gestellt, dessen Umsetzung sie kaum erfüllen können. Weitere höchstrichterliche Entscheidungen sind notwendig, um diese Lücken zu füllen, damit sich die Verläge ihren Pflichten bezüglich Altmeldungen hinreichend bewusst werden können.
Auslistungsanspruch zu Recht bejaht - Relevanz des Recht auf Vergessenwerden
Durch die Digitalisierung wurde das Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen grundlegend verändert: Informationen stehen dauerhaft zur Speicherung bereit, sind leicht abrufbar sowie weltweit verfügbar – und das für jedermann. Ein perfektes digitales Gedächtnis kann also eine Gefährdung des Persönlichkeitsrechtes darstellen, denn es würde die freie Entfaltung und ungehinderte Weiterentwicklung sowie die Möglichkeit eines vollständigen Neuanfangs des Bürgers gefährde. Durch das Recht auf Vergessenwerden wird dem Bürger „einfach gesagt“ das Recht verliehen, seine eigene Privatsphäre im Internet zu schützen. Das ist wichtig – Unser Gehirn vergisst, um Platz für neue Informationen zu schaffen, die es dann aufnehmen kann. Das Internet vergisst aber nicht. So kursieren im Internet auch noch Altmeldungen herum, die einer Person schaden können, obwohl das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit der Zeit wohlmöglich der Privatsphäre des Betroffenen unterliegt. Im Einzelfall ist der Betroffene schützenswerter als der Verlag oder der Suchmaschinenbetreiber, der die Altmeldung noch immer zum Abrufen bereitstellt. In solchen Fällen ist es wichtig, dass der Bürger zumindest prüfen lassen kann, ob ihm ein solcher Auslistungsanspruch zusteht – Niemand sollte sich dauerhaft Fehltritte oder unliebsame Veröffentlichungen vorhalten lassen müssen. So ist es auch legitim, dass dem Beschwerdeführer ein Auslistungsanspruch zugesprochen worden ist, um nach seinem Gefängnisaufenthalt und einem „Absitzen der Tat“ ein neues Leben zu beginnen.
Haben Sie Fragen zum Thema Recht auf Vergessenwerden? Nehmen Sie Kontakt zu Patrick Jacobshagen auf und lassen Sie sich fachkundig beraten.
[E.K.]
Das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 16/13) hat am 6. 11 2019 folgendes beschlossen:
Verbreitung personenbezogener Berichte durch Suchmaschinen – Recht auf Vergessen I
1. a) Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht prüft das BVerfG primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient.
b) Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten fachrechtliche Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, sondern Grundrechtsvielfalt zulässt.
Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist.
c) Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen.
2. a) Der verfassungsrechtliche Maßstab für den Schutz gegenüber Gefährdungen durch die Verbreitung personenbezogener Berichte und Informationen als Teil öffentlicher Kommunikation liegt in den äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nicht im Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
b) Bei der Entscheidung über einen Schutzanspruch kommt der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets ein spezifisches Gewicht zu. Die Rechtsordnung muss davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffnet den Einzelnen die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Zur Zeitlichkeit der Freiheit gehört die Möglichkeit des Vergessens.
c) Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt kein Anspruch, alle personenbezogenen Informationen, die im Rahmen von Kommunikationsprozessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet entfernen zu lassen. Insbesondere gibt es kein Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten.
d) Für den Grundrechtsausgleich zwischen einem Presseverlag, der seine Berichte in einem Onlinearchiv bereitstellt, und den durch die Berichte Betroffenen ist zu berücksichtigen, wieweit der Verlag zum Schutz der Betroffenen die Erschließung und Verbreitung der alten Berichte im Internet – insbesondere deren Auffindbarkeit durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen – tatsächlich verhindern kann.
3. Von den äußerungsrechtlichen Schutzdimensionen ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als eine eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu unterscheiden. Auch dieses kann im Verhältnis zwischen Privaten Bedeutung entfalten. Seine Wirkungen unterscheiden sich hier von denen unmittelbar gegenüber dem Staat. Es gewährleistet hier die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich sind und von ihnen genutzt werden, und so über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substanziell mitzuentscheiden.
BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 16/13
Zum Sachverhalt
Der Bf. wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er 1981 an Bord einer Yacht auf hoher See zwei Menschen erschossen hatte. Über den Fall veröffentlichte das Magazin Der Spiegel 1982 und 1983 unter Auseinandersetzung mit der Person des namentlich genannten Bf. drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die bekl. Spiegel Online-GmbH die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Bf. in einem gängigen Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.
Nachdem der 2002 aus der Haft entlassene Bf. erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröffentlichung erlangt hatte, erhob er nach erfolgloser Abmahnung Unterlassungsklage mit dem Antrag, es der Bekl. zu untersagen, über die Straftat unter Nennung seines Familiennamens zu berichten. Der BGH (GRUR 2013, 200) wies im Gegensatz zu den Vorinstanzen die Klage ab. Im Streitfall habe das Interesse des Bf. am Schutz seiner Persönlichkeit hinter dem von der Bekl. verfolgten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung zurückzutreten.
Auf die Verfassungsbeschwerde hin stellte das BVerfG fest, dass das Urteil des BGH den Bf. in seinem Grundrecht aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG verletzt.
Aus den Gründen
B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Ausführungen zur Statthaftigkeit und zur Beschwerdebefugnis sind abrufbar unter BeckRS 2019, 29201.)
Die Verfassungsbeschwerde ist unabhängig davon zulässig, ob die für den Rechtsstreit maßgeblichen Regelungen in Blick auf ursprünglich die Datenschutz-RL 95/46/EG und heute die Datenschutz-Grundverordnung als Durchführung des Unionsrechts zu beurteilen sind und deshalb neben den Grundrechten des Grundgesetzes möglicherweise zugleich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geltung beansprucht (vgl. Art. 51 I 1 GRCh). Denn jedenfalls fällt die hier umstrittene Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken in den Bereich des so genannten Medienprivilegs. Für dessen Ausgestaltung stand den Mitgliedstaaten damals nach Art. 9 DSRL 95/46/EG und steht ihnen heute nach Art. 85 DS-GVO ein Umsetzungsspielraum zu. Es handelt sich damit nicht um die Anwendung von vollständig determiniertem Unionsrecht. In solchen Fällen steht das Unionsrecht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde von vornherein nicht entgegen (vgl. BVerfGE 121, 1 [15] = NVwZ 2008, 543; BVerfGE 125, 260 [306 f.] = NJW 2010, 833; stRspr). Das gilt auch dann, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass Unionsgrundrechte für den Einzelfall anwendbar sind und sich daraus zu beachtende Anforderungen ergeben können. Solchen ist im Rahmen der materiellen Prüfung Rechnung zu tragen.
C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Bf. ist durch die angegriffene Entscheidung des BGH in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt (Art. 2 I iVm Art. 1 I GG).
I. Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sind die Grundrechte des Grundgesetzes. Das gilt unabhängig davon, ob der BGH in der angegriffenen Entscheidung fachrechtliche Regelungen zu berücksichtigen hatte, die sich als Durchführung von Unionsrecht iSv Art. 51 I 1 GRCh erweisen.
1. Das BVerfG prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist. Das ergibt sich schon aus Art. 1 III, 20 III und 93 I Nr. 4 aGG. Die Bindung an die Grundrechte ist danach ein Korollar der politischen Entscheidungsverantwortung, entspricht also der jeweiligen legislativen und exekutiven Verantwortung. Die Beachtung der Grundrechte bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung haben die deutschen Gerichte und insbesondere das BVerfGzu gewährleisten.
2. Das schließt nicht aus, dass daneben im Einzelfall auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geltung beanspruchen kann. In Betracht kommt das freilich nur im Rahmen der unionsrechtlichen Verträge und damit dann, wenn nach Art. 51 I 1 GRCh die „Durchführung von Unionsrecht“ in Frage steht. Hierdurch wird der innerstaatliche Anwendungsbereich der Charta bewusst begrenzt gehalten und der Grundrechtsschutz sonst – auf der gemeinsamen Grundlage der EMRK – den Mitgliedstaaten und ihren innerstaatlichen Grundrechtsverbürgungen überlassen. Die Charta errichtet so keinen umfassenden Grundrechtsschutz für die gesamte Europäische Union, sondern erkennt schon mit der Begrenzung ihres Anwendungsbereichs föderative Vielfalt (vgl. Art. 4 II 1 EUV; s. auch Art. 23 I 1 GG) für die grundrechtlichen Gewährleistungen an. Einer gleichzeitigen Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte neben den Grundrechten des Grundgesetzes sind damit Grenzen gesetzt. Dies darf auch durch eine übermäßig weite Auslegung des Art. 51 I 1 GRCh nicht unterlaufen werden (vgl. BVerfGE 133, 277 [316] = NJW 2013, 1499 Rn. 91).
Die Begrenzung des Anwendungsbereichs der Charta hindert umgekehrt aber nicht, dass innerstaatliche Regelungen auch dann als Durchführung des Unionsrechts iSd Art. 51 I 1 GRCh zu beurteilen sein können, wenn für deren Gestaltung den Mitgliedstaaten Spielräume verbleiben, das Unionsrecht dieser Gestaltung aber einen hinreichend gehaltvollen Rahmen setzt, der erkennbar auch unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll. Die Unionsgrundrechte treten dann zu den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes hinzu. Die Bindungskraft des Grundgesetzes stellt das grundsätzlich nicht infrage.
3. Auch soweit Unionsgrundrechte danach gem. Art. 51 I 1 GRCh zu denen des Grundgesetzes hinzutreten, übt das BVerfG seine Prüfungskompetenz primär am Maßstab des Grundgesetzes aus (s. aber unten Rn. 63 ff.).
Dies entspricht zunächst der allgemeinen Funktion des BVerfG und seiner verfassungsrechtlichen Einbindung in den europäischen Integrationsprozess (a). In Blick auf die näheren Anforderungen des Unionsrechts kann es sich dabei darauf stützen, dass im Rahmen gestaltungsoffener Regelungen regelmäßig auch grundrechtlich Raum für Vielfalt eröffnet ist und vermutet werden kann, dass insoweit der Schutz der deutschen Grundrechte das Schutzniveau der Charta mitgewährleistet (b). Die primäre Anwendung der deutschen Grundrechte schließt ihrerseits deren Auslegung auch im Lichte der Charta ein (c).
a) Die Prüfung von Akten der deutschen öffentlichen Gewalt anhand des Grundgesetzes entspricht der allgemeinen Funktion des BVerfG, dessen Aufgabe gerade die Wahrung des Grundgesetzes ist. Insbesondere ergibt sich das aber auch aus Art. 23 I GG in Verbindung mit den Verträgen der Europäischen Union. Art. 23 I GG verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland auf die Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union, die auf föderative Grundsätze und das Prinzip der Subsidiarität verpflichtet ist. Dem entsprechen die europäischen Verträge und die Rechtsprechung des EuGH.
Sowohl die Präambel des Unionsvertrags als auch diejenige der Grundrechte-Charta anerkennen die Vielfalt der Kulturen und Traditionen (vgl. Präambel, III GRCh; Präambel, VI EUV), und ebenso findet der Respekt vor der Vielgestaltigkeit des Grundrechtsschutzes in Art. 51 I, II, 52 IV, VI und 53 GRCh seinen Ausdruck. Nähere Ausgestaltung erfährt dies in Art. 5 III EUV, der den Grundsatz der Subsidiarität zu den Grundprinzipien der Europäischen Union erklärt, was in Art. 51I 1 GRCh für den Grundrechtsschutz ausdrücklich aufgenommen wird. Diese vertraglich garantierte Vielgestaltigkeit des Grundrechtsschutzes findet Unterstützung und Absicherung in der Rechtsprechung des EuGH. Indem dieser auch im Anwendungsbereich der Charta die Anwendung nationaler Schutzstandards anerkennt, wenn Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden, hält er den Mitgliedstaaten dort, wo ihnen durch das Fachrecht der Union Gestaltungsspielräume eröffnet sind und dieses somit selbst Vielfalt vorsieht, die Möglichkeit offen, ihre eigenen grundrechtlichen Standards zur Geltung zu bringen. Allerdings ist dabei dafür Sorge zu tragen, dass das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, nicht beeinträchtigt wird (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2013:105 = NJW 2013, 1415 Rn. 29 – Åkerberg Fransson; s. auch EuGH ECLI:EU:C:2013:107 = NJW 2013, 1215 Rn. 60 – Melloni; EuGH ECLI:EU:C:2019:624 = GRUR 2019, 929 Rn. 80 f. – Pelham ua). Dies ist bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle am Maßstab der Grundrechtezu berücksichtigen (s. näher unten Rn. 63 ff.).
b) Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes im Bereich der Durchführung des Unionsrechts (vgl. Art. 51 I 1 GRCh) stützt sich darauf, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt (aa), und auf die Vermutung, dass dort ein auf Vielfalt gerichtetes grundrechtliches Schutzniveau des Unionsrechts durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (bb).
aa) Belässt der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten für die Umsetzung des Unionsrechts Gestaltungsspielräume, ist davon auszugehen, dass dies auch für den Grundrechtsschutz gilt. Es kann hier regelmäßig angenommen werden, dass das europäische Grundrechtsschutzniveau innerhalb eines äußeren unionsrechtlichen Rahmens Grundrechtsvielfalt zulässt.
(1) Soweit es um Regelungsbereiche geht, für die den Mitgliedstaaten unionsrechtlich ein Umsetzungsspielraum zukommt und die damit unterschiedlicher Gestaltung unterliegen, zielt das nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGHECLI:EU:C:2013:105 = NJW 2013, 1415 Rn. 29 – Åkerberg Fransson; EuGHECLI:EU:C:2019:624 = GRUR 2019, 929 Rn. 80 f. – Pelham ua) zu wahrende Schutzniveau der Charta regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes. Vielmehr richtet sich der Umfang, in dem Raum für verschiedene Wertungen der Mitgliedstaaten besteht, hier maßgeblich nach dem unionsrechtlichen Fachrecht. So verpflichtet der Gerichtshof die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung des Medienprivilegs zwar, die Einschränkung der Privatsphäre natürlicher Personen auf Zwecke zu begrenzen, die unter die Freiheit der Meinungsäußerung fallen, sieht jedoch die Frage, wie diese Grundrechte in Einklang gebracht werden, als Aufgabe der Mitgliedstaaten an (vgl. EuGHECLI:EU:C:2008:727 = EuZW 2009, 108 Rn. 52 ff. – Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia; auch EuGH ECLI:EU:C:2019:122 = NJW 2019, 2451 Rn. 48 ff. – Buivids). Damit entnimmt der EuGH der Charta für das insoweit gestaltungsoffene Fachrecht ein Schutzniveau, das – anders als für vollvereinheitlichte Regelungsbereiche – hier nur einen weiten Rahmen vorgibt. Es kann angenommen werden, dass sich ein auf den grundrechtlichen Schutz der Privatsphäre und der Meinungsfreiheit beschränkter Ausgleich der gegenläufigen Interessen regelmäßig innerhalb dieses Rahmens hält.
Entsprechend verlangt er, dass Richtlinien im Lichte der maßgeblichen Grundrechte der Charta auszulegen sind, anerkennt aber bei einer inhaltlichen Offenheit der Richtlinien weitgehende Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten, soweit hiermit die Richtlinien und die mit ihnen geschützten grundrechtlichen Interessen nur nicht ausgehöhlt werden (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2011:508 = NVwZ 2011, 1249 Rn. 61 unter Bezug auf Art. 15 I GRCh = NJW 2011, 2781 Ls. – Fuchs ua; EuGH ECLI:EU:C:2014:2 = NZA 2014, 193 Rn. 26 f. – Association de médiation sociale; vgl. weite Spielräume auch in EuGH ECLI:EU:C:2008:85 = EuZW 2008, 177 Rn. 41 ff. – Dynamic Medien; EuGH ECLI:EU:C:2014:2005 = NZA 2014, 831 Rn. 46 ff. – Specht ua; EuGH ECLI:EU:C:2014:2359 = NVwZ-RR 2015, 43 Rn. 38 – Schmitzer; EuGH ECLI:EU:C:2017:203 = NJW 2017, 1087 Rn. 34 ff. – G4S Secure Solutions). In diesem Sinne werden dort, wo der Gerichtshofdem Fachrecht einen weiten Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten entnimmt, die grundrechtlichen Maßstäbe, insbesondere auch der Verhältnismäßigkeit, grobmaschig darauf beschränkt, dass die Maßnahmen nicht „unvernünftig“ sein dürfen (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2007:604 = NJW 2007, 3339 Rn. 68 ff. – Palacios de la Villa; EuGH ECLI:EU:C:2010:601 = NJW 2010, 3767 Rn. 41, 51, 69 – Rosenbladt).
Das unionsrechtliche Fachrecht bestimmt den Grad der unmittelbar fachrechtlichen Vereinheitlichung. Es kann dabei für die Umsetzung mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume grundrechtliche Maßgaben enthalten (vgl. EuGHECLI:EU:C:2013:105 = NJW 2013, 1415 Rn. 29 – Åkerberg Fransson; EuGH ECLI:EU:C:2019:624 = GRUR 2019, 929 Rn. 80 f. – Pelham ua), die jedoch nach dem Subsidiaritätsgrundsatz (oben Rn. 48) regelmäßig Grundrechtsvielfalt zulassen. Insoweit ist das Verhältnis zwischen Fachrecht und Grundrechten im Unionsrecht weniger statisch als nach der deutschen Verfassung. Dies ergibt sich aus dem dynamischen Anwendungsbereich der Charta, der nach Art. 51 I 1 GRCh wegen der Anknüpfung an die „Durchführung von Unionsrecht“ von dem Grad der fachrechtlichen Vereinheitlichung abhängig ist, und findet auch in der institutionellen Ausgestaltung des EuGH seinen Ausdruck, der Fachrecht und Grundrechte gleichermaßen prüft. Der Unionsgesetzgeber legt so den Rahmen für die Anwendung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer föderativen Balance fest. Dieser Rahmen hat damit seine Grundlage in politisch verantworteten Entscheidungen, die dem Subsidiaritätsprinzip genügen müssen.
(2) In dieser dynamischen, fachrechtsakzessorischen Anlage der Unionsgrundrechte, wie sie von Art. 51 I 1 GRCh vorgegeben ist und von der Rechtsprechung des EuGH weiter entfaltet wurde, konkretisiert sich die Vielgestaltigkeit des europäischen Grundrechtsschutzes als Strukturprinzip der Union (vgl. Präambel, III GRCh; Präambel, VI EUV; vgl. des Weiteren Nachweise oben Rn. 48). Zugleich liegt in ihr die Anerkennung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art. 5 III EUV). Entsprechend respektierte der Gerichtshof schon in Bezug auf die grundrechtsgleichen allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes Freiräume der Mitgliedstaaten für die Berücksichtigung der jeweiligen unterschiedlichen Umstände (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2004:614 = NVwZ 2004, 1471 Rn. 31 ff. = NJW 2005, 736 Ls. – Omega Spielhallen) und anerkannte – unter Rückgriff auf die margin of appreciation-Rechtsprechung des EGMR – einen Spielraum für die Beurteilung, ob ein Grundrechtseingriff im rechten Verhältnis zu dem erstrebten Ziel steht (so EuGH ECLI:EU:C:2001:127 = BeckRS 2001, 31031657 Rn. 48 ff. – Connolly). Weiterhin liegt nahe, dass dort, wo schon das unionsrechtliche Fachrecht Vielfalt vorsieht, auch Art. 53 GRCh dahin zu verstehen ist, dass grundrechtliche Wertungskonflikte im Grundsatz auf der Grundlage der jeweils mitgliedstaatlichen Grundrechte gelöst werden können, und auch diese Vorschrift das Schutzniveau der Charta – anders als bezüglich vollständig vereinheitlichter Regelungen (vgl. EuGHECLI:EU:C:2013:107 = NJW 2013, 1215 Rn. 57 ff. – Melloni) – für Vielfalt öffnet (vgl. dazu Borowsky in Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014, Art. 53 Rn. 14 a; Franzius, ZaöRV 2015, 383 [395 ff.]; Grabenwarter in Schumann, Hierarchie, Kooperation und Integration im Europäischen Rechtsraum, 2015, 129 [142]).
bb) Wenn danach regelmäßig anzunehmen ist, dass das Fachrecht, soweit es den Mitgliedstaaten Spielräume eröffnet, auch für die Gestaltung des Grundrechtsschutzes auf Vielfalt ausgerichtet ist, kann sich das BVerfG auf die Vermutung stützen, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist.
(1) Getragen ist diese Vermutung von einer übergreifenden Verbundenheit des Grundgesetzes und der Charta in einer gemeinsamen europäischen Grundrechtstradition. Wie schon die grundrechtsgleichen allgemeinen Rechtsgrundsätze, die der EuGH zunächst richterrechtlich entwickelt hatte (vgl. nur EuGHECLI:EU:C:2003:333 = NJW 2003, 3185 Rn. 71 – Schmidberger), stützt sich auch die Charta auf die verschiedenen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (vgl. Präambel V 1, Art. 52 IV GRCh). Sie führt diese zusammen, baut sie aus und entfaltet sie als Maßstab für das Unionsrecht.
Dabei ist von Bedeutung, dass die verschiedenen mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen heute ihrerseits ein gemeinsames Fundament in der EMRK haben, auf das sich schon die Vertragsgrundlagen der Union selbst sowie die Grundrechte-Charta ihrerseits stützen. Sowohl Art. 6 III EUV als auch die Präambel der Charta nehmen ausdrücklich auf sie Bezug. Über Art. 52 III, 53 GRChwerden ihre Garantien in die Grundrechte-Charta der Sache nach weithin inkorporiert. Für die Mitgliedstaaten liegt in ihr ein übergreifendes gemeinsames Fundament des Grundrechtsschutzes. Die Konvention ist ein verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag, den nicht nur alle Mitgliedstaaten mit innerstaatlicher Wirkung umgesetzt haben, sondern dem durch den Europarat und insbesondere den EGMR auch besondere Wirksamkeit verliehen wird. Die Europäische Union selbst ist der Konvention zwar noch nicht, wie vertraglich in Art. 6 II EUV vorgesehen, beigetreten. Sie bildet jedoch für die Auslegung der Charta eine maßgebliche Richtschnur und wird in Einklang mit Art. 52 III 1 GRCh und unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR vom EuGH für die Auslegung der Charta herangezogen (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2014:238 = NJW 2014, 2169 Rn. 54 f. – Digital Rights Ireland und Seitlinger ua; EuGH ECLI:EU:C:2015:535 = EuZW 2015, 838Rn. 46 – Inuit Tapiriit Kanatami ua; EuGH ECLI:EU:C:2017:203 = NJW 2017, 1087 Rn. 27 – G4S Secure Solutions; EuGH ECLI:EU:C:2017:213 = NVwZ 2017, 777 Rn. 37 f. – Al Chodor ua).
Wie die Auslegung der Charta eine maßgebliche Grundlage in der EMRK hat, werden auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der EMRK ausgelegt. Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus Art. 1 II, 59 II GG die Pflicht, die EMRK und ihre Auslegung durch den EGMR bei der Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen. Hieraus folgt zwar kein unmittelbarer Verfassungsrang der Konvention; auch verlangt die Heranziehung der Konvention als Auslegungshilfe keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit deren Gewährleistungen, sondern nur ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist (vgl. BVerfGE 111, 307 [315 ff.] = NJW 2004, 3407; BVerfGE 128, 326 [366 ff.] = NJW 2011, 1931; BVerfGE 131, 268 [295 f.] = NJW 2012, 3357; BVerfGE 148, 296 [355] = NJW 2018, 2695 Rn. 133). Jedoch wird hierin deutlich, dass die Grundrechte des Grundgesetzes ebenso wie die der Charta auf der Basis der EMRK verstanden und angewendet werden und deren Gewährleistungen grundsätzlich in sich aufnehmen.
(2) Angesichts des gemeinsamen Fundaments in der EMRK kann für Regelungsbereiche, in denen das Unionsrecht selbst keine Einheitlichkeit verlangt, davon ausgegangen werden, dass die Grundrechte des Grundgesetzes auch das Schutzniveau der Charta mitgewährleisten. Solche Wechselwirkungen zwischen Charta, Konvention und mitgliedstaatlichen Verfassungen als Grundlage eines für Vielfalt geöffneten, aber doch durch einen gemeinsamen Grund unterfangenen Grundrechtsschutzes finden besonders deutlich in Art. 52 III, IV GRCh ihren Ausdruck, wonach die Rechte der Charta „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben wie entsprechende Rechte der Konvention, und ihre Gewährleistungen in Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen auszulegen sind, aus denen sie sich ergeben.
Dem steht nicht entgegen, dass die Charta zum Teil auch Rechte ohne Entsprechung in der Konvention kennt und nach Art. 52 III 2 GRCh weitergehenden Schutz als die Konvention gewähren kann. Soweit solche zusätzlichen Garantien im Rahmen des auch bei nicht vereinheitlichtem Unionsrecht zu gewährleistenden Schutzniveaus der Charta maßgeblich sind und zugleich keine Entsprechung im Grundgesetz haben, kann und muss dem im Einzelfall durch die unmittelbare Anwendung der Charta Rechnung getragen werden (vgl. unten Rn. 69).
c) Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass insoweit die Grundrechte-Charta ohne Berücksichtigung bleibt. Der Einbettung des Grundgesetzes wie auch der Charta in gemeinsame europäische Grundrechtsüberlieferungen entspricht es vielmehr, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Charta auszulegen sind.
Ebenso wie die Charta aus den verschiedenen Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten – zu denen auch die deutsche gehört – entstanden und im Einklang mit diesen auszulegen ist (vgl. Art. 52 IV GRCh), hat auch für das Verständnis der grundgesetzlichen Garantien die Charta als Auslegungshilfe Berücksichtigung zu finden. Nach den Grundsätzen der Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wie sie sich aus der Präambel sowie aus Art. 1 II, 23 I, 24, 25, 26, 59 II GG ergeben, stellt das Grundgesetz die Auslegung der Grundrechteund die Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes in die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes und insbesondere in die europäische Grundrechtstradition (vgl. BVerfGE 111, 307 [317 ff.] = NJW 2004, 3407; BVerfGE 112, 1 [26] = NVwZ 2005, 560; BVerfGE 128, 326 [366 ff.] = NJW 2011, 1931; BVerfGE 148, 296 [350 ff.] = NJW 2018, 2695 Rn. 126 ff.).
Damit wird die Eigenständigkeit der Grundrechte des Grundgesetzes ebensowenig infrage gestellt wie ihre Auslegung auch aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte und unter Berücksichtigung der spezifischen Strukturen der Rechtsordnung und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik. Eine europa- und völkerrechtsfreundliche Auslegung, die andere überstaatliche Grundrechtskataloge berücksichtigt und sich von deren Interpretation inspirieren lässt, bedeutet nicht, dass unter Nutzung des offenen Wortlauts der Grundrechte jede Interpretation internationaler
oder europäischer Entscheidungsinstanzen und Gerichte zu übernehmen ist (vgl. BVerfGE 128, 326 [368 ff.] = NJW 2011, 1931; BVerfGE 142, 313 [345 ff.] = NJW 2017, 53 Rn. 87 ff.; BVerfGE 149, 293 [330 f.] = NJW 2018, 2619 Rn. 91). Welche Bedeutung anderen Grundrechtsquellen für die Auslegung der grundgesetzlichen Grundrechte zukommt, ist eine Frage des Einzelfalls und hängt insbesondere auch von Rang, Inhalt und Verhältnis der aufeinander einwirkenden Rechtsnormen ab. Unbeschadet der engen inhaltlichen Verknüpfung können danach bei einer Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Grundrechte-Charta der Europäischen Union im einzelnen andere Gesichtspunkte und Verhältnisbestimmungen zum Tragen kommen als bei einer Auslegung im Lichte der EMRK. Denn die Stellung von Konvention und Charta in der europäischen Grundrechtsordnung unterscheidet sich erheblich. Die Grundrechte-Charta hat nach Art. 51 I 1 GRCh einen beschränkten Anwendungsbereich, der außerhalb dessen Raum belässt für unterschiedliche Grundrechtstraditionen der verschiedenen Mitgliedstaaten. Eine eigenständige und in einzelnen Wertungen abweichende Interpretation der deutschen Grundrechte kann auch in Blick auf Konsequenzen für Materien, die nicht unionsrechtlich überformt sind, eine wichtige Bedeutung haben. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Charta nicht ihrerseits nur die für alle Mitgliedstaaten ohnehin verbindlichen Gewährleistungen der EMRK absichert, sondern für das Unionsrecht spezifisch eigene Konkretisierungen hervorbringt. Demgegenüber hat die EMRK grundsätzlich einen vergleichbaren Anwendungsbereich wie die Grundrechte des Grundgesetzes. Sie erstrebt die Gewährleistung eines europaweit übergreifenden rechtsstaatlichen Fundaments, über das sich die Mitgliedstaaten – unbeschadet weiter Freiräume bei der Gestaltung ihres Grundrechtsschutzes – jedenfalls im Ergebnis auch innerstaatlich nicht hinwegsetzen dürfen.
4. Die alleinige Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab für innerstaatliches Recht, das der Durchführung gestaltungsoffenen Unionsrechts dient, gilt nicht ausnahmslos (a). Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte ist dann nicht ausreichend, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts ausnahmsweise nicht gewährleistet ist (b). Insoweit ist dann eine Prüfung innerstaatlichen Rechts, das der Durchführung des Unionsrechts dient, auch unmittelbar an den Grundrechten der Charta geboten (c).
a) Die Annahme, dass gestaltungsoffenes Fachrecht Raum für ein auf Vielfalt gerichtetes Grundrechtsschutzniveau eröffnet, gilt nicht uneingeschränkt (aa). Auch soweit unionsrechtlich Raum für grundrechtliche Vielfalt besteht, ist im Einzelfall die Vermutung eines ausreichenden Grundrechtsschutzes durch das Grundgesetz bei paralleler Geltung der Grundrechte-Charta widerleglich (bb).
aa) Zwar kann in Übereinstimmung mit der auf Vielfalt ausgerichteten Anlage der Charta davon ausgegangen werden, dass dort, wo den Mitgliedstaaten fachrechtlich Spielräume belassen sind, in der Regel auch grundrechtlich verschiedene Wertungen zum Tragen kommen können; jedoch kann das Fachrecht ausnahmsweise auch für Umsetzungsspielräume engere grundrechtliche Maßgaben enthalten und damit die Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes als nationale Schutzstandards im Sinne der Rechtsprechung des EuGH (vgl. ECLI:EU:C:2013:105 = NJW 2013, 1415 Rn. 29 – Åkerberg Fransson) bei Durchführung von Unionsrecht insoweit weiter beschränken (s. oben Rn. 59). Inwiefern die – im Umsetzungsspielraum weiterhin anwendbaren – Grundrechte des Grundgesetzes den unionsrechtlichen Maßgaben (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2013:105= NJW 2013, 1415 Rn. 29 – Åkerberg Fransson; EuGH ECLI:EU:C:2013:107 = NJW 2013, 1215 Rn. 60 – Melloni; EuGH ECLI:EU:C:2019:624 = GRUR 2019, 929 Rn. 80 f. – Pelham ua) entsprechen, ist dann näher zu prüfen. In Betracht kommt das allerdings nur, wenn sich hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte im unionsrechtlichen Fachrecht finden (s. unten b).
bb) Soweit danach im Umsetzungsspielraum unionsrechtlich Raum für grundrechtliche Vielfalt eröffnet ist, gilt die Vermutung eines hinreichenden Grundrechtsschutzes durch die Grundrechte des Grundgesetzes (oben Rn. 55 ff.). Diese Vermutung ist jedoch widerleglich. Denn es kann nicht für jeden Fall angenommen werden, dass die Grundrechte des Grundgesetzes auch diejenigen der Charta mitgewährleisten. Unbeschadet des substanziellen Gleichklangs der Grundrechtsverbürgungen auf der Basis der EMRK weisen die Mitgliedstaaten in ihren Grundrechtsüberlieferungen hinsichtlich des Ausgleichs und der Verrechtlichung von Grundrechtskonflikten durch ihre Geschichte und Lebenswirklichkeit geprägte Unterschiede auf, die die Charta in Ausgleich bringen, aber nicht vereinheitlichen kann und will. Deshalb ist schon ihr Anwendungsbereich begrenzt, deshalb ist aber auch für ihren Gehalt nicht von vornherein gesichert, dass sie in jeder Hinsicht mit den einzelstaatlichen Grundrechtsverbürgungen und damit auch denen des Grundgesetzes deckungsgleich ist. Vielmehr sind sowohl die Grundrechte der Charta als auch die des Grundgesetzes – unbeschadet ihrer Wechselwirkungen – jeweils autonom auszulegen. Dementsprechend kann auch nicht immer davon ausgegangen werden, dass die Rechte der Charta – sei es im Regelfall der Grundrechtsvielfalt, sei es im Ausnahmefall engerer unionsrechtlicher Maßgaben – durch die deutsche Verfassung mit abgedeckt sind. Zwar gibt es hierfür eine Vermutung, aber diese ist widerleglich.
b) Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte ist nur dann nicht von vornherein ausreichend, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte. Eine weitergehende Prüfung kann danach geboten sein, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das unionsrechtliche Fachrecht für seine Durchführung trotz seiner Gestaltungsoffenheit ausnahmsweise engere grundrechtliche Maßgaben enthält oder dass trotz zulässiger Grundrechtsvielfalt die Vermutung, nach der das Schutzniveau der Charta durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist, widerlegt sein könnte.
aa) Eine weitergehende Prüfung ist in Betracht zu ziehen, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass das unionsrechtliche Fachrecht – auch wenn es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielraum lässt – ausnahmsweise nicht auf Grundrechtsvielfalt ausgerichtet ist, sondern engere grundrechtliche Maßgaben enthält (oben Rn. 65). Für die Ausnahme von der Regel grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht müssen sich Anhaltspunkte aus dem Wortlaut und Regelungszusammenhang des Fachrechts selbst ergeben. Einschränkungen begründen sich insoweit aber nicht schon daraus, dass im unionsrechtlichen Fachrecht auf die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte-Charta oder einzelner ihrer Bestimmungen verwiesen wird, wie dies nach derzeitiger Praxis regelmäßig etwa in den Erwägungsgründen der Richtlinien geschieht (vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission v. 19.10.2010, Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, KOM [2010] 573 endg.). Für gestaltungsoffene Regelungsbereiche schließt die Charta die Anwendung nationaler Schutzstandards der Grundrechte der Mitgliedstaaten in Anerkennung des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht schon für sich aus, sondern bleibt für Vielfalt offen; es bedarf daher genauerer Anhaltspunkte dafür, dass die unionsrechtlichen Regelungen ausnahmsweise spezifische grundrechtliche Maßgaben für die mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielräume enthalten sollen.
bb) Nur bei konkreten und hinreichenden Anhaltspunkten ist auch einer möglichen Widerlegung der Vermutung nachzugehen, dass die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes im Fall der auf Grundrechtsvielfalt gerichteten Gestaltungsoffenheit das grundrechtliche Schutzniveau der Union mitgewährleistet (oben Rn. 66). Anhaltspunkte können sich insbesondere aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben. Ist konkret erkennbar, dass dieser spezifische Schutzstandards zugrunde legt, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet werden, so ist das in die Prüfung einzubeziehen. Die Vermutung der Mitgewährleistung greift dann nicht mehr, wenn und soweit sich das im Einzelfall maßgebliche Schutzniveau aus Rechten der Charta herleitet, die keine Entsprechung im Grundgesetz in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung haben.
cc) In beiden Fällen (aa und bb) ist dann näher zu prüfen, ob eine Kontrolle allein am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das europäische Grundrechtsschutzniveau wahrt. Dies erfordert insbesondere eine nähere Auseinandersetzung mit Judikaten des Gerichtshofs, soweit sie die Vermutung, dass die Anwendung der grundgesetzlichen Grundrechte zugleich einen ausreichenden unionsrechtlichen Schutz gewährleistet, erschüttern können. Entsprechendes gilt für die Anhaltspunkte etwa aus einem gefestigten Stand der Fachdiskussion wie auch aus Entscheidungen anderer Gerichte, die zur Grundrechte-Charta ergangen sind.
dd) Im Ergebnis setzt eine Prüfung anhand der Grundrechte des Grundgesetzes also nicht voraus, dass immer zunächst bestimmt wird, ob die Gestaltungsoffenheit des Fachrechts auch eine Offenheit für Grundrechtsvielfalt einschließt und welche Schutzanforderungen sich aus der Charta ergeben. Soweit es um die Grundrechtskontrolle in Regelungsbereichen geht, deren Ausgestaltung unionsrechtlich den Mitgliedstaaten überlassen ist, kann die Kontrolle grundsätzlich unmittelbar am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes – wie immer ausgelegt im Licht der EMRK und der Charta – vorgenommen werden. Da hier das Prinzip der Vielfalt gilt, steht einer Anwendung der grundgesetzlichen Grundrechteauch nicht schon entgegen, dass die entsprechenden Grundrechtsfragen noch nicht innerstaatlich oder in anderen Kontexten unionsrechtlich geklärt sind, dass sie streitig sind oder dass sie in den Mitgliedstaaten unterschiedlich beantwortet werden. Entscheidend ist, ob konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das für den jeweiligen Kontext maßgebliche Schutzniveau der Charta durch eine ausschließliche Anwendung der deutschen Grundrechte beeinträchtigt sein könnte. Fehlt es an solchen Anhaltspunkten, kann dementsprechend auch die vorausliegende Frage, ob und wieweit die Charta nach Art. 51 I1 GRCh in der jeweiligen Konstellation überhaupt anwendbar ist, offenbleiben.
c) Hat sich danach ergeben, dass die deutschen Grundrechte das Schutzniveau der Charta ausnahmsweise nicht mit abdecken, sind die entsprechenden Rechteder Charta insoweit in die Prüfung einzubeziehen. Soweit sich hierbei ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auslegung der Charta stellen, legt das BVerfG diese dem EuGH nach Art. 267 III AEUV vor. Sind die Fragen demgegenüber im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus sich heraus derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, oder durch dessen Rechtsprechung bereits geklärt (vgl. EuGH ECLI:EU:C:1982:335 = NJW 1983, 1257 Rn. 14 – Cilfit; BVerfGE 140, 317 [376] = NJW 2016, 1149 Rn. 125; BVerfGE 142, 74 [115] = NJW 2016, 2247 Rn. 123) und geht es nur noch um deren konkretisierende Anwendung, hat das BVerfG die Unionsgrundrechte in seinen Prüfungsmaßstab einzubeziehen und grundsätzlich auch zur Geltung zu bringen (vgl. hierzu – wie auch zu insoweit verbleibenden Reservevorbehalten – BVerfG NJW 2020, 314 Rn. 42 ff., 50 ff. [unter Nr. 3 in diesem Heft]).
5. Die primäre Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes seitens des BVerfG neben solchen der Grundrechte-Charta stellt die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte-Charta – soweit deren Anwendungsbereich denn reicht (Art. 51 I 1 GRCh) – nicht infrage. Entsprechend können die Fachgerichte sich insoweit stellende Auslegungsfragen zum Unionsrecht nach Art. 267 II AEUVdem EuGH vorlegen (vgl. BVerfG NJW 2020, 314 Rn. 76 [unter Nr. 3 in diesem Heft]). Dies lässt unberührt, dass die Fachgerichte, soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belässt, gem. Art. 1 III, 20 III GG immer auch die Grundrechte des Grundgesetzes zur Anwendung zu bringen haben. Hinsichtlich des materiellen Verhältnisses der deutschen Grundrechte zu den Unionsgrundrechten gelten die dargelegten Grundsätze (s. oben Rn. 49 ff., 60 ff., 63 ff.).
6. Von diesen Grundsätzen ausgehend steht außer Zweifel, dass der vorliegende Rechtsstreit nach den Grundrechten des Grundgesetzes zu beurteilen ist. Der Rechtsstreit richtet sich nach §§ 823, 1004 BGB analog. Zwar befindet er sich dabei zugleich zumindest im weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, nämlich ursprünglich der Datenschutz-RL 95/46/EG und heute der Datenschutz-Grundverordnung. Jedoch fällt die Anwendung der Vorschriften vorliegend in einen Regelungsbereich, für den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten sowohl nach alter wie nach neuer Rechtslage einen Gestaltungsspielraum einräumt (vgl. Art. 9DSRL 95/46/EG, Art. 85 DS-GVO – sog. Medienprivileg; s. oben Rn. 11 f.). Aus der Bezugnahme in Art. 9 DSRL 95/46/EG auf bestimmte Grundrechte ergeben sich im Ergebnis keine grundrechtlichen Maßgaben, die den mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraum spezifisch einschränken (zur Vermutung der Mitgewährleistung s. oben Rn. 55 ff.). Unabhängig davon, ob die Ausgestaltung und Anwendung innerstaatlichen Rechts im Rahmen des Medienprivilegs zugleich als Durchführung des Unionsrechts gem. Art. 51 I 1 GRCh zu beurteilen ist und damit ergänzend auch die Grundrechte der Charta anwendbar sind, prüft das BVerfG daher hier den Rechtsstreit – wie entsprechende Fälle seit jeher – primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes.
II. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Gewährung von Grundrechtsschutz im Verhältnis zwischen Privaten. Die Grundrechte gelten hier im Wege der mittelbaren Drittwirkung (1). Aufseiten des Bf. sind dabei sein allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I iVm Art. 1 I GG) in seinen allgemeinen Schutzdimensionen des Äußerungsrechts (2) und aufseiten der Bekl. die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 I 1 und 2 GG) heranzuziehen (3).
1. Der Bf. wendet sich gegen eine zivilrechtliche Entscheidung in einem Rechtsstreit zwischen ihm und dem von ihm beklagten Presseunternehmen. In solchen Streitigkeiten zwischen Privaten entfalten die Grundrechte ihre Wirkung im Wege der mittelbaren Drittwirkung. Danach verpflichten sie die Privaten zwar nicht unmittelbar untereinander selbst. Sie entfalten jedoch auch auf die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen Ausstrahlungswirkung und sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte entfalten hierbei ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ in das Zivilrecht ein. Sie zielen hier nicht auf eine möglichst konsequente Minimierung von freiheitsbeschränkenden Eingriffen, sondern sind als Grundsatzentscheidungen im Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zu entfalten. Die Freiheit der einen ist dabei mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfGE 7, 198 [204 ff.] = NJW 1958, 257; BVerfGE 148, 267 [280] = NJW 2018, 1667 Rn. 32 mwN).
Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt von einer Abwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ab. Maßgeblich ist, dass die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung gebracht werden. Dabei können insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen (vgl. BVerfGE 89, 214 [232 ff.] = NJW 1994, 36; BVerfGE 128, 226 [249 f.] = NJW 2011, 1201; BVerfGE 148, 267 [280 f.] = NJW 2018, 1667 Rn. 33).
Die Auslegung und Anwendung des bürgerlichen Rechts obliegt grundsätzlich den Fachgerichten. Regelmäßig ist es nicht Sache des BVerfG, den Zivilgerichten vorzugeben, wie sie im Ergebnis zu entscheiden haben (vgl. BVerfGE 129, 78[102] = NJW 2011, 3428). Bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften müssen die zuständigen Gerichte aber die betroffenen Grundrechteinterpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 [205 ff.] = NJW 1958, 257; BVerfGE 85, 1 [13] = NJW 1992, 1439; BVerfGE 114, 339 [348] = NJW 2006, 207; stRspr).
2. Aufseiten des Bf. ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG in seinen Ausprägungen, wie sie von der Rechtsprechung im Rahmen des Äußerungsrechts entwickelt wurden, in die Abwägung einzustellen (a). Abzugrenzen sind diese Schutzgehalte von dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das als eine eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gleichfalls in das Privatrecht einwirken kann (b). Dieses ist vorliegend jedoch nicht einschlägig (c).
a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und bietet dabei insbesondere auch Schutz vor einer personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen, die geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Eine wesentliche Gewährleistung ist der Schutz vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf das Ansehen der Person, insbesondere ihr Bild in der Öffentlichkeit, auszuwirken (vgl. BVerfGE 114, 339 [346] = NJW 2006, 207). Die Rechtsprechung hat aus dem Grundrecht insoweit verschiedene Schutzdimensionen abgeleitet wie den Schutz eines unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung, die Garantie der Privatsphäre, das Recht am eigenen Bild oder gesprochenen Wort oder das Recht auf die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie die persönliche Ehre (vgl. BVerfGE 27, 1 [6] = NJW 1969, 1707; BVerfGE 27, 344 [350 f.] = NJW 1970, 555; BVerfGE 32, 373 [379] = NJW 1972, 1123; BVerfGE 34, 238[245 f.] = NJW 1973, 891; BVerfGE 47, 46 [73] = NJW 1978, 807; BVerfGE 54, 148 [153 f.] = NJW 1980, 2070; BVerfGE 99, 185 [193 f.] = NJW 1999, 1322; BVerfGE 101, 361 [384] = NJW 2000, 1021; BVerfGE 106, 28 [39] = NJW 2002, 3619; BVerfGE 114, 339 [346] = NJW 2006, 207; BVerfGE 120, 180 [198] = NJW 2008, 1793). Diese Schutzgehalte werden insoweit aber nicht als abschließend umschriebene und voneinander abzugrenzende Gewährleistungen verstanden, sondern als Ausprägungen, die in Blick auf den konkreten Schutzbedarf jeweils anhand des zu entscheidenden Falls herauszuarbeiten sind (vgl. BVerfGE54, 148 [153 f.] = NJW 1980, 2070; BVerfGE 65, 1 [41] = NJW 1984, 419).
Diese Rechtsprechung hat sich maßgeblich in Konstellationen der mittelbaren Drittwirkung und geleitet von dem Erfordernis praktischer Konkordanz entwickelt. Deshalb bestimmen sich die Schutzdimensionen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts letztlich immer einzelfallbezogen im Abgleich mit den Grundrechten Dritter. Die Bestimmung seiner Schutzwirkungen und die Abwägung mit den gegenüberstehenden Freiheitsrechten greifen hier Hand in Hand. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist insoweit flexibel und durch die Einbindung der Person in ihre sozialen Beziehungen relativiert (vgl. BVerfGE 101, 361 [380] = NJW 2000, 1021; BVerfGE 141, 186 [202] = NJW 2016, 1939 Rn. 32; BVerfGE147, 1 [19] = NJW 2017, 3643 Rn. 38, stRspr; s. auch BGHZ 183, 353 [357] = NJW 2010, 757 Rn. 11; BGHZ 209, 139 [150] = NJW 2016, 2106 Rn. 30; BGHZ219, 233 [240] = NJW 2018, 3506 Rn. 22, stRspr).
Demnach folgt aus dem Persönlichkeitsrecht auch nicht ein allein dem Einzelnen überlassenes umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person. Es zielt jedoch darauf, die Grundbedingungen dafür zu sichern, dass die einzelne Person ihre Individualität selbstbestimmt entwickeln und wahren kann (vgl. BVerfGE 35, 202 [220] = NJW 1973, 1226; BVerfGE 79, 256 [268] = NJW 1989, 891; BVerfGE 90, 263 [270] = NJW 1994, 2475; BVerfGE 117, 202 [225] = NJW 2007, 753; BVerfGE 141, 186 [201] = NJW 2016, 1939 Rn. 32; BVerfGE147, 1 [19] = NJW 2017, 3643 Rn. 38). Daher steht an seinem Ausgangspunkt das Recht jeder Person, selbst darüber zu entscheiden, ob, wann und wie sie sich in die Öffentlichkeit begibt. Dementsprechend schützt das Persönlichkeitsrecht grundsätzlich vor dem heimlichen Abhören, der Verbreitung von Fotos aus dem zurückgezogenen Lebensbereich oder vor dem Unterschieben nichtgetätigter Äußerungen (vgl. BVerfGE 34, 269 [282 f.] = = NJW 1973, 1221; BVerfGE 54, 148 [154] = NJW 1980, 2070; BVerfGE 101, 361 [382] = NJW 2000, 1021; BVerfGE 120, 180 [199] = NJW 2008, 1793). Für die Frage, welche Informationen, die Dritten oder der Öffentlichkeit zugänglich geworden sind, Gegenstand weiterer gesellschaftlicher Kommunikation sein können, sind die Rechtfertigungslasten dabei im Spannungsfeld von Schutz und Freiheit verschieden verteilt. Es kommt hier auf die jeweils infrage stehende Konstellation an. So unterscheidet die Rechtsprechung im Ausgangspunkt insbesondere zwischen der Verbreitung wahrer Tatsachen in Wort und Schrift, die grundsätzlich erlaubt, und der Verbreitung von Bildnissen, die grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig ist (vgl. BVerfGE101, 361 [381] = NJW 2000, 1021; BVerfGE 120, 180 [197 f.] = NJW 2008, 1793; stRspr). Hierin liegt jedoch jeweils nur ein erster Ausgangspunkt. An ihn schließen sich vielfältige weitere prozessuale wie inhaltliche Abwägungsregeln an, die darauf angelegt sind, den konkreten Schutzbedarf differenziert zu erfassen und ihm möglichst sachgerecht Rechnung zu tragen. Die Abwägung ist damit letztlich nicht von einer übergreifenden Vorrangregel geleitet, sondern auf eine abgestufte Balance zwischen Freiheitsvermutung und Schutzanspruch hin orientiert.
b) Gegenüber diesen Schutzgehalten bildet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts(aa). Dabei kommt auch ihm für das Verhältnis zwischen Privaten grundsätzlich Bedeutung zu (bb). Nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung strahlt es insoweit als verfassungsrechtliche Wertentscheidung in das Zivilrecht ein und ist mit den Grundrechten Dritter in Ausgleich zu bringen; seine Wirkungen unterscheiden sich insoweit von denen unmittelbar gegenüber dem Staat (cc). Im Verhältnis zu den äußerungsrechtlichen Schutzgehalten des Persönlichkeitsrechts bildet es nicht eine gesamthaft übergreifende Schutzgarantie, sondern hat einen von diesen abzugrenzenden eigenen Gehalt (dd).
aa) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst nach ständiger Rechtsprechung als eigenständige Ausprägung auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE 65, 1 [42] = NJW 1984, 419; BVerfGE 78, 77 [84] = NJW 1988, 2031; BVerfGE 118, 168 [184] = NJW 2007, 2464; stRspr). Danach setzt die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht gewährleistet damit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1 [42 f.] = NJW 1984, 419; BVerfGE 120, 274 [312] = NJW 2008, 822). Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden (BVerfGE65, 1 [43] = NJW 1984, 419).
bb) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde von der Rechtsprechung zunächst als Schutz gegenüber der Datenerhebung und -verarbeitung des Staates und seiner Behörden entwickelt (vgl. nur BVerfGE 65, 1 [42 f.] = NJW 1984, 419; BVerfGE 113, 29 [46] = NJW 2005, 1917; BVerfGE 118, 168 [184] = NJW 2007, 2464; BVerfGE 133, 277 [320 ff.] = NJW 2013, 1499 Rn. 105 ff.; BVerfGE141, 220 [264 f. ] = NJW 2016, 1781 Rn. 91 f.; BVerfGE150, 244 [263 f.] = NJW 2019, 827 Rn. 37). Es gibt jedoch keinen Grund, den Grundrechtsschutz nach allgemeinen Regeln nicht auch auf das Verhältnis zwischen Privaten zu erstrecken und ihn im Wege der mittelbaren Drittwirkung auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten zur Geltung zu bringen. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen im Rahmen von privatrechtlichen Schuldverhältnissen welche Daten offenbart werden müssen (vgl. BVerfGE 84, 192 [194] = NJW 1991, 2411). Dies gilt aber etwa auch für die Bedingungen, wann welche personenbezogenen Daten von privaten Dritten für welche Zwecke verarbeitet und genutzt werden dürfen (vgl. ebenso BGHZ 181, 328 [337] = NJW 2009, 2888 Rn. 27; BGHZ 217, 340 [346] = NJW 2018, 1884 Rn. 13; BGHZ 217, 350 [370] = NJW 2018, 2324 Rn. 51; BGHZ 218, 348 [370] = NJW 2018, 2883 Rn. 42, jew. mwN). Auch auf das Verhältnis zwischen Privaten gewinnen die Auswirkungen der technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung immer mehr an Bedeutung. In allen Lebensbereichen werden zunehmend für die Allgemeinheit grundlegende Dienstleistungen auf der Grundlage umfänglicher personenbezogener Datensammlungen und Maßnahmen der Datenverarbeitung von privaten, oftmals marktmächtigen Unternehmen erbracht, die maßgeblich über die öffentliche Meinungsbildung, die Zuteilung und Versagung von Chancen, die Teilhabe am sozialen Leben oder auch elementare Verrichtungen des täglichen Lebens entscheiden. Die einzelne Person kommt kaum umhin, in großem Umfang personenbezogene Daten gegenüber Unternehmen preiszugeben, wenn sie nicht von diesen grundlegenden Dienstleistungen ausgeschlossen sein will. Angesichts der Manipulierbarkeit, Reproduzierbarkeit und zeitlich wie örtlich praktisch unbegrenzten Verbreitungsmöglichkeit der Daten sowie ihrer unvorhersehbaren Rekombinierbarkeit in intransparenten Verarbeitungsprozessen mittels nicht nachvollziehbarer Algorithmen können die Einzelnen hierdurch in weitreichende Abhängigkeiten geraten oder ausweglosen Vertragsbedingungen ausgesetzt sein. Diese Entwicklungen können damit tiefgreifende Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung begründen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung soll diesen entgegenwirken.
cc) Auf das Verhältnis zwischen Privaten wirkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Wege der mittelbaren Drittwirkung. Es strahlt danach als verfassungsrechtliche Wertentscheidung und „Richtlinie“ in das Zivilrecht ein (s. oben Rn. 76 f.). Insoweit unterscheidet sich seine Wirkung von seiner unmittelbar staatsgerichteten Schutzwirkung, die – einem Abwehrrecht entsprechend – durch die rechtsstaatliche Asymmetrie von bürgerlicher Freiheit und staatlicher Bindung strukturiert ist. Ausgehend von der grundsätzlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns knüpft es dort die verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Datenverarbeitung an eine formalisierte Abschichtung der Erhebungs- und Verarbeitungsschritte in detailliert zu erfassende Eingriffe; für diese verlangt es dann je eine eigene hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage, welche die Verarbeitung auf spezifische Zwecke begrenzt und damit an den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit geprüft werden kann und muss.
Demgegenüber steht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtliche Wertentscheidung für das Verhältnis zwischen Privaten von vornherein im Ausgleich der sich gegenüberstehenden Grundrechte. Ihm steht die Freiheit gegenüber, selbst Informationen aufzugreifen, zu verarbeiten und nach eigenen, auch wechselnden Zwecken zu nutzen. Seine Anforderungen und die hieraus folgenden Rechtfertigungslasten lassen sich damit nicht in gleicher Weise formal bestimmen, sondern sind in Blick auf die unterschiedlichen und nicht selten vielpoligen Konstellationen zwischen Privaten je nach Schutzbedarf durch Abwägung zu ermitteln. Ebensowenig wie das Recht der Darstellung der eigenen Person enthält das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein allgemeines oder gar umfassendes Selbstbestimmungsrecht über die Nutzung der eigenen Daten. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet den Einzelnen aber die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich und von ihnen genutzt werden. Es enthält damit die Gewährleistung, über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substanziell mitzuentscheiden (vgl. entsprechend BVerfGE 120, 180 [198] = NJW 2008, 1793).
Die Wirkweise dieses Grundrechts im Zivilrecht als verfassungsrechtliche Wertentscheidung bedeutet nicht, dass seine Anforderungen deshalb in jedem Fall weniger weit reichen oder weniger anspruchsvoll sind als die unmittelbar staatsgerichtete Schutzwirkung. Je nach Umständen, insbesondere wenn private Unternehmen in eine staatsähnlich dominante Position rücken oder etwa die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen, kann die Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates im Ergebnis vielmehr nahe- oder auch gleichkommen (vgl. BVerfGE 128, 226[249 f.] = NJW 2011, 1201). Insoweit können auch hier strenge Strukturierungsanforderungen an die Datenverarbeitung und die Anknüpfung an Zweck und Zweckbindungen – insbesondere etwa in Wechselwirkung mit Einwilligungserfordernissen – geeignete und möglicherweise verfassungsrechtlich gebotene Mittel zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung sein.
dd) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist von der Rechtsprechung als eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit einem gegenüber den anderen Ausprägungen selbstständigen Gewährleistungsgehalt entwickelt worden und behält diesen auch, soweit es als verfassungsrechtliche Wertentscheidung in das Zivilrecht einstrahlt. Dementsprechend enthält es keinen gesamthaften Schutzanspruch hinsichtlich jederlei Umgangs mit Informationen, der die übrigen Schutzdimensionen des Grundrechts allgemein übergreifen und zusammenführen würde, sondern lässt deren Wertungen und Abwägungsregeln unberührt.
Ausgehend von dem Ziel des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, Schutz vor Gefahren angesichts neuartiger Möglichkeiten der Datenverarbeitung zu gewähren (vgl. BVerfGE 65, 1 [42] = NJW 1984, 419), ist es primär als Gewährleistung zu verstehen, die – neben der ungewollten Preisgabe von Daten auch im Rahmen privater Rechtsbeziehungen (vgl. BVerfGE 84, 192 [194] = NJW 1991, 2411) – insbesondere vor deren intransparenter Verarbeitung und Nutzung durch Private schützt. Es bietet Schutz davor, dass Dritte sich individueller Daten bemächtigen und sie in nicht nachvollziehbarer Weise als Instrument nutzen, um die Betroffenen auf Eigenschaften, Typen oder Profile festzulegen, auf die sie keinen Einfluss haben und die dabei aber für die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Der Gehalt dieses Rechts ist dabei entwicklungsoffen, so dass es auch weitere persönlichkeitsgefährdende Entwicklungen der Informationsverarbeitung aufnehmen kann.
Davon zu unterscheiden ist der Schutz vor der Verarbeitung personenbezogener Berichte und Informationen als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses. Der Schutzbedarf gründet hier nicht in der intransparenten Zuweisung von Persönlichkeitsmerkmalen und -profilen durch Dritte, sondern in der sichtbaren Verbreitung bestimmter Informationen im öffentlichen Raum. Gefährdungen für die Persönlichkeitsentfaltung ergeben sich hier vornehmlich aus Form und Inhalt der Veröffentlichung selbst. Schutz gegenüber solchen Gefährdungen bieten die äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unabhängig vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zwar kann es auch dabei maßgeblich auf die Art der Informationserlangung ankommen. Jedoch hat diese hier ihre Bedeutung als Vorfrage für die Beurteilung des Weiteren Umgangs mit einer bestimmten Äußerung und des damit in die Öffentlichkeit gestellten Bildes einer Person selbst.
c) Nach diesen Abgrenzungslinien liegt der verfassungsrechtliche Maßstab für den vorliegenden Rechtsstreit nicht in dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern in den äußerungsrechtlichen Schutzgehalten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der Bf. wendet sich nicht gegen eine Pflicht zur Preisgabe von Daten oder gegen eine intransparente Nutzung seiner Daten, sondern gegen Berichte über ihn, die der Information der Öffentlichkeit dienen und ihm selbst ohne Weiteres zugänglich sind. Er macht geltend, dass diese Berichte über ihn weiterhin für jedermann im Archiv der Bekl. bereitgehalten werden und ihn angesichts des Zeitablaufs und seiner derzeitigen Situation unverhältnismäßig belasten. Damit aber geht es um die Verbreitung von Äußerungen im Rahmen gesellschaftlicher Kommunikation. Dass auch hierbei die Verbreitungsmöglichkeiten durch das Internet für das Gewicht der Belastung von entscheidender Bedeutung sind und Berücksichtigung verlangen (s. unten Rn. 101 ff.), ändert daran nichts.
3. Aufseiten der Bekl. sind die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit als einschlägige Grundrechte in die Abwägung einzustellen.
Die Verbreitung von Berichten über Vorgänge des öffentlichen Lebens unterfällt der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG; sie schützt die Verbreitung von Meinungen und Tatsachen ohne Rücksicht auf Form und Kommunikationsmittel (vgl. BVerfGE 85, 1 [12 f.] = NJW 1992, 1439). Zugleich ist die Pressefreiheit nach Art. 5 I 2 GG berührt. Mit ihr wird die Presse über die Meinungsäußerungsfreiheit hinaus in ihrer institutionellen Eigenständigkeit geschützt. Sie reicht dabei von der Beschaffung der Informationen bis zu deren Verbreitung (vgl. BVerfGE 10, 118 [121] = NJW 1960, 29; BVerfGE 62, 230 [243] = NJW 1983, 1105; stRspr). Danach gehört hierzu auch die Entscheidung eines Presseverlags, frühere Presseberichte der Öffentlichkeit dauerhaft in Archiven zugänglich zu machen. Über die Publikation allein des Inhalts der Berichte hinaus liegt hierin eine gewichtige selbstständige Entscheidung eines Verlagshauses über die Form der Verbreitung seiner Produkte und damit sowohl über deren Wirkung als auch über seine eigene Wahrnehmbarkeit.
Demgegenüber ist die Freiheit der Rundfunkberichterstattung nach Art. 5 I 2 GGnicht berührt. Entgegen Stimmen der Literatur (vgl. Bethge in Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 5 Rn. 90 b; Hamacher, Der Rundfunkbegriff im Wandel des deutschen und europäischen Rechts, 2015, 266 ff., 316 ff.) unterfällt die Verbreitung von Informationen nicht schon immer dann der Rundfunkfreiheit, wenn sie sich dafür elektronischer Informations- und Kommunikationssysteme bedient (vgl. Bullinger, JZ 1996, 385 [387 f.]; Grabenwarter in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 650 [Nov. 2018]). Die Einstellung eigener Berichte in ein Onlinearchiv oder sonst deren Zugänglichmachung über das Internet macht sie nicht schon deswegen zu „Rundfunk“ im Sinne der Verfassung.
III. Die sich gegenüberstehenden Grundrechte sind miteinander abzuwägen. Als Grundlage der Abwägung ist zunächst ihr jeweiliger Gewährleistungsgehalt zu erfassen. Hierbei ist insbesondere auch den Kommunikationsbedingungen des Internets Rechnung zu tragen.
1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt Schutz gegenüber der Verbreitung von Berichten, die das Ansehen der Betroffenen in einer die Persönlichkeitsentfaltung gefährdenden Weise herabsetzen. Das gilt auch gegenüber Presseberichten über Straftaten. Freilich gehört es umgekehrt zu den Aufgaben der Presse, über Straftaten und Täter zu berichten (vgl. BVerfGE 35, 202 [230 ff.] = NJW 1973, 1226). Maßgeblich für einen Schutzanspruch der Betroffenen sind insofern die näheren Umstände der Berichterstattung wie deren Art, Umfang und Verbreitung. Ein bedeutsamer Gesichtspunkt ist dabei insbesondere auch die Zeit.
a) Die Bedeutung des Zeitpunkts der Veröffentlichung für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Presseberichten über Straftaten ist nicht neu. Während die Rechtsprechung für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten in der Regel dem Informationsinteresse den Vorrang einräumt und jedenfalls bezüglich rechtskräftig verurteilter Straftäter grundsätzlich auch identifizierende Berichte als zulässig ansieht (vgl. BVerfGE 35, 202 [231 ff.] = NJW 1973, 1226), hat sie gleichzeitig klargestellt, dass sich das Interesse an der öffentlichen Berichterstattung über eine Straftat mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zum Ereignis verändert. Die Rechtfertigung für eine Berichterstattung über Personen verschiebt sich von einem auf Tat und Täter konzentrierten Interesse mehr zu einem Interesse an einer Analyse der Voraussetzungen und Konsequenzen der Tat (vgl. BVerfGE 35, 202 [231] = NJW 1973, 1226). Mit der Befriedigung des aktuellen Informationsinteresses gewinnt so das Recht des Betroffenen, „allein gelassen zu werden“, an Bedeutung (vgl. BVerfGE 35, 202 [233] = NJW 1973, 1226). Die zeitliche Grenze zwischen der grundsätzlich zulässigen aktuellen Berichterstattung und einer unzulässigen späteren Darstellung oder Erörterung lässt sich dabei nicht allgemein, jedenfalls nicht mit einer nach Monaten und Jahren für alle Fälle fest umrissenen Frist fixieren. Das entscheidende Kriterium liegt darin, ob die betreffende Berichterstattung gegenüber der aktuellen Information eine erhebliche neue oder zusätzliche Beeinträchtigung des Täters zu bewirken geeignet ist (vgl. BVerfGE 35, 202 [234] = NJW 1973, 1226). Als maßgeblicher Orientierungspunkt ist insbesondere auch das Interesse an der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft in Betracht zu ziehen.
Diese Maßstäbe wurden wiederholt zur Geltung gebracht und ausgebaut (vgl. BGH NJW 2009, 3576; NJW 2013, 229 Rn. 15; NJW 2019, 1881 Rn. 16; GRUR 2019, 1084 Rn. 22; BFH Urt. v. 14.4.2016 – VI R 61/13, BeckRS 2016, 95099Rn. 21 f.; BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats] NJW 1993, 1463; NJW 2000, 1859; BVerfGK 12, 60 = NVwZ 2008, 306; NJW 2009, 3357 Rn. 21).
Gleichfalls finden sich diese Maßstäbe in der Rechtsprechung des EGMR. Auch er stellt für die Beurteilung des Eingriffsgewichts einer Veröffentlichung ausdrücklich auf den Zeitpunkt einer Veröffentlichung ab und fragt, ob die Verbreitung von personenbezogenen Berichten zu dem Zeitpunkt von einem öffentlichen Interesse getragen ist, zu dem die Berichte in die Öffentlichkeit gelangen. Dabei berücksichtigt er maßgeblich die angestrebte Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft nach der Entlassung aus der Haft (vgl. EGMR Entsch. v. 25.5.2004 – 57597/00 – Österreichischer Rundfunk/Österreich).
b) Unter den heutigen Bedingungen der Informationstechnologie und der Verbreitung von Informationen durch das Internet bekommt die Berücksichtigung der Einbindung von Informationen in die Zeit eine neue rechtliche Dimension.
aa) Ging es in der bisherigen Rechtsprechung des Senats um die Frage des Wiederaufgreifens von vergangenen Ereignissen durch neue Berichterstattung, stellt sich heute das grundsätzliche Problem der langfristigen Verfügbarkeit von Informationen im Internet und auf Speichermedien. Während Informationen früher, als sie allein in Printmedien und Rundfunksendungen verbreitet wurden, der Öffentlichkeit nur in einem engen zeitlichen Rahmen zugänglich waren und anschließend weithin in Vergessenheit gerieten, bleiben sie heute – einmal digitalisiert und ins Netz gestellt – langfristig verfügbar. Sie entfalten ihre Wirkung in der Zeit nicht nur gefiltert durch das flüchtige Erinnern im öffentlichen Diskurs fort, sondern bleiben unmittelbar für alle dauerhaft abrufbar.
bb) Die dauerhafte Verfügbarkeit der Informationen ist zudem mit ihrer jederzeitigen Abrufbarkeit und Rekombinierbarkeit mit weiteren Daten verbunden. Das verändert die Bedeutung personenbezogener Berichterstattung für die Betroffenen erheblich. Die Informationen können nun ohne erkennbaren Anlass jederzeit von einer unbegrenzten Zahl auch völlig unbekannter Dritter aufgegriffen werden, werden unabhängig von gemeinrelevanten Fragen Gegenstand der Erörterung von im Netz miteinander kommunizierenden Gruppen, können dekontextualisiert eine neue Bedeutung erhalten und in Kombination mit weiteren Informationen zu Profilen oder Teilprofilen der Persönlichkeit zusammengeführt werden, wie es insbesondere mittels Suchmaschinen durch namensbezogene Abfragen verbreitet ist. Die damit verbundenen Folgen für die öffentliche Kommunikation reichen weit und ändern die Bedingungen der freien Entfaltung der Persönlichkeit tiefgreifend (vgl. Mayer-Schönberger, Delete, Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, 3. Aufl. 2015, 112; Diesterhöft, Das Recht auf medialen Neubeginn, 2014, 24 ff.).
cc) Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsrechts, solche Entwicklungen insgesamt aufzuhalten und alle Vor- und Nachteile der damit verbundenen Folgen zu neutralisieren. Soweit jedoch spezifische Gefährdungen der freien Entfaltung der Persönlichkeit erwachsen, ist dem bei der Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes Rechnung zu tragen. Hinsichtlich der jederzeitigen Zugänglichkeit von Informationen im Netz ist das der Fall.
(1) Zur Freiheit gehört es, persönliche Überzeugungen und das eigene Verhalten im Austausch mit Dritten auf der Basis gesellschaftlicher Kommunikation zu bilden, fortzuentwickeln und zu verändern. Hierfür bedarf es eines rechtlichen Rahmens, der es ermöglicht, von seiner Freiheit uneingeschüchtert Gebrauch zu machen, und die Chance eröffnet, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Rechtsordnung muss deshalb davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffnet dem Einzelnen die Chance darauf, dass Vergangenes gesellschaftlich in Vergessenheit gerät, und damit die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Die Möglichkeit des Vergessens gehört zur Zeitlichkeit der Freiheit. Dies gilt nicht zuletzt in Blick auf das Ziel der Wiedereingliederung von Straftätern.
Dass zur Wahrung der Persönlichkeitsentfaltung diesbezüglich Schutzbedarf besteht, wird gleichfalls von der Literatur anerkannt; gesprochen wird insoweit bildlich auch von einem „Recht auf Vergessen“ oder einem „Recht auf Vergessenwerden“ (vgl. Mayer-Schönberger, 112; Boehme-Neßler NVwZ 2014, 825; NolteNJW 2014, 2238; Diesterhöft, 24 ff.; Weismantel, Das „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet nach dem „Google-Urteil“ des EuGH, 2017, 30 ff.; s. auch Art. 17 DS-GVO). Dieser Schutzbedarf findet auch in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte Anerkennung.
So würdigt der EGMR das Interesse eines Straftäters, nach dem Ablauf einer gewissen Zeit mit früheren Taten in Blick auf seine Reintegration in die Gesellschaft nicht mehr konfrontiert zu werden, ausdrücklich als menschenrechtlichen Belang (vgl. EGMR NJW 2020, 295 – M. L. und W. W./Deutschland § 100 [unter Nr. 1 in diesem Heft]). Ähnlich führt der EuGH aus, dass Personen in Blick auf Art. 7, 8GRCh verlangen können, dass ihre Namen wegen der Sensibilität der Informationen für ihr Privatleben oder ihres Ansehens im Geschäftsverkehr unter Umständen nicht mehr mit bestimmten Ereignissen verbunden werden dürfen (vgl. EuGHECLI:EU:C:2014:317 = NJW 2014, 2257 Rn. 98 – Google Spain; EuGHECLI:EU:C:2017:197 Rn. 63 = BeckRS 2017, 103300 = EuZW 2017, 784 Ls. – Manni; EuGH ECLI:EU:C:2019:773 = NJW 2019, 3503 Rn. 77 – GC ua). Die Einstellung des Zeitfaktors in die Beurteilung der verfassungsmäßigen Anforderungen an die Verbreitung von Informationen stellt sich als Teil einer Entwicklung im Austausch der europäischen Grundrechtsentwicklung dar.
(2) Allerdings folgt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kein „Recht auf Vergessenwerden“ in einem grundsätzlich allein von den Betroffenen beherrschbaren Sinn. Die Herausbildung der Persönlichkeit vollzieht sich auch in Kommunikationsprozessen und damit in Wechselwirkung mit der freien Beurteilung Dritter und einer – mehr oder weniger breiten – Öffentlichkeit. Welche Informationen als interessant, bewundernswert, anstößig oder verwerflich erinnert werden, unterliegt insoweit nicht der einseitigen Verfügung des Betroffenen. Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt damit nicht das Recht, alle früheren personenbezogenen Informationen, die im Rahmen von Kommunikationsprozessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet löschen zu lassen. Insbesondere gibt es kein Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten. Erst recht stellt das Grundgesetz die dauerhafte Auseinandersetzung mit Taten und Tätern nicht infrage, denen als öffentliche Personen Prägekraft für das Selbstverständnis des Gemeinwesens insgesamt zukommt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist kein Rechtstitel gegen ein Erinnern in historischer Verantwortung.
(3) Eingebunden in eine solche Balance ist der wirksame Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus auch von öffentlichem Interesse. Wenn gesellschaftliches Engagement, ungewöhnliche persönliche Eigenheiten, aneckende Positionen oder auch Irrtümer und Fehltritte den Betroffenen unbegrenzt vorgehalten und zum Gegenstand öffentlicher Erregung gemacht werden können, beeinträchtigt das nicht nur die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, sondern auch das Gemeinwohl. Denn die Selbstbestimmung in der Zeit ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens. Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn insoweit ein hinreichender Schutz gewährleistet ist. Was für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gilt (vgl. BVerfGE 65, 1 [43] = NJW 1984, 419), gilt insoweit für das allgemeine Persönlichkeitsrecht allgemein.
dd) Bei der Erfassung und verfassungsrechtlichen Gewichtung der Bedeutung personenbezogener Berichte ist demnach auch deren Wirkung unter zeitlichen Gesichtspunkten zu würdigen. Erforderlich ist eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls, die neben weiteren Faktoren auch den zeitlichen Abstand zu den Ereignissen, die Gegenstand der Berichterstattung sind, berücksichtigt. Hierbei kann an die bisherige Rechtsprechung angeknüpft werden (vgl. BVerfGE 35, 202[218 ff.] = NJW 1973, 1226). Insoweit reicht es heute aber nicht, dass die Veröffentlichung einer Information anfänglich gerechtfertigt war, sondern muss sich ihre Verbreitung zu jedem Zeitpunkt rechtfertigen lassen können, in dem sie zugänglich ist. Auch wenn eine Berichterstattung zunächst zulässig war, kann ihre spätere Verbreitung unzulässig werden – ebenso wie sie umgekehrt durch neue Umstände auch wieder zulässig werden kann.
2. Auf der Gegenseite ist dem Schutzgehalt der Meinungs- und Pressefreiheit angemessen Rechnung zu tragen.
a) Art. 5 I 1 GG schützt die freie Berichterstattung über öffentlich bedeutsame Ereignisse, zu der grundsätzlich auch eine vollständige, die Person des Täters einbeziehende Information der Öffentlichkeit über vorgefallene Straftaten und die zu ihrer Entstehung führenden Vorgänge gehört (vgl. BVerfGE 35, 202 [230] = NJW 1973, 1226). Eine Begrenzung der Presse auf eine anonymisierte Berichterstattung bedeutet eine gewichtige Beschränkung von Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit, die eine Rechtfertigung voraussetzt (vgl. BVerfGE 119, 309[326] = NJW 2008, 977).
Dieser Gehalt findet auch in der Rechtsprechung des EGMR seine Bestätigung. Die Einbeziehung individualisierender Angaben in die Berichterstattung über Straftaten bezeichnet der EGMR als wichtigen Aspekt der Pressearbeit. Anforderungen an den Persönlichkeitsschutz dürften nicht so gestaltet sein, dass sie der Presse berechtigten Grund geben, auf eine individualisierende Berichterstattung ganz zu verzichten (vgl. EGMR NJW 2020, 295 §§ 104, 105 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft]; zur Bedeutung identifizierender Berichterstattung vgl. auch EGMR NJW 2018, 3083 Rn. 37 – F./Deutschland).
b) Aufseiten der von Art. 5 I 2 GG geschützten Pressefreiheit ist das Recht der Presse einzustellen, selbst zu entscheiden, worüber sie wann, wie lange und in welcher Form berichtet (vgl. BVerfGE 101, 361 [389 f.] = NJW 2000, 1021; BVerfGE 120, 180 [196 f.] = NJW 2008, 1793; stRspr). Die Möglichkeit, die Berichte in unveränderter Form vollständig zu archivieren und als Spiegel der Zeitgeschichte zu erhalten, ist dabei ein bedeutsames Element. Insoweit ist auch der Gehalt der Pressefreiheit vor dem Hintergrund der Entwicklung der Informationstechnik zu würdigen. Der Bereitstellung von Berichten im Netz kommt angesichts deren ubiquitärer und jederzeitigen Abrufbarkeit für die Presse dabei große Bedeutung zu – gerade auch in Ergänzung zu den gedruckten Ausgaben, die allein das öffentliche Informationsbedürfnis nicht mehr befriedigen und einen Presseverlag immer weniger tragen.
Die Bereitstellung von Onlinearchiven dient nicht nur den Interessen der Presseverlage, sondern ist zugleich von öffentlichem Interesse. Die allgemeine Zugänglichkeit von Informationen über das Internet verbreitert die Teilnahme an der Wissenskommunikation und schafft für die Bürgerinnen und Bürger neue Möglichkeiten der Übermittlung und des Empfangs von Informationen über die Landesgrenzen hinweg. Solche Archive ermöglichen einen einfachen Zugang zu Informationen und sind zugleich eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen. Insoweit besteht auch erhebliches Interesse an ihrer Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit. Für Bildung und Erziehung sowie für die öffentliche Debatte in der Demokratie kommt ihnen eine wichtige Rolle zu (vgl. dazu auch EGMR NJW 2020, 295 § 90 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft] unter Hinweis auf EGMR Urt. v. 10.3.2009 – 3002/03 und 23676/03, §§ 27 und 45 – Times Newspapers Ltd/Vereinigtes Königreich sowie EGMR Urt. v. 16.7.2013 – 33846/07, BeckRS 2013, 15343 [engl. Fassung] Rn. 59 – Węgrzynowski und Smolczewski/Polen).
IV. Die Reichweite von Schutzansprüchen gegenüber der Verbreitung von Presseberichten im Einzelfall richtet sich nach einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte unter umfassender Berücksichtigung der konkreten Umstände. Hierbei ist unter Rückgriff auf die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der jeweils infrage stehende Schutzbedarf, insbesondere unter Würdigung von Anlass und Gegenstand sowie Form, Art und Reichweite der Veröffentlichung, in die Abwägung einzustellen. Die Verbreitung im Internet gehört hierzu ebenso wie die Bedeutung der Berichterstattung in der Zeit. Die verschiedenen Faktoren werden bei dieser Abwägung grundsätzlich in einem Zusammenhang verarbeitet.
Das vorliegende Verfahren weist die Besonderheit auf, dass die ursprüngliche Rechtmäßigkeit der Berichterstattung außer Streit steht. Dass die gegenständlichen Berichte ursprünglich verbreitet werden durften, stellt der Bf. nicht infrage, und hierfür gibt es auch keine Anzeichen. Gegenstand ist damit allein die Frage, ob ein zunächst rechtmäßig veröffentlichter Bericht auch nach dem Ablauf vieler Jahre unter den dadurch veränderten Umständen weiter verbreitet werden darf. Zu beurteilen ist demnach die Bedeutung des Zeitablaufs für die weitere Verbreitung der fraglichen Berichte.
Auch dies verlangt – nicht anders als sonst – einen einzelfallbezogen umfassenden Ausgleich zwischen den sich gegenüberstehenden Grundrechten, der in erster Linie den Fachgerichten obliegt. Dabei stellen sich aber eigene Fragen. So gelten verfahrensrechtliche Maßgaben, wann durch Zeitablauf veränderte Umstände zu berücksichtigen sind (1). Auch lassen sich für die Bewertung eines zunehmenden zeitlichen Abstands zwischen Erstveröffentlichung und Weiterverbreitung von Informationen inhaltliche Kriterien benennen (2). Schließlich sind für die Herstellung eines Ausgleichsverschieden weitgehende Formen der Schutzgewährung vor der weiteren Verbreitung alter Berichte im Netz zu berücksichtigen (3).
1. Ein Ausgleich zwischen einem Medienunternehmen als für die Netzveröffentlichung verantwortlichem Inhalteanbieter und den hierdurch Betroffenen ist zunächst verfahrensrechtlich hinsichtlich der Frage zu finden, wann für die Inhalteanbieter neue Prüfpflichten entstehen.
Grundsätzlich trägt die Presse für die Verbreitung ihrer Berichte die Verantwortung und hat bei deren Veröffentlichung ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Da sie durch deren Bereitstellung im Netz ihre weitere Verbreitung bewirkt, behält sie die Verantwortlichkeit für die Rechtmäßigkeit ihrer Berichte auch dann, wenn sich die hierfür maßgeblichen Umstände durch Zeitablauf verändern. Hieraus kann jedoch nicht die Pflicht abgeleitet werden, sämtliche einmal in das Netz gestellte Beiträge von sich aus regelmäßig auf ihre weitere Rechtmäßigkeit zu prüfen. Eine solche proaktive Prüfpflicht müsste auf Presseverlage Druck ausüben, entweder von einer identifizierenden Berichterstattung überhaupt abzusehen oder aber auf deren Bereitstellung in Onlinearchiven ganz zu verzichten und damit ihre Informationsaufgabe in wichtiger Hinsicht nicht mehr zu erfüllen (vgl. BGH NJW 2019, 1881 Rn. 26 mwN; auch EGMR NJW 2020, 295 § 104 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft]). Dies wäre mit der Meinungs- und Pressefreiheit nicht zu vereinbaren.
Ein Verlag darf deshalb davon ausgehen, dass ein anfänglich rechtmäßig veröffentlichter Bericht bis auf Weiteres auch in ein Onlinearchiv eingestellt und bis zu einer qualifizierten Beanstandung durch Betroffene für die Öffentlichkeit bereitgehalten werden darf. Verpflichtende Schutzmaßnahmen sind der Presse erst dann zumutbar, wenn Betroffene sich an sie gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt haben. Dies ist umgekehrt auch den Betroffenen zumutbar, die auf diese Weise ihre Beschwer nachvollziehbar geltend machen können und so zugleich den Kontrollrahmen für die Prüfung durch den Verlag bestimmen.
2. Welche Bedeutung dem Verstreichen von Zeit für die spätere Geltendmachung eines Schutzanspruchs gegenüber einer ursprünglich rechtmäßigen Veröffentlichung zukommt, lässt sich nur unter Erfassung des konkreten Schutzbedarfs des Betroffenen in Abwägung mit den entgegenstehenden Grundrechten und dabei zugleich der öffentlichen Bedeutung der fraglichen Informationen beurteilen.
a) Ein maßgeblicher Gesichtspunkt liegt hierfür zunächst in Wirkung und Gegenstand der Berichterstattung. Je stärker die Verbreitung zurückliegender Berichte das Privatleben und die Entfaltungsmöglichkeiten der Person als ganze beeinträchtigen, desto größeres Gewicht kann einem Schutzanspruch zukommen. Dies steht zugleich in einer Wechselwirkung mit Gegenstand und Anlass der Berichterstattung: Soweit Berichte sich mit dem Verhalten einer Person in der Sozialsphäre befassen, kann ihrer Zugänglichkeit auch langfristig eher Gewicht zukommen, als wenn sie allein von privatem, bewusst nicht vor anderen gezeigtem Verhalten oder Fehlverhalten handeln. Maßgeblich ist insoweit nicht zuletzt auch das öffentliche Interesse an der fortdauernden Erreichbarkeit der Informationen.
b) Bedeutung kommt auch der Frage zu, wieweit die berichteten Ereignisse in einer Folge weiterer hiermit einen Zusammenhang bildender Vorkommnisse stehen. Zurückliegende Ereignisse können eher fortdauernde Bedeutung behalten, wenn sie eingebunden sind in eine Abfolge etwa gesellschaftspolitischer oder kommerzieller Aktivitäten oder durch nachfolgende Begebenheiten neue Relevanz erhalten, als wenn sie für sich allein stehen.
Entsprechend kann zu berücksichtigen sein, ob und wieweit Betroffene in der Zwischenzeit dazu beigetragen haben, das Interesse an den Ereignissen oder ihrer Person wachzuhalten. Hat eine Person die Öffentlichkeit gesucht und ohne Not Aufmerksamkeit erzeugt, die das Interesse an den ursprünglichen Berichten reaktualisiert, kann ihr Interesse, von einer Konfrontation mit der Ausgangsberichterstattung verschont zu bleiben, entsprechend geringer zu gewichten sein. Insoweit gehört zu der Chance auf ein Vergessen auch ein Verhalten, das von einem „Vergessenwerdenwollen“ getragen ist.
c) Für das Gewicht der Beeinträchtigung kommt es auch darauf an, in welcher Einbindung die Informationen unter den konkreten Umständen im Netz kommuniziert werden. So macht es einen Unterschied, ob über ein lang zurückliegendes Ereignis etwa in Form eines auf Skandalisierung hin angelegten personenbezogenen Blogs berichtet wird oder im Rahmen eines Bewertungsportals, bei dem sich die Aussagekraft älterer Informationen durch neuere Eintragungen relativiert und damit unter Umständen auch lange zurückliegende Informationen noch vorgehalten werden dürfen. Es kommt insoweit auf die tatsächliche Belastung für die Betroffenen an.
Die Belastung der Betroffenen bestimmt sich dabei nicht abstrakt aus der Tatsache, dass eine Information im Netz irgendwie zugänglich ist, sondern hängt auch daran, wieweit sie hierdurch tatsächlich breitenwirksam gestreut wird. Von Bedeutung kann dabei auch sein, wieweit sie von Suchmaschinen prioritär kommuniziert wird. Da Kommunikation und Kommunikationsbedingungen des Internets freilich individuell verschieden und volatil sind, gibt es insoweit kein objektives Maß. Jedoch stellt sich auch im Netz die Bedeutung von Informationen erst aus Kommunikationszusammenhängen her und erhalten diese unterschiedliche Verbreitung und Sichtbarkeit. Maßgeblich ist insoweit eine Beurteilung der gesamten Belastungswirkung aus Sicht des Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung über sein Schutzbegehren – die dann in die Abwägung mit den Kommunikationsfreiheiten einzustellen ist.
d) Nicht möglich ist es demgegenüber, einen durch Zeitablauf entstehenden Schutzanspruch unter schematischer Übernahme anderweitig geregelter Verwendungs-, Veröffentlichungs- oder Löschungspflichten zu bestimmen. Dies gilt für Berichte über Straftaten auch hinsichtlich der Fristen des Bundeszentralregistergesetzes. Solche einfachrechtlichen Regelungen folgen je eigenen Zwecken und können den von Verfassungs wegen gebotenen Ausgleich zwischen den sich gegenüberstehenden Grundrechten nicht leisten. Sie mögen im Einzelfall als Orientierungshilfe herangezogen werden können, ersetzen die eigenständige grundrechtliche Abwägung jedoch nicht.
e) Insgesamt bedarf die Entscheidung über ein Schutzbegehren, das auf die veränderten Umstände durch Zeitablauf gestützt ist, einer neuen Abwägung. In diese sind nach allgemeinen Regeln erneut umfassend alle nunmehr erheblichen Umstände einzustellen. Dass hierbei auch die ursprüngliche Rechtmäßigkeit der Berichte ein Gesichtspunkt sein kann, wird damit nicht infrage gestellt.
3. Für den Ausgleich zwischen den Medien und den Betroffenen sind zudem mögliche Abstufungen hinsichtlich der Art von Schutzgewähr zu berücksichtigen, die die sich ändernden Bedeutungen von Informationen in der Zeit abfedern.
a) Für die hier in Streit stehende Frage nach Schutzansprüchen gegenüber der Bereitstellung zurückliegender Presseberichte in einem Onlinearchiv lässt sich auf der Suche nach Zwischenlösungen zwischen einerseits der vollständigen Löschung individualisierender Angaben und anderseits deren uneingeschränkter Hinnahme zunächst an die Interessen der sich gegenüberstehenden Parteien anknüpfen. Diese haben verschiedene Schwerpunkte.
Die Presse hat regelmäßig ein Interesse daran, alte Berichte vollständig und unverändert zu dokumentieren. Dem kommt verfassungsrechtlich erhebliches Gewicht zu. Eine Pflicht zu einer endgültigen, möglicherweise auch die gedruckten Ausgaben betreffenden Vernichtung oder Änderung vormals veröffentlichter Berichte wäre mit Art. 5 I 2 GG grundsätzlich unvereinbar. Die Bedeutung der Vollständigkeit der Archive nicht nur als Grundlage gesellschaftlicher Kommunikation und Selbstverständigung, sondern auch als Grundlage späterer Forschung steht dem Verlangen nach einer späteren endgültig-substanziellen Veränderung solcher Dokumente entgegen (vgl. EGMR NJW 2020, 295 § 90 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft] unter Hinweis auf EGMR Urt. v. 10.3.2009 – Nr. 3002/03 und 23676/03, §§ 27 und 45 – Times Newspapers Ltd/Vereinigtes Königreich,sowie EGMR Urt. v. 16.7.2013 – 33846/07, BeckRS 2013, 15343 [engl. Fassung] Rn. 59 – Węgrzynowski und Smolczewski/Polen). Dabei besteht ein gewichtiges Interesse sowohl der Presse wie der Allgemeinheit auch darin, die alten Berichte dem unmittelbaren Zugriff über das Internet zu erschließen und sie so der allgemeinen Öffentlichkeit direkt zugänglich zu machen (s. oben Rn. 112 f.). Gerade in Bezug auf ältere Berichte ist ein Interesse vornehmlich daran anzuerkennen, sie für Recherchen zugänglich zu machen, die einen sachbezogenen Anlass haben. Dass diese hingegen als allgemeine Informationsquellen über die in den Berichten genannten Privatpersonen zur Verfügung stehen, hat demgegenüber kein vergleichbar berechtigtes Gewicht.
Demgegenüber richtet sich das berechtigte Interesse des Betroffenen weniger gegen die Vorhaltung der ursprünglich rechtmäßigen Berichte als Grundlage sachbezogener Recherchen als dagegen, mit diesen im Lebensalltag immer neu konfrontiert zu werden. Besonders belastendes Gewicht hat es dabei, wenn die alten Berichte durch namensbezogene Suchabfragen im persönlichen Bekanntenkreis bekannt werden und damit auf die sozialen Beziehungen des Betroffenen einwirken. Demgegenüber belastet es ihn wesentlich geringer, wenn sie nur solchen Personen bekannt werden, die sich aus besonderem Anlass gezielt für die damaligen Ereignisse interessieren.
b) Dieser unterschiedlichen Interessenlage ist bei der Frage nach Art und Umfang etwaiger nachträglicher Schutzansprüche Rechnung zu tragen. Zu berücksichtigen ist deshalb, wieweit dem Betreiber eines Onlinearchivs Mittel zu Gebote stehen, zum Schutz der Betroffenen auf die Erschließung und Verbreitung der Berichte im Netz Einfluss zu nehmen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Suchmaschinen, die über die Verbreitung im Netz maßgeblich mitentscheiden.
aa) Nach den Stellungnahmen der Sachverständigen in diesem Verfahren bestehen solche Möglichkeiten in erheblichem Umfang und beschränken sich diese nicht lediglich auf eine endgültige Löschung des Namens in den betreffenden Dokumenten. So wird darauf verwiesen, dass der Betreiber eine Webseite auf der Basis von Zugangscodes oder durch Anweisungen an die Suchmaschinenbetreiber Bereiche schaffen kann, die von deren Suchprogrammen (den sog. Crawlern) nicht durchsucht werden. Berichte, die in diesen Bereichen abgelegt werden, werden damit von Suchmaschinen grundsätzlich nicht erschlossen. Demgegenüber bleiben sie jedoch – etwa bei gezieltem Aufruf des Internetportals des Onlinearchivs – über das Internet zugänglich und können intern auch durch Suchprogramme erschlossen werden.
bb) Der damit aufgezeigte Weg führt allerdings dazu, dass jeweils die gesamte in einem solchen Bereich abgelegte Datei – und damit regelmäßig der Bericht als ganzer – dem Zugriff der Suchprogramme entzogen ist. Allein die Verbergung eines Namens kann so nicht erreicht werden. Geht ein Onlinearchiv diesen Weg, muss es also in Kauf nehmen, dass der „eingesperrte“ Text insgesamt von den Suchmaschinen nicht mehr gefunden und nachgewiesen wird.
Um diesen Nachteil aufzufangen, werden in der Literatur Kombinationslösungen vorgeschlagen, bei denen die Crawler der Suchmaschinenbetreiber auf eine Seite verwiesen werden, auf der der Artikel zwar grundsätzlich zugänglich ist und durchsucht werden kann, der zu schützende Name – etwa durch Löschung oder möglicherweise auch den Einsatz von Bilddateien – für sie aber nicht auffindbar ist (vgl. Höch K & R 2015, 632 [633]; Bergt/Brandi-Dohrn/Heckmann, CR 2014, 1 [10]). Das hat zur Folge, dass eine Suchabfrage zu dem geschützten Namen grundsätzlich nicht zu einem Nachweis führt, bei einer Suche nach anderen Begriffen, die das Ereignis kennzeichnen, über das berichtet worden ist, jedoch ein Treffer gemeldet wird. Wenn auf eine solche Treffermeldung hin der Nutzer dann die Seite aufruft, soll er von dem Inhalteanbieter aber auf die Originalversion der Datei umgeleitet werden, so dass ihm der vollständige Bericht mit Namen zugänglich ist. Durch solches Übereinanderlegen zweier verschiedener Fassungen des Berichts soll also ermöglicht werden, dass namensbezogene Suchabfragen in der Regel erfolglos bleiben, sachbezogene Suchabfragen aber Zugang zu dem unveränderten Bericht – einschließlich seiner individualisierenden Angaben – verschaffen. Das kann die Belastung für einen Betroffenen verringern. Dies gilt auch dann, wenn berücksichtigt wird, dass mögliche weitere Einflussfaktoren auf die Suchergebnisse dabei nicht ausgeschlossen werden könnten.
c) Es ist nicht Aufgabe des BVerfG, über die technische Durchführbarkeit solcher – stets im Wandel begriffenen – Lösungen und die hiermit erreichbaren Ergebnisse abschließend zu entscheiden. Bei der Herstellung eines Grundrechtsausgleichs ist ihnen unter Berücksichtigung ihrer praktischen Wirksamkeit und der Zumutbarkeit für das betroffene Medienunternehmen jedoch von den Fachgerichten Rechnung zu tragen.
aa) Für die Frage, welcher Schutz mit welchen Maßnahmen diesbezüglich erreicht werden kann, kommt es auf eine wägende Betrachtung an, die sich an einer hinreichenden praktischen Wirksamkeit orientiert. Deshalb steht der Eignung solcher Maßnahmen nicht schon grundsätzlich entgegen, wenn mit ihnen kein vollständiger Schutz garantiert werden kann und etwa durch Drittverweise oder Spiegelungen der Berichte auf anderen Webseiten Treffermeldungen nicht ausgeschlossen sind. Auch hier kommt es auf eine Beurteilung der verbleibenden konkreten Belastung an, wobei auch eine Rolle spielt, ob solche Maßnahmen die Beeinträchtigung dann zumindest dadurch abmildern, dass sie etwa dazu führen, dass der Betroffene weniger prominent auf der Ergebnisliste der Suchmaschine aufgeführt wird (s. oben Rn. 26 f. [insoweit hier nicht abgedruckt; abrufbar unter BeckRS 2019, 29201]).
bb) Weiter müssen die den Medienunternehmen damit abverlangten Maßnahmen zumutbar sein. Dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, dass der hiermit verbundene Aufwand keine Ausmaße annimmt, die die Unternehmen von einer personenbezogenen Berichterstattung oder der Bereitstellung von Onlinearchiven insgesamt abzuhalten geeignet sind (s. oben Rn. 111). Das heißt allerdings nicht, dass Schutzmaßnahmen grundsätzlich keine technischen Anstrengungen und Kosten mit sich bringen dürften. Vielmehr ist es konsequent, dass den Medienunternehmen angesichts neuer Verbreitungsmöglichkeiten auch neue Schutzanforderungen gegenüber betroffenen Dritten erwachsen können, die gewisse Lasten nach sich ziehen.
Eine grundsätzliche Unzumutbarkeit solcher Inpflichtnahme der Medien lässt sich nicht auf den Gesichtspunkt stützen, dass Gefährdungen für die Persönlichkeitsentfaltung durch die Bereitstellung zurückliegender Berichte im Netz maßgeblich erst von Suchmaschinen hervorgerufen würden und deshalb nur diesen angelastet werden dürften. Indem ein Presseunternehmen seine Artikel auf eine allgemein zugängliche Plattform im Internet einstellt, trägt es für die Zugangsmöglichkeiten auch selbst eine Verantwortung. Dass auf diese Artikel über das Netz und insbesondere auch mittels Suchmaschinen Zugriff genommen wird, wird mit der Bereitstellung im Netz gewollt und verantwortet. Unzumutbar mögen Maßnahmen im Einzelfall dann sein, wenn sie – etwa angesichts ubiquitärer Spiegelungen eines Textes auf anderen Foren – von vornherein ergebnislos wären oder andere Mittel ohne weiteres wirksameren Schutz versprechen. Dies stellt jedoch die grundsätzliche Zumutbarkeit von Schutzmaßnahmen gegenüber der namensbezogenen Auffindbarkeit alter Berichte bei besonderem Schutzbedarf nicht infrage.
Eine andere Frage ist es, wieweit für die Art und Weise gegebenenfalls erforderlicher Schutzmaßnahmen auf entsprechende Organisationsentscheidungen des jeweiligen Inhalteanbieters Rücksicht zu nehmen ist. Insoweit kann es möglich sein, dem Betreiber eines Onlinearchivs Einflussmöglichkeiten zu belassen, zwischen verschiedenen Alternativen der Schutzgewähr mitzuentscheiden. Maßgeblich ist, dass im Ergebnis ein hinreichender Schutz gewährt ist.
cc) Welche näheren Anforderungen an die Betreiber eines Onlinearchivs zum Schutz vor in der Zeit entstehenden Belastungen durch die Berichte zu stellen sind, obliegt in erster Linie der Entscheidung der Fachgerichte. Anzustreben ist ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhält, diesen auf entsprechenden Schutzbedarf hin – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – aber einzelfallbezogen doch hinreichend begrenzt. Hierbei ist verfassungsrechtlich weder vorgegeben, wieweit die Fachgerichte den Medienunternehmen bestimmte Schutzvorkehrungen technisch abschließend vorschreiben oder insoweit mit Zielbestimmungen arbeiten, noch wie solche Maßnahmen zivilprozessual durchzusetzen sind.
Angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung und der damit verbundenen Ungewissheit, wie und wieweit ein Inhalteanbieter die Verbreitung im Internet im Wechselspiel mit den Suchmaschinen beeinflussen kann, werden die Fachgerichte die Konturen wirksamer und zumutbarer Schutzmaßnahmen fortlaufend fortzuschreiben haben. Soweit zumutbar, können sie den Akteuren auch die Entwicklung neuer Instrumente aufgeben. Bei alledem haben sie einen erheblichen Wertungsspielraum.
V. Die Entscheidung des BGH hält diesen Anforderungen nicht in jeder Hinsicht stand.
1. Vom Ausgangspunkt her überzeugend nimmt die angegriffene Entscheidung allerdings eine Abwägung zwischen den einschlägigen Grundrechten des Bf. und des beklagten Presseverlags vor. Zutreffend und auch in Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR stellt sie dabei darauf ab, dass die Presse zur Erfüllung ihrer Aufgaben bei ihrer Berichterstattung über Straftaten nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Darstellung verwiesen werden darf. Die Verletzung der Rechtsordnung und die Beeinträchtigung von Rechtsgütern einzelner oder der Gemeinschaft begründen grundsätzlich ein anzuerkennendes Interesse an näheren Informationen über Tat oder Täter; wahre Tatsachenbehauptungen müssen insoweit in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für die Betroffenen sind. Zu Recht wird auch eingestellt, dass Gegenstand des sachlich gehaltenen Berichts ein spektakuläres Kapitalverbrechen und der A-Prozess ein zeitgeschichtliches Ereignis war, das untrennbar mit der Person und dem Namen des Bf. verbunden war.
2. Demgegenüber gewichtet die angegriffene Entscheidung nicht hinreichend, welche Beeinträchtigungen sich unter den durch Zeitablauf veränderten Umständen für den Bf. aus der weiteren Verbreitung der Berichte ergeben. Zwar erkennt sie an, dass das Interesse von Betroffenen, von einer neuen Konfrontation mit früheren Straftaten verschont zu bleiben, mit zeitlicher Distanz zum Strafverfahren zunimmt. Sie setzt sich dabei aber nicht hinreichend mit der Situation des Bf. auseinander.
a) Nicht ausreichend gewürdigt wird zum einen, wie direkt und mit welcher Breitenwirkung der Bf. der Konfrontation mit der identifizierenden Berichterstattung noch heute ausgesetzt ist und wieweit sich dies auch angesichts einer Zeitspanne von über 30 Jahren seit Begehung der Straftat und der vom Bf. inzwischen vollständig verbüßten Haftstrafe noch rechtfertigen lässt.
Die Annahme des BGH, dass das Auffinden des Artikels ein gezieltes Suchen voraussetze, da die Artikel nur auf einer in passiver Darstellungsform ausgestalteten Webseite verfügbar gehalten und deshalb allein von Nutzern zur Kenntnis genommen würden, die sich selbst aktiv informierten, übersieht die kategorialen Veränderungen, die mit der jederzeitigen und ubiquitären Verfügbarkeit von im Internet vorgehaltenen Informationen einhergehen. Unter den heutigen Nutzungsgewohnheiten des Internets besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Freunde, Nachbarn und insbesondere auch neue Bekannte schon aus einem oberflächlichen Informationsinteresse heraus oder aus geringfügigem Anlass den Namen des Bf. im Suchfeld einer Suchmaschine eingeben. Werden sie dabei, wie im Fall des Bf., auf der Ergebnisliste vorrangig auf dessen frühere Straftaten hingewiesen, begründet das die Gefahr, dass dessen Wahrnehmung in seinem sozialen Umfeld nachhaltig hierdurch geprägt bleibt. Dies wiegt umso schwerer, als der Bf. sich nach der Verbüßung einer langjährigen Haftstrafe in ein neues soziales Umfeld einfinden muss.
Dabei wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass unabhängig von der feststellbaren tatsächlichen Häufigkeit namensbezogener Suchabfragen schon die ständig drohende Möglichkeit und die damit verbundene Angst, jederzeit unvorbereitet aufs Neue mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden, den Bf. dazu bewegen kann, mit neuen sozialen Kontakten vorsichtig zu sein, sich zurückzuziehen und die Öffentlichkeit zu meiden. Auch wenn, worauf der BGH zutreffend hinweist, die Berichterstattung als solche nicht sensationslüstern, sondern eher abwägend und psychologisierend gehalten ist, hätte er stärker gewichten müssen, dass das dauerhafte Vorhalten der Berichte angesichts ihrer facettenreichen Schilderung der Straftat und der umfangreichen Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Täters dazu führen kann, dass hierdurch eine Wiedereingliederung des Bf. in die Gesellschaft nach der Verbüßung seiner Haftstrafe erheblich erschwert und die Chance eines Neuanfangs nachhaltig behindert wird.
Einzustellen ist dabei weiterhin, dass die Information über den Bf. anders als etwa bei Bewertungsportalen nicht eingebettet in eine Abfolge weiterer, aktueller Informationen steht. Nach den der Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen weisen namensbezogene Suchabfragen bei marktführenden Suchmaschinen praktisch allein an prioritärer Stelle auf die in Streit stehenden Berichte hin, so dass das hierdurch entstehende Bild des Bf. auch heute maßgeblich von den besonders schweren und seinerzeit aufsehenerregenden Taten im Jahr 1981 dominiert wird.
b) Zum anderen gewichtet die angegriffene Entscheidung das Verhalten des Bf. seit seiner Haftentlassung nicht ausreichend. Der Bf. wurde, nachdem er eine 17-jährige Haftstrafe verbüßt hatte, vor vielen Jahren aus der Haft entlassen. Er ist danach mit seiner Tat nicht wieder in das Licht der Öffentlichkeit getreten. Zwar hat der Autor eines im Jahr 2001 erschienenen Buches mit dem Titel „…“ die Tat literarisch verarbeitet und dabei den Bf. mit seinen Rechercheergebnissen konfrontiert. Dass der Bf. einen substanziellen Beitrag oder gar den Anstoß zu dieser Veröffentlichung geleistet und so das Interesse an der Tat wachgehalten hätte, ist jedoch nicht zu erkennen.
Damit unterscheidet sich der Fall auch von den Fällen, über die – ausgehend von einer Entscheidung des BGH – zunächst die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG und dann der EGMR zu entscheiden hatten (EGMR NJW 2020, 295 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft]). Dort blieb ein von zwei Straftätern geltend gemachtes Schutzbegehren gegenüber Publikationen über ein von ihnen begangenes Verbrechen in einem Onlinearchiv auf nationaler wie auch internationaler Ebene erfolglos. Der EGMR stützt seine Entscheidung dabei unter anderem ausdrücklich darauf, dass die Bf. nicht nur die regulären Rechtsmittel eingelegt, sondern weit darüber hinaus in einer öffentlichen Kampagne alle möglichen und erdenklichen Mittel ergriffen hätten, um ihren Anträgen öffentlichen Nachdruck zu verleihen und dabei auch selbst an die Presse getreten seien. Ebenso habe man noch ein Jahr vor Geltendmachung des Schutzanspruchs auf der Homepage des Anwalts eines der Bf. zahlreiche Reportagen über diesen gefunden. In einem der beiden Fälle waren die Berichte dabei nur Abonnenten zugänglich, in einem weiteren der drei Verfahren waren sie hinter einer Bezahlschranke („paywall“) abgeschirmt und nicht kostenlos zugänglich. Auch hierauf hat der EGMR ausdrücklich abgestellt (vgl. EGMR NJW 2020, 295 §§ 98, 108 f., 113 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft]).
Im Übrigen hat der EGMR dabei ausdrücklich auf einen weiten Einschätzungsspielraum der Konventionsstaaten verwiesen (vgl. EGMR NJW 2020, 295 § 94 – M. L. und W. W./Deutschland [unter Nr. 1 in diesem Heft]) und damit die Versagung von Schutz zwar für menschenrechtskonform gehalten, nicht aber etwa als durch Art. 11 I EMRK geboten beurteilt.
3. Angesichts der gewichtigen Beeinträchtigung des Bf. durch die allgemeine Zugänglichkeit der Berichte fehlt es in der angegriffenen Entscheidung weiter an einer Auseinandersetzung mit der Frage abgestufter Schutzmöglichkeiten und damit mit etwaigen Zwischenlösungen, die der Bekl. als milderes Mittel eher zumutbar sind als die Entfernung der Artikel oder deren Veränderung durch digitale Schwärzung des Namens. In der Tat durfte der BGH zwar eine anlasslose Pflicht zur ständigen Überprüfung des Onlinearchivs auf eine mögliche veränderte Bedeutung personenbezogener Informationen ebenso ausschließen wie eine generelle Pflicht, beeinträchtigende alte Berichte durch endgültige Löschungen zu verändern oder einem Onlinezugriff insgesamt zu entziehen. Näher in Betracht zu ziehen wäre indessen gewesen, ob dem beklagten Presseunternehmen auf die Anzeige des Bf. hin zumutbare Vorkehrungen hätten auferlegt werden können und müssen, die zumindest gegen die Auffindbarkeit der Berichte durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen einen gewissen Schutz bieten, ohne die Auffindbarkeit und Zugänglichkeit des Berichts im Übrigen übermäßig zu hindern. Zwar mögen die hierfür erforderlichen Maßnahmen technisch nicht trivial sein. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass sie, wenn sie auf eine begrenzte Zahl vergleichbar gravierender Fallgestaltungen wie der vorliegenden beschränkt bleiben, dem beklagten Presseverlag von vornherein unzumutbar sein müssten.
VI. Darauf, dass für den vorliegenden Rechtsstreit neben den Grundrechten des Grundgesetzes nach Art. 51 I 1 GRCh nach der Rechtsprechung des EuGH auch die Rechte der Grundrechte-Charta anwendbar sein mögen, kommt es vorliegend nicht an. Der Rechtsstreit betrifft Vorschriften, die unionsrechtlich nicht vollständig vereinheitlicht sind und grundrechtliche Vielfalt zulassen (oben Rn. 74). Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Grundrechte des Grundgesetzes insoweit das Schutzniveau der Charta nicht mitgewährleisten. Die vorstehende Beurteilung der Verfassungsbeschwerde beruht auf einer Grundrechtsabwägung, die sich – abgestützt durch die Rechtsprechung des EGMR – im Rahmen entsprechender menschenrechtlicher Gewährleistungen der Konvention bewegt, welche nach Art. 52 III GRCh auch für die Auslegung der Charta (dort der Art. 7, 8 sowie des Art. 11 GRCh) maßgeblich sind. Daher gilt die Vermutung, dass die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta nicht in Frage stellt.
D. Nach alledem ist die angegriffene Entscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a II BVerfGG.
E. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Gesetze
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(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.
(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.
(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.
Tenor
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Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juli 2013 10 K 1078/12 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden für das Streitjahr (2009) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte in den Jahren 1989 bis 1993 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als …. Im Anschluss daran beendete er sein Studium der … und erzielte von 2006 bis 2009 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als …. Im Jahr 2008 wurde er wegen einer im Jahr 2007 begangenen Vergewaltigung zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die dagegen beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegte Revision hatte keinen Erfolg. Im Jahr 2009 trat der Kläger die Haftstrafe an. Im Jahr 2011 wurde er aus dem Strafvollzug entlassen. Nach Bekanntwerden der erstinstanzlichen Verurteilung kündigte sein damaliger Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich. Seit … 2012 ist der Kläger als … für eine … tätig. Da es aufgrund der Verurteilung zu beruflichen Schwierigkeiten gekommen war und er befürchtete, keine Anstellung mehr zu finden, ging der Kläger ab dem Jahr 2008 unter Einschaltung spezialisierter Anwälte gegen die mediale Berichterstattung über seine Person mit dem Ziel der Löschung entsprechender Artikel aus dem Internet vor. Hierdurch entstanden ihm aufgrund zahlreicher zivilprozessualer Verfahren, die er ausschließlich im Hinblick auf die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geführt hatte, Aufwendungen in Höhe von 53.307,22 €.
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Der Kläger begehrte die Berücksichtigung der Aufwendungen im Streitjahr als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, hilfsweise als außergewöhnliche Belastungen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ließ die Aufwendungen unberücksichtigt. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhoben die Kläger Klage, die das Finanzgericht (FG) als unbegründet abwies.
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Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Die Kläger beantragen,
das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 22. Juli 2013 10 K 1078/12 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2009 vom 25. Februar 2011 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 1. März 2012 dahingehend abzuändern, dass weitere Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, hilfsweise außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 53.307,22 € berücksichtigt werden.
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Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet. Sie ist daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat die streitigen Aufwendungen zu Recht weder als Werbungskosten bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit noch als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt.
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1. Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) liegen Werbungskosten vor, wenn zwischen den Aufwendungen und den steuerpflichtigen Einnahmen ein Veranlassungszusammenhang besteht.
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Ob Aufwendungen der beruflichen Sphäre oder der Lebensführung i.S. von § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG zuzurechnen sind, entscheidet sich unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, ohne dass dabei allerdings schon ein abstrakter Kausalzusammenhang i.S. einer conditio sine qua non die einkommensteuerrechtliche Zuordnung der Aufwendungen zur Erwerbssphäre rechtfertigt. Aufwendungen sind vielmehr nur dann als durch eine Einkunftsart veranlasst anzusehen, wenn sie hierzu in einem steuerrechtlich anzuerkennenden wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. Maßgebend dafür, ob ein solcher Zusammenhang besteht, ist zum einen die wertende Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen auslösenden Moments und zum anderen die Zuweisung dieses maßgebenden Besteuerungsgrundes zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre (Senatsurteile vom 6. Mai 2010 VI R 25/09, BFHE 229, 297, BStBl II 2010, 851; vom 8. Juli 2015 VI R 46/14, BFHE 250, 392, BStBl II 2015, 1013; Senatsbeschluss vom 9. November 2015 VI R 36/13, BFH/NV 2016, 194).
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Dabei obliegt die Beurteilung, ob Aufwendungen beruflich oder privat veranlasst sind, in erster Linie der tatrichterlichen Würdigung des FG. Das FG hat anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, wo die Grenze zwischen beruflichem und privatem Bereich verläuft und welche Indizien für sich allein ausreichend sind, um eine berufliche Veranlassung zu bejahen (Senatsentscheidungen vom 26. Januar 2010 VI B 95/09, BFH/NV 2010, 875; vom 19. Juni 2008 VI R 33/07, BFHE 222, 359, BStBl II 2009, 11; vom 24. September 2013 VI R 35/11, BFH/NV 2014, 500; in BFHE 250, 392, BStBl II 2015, 1013).
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2. Im Streitfall ist die Würdigung des FG, nach der die streitbefangenen Prozesskosten keinen hinreichenden Veranlassungszusammenhang zu einer steuerbaren beruflichen Tätigkeit des Klägers aufweisen, der einen Abzug als Werbungskosten rechtfertigen könnte, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach den Feststellungen des FG wurde der Kläger wegen einer ausschließlich privat motivierten Straftat rechtskräftig verurteilt. Auf dieser Verurteilung beruhte das Medieninteresse, dessentwegen der Kläger letztlich die zivilrechtlichen Streitigkeiten im Hinblick auf die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte anstrengte. Die Würdigung des FG, es handele sich insoweit um Folgekosten, deren Ursache in der ausschließlich privat motivierten Straftat lägen, ist nicht nur möglich, sondern naheliegend. Dies gilt insbesondere, weil die Vorinstanz eingeräumt und berücksichtigt hat, dass die Bereinigung entsprechender negativer Einträge im Internet bessere Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz mit sich bringen könne, dies allerdings angesichts der arbeitsrechtlichen Vorgaben sowie verschiedener Umstände der Lebenswirklichkeit keine zwangsläufige Folge sei. Vielmehr habe das dem privaten Lebensbereich zuzuordnende Ziel der Rehabilitierung des Klägers und seiner Resozialisierung nach dem Strafvollzug im Vordergrund gestanden. Da diese Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls weder den Denkgesetzen noch Erfahrungssätzen widerspricht, ist der Senat hieran gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO).
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3. Die geltend gemachten Aufwendungen waren auch nicht als außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 EStG zu berücksichtigen.
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a) Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer in bestimmtem Umfang ermäßigt (§ 33 Abs. 1 EStG). Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 29. September 1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418, und vom 26. Juni 2014 VI R 51/13, BFHE 246, 326, BStBl II 2015, 9).
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aa) Bei den Kosten eines Zivilprozesses sprach nach der langjährigen Rechtsprechung des BFH eine Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit (Senatsurteil vom 22. August 1958 VI 148/57 U, BFHE 67, 379, BStBl III 1958, 419; BFH-Urteile vom 18. Juli 1986 III R 178/80, BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745; vom 9. Mai 1996 III R 224/94, BFHE 181, 12, BStBl II 1996, 596; vom 4. Dezember 2001 III R 31/00, BFHE 198, 94, BStBl II 2002, 382; vom 18. März 2004 III R 24/03, BFHE 206, 16, BStBl II 2004, 726, und vom 27. August 2008 III R 50/06, BFH/NV 2009, 553). Solche Kosten wurden nur als zwangsläufig erachtet, wenn auch das die Zahlungsverpflichtung oder den Zahlungsanspruch adäquat verursachende Ereignis zwangsläufig war (BFH-Urteil in BFHE 181, 12, BStBl II 1996, 596). Daran fehlte es nach der Rechtsprechung des BFH im Allgemeinen bei einem Zivilprozess (BFH-Urteile in BFHE 206, 16, BStBl II 2004, 726, und in BFH/NV 2009, 553). Als zwangsläufige Aufwendungen erkannte die Rechtsprechung Zivilprozesskosten nur an, wenn der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührte. Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, könne er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen (BFH-Urteile in BFHE 181, 12, BStBl II 1996, 596, und in BFH/NV 2009, 553).
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bb) Dagegen nahm der Senat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2011 VI R 42/10 (BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015) die Unausweichlichkeit von Zivilprozesskosten unter der Voraussetzung an, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg biete und nicht mutwillig erscheine. Diese Auffassung hat auch das FG dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegt.
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cc) Der Senat hält an seiner in dem Urteil in BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015 vertretenen Auffassung allerdings nicht mehr fest. Wie er in seinem Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 17/14 (BFHE 250, 153, BStBl II 2015, 800) entschieden hat, kehrt er unter Aufgabe seiner in dem Urteil in BFHE 234, 30, BStBl II 2011, 1015 vertretenen Ansicht zu der früheren Rechtsprechung des BFH zur Abziehbarkeit der Kosten eines Zivilprozesses als außergewöhnliche Belastung zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf das Senatsurteil in BFHE 250, 153, BStBl II 2015, 800 Bezug genommen.
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Nach diesen Maßstäben ist auch im Streitfall zu prüfen, ob die geltend gemachten Kosten für die zivilprozessuale Auseinandersetzung als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind. Zivilprozesskosten sind demnach nur insoweit abziehbar, als der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührt. Liefe der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, kann der Steuerpflichtige auch bei unsicheren Erfolgsaussichten aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen, sodass die Prozesskosten zwangsläufig i.S. von § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen.
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4. Gemessen daran hat das FG die geltend gemachten Aufwendungen im Streitfall zu Recht nicht als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt.
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Die Berichterstattung in den Medien war Folge einer vom Kläger begangenen privat motivierten Straftat. Im Streitfall kann offenbleiben, ob der Kläger damit die wesentliche Ursache für das Entstehen der als außergewöhnliche Belastungen geltend gemachten Aufwendungen selbst gesetzt hat und ihm diese bereits deshalb nicht zwangsläufig i.S. des § 33 Abs. 2 EStG entstanden sind.
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Denn der Kläger wurde nicht in rechtswidriger Weise dergestalt in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, dass er Gefahr lief, seine Existenzgrundlage zu verlieren oder seine Lebensbedürfnisse nicht mehr in dem üblichen Rahmen befriedigen zu können.
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Die Berichterstattung über ein Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit. Dies gilt nicht nur bei aktiver Informationsübermittlung durch die Medien, wie es im Rahmen der herkömmlichen Berichterstattung in Tagespresse, Rundfunk oder Fernsehen geschieht, sondern auch dann, wenn --wie im Streitfall-- den Straftäter identifizierende Inhalte im Internet zum Abruf bereitgehalten werden. Straftaten aufzuzeigen und hierüber zu berichten gehört allerdings zu den legitimen Aufgaben der Medien, so dass die Berichterstattung hierüber grundsätzlich vom Beschuldigten hinzunehmen ist. Dies gilt erst recht, wenn er wegen der ihm zur Last gelegten Straftat tatsächlich verurteilt wird.
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Auch eine wahre Darstellung kann indes das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzen, wenn sie einen Persönlichkeitsschaden anzurichten droht, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Aussagen geeignet sind, eine erhebliche Breitenwirkung zu entfalten und eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen nach sich zu ziehen, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für eine soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden drohen. Zwar gehört die Berichterstattung über eine Straftat zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien ist. Mit zeitlicher Distanz zum Strafverfahren und nach Befriedigung des aktuellen Informationsinteresses der Öffentlichkeit gewinnt jedoch das Interesse des Betroffenen, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, zunehmend an Bedeutung. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann dann in einzelnen Fällen Schutz vor einer zeitlich uneingeschränkten Befassung der Medien mit der Person des Straftäters bieten (BGH-Urteil vom 13. November 2012 VI ZR 330/11, Monatsschrift für Deutsches Recht 2013, 151).
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Im Streitfall ging es um eine zeitnahe Berichterstattung der Medien über die vom Kläger begangene Straftat. Da der Kläger dies nach den angeführten Rechtsgrundsätzen grundsätzlich hinzunehmen hat, kann er die Prozesskosten schon deshalb nicht als außergewöhnliche Kosten geltend machen. Ob und ggf. unter welchen weiteren Voraussetzungen Kosten für Prozesse mit dem Ziel, Presseberichte über längere Zeit zurückliegende Straftaten zu unterbinden, außergewöhnliche Belastungen sein können, bedarf daher im Streitfall keiner Entscheidung.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.