Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Sept. 2018 - M 5 K 16.33606

bei uns veröffentlicht am11.09.2018

Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom. 7. Oktober 2016 wird in Nr. 2 insoweit aufgehoben, als der Antrag des Klägers zu 1. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wird. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Kosten des Verfahrens haben die Beklagte sowie die Klägerin zu 2. und der Kläger zu 3. jeweils zu 1/3 zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zu 1. vorher Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Die Klägerin zu 2. und der Kläger zu 3. dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der am ... 1981 geborene Kläger zu 1., seine Ehefrau, die Klägerin zu 2., und der am 11. Oktober 2012 geborene gemeinsame Sohn, der Kläger zu 3., sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten am 26. November 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 1. August 2016 Asylanträge.

Mit Bescheid vom 7. Oktober 2016 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuerkannt (Nr. 1) und die Asylanträge im Übrigen abgelehnt (Nr. 2). Der Bescheid wurde den Klägern am 12. Oktober 2016 zugestellt.

Die Kläger haben am 18. Oktober 2016 Klage erhoben und beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheids vom 7. Oktober 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte hat die Akten des Verfahrens vorgelegt und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kläger wie die Beklagte haben auf mündliche Verhandlung verzichtet und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin erklärt.

Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Gründe

1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch die Berichterstatterin erklärt haben (§§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

2. Die zulässige Klage ist hinsichtlich des Klägers zu 1. begründet. Er hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4, Abs. 1 Asylgesetz (AsylG), § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 2 rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 1. in seinen Rechten.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers zu 1. ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor, denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 - juris Rn. 24; B.v. 07.02.2008 - 10 C 33/07 - juris Rn. 23; U.v. 05.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger zu 1., der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16.30372 juris; a.A.: OVG Saarl, U.v. 02.02.2017 - 2 A 515/16 - juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10920/16.OVG - juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17/16 - juris; OVG NRW, U.v. 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A - Juris).

Das Gericht geht nach der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ drohen. Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber für den Erhalt ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei einer Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung, als Oppositionellen behandeln und einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterziehen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16.30372 - juris; SächsOVG, U.v. 07.02.2018 - 5 A 1245/17.A - juris; VGH BW, U.v. 14.06.2017 - A 11 S 511/17 - juris, DVBl 2017, 1312; HessVGH, U.v. 06.06.2017 - 3 A 3040/16.A - juris; a.A.: OVG Saarl, U.v. 02.02.2017 - 2 A 515/16 - juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10920/16.OVG - juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17/16 - juris; NdsOVG, B.v 14.03.2018 - 2 LB 1749/17 - juris Rn. 20 ff.; OVG NRW, U.v. 07.02.2018 - 14 A 2390/16.A - juris; OVG Hamburg, U.v. 11.01.2018 - 1 Bf 81/17.A - juris).

Im Einzelnen ist hierzu auszuführen:

Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von (jedenfalls) 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands als Reservisten wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Einigen Berichten zufolge wurde wegen der angespannten Personalsituation das Höchstalter für den Militärdienst inzwischen erhöht, wobei es hierzu keine offizielle Regelung zu geben scheint. Teilweise wird berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile auf 45 Jahre oder älter angehoben wurde. Je nach Gebiet und Fall würden Reservisten auch im Alter von 50 bis 60 Jahren noch zum aktiven Dienst einberufen. Zudem kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert. Die Aufforderung sich zum Dienst zu melden, erfolge mündlich, die schriftliche Benachrichtigung werde nicht ausgehändigt. Die Betreffenden können aber auch an Kontrollpunkten eingezogen werden (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.07.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.03.2015; BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, Gesamtaktualisierung vom 05.01.2017).

Aus den Erkenntnisquellen geht weiter übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle - insbesondere den Flughafen Damaskus - zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Dabei ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Nach verschiedenen aktuellen Erkenntnisquellen sind dabei Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden.

Aus den verstärkten Mobilisierungsversuchen ergibt sich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger für die Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit für die Wiederherstellung und den Erhalt der Macht von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. An diese unterstellte oppositionelle Gesinnung knüpft bei einer Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und der Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient, so dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft bei dem im wehrdienstfähigen Alter befindlichen Kläger vorliegen, § 3b Abs. 2 AsylG.

Eine dem Kläger zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht (vgl. Lagebericht v. 27.09.2010, S. 15).

Es ist schließlich auch nichts dahingehend vorgetragen oder ersichtlich, dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und Abs. 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) entgegenstehen könnte (vgl. zum Ganzen auch: VG München, U.v. 11.05.2017 - M 22 K 16.31849 - juris Rn. 15 ff.; U.v. 22.02.2017 - M 19 K 16.34473 - juris Rn. 13 ff.).

3. Hinsichtlich der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 3. ist die zulässige Klage unbegründet. Diese haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 2 insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin zu 2. und den Kläger zu 3. nicht in ihren Rechten.

Beide sind unverfolgt aus Syrien ausgereist. Auch die Ausreise aus Syrien, die Asylantragstellung als solche sowie ein längerfristiger Aufenthalt in Deutschland begründen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien. Diese Umstände rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen diese Kläger bei einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle als Oppositionelle betrachten und sie deshalb wegen einer unterstellten politischen Überzeugung verfolgen würden (so ausdrücklich BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16.30364 - juris Rn. 28 ff; ebenso: OVG NW, B.v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A - juris Rn. 14; U.v. 21.02.2017 - 14 A 2316/16.A - juris Rn. 47 ff.; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17.16 - juris Rn. 37; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 - juris Rn. 16; anderer Ansicht und überholt: OVG LSA, U.v. 18.07.2012 - 3 L 147/12 - juris; VGH BW, B.v. 19.06.2013 - A 11 S 927/13 - juris; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 - OVG 3 N 91.13 - juris; HessVGH, B.v. 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A. - juris).

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Rahmen des Familienasyls nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2, Abs. 1 und 2 AsylG liegen gegenwärtig ebenfalls nicht vor. Die im Zuge dieses Urteils erst noch vorzunehmende Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten des Klägers zu 1. ist noch nicht unanfechtbar. Auch eine insoweit bedingte Tenorierung zugunsten der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 3. scheidet aus. Erst zum Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit der Anerkennung des asylberechtigten Familienmitglieds können bzw. dürfen die übrigen Voraussetzungen des Familienasyls geprüft werden, z.B. das Fehlen von Ausschlussgründen gem. § 26 Abs. 4 AsylG (SächsOVG, U.v. 07.02.2018 - 6 A 696/16.A - BeckRS 2018, 2127 Rn. 47 f. m.w.N.; Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.05.2018, § 26 AsylG Rn. 7; vgl. BVerwG, U.v. 5. 5. 2009 - 10 C 21/08 - NVwZ 2009, 1308 Rn. 28 f.).

Ebenso kam eine Abtrennung der Verfahren (§ 93 Satz 1 VwGO) der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 3. mit anschließender Aussetzung bis zur Rechtskraft der Entscheidung hinsichtlich des Klägers zu 1 nicht in Betracht. Auch die Verfahren der Klägerin der 2. und des Klägers zu 3. sind zu dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) spruchreif. Sie können nach einem günstigen, rechtskräftigen Ausgang des Verfahrens hinsichtlich des Klägers zu 1. einen Antrag nach § 26 Abs. 1 und 5 AsylG stellen. Solange können sie sich jedenfalls auf den ihnen bereits zuerkannten subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG berufen (vgl. SächsOVG, U.v. 07.02.2018 - 6 A 696/16.A - BeckRS 2018, 2127 Rn. 47 f.).

4. Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens entsprechend ihrem jeweiligen Obsiegen bzw. Unterliegen (§§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 Alt. 2, 711 ZPO.

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(1) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,

1.
über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;
2.
bei Zurücknahme der Klage, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
3.
bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
4.
über den Streitwert;
5.
über Kosten;
6.
über die Beiladung.

(2) Im Einverständnis der Beteiligten kann der Vorsitzende auch sonst anstelle der Kammer oder des Senats entscheiden.

(3) Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser anstelle des Vorsitzenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer wird in der Regel nicht als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Gefahr politischer Verfolgung auf Umständen beruht, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen hat, es sei denn, dieser Entschluss entspricht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung. Satz 1 findet insbesondere keine Anwendung, wenn der Ausländer sich auf Grund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte.

(1a) Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 zu erleiden, kann auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

(2) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

2

Er stellte im Oktober 1992 einen Asylantrag. Nachdem er unbekannt verzogen war, lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) - den Antrag mit Bescheid vom 8. November 1993 als offensichtlich unbegründet ab. Einen weiteren Asylantrag unter einem Aliasnamen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 24. September 1993 ab.

3

Im November 1994 wurde der Kläger von den französischen Behörden wegen des Verdachts der Vorbereitung terroristischer Aktionen in Algerien festgenommen. Das Tribunal de Grande Instance de Paris verurteilte ihn am 22. Januar 1999 u.a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren.

4

Nachdem der Kläger im März 2001 aus französischer Haft entlassen worden war, stellte er im Juli 2001 in Deutschland einen Asylfolgeantrag, den er auf die überregionale Berichterstattung über den Strafprozess in Frankreich und die daraus resultierende Verfolgungsgefahr in Algerien stützte. Er gab an, nie für eine terroristische Vereinigung aktiv gewesen zu sein; der Prozess in Frankreich sei eine Farce gewesen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte jedoch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algeriens fest. Angesichts der Berichterstattung über den Strafprozess müsse davon ausgegangen werden, dass der algerische Auslandsgeheimdienst den Prozess beobachtet habe und der Kläger in das Blickfeld algerischer Behörden geraten sei. Bei einer Rückkehr nach Algerien bestehe deshalb die beachtliche Gefahr von Folter und Haft.

5

Mit Bescheid vom 1. Juni 2005 nahm das Bundesamt den Anerkennungsbescheid vom 15. Oktober 2002 mit Wirkung für die Zukunft zurück. Die Feststellung sei von Anfang an fehlerhaft gewesen, da das Vorliegen der Ausnahmetatbestände in § 51 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Alt. 3 AuslG verkannt worden sei. Angesichts der rechtskräftigen Verurteilung in Frankreich stehe fest, dass der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Das Verwaltungsgericht hat den Rücknahmebescheid mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Oktober 2006 aufgehoben, da das Bundesamt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG versäumt habe.

6

Mit Schreiben vom 10. Juli 2007 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, in dessen Verlauf der Kläger bestritt, dass sich die Verhältnisse in Algerien entscheidungserheblich geändert hätten. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Darüber hinaus stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Durch die im September 2005 per Referendum angenommene "Charta für Frieden und nationale Aussöhnung" sowie die zu deren Umsetzung erlassenen Vorschriften habe Algerien weitgehende Straferlasse für Mitglieder islamistischer Terrorgruppen eingeführt. Die Amnestieregelungen würden konsequent und großzügig umgesetzt und fänden auch nach Ablauf des vorgesehenen Stichtags weiter Anwendung. Der Kläger habe daher im Falle seiner Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch motivierte Verfolgung zu befürchten.

7

Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid durch Urteil vom 20. Mai 2008 aufgehoben, da dem Widerruf bereits die Rechtskraft des Urteils vom 27. Oktober 2006 entgegenstehe. Der angefochtene Widerruf erweise sich im Ergebnis als eine die Rücknahme vom 1. Juni 2005 ersetzende Entscheidung.

8

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Dezember 2009 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar stehe die Rechtskraft des die Rücknahme aufhebenden Urteils dem Widerruf nicht entgegen, denn die Streitgegenstände dieser beiden Verwaltungsakte seien nicht identisch. Dennoch erweise sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als richtig, da die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht vorlägen. Dieser sei gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur möglich, wenn der Betroffene wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Heimatstaat vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Er falle nicht unter die Stichtagsregelung der Amnestieregelung; ob die Anwendungspraxis auch den Fall des Klägers erfasse, sei unsicher. Angesichts der weiterhin bestehenden Repressionsstrukturen seien ausreichende Anhaltspunkte für eine allgemeine Liberalisierung in Algerien nicht vorhanden.

9

Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei zu Unrecht von dem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausgegangen. Unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie würde selbst ein Vorverfolgter nur durch die widerlegbare Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie privilegiert. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH sei beim Widerruf eines nicht Vorverfolgten der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

10

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil aus den Gründen der Ausgangsentscheidung. Darüber hinaus macht er geltend, dass einem anerkannten Flüchtling aufgrund seines Aufenthalts in der Bundesrepublik und des Vertrauens auf seinen gefestigten Status ein größerer Schutz zu gewähren sei als einem Asylbewerber bei der Entscheidung über seine Anerkennung.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet, denn das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat das Berufungsgericht den Widerrufsbescheid zu Recht sachlich geprüft und nicht bereits wegen des aus der Rechtskraft folgenden Wiederholungsverbots aufgehoben (1.). Es hat aber der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, einen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt (2.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst entscheiden. Die Sache ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

12

1. Dem Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheids steht nicht entgegen, dass die zuvor verfügte Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung im Vorprozess rechtskräftig aufgehoben worden ist. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage daran gehindert, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. Urteile vom 8. Dezember 1992 - BVerwG 1 C 12.92 - BVerwGE 91, 256 <257 f.> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 63 und vom 28. Januar 2010 - BVerwG 4 C 6.08 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 99). Das Wiederholungsverbot erfasst aber nur inhaltsgleiche Verwaltungsakte, d.h. die Regelung desselben Sachverhalts durch Anordnung der gleichen Rechtsfolge (Urteil vom 30. August 1962 - BVerwG 1 C 161.58 - BVerwGE 14, 359 <362> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 4 und Beschluss vom 15. März 1968 - BVerwG 7 C 183.65 - BVerwGE 29, 210 <213 f.>).

13

In Anwendung dieser Kriterien erweisen sich Rücknahme einer Flüchtlingsanerkennung wegen Nichtbeachtung zwingender Ausschlussgründe und deren Widerruf wegen Wegfalls der sie begründenden Umstände nicht als inhaltsgleich. Zwar erfolgte die Rücknahme im Fall des Klägers nur mit Wirkung für die Zukunft, so dass die beiden Verwaltungsakte auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet waren (vgl. aus einer anderen Perspektive Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG 9 C 53.97 - BVerwGE 108, 30 <35>). Aber die den beiden Aufhebungsakten zugrunde liegenden rechtlichen Voraussetzungen und die hierbei zu berücksichtigenden Tatsachen unterscheiden sich: Während die Rücknahme auf einer anderen rechtlichen Beurteilung eines vergangenen Sachverhalts beruht, stützt sich der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG auf eine nach der Anerkennung eingetretene Sachverhaltsänderung. Daher greift das Wiederholungsverbot im vorliegenden Fall nicht.

14

2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

15

Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - juris Rn. 9; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen).

16

Der angefochtene Bescheid erweist sich nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).

17

Das Berufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen und speziell mit Blick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

18

a) Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie angesprochene "Schutz des Landes" sich nur auf den bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen bezieht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 67, 76, 78 f.). Dazu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG sieht - ebenso wie Art. 1 C Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 65). Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 66), soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (ebd. Rn. 76). Die Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise gegenüber (so EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 68).

19

Mit Blick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72). Dafür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 73).

20

aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <124 f.>).

21

Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Danach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 18; so auch das Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung). Dieser gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt worden. Er wurde dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufsvoraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 26).

22

Dieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt (Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - BVerwG 10 C 11.09 - juris Rn. 15). Das ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der Entstehungsgeschichte, denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Demzufolge gilt unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22).

23

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.). Die Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in Widerrufsverfahren nicht nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können. Denn die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den Kernregelungen zählen, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie 2004/83/EG geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - Rs. C-57/09 und C-101/09, B und D - NVwZ 2011, 285 Rn. 120 zu den Ausschlussgründen). Das kann aber hier dahinstehen, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.

24

bb) Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Senat hat in einem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist (Irak), bereits entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 17). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>; Beschluss vom 7. Februar 2008 a.a.O. juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden.

25

b) Das Berufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. Damit hat es § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die Berufungsentscheidung. Da das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es ist Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu erstellen.

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten über den ihm zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.

Der Kläger ist ein am ... 1985 in D. geborener Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien arabischer Volkszugehörigkeit muslimischen Glaubens (Sunnit). Er reiste seinen Angaben zufolge am 20. Dezember 2015 auf dem Land Weg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 31. März 2016 einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. Mai 2016 äußerte er sich im Wesentlichen wie folgt:

Bis zu seiner Ausreise aus Syrien am 30. November 2015 habe er in D.,..., gelebt. Seine Ehefrau und sein Kind seien noch in D. Beide habe er aus finanziellen Gründen und aus Angst wegen der Gefährlichkeit der Reise nicht mitgebracht. Wehrdienst habe er vom 1. März 2004 bis zum 1. April 2006 geleistet. Er sei Gefreiter in nicht spezieller Funktion gewesen. Er sei auch nicht Mitglied einer nicht staatlichen bewaffneten Gruppierung gewesen oder in einer sonstigen politischen Organisation. Augenzeuge oder Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder von Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder anderen Misshandlungen) durch kämpfende Einheiten auf die Zivilbevölkerung sei er nicht gewesen. Er habe auf seinem Weg nach Deutschland und in Deutschland weder Kenntnis von Personen erlangt, die er als Unterstützer oder Mitglieder von extremistischen oder terroristischen Organisationen eingeschätzt habe, noch von Personen, von denen er habe annehmen müssen, dass sie für einen Nachrichtendienst arbeiten. Er habe rechtzeitig seine Ausreise aus Syrien geplant, weil es zu dieser Zeit eine große Welle von Einberufungen zum Militärdienst gegeben habe. Das habe er vermeiden wollen. Zum Zeitpunkt der Ausreise habe er noch keine Einberufung erhalten gehabt. Ob jetzt eine Einberufung vorliege, wisse er nicht. Er kenne auch niemanden aus seinem Bekannten- und Freundeskreis, der dann einberufen worden sei, weil viele rechtzeitig vorzeitig ausgereist seien. Vor der Ausreise sei er außer der allgemeinen Lage, z. B. ständige Bombenanschläge, nicht persönlich bedroht gewesen. Bei einer Rückkehr nach Syrien habe er Angst verhaftet zu werden und zum Militärdienst zu müssen. Die allgemeine Sicherheitslage in Syrien sei schlecht. Dies treffe auch insbesondere auf seine Frau und sein Kind zu.

Das Bundesamt erkannte den Kläger mit Bescheid vom 6. Juni 2016 als subsidiär Schutzberechtigten an und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.

Das Verwaltungsgericht Regensburg hat die Beklagte mit Urteil vom 2. August 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Zur Begründung führte es u.a. aus: Der syrische Staat betrachte gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System, die das Gebot der Loyalität ihm gegenüber verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinn des § 3a AsylG zu rechnen.

2. Die Beklagte begründet die vom Senat mit Beschluss vom 22. September 2016 zugelassene Berufung wie folgt:

Es begegne Zweifeln, die Verfolgungsgefahr zumeist aus einem allgemeinen „Abschöpfungsinteresse“ hinsichtlich Erkenntnissen zur Exilopposition ableiten zu wollen. Die insoweit geschilderten Referenzfälle hätten Personen betroffen, bei denen zuvor ein individualisierter Verdacht bestanden habe. Gegen die Annahme einer Regimegegnerschaft jedes Rückkehrers spreche die sehr hohe Zahl der Flüchtlinge. Der syrische Staat dürfte weder Veranlassung noch Ressourcen haben, gegen jeden Rückkehrer vorzugehen. Auch die hohe Anzahl an ausgegebenen syrischen Reisepässen spreche dagegen, dass jedem Rückkehrer unbesehen eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt werde. Die Maßnahmen im Rahmen der Einreisekontrollen seien nicht systematisch, sondern willkürlich. Das erfülle nicht den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eine unklare Tatsachensituation verlange im Rahmen der gebotenen Prognoseentscheidung tendenziell eine zurückhaltende Beurteilung. Für den Kläger als Reservisten bestehe zwar bei einer Rückkehr die Gefahr Militärdienst leisten zu müssen, allerdings sei noch keine Konkretisierung eingetreten etwa durch einen Einberufungsbefehl. Die abstrakte Möglichkeit, Militärdienst leisten zu müssen, werde nicht als hinreichend risikoerhöhend betrachtet. Eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sei mangels Anhaltspunkt für eine individuelle Verantwortung bezüglich etwaiger Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht erkennbar.

Die Beklagte beantragt,

in Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 2. August 2016 die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der syrische Staat werde die Flucht eines wehrdienstfähigen Mannes als Ausdruck der Gegnerschaft betrachten. Bei einer Rückkehr nach Syrien drohe dem Kläger daher politische Verfolgung. Es sei auch eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gegeben. Der Kläger wäre im Falle der Einziehung zum Militärdienst gezwungen, an Kriegsverbrechen der syrischen Armee teilzunehmen.

Die Landesanwaltschaft Bayern äußert sich als Vertreterin des öffentlichen Interesses insbesondere wie folgt:

Die erforderliche Verknüpfung zwischen schädigender Handlung und Verfolgungsgrund sei beim Kläger nicht gegeben. Die Annahme, dass aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Syrer bei der in diesem Fall obligatorischen Befragung von den syrischen Sicherheitskräften allein wegen der Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet würden, sei wenig plausibel und letztlich lebensfremd.

3. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4, Abs. 1, AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger - ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 6. Juni 2016 zugesprochenen subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) - die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer - soweit hier von Interesse - Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Dem nicht vorverfolgt ausgereisten Kläger droht bei einer (rechtlich hypothetisch unterstellten) Rückkehr nach Syrien nach der Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren einen Vorfall genannt hat, der sich etwa einen Monat vor Ausreise ereignet haben soll, ist weder eine Anknüpfung der Maßnahme an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal noch die erforderliche asylerhebliche Intensität vorhanden.

2. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich aber aus den Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe (§ 28 Abs. 1a AsylG).

Ein solcher Nachfluchtgrund besteht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht deshalb, weil der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen (vgl. Urteile des Senats vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30338 und 16.30364, 16.30371 - juris).

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Senats deshalb, weil sich der Kläger als Reservist durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).

Nach diesem Maßstab und der Erkenntnislage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist es zur Überzeugung des Senats beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen D. oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK). Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich als Reservist durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositionellen behandeln (vgl. allgemein dazu BVerfG, B.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315/335; BVerwG, U.v. 19.1.2009 - 10 C 52.07 - juris Rn. 24).

Diese Beurteilung beruht auf einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts (2.3) unter Einbeziehung der Umstände, die das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad charakterisieren (2.1) und der übrigen für die Prognoseentscheidung erheblichen Tatsachen (2.2).

2.1 Eine Auswertung der in beiden Rechtszügen beigezogenen Erkenntnismittel zeigt, dass das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich zunehmend unter Druck geraten ist. Der syrische Staat setzt deshalb alles daran, seine Macht zu erhalten und geht in seinem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor.

Zu den Zielen der syrischen Regierung führt Gerlach in „Was in Syrien geschieht - Essay“ vom 19. Februar 2016 (http: www.b...de/...) aus:

„Das erklärte Ziel des syrischen Regimes, das sich für den rechtmäßigen Vertreter des Staates hält, ist die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik, also gewissermaßen in den Grenzen von 2011. … Wichtiger noch: das Fortbestehen der Machtarchitektur ohne einschneidende Veränderung, die in einer Entmachtung des Präsidenten Assad oder in der Auflösung jenes Machtkomplexes der drei um den Präsidenten gruppierten Clans Assad, Makhlouf und Shalish bestehen könnte. Diesen Kriegszielen ordnete das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele unter - und zu ihrer Verteidigung nahm es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung, sondern auch massive eigene Verluste in Kauf.“

Einem „Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Februar 2012)“ des Auswärtigen Amts vom 17. Februar 2012 ist zu entnehmen:

„Das syrische Regime setzt im Kampf gegen die syrische Opposition die Armee und Sicherheitskräfte gezielt gegen zivile Siedlungsgebiete ein. …

Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Geheimdienste. Es gibt vier große Sicherheitsdienste, die unabhängig voneinander alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sowie sich gegenseitig kontrollieren: Allgemeine Sicherheit, Politische Sicherheit, Militärische Sicherheit und die Sicherheit der Luftwaffe. … Die Befugnisse der Sicherheitsdienste unterliegen keinen definierten Beschränkungen. Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhörzentralen, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelt. …

Syrische Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien anstreben, werden durch das Regime massiv unterdrückt. …

Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränken sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“ (enforced disappearance), tätlichen Angegriffen (z. B. der Karikaturist A. F. und der Oppositionspolitiker R. S.), Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte (z. B. das Kind H. al-K., der Aktivist C. M.) und Mordanschlägen (z.B. der kurdische Oppositionelle M. D.) belegt. Einige Oppositionelle sind daher in den Untergrund gegangen …; viele andere haben Syrien verlassen. …

Menschenrechtsverteidiger schätzen die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen auf insgesamt über 40.000. … Willkürliche Verhaftungen sind in Syrien gegenwärtig sehr häufig und gehen von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen (sog. Shabbiha) aus. …

Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). …

Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. …

Es muss davon ausgegangen werden, dass exilpolitische Tätigkeiten den syrischen Sicherheitsdiensten bekannt werden. Auch ist nicht auszuschließen, dass syrische Familien in Deutschland von den Sicherheitsdiensten als Druckmittel gegenüber noch in Syrien lebenden Verwandten (oder umgekehrt) missbraucht werden. …

Obwohl die syrische Verfassung (Art. 28) und das syrische Strafrecht Folter verbieten und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame unmenschliche Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt an. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung ist in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, unterliegen ebenfalls einem hohen Folterrisiko. …Gegenwärtig kann sich das Individuum de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deutet darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art ´carte blanche´ erhalten haben. …

Es kommt seit Beginn der Unruhen regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitsdienste, Rechtsmittel dagegen existieren nicht. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste kommt es zu Drohungen und körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. …

Fälle von Verschwindenlassen haben seit März 2011 erheblich zugenommen“ (Namen sind im Original vollständig wiedergegeben).

Der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2015 (https: www...ch/...) kann entnommen werden:

„Human Rights Watch kritisierte im Januar 2015, dass trotz der Amnestie noch eine Vielzahl Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Medienschaffende sowie Personen, die humanitäre Hilfe geleistet haben, inhaftiert oder in Untersuchungshaft sind. …

In vielen Fällen werden vor allem Aktivisten, Anwälte und Menschenrechtsaktivisten von den Geheimdiensten wochen- und monatelang ohne Verfahren festgehalten. …

Die Anzahl der seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 verhafteten Personen ist umstritten. Das Violations Documentation Center, eine lokale Monitoring Gruppe, ging im Juli 2014 davon aus, dass 40.853 Personen in Haft sind. Der ehemalige UN-Sondergesandte für Syrien, Lakhdar Brahimi, ging von zwischen 50.000 und 100.000 Inhaftierten des syrischen Regimes aus. Der UN High Commissioner for Human Rights, Zeid Ra'ad Al Hussein, weist auf Schätzungen zwischen zehntausenden und hunderttausenden Inhaftierten hin. Das Syrian Observatory for Human Rights schätzt, dass 200.000 Personen in syrischen Gefängnissen sitzen. …

Dass die Haftbedingungen schlecht sind und in den Gefängnissen gefoltert wird, ist seit langem dokumentiert, auch bereits vor dem Konflikt. Folter ist insbesondere in der ersten Zeit der Haft üblich, um an Informationen zu kommen, die Häftlinge einzuschüchtern und um Schuldeingeständnisse zu erzwingen. Folter und die schlechten Haftbedingungen führen zu Todesfällen. …

Viele friedliche Aktivisten, die aufgrund des Anti-Terrorismus-Gesetzes verurteilt worden sind und von der Amnestie hätten profitieren sollen, blieben weiterhin in Haft.“

Die vierte aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ vom November 2015 (https: www.e...net/...) äußert sich in Fußnummer 74 u.a. wie folgt:

„Verläuft die Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die man für einen Regierungsgegner hält, erfolglos, gehen die Sicherheitskräfte Berichten zufolge dazu über, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Dies geschieht entweder zur Vergeltung der Aktivitäten bzw. des Loyalitätsbruchs der gesuchten Person oder zwecks Einholung von Informationen über ihren Aufenthaltsort oder mit der Absicht, die betreffende Person dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. die gegen sie erhobenen Anschuldigungen anzuerkennen.”

Die Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada (Immigration and Refugee Board of Canada) verweist in einem Bericht (Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 4 - zitiert nach der in das Verfahren eingeführten Übersetzung in die deutsche Sprache) auf folgende Erkenntnisse von Amnesty International (Between Prison and the Grave, Enforced Disappearances in Syria, November 2015), Human Rights Watch (Syria, World Report 2015: Events of 2014, 29.1.2015) und OHCHR (Open Wounds: Torture and Ill-Treatment in the Syrian Arab Republic, 14.4.2014) hin:

„Laut AI hat die in Syrien stationierte Kontrollgruppe Syrian Network for Human Rights über 58.000 Fälle von Zivilisten dokumentiert, die zwischen März 2011 und August 2015 durch die syrische Regierung ´zwangsweise´ verschwunden sind, und am 30. August 2015 immer noch als vermisst gelten (AI, Nov. 2015, 7). Des Weiteren vermerkt dieselbe Quelle, dass alle vier Truppengattungen der syrischen Sicherheitskräfte, bestehend aus dem militärischen Geheimdienst, dem Geheimdienst der Luftwaffe, dem politischen Sicherheitsdienst und dem allgemeinen Geheimdienst (auch Staatsicherheit genannt), Personen zwangsweise verschwinden lassen würden und dass es überall im Land Gefangenenlager gebe (ebd.). AI erklärt, dass diese Gefangenen ´außerhalb des gesetzlichen Schutzes gestellt werden, und dass ihnen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder ein faires Gerichtsverfahren verwehrt wird´; dass Gefangene in überfüllten Behausungen gehalten und regelmäßig einem Katalog der Folter ausgesetzt werden´(ebd., 8). Human Rights Watch und der UNHCR berichten über die weit verbreitete Anwendung des Verschwindenlassens, der Inhaftierung und Folter durch syrische Behörden (UN, 14. Apr. 2014, 1; Human Rights Watch, 29. Jan. 2015, 2 - 3).“

Nach den im Amnesty Report 2016 vom 2. März 2016 (http: www.a...de/...) festgehaltenen Erkenntnissen von Amnesty International hat sich an dieser Lage nichts zum Guten geändert. Dem Report ist u.a. zu entnehmen:

„Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben „verschwunden“. Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. …

Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. …

10.000 Personen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterrorgericht oder vor militärischen Feldgerichten.“

2.2 Darüber hinaus sind folgende Prognosetatsachen zu berücksichtigen:

2.2.1 Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien über den Flughafen D. oder eine andere staatliche Kontrollstelle im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über seinen Auslandsaufenthalt und den Grund seiner Abschiebung befragt wird. Die Sicherheitsbeamten werden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob der Kläger von den Behörden gesucht wird. Die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte und die Sicherheitskontrollen, die von Grenzbeamten am Flughafen D. und anderen Eingangshäfen durchgeführt wird, beinhaltet zu überprüfen, ob der Rückkehrer seinen Wehrdienst abgeleistet hat (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 2 f. und 8, Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Trier v. 12.10.2016 zur Ausreisekontrolle). Auch nach einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe („Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, v. 30.7.2014, S. 7) können Personen, die während ihres Auslandsaufenthalts zum Wehrdienst einberufen wurden, bei ihrer Einreise durch die syrischen Behörden identifiziert werden, da ihr Name auf einer entsprechenden Suchliste zu finden ist.

2.2.2 Zu den Umständen und Folgen einer solchen Überprüfung für einen abgelehnten Asylbewerber, der sich als Wehrpflichtiger oder Reservist durch den Auslandsaufenthalt der Einberufung zum Militärdienst entzogen hat, ergibt die Auskunftslage Folgendes:

Die Ermittlungsabteilung (Research Direcorate) der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde hat dazu verschiedene sachkundige Personen befragt. Ein leitender auf Syrien spezialisierter Gast-Forschungsbeauftragter am King´s College London (Visiting Senior Research Fellow, telefonische Befragung am 15.12.2015) bekundete gegenüber der kanadischen Behörde, dass Sicherheitsbeamte am Flughafen und anderen Grenzübergängen eine „carte blanche“ hätten, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen. Wenn ein Sicherheitsbeamter jemanden verdächtige, nähmen sie ihn möglicherweise sofort mit. In diesem Fall könne die Person verschwinden oder gefoltert werden. Das System sei sehr unberechenbar, Rechtsbehelfe gegen die Misshandlungen der Grenzbeamten gebe es nicht. Mehrere Quellen berichten, dass Männer im wehrpflichtigen Alter besonders gefährdet seien, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Eingangshäfen misshandelt zu werden (so ein emeritierter Professor für Anthropologie und Zwangsmigration der Universität Oxford - emeritus Professor of anthropology and forced migration at Oxford University, telefonische Befragung am 11.12.2015; sowie der Vorstand der Nichtregierungsorganisation „Syrisches Zentrum für Justiz und Rechenschaftspflicht“ - Executive Director „Syria Justice and Accountability Center“, telefonische Befragung am 14.12.2015). Der emeritierter Professor für Anthropologie und Zwangsmigration der Universität Oxford (telefonische Befragung am 11.12.2015) beschrieb Männer im wehrpflichtigen Alter als die „meist gefährdete“ Gruppe in Bezug auf die Behandlung seitens der syrischen Behörden an den Eingangshäfen, „besonders wenn sie niemals im Militär gedient haben“. Eine Programmbeauftragte (program officer) am Center for Civilians in Conflict (CIVIC), die sich spezialisiert hat auf humanitäre und Flüchtlingsthemen in Syrien und im Irak, äußerte in einem Telefoninterview am 11. Dezember 2015, dass junge Männer zwischen 16 und 40 Jahren von den Grenzbeamten „besonders verfolgt“ werden und „allseits der Zwangswehrpflicht unterstellt seien“, auch wenn sie ihren Militärdienst schon abgeleistet hätten (vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 8f.).

2.2.3 Auch aus dem System der allgemeinen Wehrpflicht in Syrien und den während des Kriegs eingeführten Reisebeschränkungen für militärdienstpflichtige Männer lassen sich Erkenntnisse für die vorzunehmende Gesamtschau gewinnen.

Das System der allgemeinen Wehrpflicht beruht auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Männer, die 18 Jahre alt werden, müssen sich zur Generalrekrutierungsstelle begeben (Befragung, Foto, Bluttest). Danach wird ihnen ein Militärdienstbuch ausgehändigt. Bei Beginn des Militärdienstes müssen bei der Generalrekrutierungsstelle die zivilen Ausweise und das Militärdienstbuch abgegeben werden und der Betreffende erhält umgehend den Militärdienstausweis bevor er zu seiner Einheit entsandt wird. Wenn der Dienst absolviert ist, bekommt man „Entlassungspapiere“, die man bei der Generalrekrutierungsstelle abgibt und erhält den zivilen Ausweis und das Militärbuch - versehen mit dem Stempel, dass der Militärdienst geleistet und die Person entlassen wurde (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 5).

Syrische Behörden hätten nach den Ermittlungen der Agence-France-Presse (AFP) das Recht, im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands, alle männlichen Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, wieder einzuberufen (AFP v. 27.3.2012 „Syria Imposes Travel Ban on Men Under 42: Reports“). Zum Thema Reisebeschränkungen der militärdienstpflichtigen Männer heißt es, dass die Regierung allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren offiziell verboten habe, außerhalb des Landes zu reisen (The Christian Science Monitor v. 27.3.2012, „As Syria’s War Rages, Assad Bans Military-Age Men From Leaving“). Einschränkend gibt die AFP an, dass diese Männer reisen dürften, aber vorher eine Genehmigung von den Behörden bräuchten und das bisherige Reiseverbot sich nur auf Männer bezogen habe, die ihre zweijährige Wehrpflicht noch nicht abgeleistet hätten (AFP v. 27.3.2012; vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 6 f.).

Nach den Erkenntnissen des Orient-Instituts habe die syrische Regierung im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet sei, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet hätten. Männliche syrische Staatsangehörige sähen sich nach einer Wiedereinreise nach Syrien in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet, wenn sie älter als 18 Jahre seien, der Einberufung in den Wehrdienst gegenüber. Für den Fall, dass der Wehrdienst vor der Ausreise nicht abgeleistet worden sei, könne dies von der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen (z.B. durch Flucht oder Bestechung eines direkten Vorgesetzten), so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, aber auch Folter zur Folge. Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet worden sei, komme es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen würden (Deutsches Orient-Institut an das Schleswig-Holsteinische OVG undatiert).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt aus („Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, v. 30.7.2014, S. 3 ff.), Männer hätten, nachdem sie die allgemeine Wehrpflicht absolviert hätten, die Möglichkeit, für die Dauer von fünf Jahren in den aktiven Militärdienst einzutreten. Ansonsten dienten sie während der nächsten 18 Jahre als Reservisten. Es gebe keine Möglichkeit für einen Ersatzdienst. Wehrdienstverweigerung werde gemäß dem Military Penal Code von 1950, der 1973 angepasst worden sei, bestraft. In Art. 68 sei festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft werde, wer sich der Einberufung entziehe. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlasse und sich so der Einberufung entziehe, werde mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Gemäß Art. 101 werde Desertion mit fünf Jahren oder mit fünf bis zehn Jahren Haft bestraft, wenn der Deserteur das Land verlassen habe.

Im Herbst 2014 habe das Regime verschiedene Maßnahmen erlassen, um die Ausreise wehrdienstpflichtiger Männer zu verhindern. Bereits seit dem Ausbruch des Krieges hätten die syrischen Behörden bei der Ausreise von Männern, die zwischen 18 und 42 Jahre alt seien, eine offizielle Beglaubigung des Militärs verlangt, dass sie vom Dienst freigestellt seien. Am 20. Oktober 2014 habe die „General Mobilisation Administration des Department of Defense“ allen Männern die Ausreise verboten, die zwischen 1985 und 1991 geboren seien. Mit diesen neuen Restriktionen hätten Männer in den Zwanzigern keine Möglichkeiten mehr, das Land legal zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien, Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 4).

2.2.4 Zum Vorgehen des syrischen Regimes bei der Rekrutierung von Wehrdienstverweigerern sind folgende Umstände in den Blick zu nehmen:

Nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden in Kriegszeiten Reservisten einberufen. Die Einberufung als Reservist werde wie die Einberufung in den Militärdienst individuell ausgehändigt. Seit Ende 2012 werden immer mehr Reservisten in den Militärdienst einberufen. Tausende sollen 2012 einen Einberufungsbefehl erhalten haben. Präsident Assad sei dringend auf den Einsatz von Reservisten angewiesen. Im März 2012 habe die syrische Regierung deshalb allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren verboten, das Land ohne Bewilligung zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014, S. 6 f). Seit Herbst 2014 habe das syrische Regime die Mobilisierungsmaßnahmen in die syrische Armee für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seither komme es zu großflächiger Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen hätten. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) habe bei von Sicherheitsdiensten aufgegriffenen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen hätten, Fälle von Folter dokumentiert. Viele Männer, die im Rahmen der Maßnahmen einberufen würden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und würden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 3 f).

Die Deutsche Botschaft Beirut (Referat 313) hat am 3. Februar 2016 eine Anfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Rückkehrgefährdung dahingehend beantwortet, dass in den vergangenen Wochen mehrere tausend Personen in Syrien zum Wehrdienst eingezogen worden seien. Laut Augenzeugenberichten soll sich die Anzahl junger Männer in den Straßen von D. deutlich verringert haben. Einige hätten darüber berichtet, dass über die Überprüfung an Checkpoints hinaus auch Wohnhäuser aufgesucht worden seien, um Wehrdienstverweigerer zu rekrutieren. Auch habe es verlässliche Berichte darüber gegeben, dass Personen aus dem Gefängnis hinaus zum Wehrdienst eingezogen worden seien.

Nach einem Artikel in „Syria Deeply“ (unabhängiges digitales Medienprojekt in New York) vom 16. Dezember 2015 habe es in D. eine erhöhte Anzahl von Verhaftungen an staatlichen Kontrollstellen gegeben; die Behörden würden vermehrt prüfen, ob jemand sich dem Wehrdienst entziehe (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 8f.).

2.2.5 Nach der Überzeugung des Senats kann der von der Beklagten eingewandten gelockerten Ausstellungspraxis bei syrischen Reisepässen seit April 2015 wegen der wirtschaftlichen Dimension für den syrischen Staatshaushalt durch erhebliche Einnahmen keine Zielrichtung des Inhalts entnommen werden, dass dadurch die Ausreise von Männern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten) staatlicherseits geduldet werden soll.

Nach Auskunft der Botschaft Beirut (Referat 313) vom 3. Februar 2016 (Antwort auf eine Anfrage des Bundesamts) werden seit April 2015 von syrischen Stellen innerhalb Syriens, aber auch von den syrischen Auslandsvertretungen wieder vermehrt syrische Reisepässe ausgestellt. Die Kosten belaufen sich innerhalb Syriens (D.) auf ca. 40 USD, außerhalb Syriens auf ca. 400 USD. Da sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 weiter verschlechtert habe, sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute kämen. Letztlich lägen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer staatlicher Einnahmen vor. Im Übrigen kann ein Staat auch andere geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Ausreise der Personengruppe der militärdienstpflichtigen Männer zu erschweren, wie z.B. das Erfordernis einer behördlichen Ausreisegenehmigung (s.o. 2.2.3). Eine gelockerte Ausstellungspraxis bei syrischen Reisepässen lässt daher im Hinblick auf die hier relevante Personengruppe der militärdienstpflichtigen Männer keine Schlüsse auf eine geänderte Haltung syrischer Sicherheitskräfte gegenüber Rückkehrern bei deren Einreise über den Flughafen D. bzw. andere Grenzkontrollen zu.

2.3 Aufgrund einer zusammenfassenden Bewertung der gesamten Umstände steht zur Überzeugung des Senats fest, dass Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen von den syrischen Sicherheitskräften, in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung, insbesondere Folter, droht.

Aus den Erkenntnisquellen geht übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle - insbesondere den Flughafen D. - zurückkehrende Syrer den strengen obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Weiter ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte darüber informiert sind (Datenbanken bzw. Kontrolllisten), ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Ebenso wird für die Sicherheitskräfte ersichtlich sein, ob der Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter ggf. gegen die Mitteilungspflicht seines Wohnortes gegenüber den Militärbehörden verstoßen hat bzw. ob eine Ausreiseerlaubnis der Militärbehörde vorlag. Mehrere Quellen berichten, dass Männer im wehrpflichtigen Alter besonders gefährdet seien, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Eingangshäfen misshandelt zu werden (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 9).

Auch das Auswärtige Amt unterscheidet im Hinblick auf eine Rückkehrgefährdung: Dort liegen zwar keine Erkenntnisse vor, dass unverfolgt ausgereiste Rückkehrer allein aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts und Asylantragstellung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien (Auswärtiges Amt an das Schleswig-Holsteinische OVG v. 7.11.2016). Dem Auswärtigen Amt sind aber Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Dies stehe überwiegend im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammen arbeite (Deutsche Botschaft Beirut v. 3.2.2016 an das Bundesamt).

Seit dem generellen Abschiebestopp im April 2011 liegen nur vereinzelt Fallbeispiele von Rücküberstellungen aus westlichen Ländern vor, so dass insoweit von „Referenzfällen“ nicht ausgegangen werden kann. Laut Auskunft eines juristischen Mitarbeiters vom UNHCR Kanada gebe es nur eingeschränkte Informationen bezüglich der Behandlung von syrischen Rückkehrern seit 2011. Die Presse berichte nicht über die Behandlung von Rückkehrern durch Grenzbeamte (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E, v. 19.1.2016, S. 5).

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Merkmale vornehmlich aus dem Charakter des um seine Existenz kämpfenden Staates und den von seinen Machthabern mit größter Härte und unter Einsatz menschenrechtswidriger Mittel verfolgten Zielen. Das erklärte Ziel des syrischen Regimes ist unter Fortbestehen der Machtarchitektur die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik. Diesen Kriegszielen hat das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele untergeordnet - und zu ihrer Verteidigung hat es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommen, sondern auch massive eigene Verluste (s.o. Nr. 2.1, Gerlach, „Was in Syrien geschieht - Essay“ v. 19. 2.2016).

Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen in die syrische Armee für Rekruten und Reservisten erheblich intensiviert wurden. Dabei sind bei von Sicherheitsdiensten aufgegriffenen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen hatten, auch Fälle von Folter dokumentiert worden. Die Ausreise von militärpflichtigen Personen wurde durch verschiedene Maßnahmen (z.B. Ausreiseerlaubnis) erschwert.

Insoweit wird deutlich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger zur Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit letztlich für die Wiederherstellung und den Erhalt seiner Macht von entscheidender Bedeutung ist. Im Zusammenwirken mit dem Charakter des bedingungslos zur Erreichung seiner Ziele agierenden syrischen Regimes unter weitverbreitetem Einsatz von menschenrechtswidrigen Mitteln, wie insbesondere Folter, ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. Denn diese Personen haben sich trotz des das Regime in seiner Existenz bedrohenden Krieges nicht für einen Militäreinsatz bereitgehalten und so aus der Sicht der Machthaber ein Verhalten gezeigt, das dessen drängenden militärischen Bedürfnissen zuwiderläuft.

An diese (unterstellte) oppositionelle Gesinnung des Rückkehrers knüpft bei seiner Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient. Der Rückkehrer soll durch die unmittelbar bei Einreise erfolgende „Sonderbehandlung“ der Folter - neben der flüchtlingsrechtlich im Grundsatz nicht relevanten Zwangsrekrutierung und ggf. erfolgenden Bestrafung wegen eines Wehrdelikts - für seine in der Bürgerkriegssituation politisch unzuverlässige Haltung und die darin zum Ausdruck kommende regimefeindliche Gesinnung eingeschüchtert und bestraft werden. Diese Verhaltensmuster der syrischen Sicherheitskräfte finden ihre Entsprechung und Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Auswertung der beigezogenen Erkenntnismittel zeigt vielmehr, dass das syrische Regime zur Erhaltung seiner Macht ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit größter Rücksichtslosigkeit vorgeht. So führt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International im jüngsten Bericht zu Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe willkürlich inhaftiert zu werden, zu verschwinden oder gefoltert oder misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren (Amnesty Report 2016 v. 2. März 2016, S. 16).

Auch aus den Umständen, dass das syrische Regime bei „missliebigen Personen“ menschenrechtswidrige Maßnahmen, insbesondere Folter und „Verschwindenlassen“ anwendet, und zulässt, dass sich das Opfer gegenüber staatlichen Willkürakten nicht zur Wehr setzen kann, können Schlüsse darauf gezogen werden, wie ein Unrechtsstaat mit Personen, die er als illoyal und regimefeindlich einstuft, bei deren Rückkehr verfährt. Human Rights Watch und der UNHCR haben über die weitverbreitete Anwendung des Verschwindenlassens, Inhaftierung und Folter durch syrische Behörden berichtet (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 4; OHCHR, Open Wounds: Torture and Ill-Treatment in the Syrian Arab Republic v. 14.4.2014; Human Rights Watch, Syria, World Report 2015, 29.1.2015). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist auf die von Human Rights Watch 2012 ausführlich dokumentierte Vorgehensweise der Geheimdienste, die Willkür der Inhaftierung und die miserablen Haftbedingungen in den Haftzentren der verschiedenen Geheimdienstabteilungen. Gemäß dem Bericht des United States Departement of State 2015 habe die Anzahl willkürlicher Verhaftungen vor allem von Jungen ab 10 Jahren sowie Männern im Jahr 2014 zugenommen. Viele Verhaftungen hätten an Checkpoints stattgefunden, die vom Militär, einem der Geheimdienste oder den Paramilitärischen National Defense Forces unterhalten werden. Die UN Kommission über Syrien (UN Commission of Inquiry on Syria) habe über Massenverhaftungen von Männern im wehrdienstfähigen Alter berichtet. Dies sei vor allem in Regionen geschehen, die vom syrischen Regime zurückerobert worden seien. Human Rights Watch habe 2012 über zwanzig verschiedene Foltermethoden dokumentiert, die in den Haftzentren der Geheimdienste entwickelt und angewendet würden. Straffreiheit der Sicherheitskräfte sei die Norm. Aus dem Jahr 2014 seien dem United States Departement of State keine strafrechtlichen Verfahren oder Verurteilungen von Angehörigen der Sicherheitsdienste wegen Missbrauchs oder Korruption bekannt (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse v. 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst, S. 4f. m.w.N.)

Der UNHCR kommt für den Fall der „Prüfung individueller Asylanträge“ zu der Einschätzung, es sei wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. Art. 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen. (S.25 f, Nr. 36,). Der UNHCR ist der Ansicht, dass Personen mit einem oder mehreren der beschriebenen Risikoprofile „wahrscheinlich“ internationalen Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention benötigten. Unter ein solches Risikoprofil fallen nach Auffassung des UNHCR unter anderem „Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Aufständische, Aktivisten und sonstige Personen, die als Sympathisanten der Opposition angesehen werden; Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen bzw. Personen, die als Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen angesehen werden; Wehrdienstverweigerer und Deserteure der Streitkräfte…“ (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S.25 f.). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die Ansicht von Human Rights Watch zugrunde gelegt, dass junge Männer im wehrfähigen Alter von Haft und Misshandlung besonders bedroht seien (vgl. EGMR U.v. 15.10.2015 - 40081/14, 40127/14 - L.M. u.a. ./ Russische Föderation, NVwZ 2016, 1779, Rn. 123-125).

Nach alldem ist nach der Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass die syrischen Sicherheitskräfte die Rückkehrer nicht pauschal der Opposition zuordnen, sondern danach differenzieren, ob der Rückkehrer als Unpolitischer oder Oppositioneller einzustufen ist. Die Verfolgungsprognose führt nach der Überzeugung des Senats auch unter Berücksichtigung der hohen Flüchtlingszahlen (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S. 6, bis Herbst 2015 seien mehr als vier Millionen Syrer ins Ausland geflohen) zu dem Ergebnis, dass die Personengruppe der militärdienstpflichtigen Personen (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich im Bürgerkrieg nicht den Regierungstruppen zur Verfügung gestellt haben, sondern durch Flucht ins Ausland ihren staatsbürgerlichen Aufgaben nicht nachgekommen sind, aus Sicht des syrischen Regimes als oppositionell eingestuft werden und dementsprechend bei einer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich der weit verbreiteten Folterbehandlung unterzogen werden.

3. Ausführungen zu weiteren möglichen Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) seitens des syrischen Regimes im Hinblick auf rückkehrende Militärdienstpflichtige, wie insbesondere zu § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG einschließlich der glaubhaften Darlegung eines ernsthaften Gewissenskonflikts (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 3a Rn 36, 41), sowie zur flüchtlingsrechtlichen Relevanz einer dem Kläger drohenden Bestrafung wegen Kriegsdienstverweigerung mit politischem Charakter („Politmalus“) sind nicht veranlasst.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 1, § 711 ZPO.

6. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 04. August 2016 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen die der Klägerin vom Verwaltungsgericht zuerkannte Eigenschaft eines Flüchtlings im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG.

2

Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge reiste sie am 1. Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 27. April 2016.

4

Das Bundesamt hat der Klägerin mit Bescheid vom 13. Mai 2016 den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt (Nr. 1) und den Asylantrag im Übrigen abgelehnt (Nr. 2).

5

Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 23. Juni 2016 Klage erhoben.

6

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Stabsfeldwebel der Syrischen Armee, aus Syrien im April 2013 geflohen. Zum Nachweis der Armeezugehörigkeit werde eine beglaubigte Übersetzung des Militärführerscheins für Unteroffiziere vorgelegt. Der Ehemann sei im Januar 2013 desertiert und mit ihr und den minderjährigen Kindern in die Türkei ausgereist. Nicht bloß ihrem Ehemann, sondern auch ihr, der Klägerin, drohe bei einer Rückkehr nach Syrien die zu erwartende obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sei sie einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter ausgesetzt. Unabhängig hiervon habe sie bereits aufgrund des illegalen Verlassens ihres Heimatlandes, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der damit einhergehenden vermuteten regimekritischen Haltung mit massiver Bedrohung und Verfolgung zu rechnen. Deshalb sei ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dass den von ihr aufgezeigten Umständen asylrechtliche Relevanz beigemessen werde, sei mittlerweile in der verwaltungsgerichtlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt.

7

Die Klägerin hat beantragt,

8

den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2016 in Ziffer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie sei aus Furcht vor dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und somit aus Gründen, die ihre persönliche Sicherheit beträfen, ausgereist, nicht hingegen wegen Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Verfolger. Die von ihr geäußerte Befürchtung, ihr Auslandsaufenthalt könne zu einer Verfolgung führen, lasse keine andere Bewertung zu. Der syrische Staat stelle seit Januar 2015 Pässe in großer Stückzahl aus und ermögliche damit die Ausreise aktiv.

12

Das Verwaltungsgericht hat nach Anhörung der Beteiligten hierzu durch Gerichtsbescheid vom 4. August 2016 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen und den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben.

13

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Klägerin vorverfolgt aus Syrien ausgereist sei, denn ihr stünden beachtliche, den Schutzstatus des § 3 Abs. 1 AsylG auslösende Nachfluchtgründe zur Seite. Mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien sei im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung drohe. Es sei anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. An der im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urt. v. 06.07.2016, - RN 11 K 16.30889 -) dargestellten Lage in Syrien und der gewonnenen asylrechtlichen Einschätzung habe sich nichts verändert.

14

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien habe nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen werde. Vielmehr sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden würden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg als eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansehe. Unter den derzeitigen Umständen werde jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen.

15

Nach den aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Die Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert habe, werde von dem Gericht geteilt.

16

Auch der Annahme der Beklagten, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, sei nicht zu folgen. Nach Angaben von Pro Asyl verfolge das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016). Auch nach der vom Verwaltungsgericht Regensburg zitierten Einschätzung des Auswärtigen Amtes sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.

17

Der Klägerin stehe schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es bestehe nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

18

Die Flüchtlingsanerkennung scheide auch nicht aus anderen Gründen aus, so dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung drohe, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werde widerlegen können.

19

Mit der mit Beschluss des Senats vom 27. September 2016 zugelassenen Berufung verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides vom 4. August 2016.

20

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, es gebe keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobenen Rückkehrern grundsätzlich ungeachtet besonderer persönlicher Umstände oppositionelle Tätigkeit unterstellt werde und die Befragungen und damit teilweise auch einhergehenden Misshandlungen in Anknüpfung an ein asylrechtliches Merkmal erfolgten. Aus den bislang aufgrund der Auskunftslage zur Verfügung stehenden Einzelfällen könne ungeachtet des Unrechtsgehalts dieses staatlichen Handelns keine Motivation des syrischen Staates abgeleitet werden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien deshalb für sich allein kein Grund für Verhaftung oder Repressalien. Dass Rückkehrer generell der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien, begründe daher lediglich einen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Auch aus der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung ließen sich keine belastbaren Erkenntnisse für das Vorliegen einer asylrechtlich erheblichen Gefahr einer politischen Verfolgung herleiten. Der syrische Staat habe weder Veranlassung noch entsprechende Ressourcen, alle zurückgeführten unpolitischen Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund in asylrechtlich relevantem Maße zu verfolgen. Auch die massenhafte Ausstellung von Pässen spreche gegen die Auffassung, dass Rückkehrern wegen eines Auslandsaufenthalts eine regimekritische Gesinnung unterstellt werde.

21

Die Beklagte beantragt,

22

den Gerichtsbescheid, Az. 12 A 222/16, vom 4. August 2016 des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

23

Die Klägerin beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Dass die gegenwärtige Lage in Syrien vom Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt und gewürdigt worden sei, ergebe sich auch aus weiteren Länderberichten. Die eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts seien hingegen nicht geeignet, die Annahmen des Verwaltungsgerichts zu widerlegen. Im Übrigen sei sie, die Klägerin, vorverfolgt ausgereist. Ihr Ehemann sei Unteroffizier bei der syrischen Armee gewesen und habe in einer Abteilung gearbeitet, die sich mit der Ermordung des Libanesen R. beschäftigt habe. 2012 sei ihr Ehemann, als er an der Front habe kämpfen sollen, desertiert und mit seiner Familie im August von Damaskus zunächst nach Latakia geflohen und von dort aus weiter nach Idlib. Aufgrund der Desertation würde ihr, der Klägerin, mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr nach Syrien Verfolgung drohen.

26

Der Senat hat mit Beschluss vom 27. September 2017 Beweis erhoben zu der Frage, ob unverfolgt ausgereiste Rückkehrer wegen einer vermuteten oppositionellen Haltung Befragungen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sind und, sollte dies der Fall sein, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, dass sie deshalb Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sein werden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Wegen des Inhalts der Gutachten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (Bl. 114 f., 118f.).

27

Die Klägerin ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung informatorisch zu den von ihr geltend gemachten Verfolgungsgründen angehört worden. Wegen der von ihr hierzu geltend gemachten Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2016 (Gerichtsakten Bl. 152ff ) Bezug genommen.

28

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakten.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 4. August 2016 war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

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Nach § 3 Abs. 1 AsylG (zitiert nach der hier anwendbaren Variante) ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gemäß § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

31

§ 3a Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als dauerhafte oder systematische schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte (vgl. Marx, AsylVfG-Komm., 8. Aufl., § 3a Rn. 3); in Absatz 2 werden besondere Beispiele für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung bezeichnet. § 3b Abs. 1 AsylG beschreibt abschließend die maßgeblichen Verfolgungsgründe. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG. Wer eine ihm geltende Verfolgungshandlung (§ 3a) sowie den Wegfall nationalen Schutzes (§ 3c - § 3e) darlegen kann, wird als Flüchtling anerkannt, wenn die Verfolgung auf einem oder mehreren der in § 3b Abs. 1 bezeichneten Verfolgungsgründen beruht. Kann die Anknüpfung der Verfolgung an einen Verfolgungsgrund nicht dargelegt werden, besteht nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1) (Marx, a.a.O., § 3a Rn. 50).

32

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, ob eine spezifische Zielrichtung vorliegt, die Wirkung mithin wegen eines geschützten Merkmals erfolgt (BVerfGE 80, 315, 335; BVerfGE 81, 142, 151; Marx, a.a.O., § 3 a, Rn. 54). Danach wohnt dem Begriff der Verfolgung ein finales Element inne, da nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Personen oder Personengruppen zielenden Zugriff erhebliche Wirkung zukommt. Das Kriterium „erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme“ und das Erfordernis, dass die Verfolgung an geschützte Merkmale anknüpfen muss, verdeutlichen, dass es auf die in der Maßnahme objektiv erkennbar werdende Anknüpfung ankommt (Marx, a.a.O., Rn. 54).

33

Dabei ist es für die Annahme von Verfolgung nicht erforderlich, dass von politischer Verfolgung Betroffene entweder tatsächlich oder nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sind. Politische Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist (BVerfG, Kammerbeschluss v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5). In diesem Sinne sieht § 3b Abs. 2 AsylG vor, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Dafür, dass die Verfolger einen Verfolgungsgrund unterstellen, müssen jedoch Umstände ermittelt werden (vgl. Marx, a.a.O., § 3b Rn. 78).

34

Nach der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin ist der Senat davon überzeugt, dass diese unverfolgt ihr Heimatland Syrien verlassen hat. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt der Asylbewerber seiner ihm obliegenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO nur dann, wenn er drohende oder bereits erlittene politische Verfolgung in „schlüssiger“ Form vorträgt. Hierzu ist erforderlich, dass er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (ständ. Rspr. BVerwG, Urt. v. 24.11.1981 - BVerwG 9 C 251.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 31; v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405/89 -, juris, Rn. 8; Beschl. v. 15.08.2003 - 1 B 107/03, 1 PKH 21 PKH 28/03 -, juris Rn. 5). Diese Anforderungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat erstmals in der im Rahmen des Berufungsverfahrens durchgeführten persönlichen Anhörung ausgeführt, ihr Ehemann sei nach Erhalt eines Einsatzbefehls aus der syrischen Armee desertiert und habe mit ihr und den gemeinsamen Kindern Damaskus zunächst in Richtung Latakia verlassen. In Idlib sei er, nachdem er sich als Deserteur offenbart gehabt habe und von einer bewaffneten Person als Mitglied des Ausschusses zur Aufklärung der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri erkannt worden sei, von der Al-Nusra-Front mitgenommen und ca. vierzehn Tage festgehalten worden. Familienangehörige ihres Ehemannes seien ebenfalls festgenommen worden, um den Aufenthaltsort ihres Mannes sowie dessen Familie ausfindig zu machen. Sie selbst seien weiter in die Türkei geflüchtet, von wo sie als einzige weiter nach Deutschland geflüchtet sei. Dieses Vorbringen genügt nicht den Anforderungen an einen schlüssigen, in sich widerspruchsfreien Vortrag. Der Asylbewerber ist gehalten, sich bereits bei der Antragstellung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration über die Tatsachen zu erklären, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.1991 - 9 C 131/90 -, juris Rn. 9). Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung bei der Beklagten erklärt, sie sei mit ihrer Familie aus Furcht vor dem Bürgerkrieg geflohen. Sie hat trotz gezielter Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung nicht zu erklären vermocht, warum sie die 50 Minuten währende Anhörung bei der Beklagten nicht dazu genutzt hat, sich über ihr im Rahmen des anhängigen gerichtlichen Verfahrens erstmalig vorgetragenes individuelles Fluchtschicksal zu erklären. Auch, wenn es dem Asylbewerber grundsätzlich unbenommen bleibt, sein Verfolgungsschicksal später, das heißt in dem sich anschließenden (Gerichts-)Verfahren, zu ergänzen und zu konkretisieren, muss das Kerngeschehen grundsätzlich - wie ausgeführt - bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration in sich stimmig und widerspruchsfrei geschildert werden. Daran mangelt es hier. Die Klägerin hat ihr Vorbringen gegenüber demjenigen vor dem Bundesamt erheblich verändert und dann deutlich gesteigert. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu verändern, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Klagebegründung (kurze) Ausführungen zu der Desertation ihres Ehemannes und der anschließenden Flucht der Familie durch und aus Syrien gemacht hat. Denn auch insoweit handelt es sich bereits um gesteigertes Vorbingen gegenüber der erstmaligen Anhörung. Hinzu kommt, dass die Klägerin ihr schriftsätzlich vorgetragenes und ihr mündliches Vorbringen im Berufungsvorbringen weiter gesteigert hat. Sie hat zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens einen in sich stimmigen widerspruchsfreien Vortrag zu Protokoll erklärt. Vielmehr sind die von der Klägerin vorgebrachten mündlichen Schilderungen zu ihrem Verfolgungsschicksal nicht von persönlichem Erleben getragen. Dies schlussfolgert der Senat insbesondere aus den vage gebliebenen, insgesamt konstruiert wirkenden Angaben zu den Umständen der Flucht aus Latakia und der anschließenden Festnahme des Ehemannes nahe der Stadt Idlib. Welche Motivation hinter der Festnahme gestanden haben soll, bleibt völlig unklar. Auch das vorangegangene Fluchtgeschehen von Latakia nach Idlib mittels eines Lkw, auf dessen Ladefläche der Ehemann der Klägerin versteckt worden sein soll, bleibt in den Schilderungen der Klägerin detailarm und von Zufällen getragen, die ein reales Erleben als eher fernliegend erscheinen lassen. Ebenso bleibt es widersprüchlich, dass der Ehemann nach seiner Desertation und dem Weggang nach Latakia offenbar noch weitere acht Monate bei der Militärpolizei gearbeitet und im Wechsel eine Woche in Damaskus und eine Woche in Latakia gearbeitet haben will. Die Entfernung zwischen beiden Städten beträgt rund 330 km einfache Wegstrecke (Luftlinie gut 227 km).

35

Hätten sich die geschilderten Geschehnisse tatsächlich so zugetragen, bleibt umso mehr unverständlich, warum die Klägerin, die auch persönlich bedroht worden sein will, hierzu keinerlei Ausführungen bei ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten gemacht hat. Weder Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung noch solche im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration haben es vermocht, Widersprüche aufzulösen und das vorgetragene Verfolgungsschicksal in sich stimmiger zu machen. Im Gegenteil: Dass die Klägerin nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung vor dem Senat ihre informatorische Anhörung dahingehend ergänzt hat, sie sei - obwohl sie bekundet hat, in Syrien keiner Vernehmung ausgesetzt gewesen zu sein - bei der Anhörung vor dem Bundesamt an Vernehmungen in Syrien erinnert gewesen und habe Angst bekommen, ist nicht ansatzweise glaubhaft. Hinzu kommt, dass sie, die zudem keiner politischen Vereinigung angehört und sich auch nicht politisch engagiert hat, auch auf Nachfrage nicht zu erklären vermocht hat, warum sie die Frage nach ihrer Befürchtung bei einer Rückkehr in ihre Heimat dahingehend beantwortet hat, sie befürchte eine Bestrafung, weil die ausgereisten Syrer als Verräter gelten würden. Es hätte vielmehr nahe gelegen, bei einem von realem Erleben getragenen Geschehen von sich aus das Verfolgungsschicksal vom Beginn der Asylantragstellung an nachvollziehbar zu schildern.

36

Bei einer derartigen Sachlage war der Senat im Übrigen nicht gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären und etwa Beweis darüber zu erheben, ob die in Kopie und Übersetzung zu den Gerichtsakten gelangten Dokumente (Unteroffizierausweis und Militärführerschein für Unteroffiziere) echte Urkunden der syrischen Armee darstellen und ob es sich bei der dort abgebildeten Person tatsächlich um den Ehemann der Klägerin handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Ein solcher tatsächlicher Anlass besteht im Prozess wegen Anerkennung als Asylberechtigter dann nicht, wenn der Kläger unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form vorträgt (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989, a.a.O., Rn. 8; Beschl. v. 26.11.2007 - 5 B 172/07 - , juris Rn. 3).

37

Hat die Klägerin danach ihr Heimatland unverfolgt verlassen, besteht nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass der totalitäre syrische Staat jeden Rückkehrer pauschal unter eine Art Generalverdacht stellt, der Opposition anzugehören (in diesem Sinne etwa Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris Rn. 7; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 8). In diesem Sinne sind auch die vom Verwaltungsgericht angestellten Erwägungen, die sich im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe sowie auf die vom Verwaltungsgericht Regensburg herangezogenen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (November 2015, Asyldokumentation Nr. 598b) beziehen, nicht geeignet konkrete Anhaltspunkte für eine - pauschal alle Rückkehrer betreffende - Rückkehrgefährdung anzunehmen. Nach den Erwägungen des UNHCR kann aus Syrien ausgereisten syrischen Staatsangehörigen Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die diesen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus denen die Betroffenen stammen. Diese Einschätzung ist jedoch nicht ausreichend für die Annahme, allen aus Syrien ausgereisten Flüchtlingen würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Wiedereinreise asylrelevante Verfolgung drohen.

38

Bei Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe fehlt es vielmehr an einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls insoweit, als dass sich die Klägerin darauf beruft, sie hätte aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Stellung des Asylantrages und des längeren Aufenthaltes im Bundesgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanter Verfolgung seitens des syrischen Staates zu rechnen. Aufgrund der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin geht der Senat davon aus, dass diese unverfolgt ausgereist ist, so dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 23).

39

Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ob das der Fall ist, beurteilt sich nicht aufgrund einer quantitativen, sondern aufgrund einer qualifizierenden Betrachtungsweise. Eine theoretische Möglichkeit, dass sich eine Gefahr realisiert, reicht allerdings nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 (169) m.w.N.; Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 (393); Beschl. v. 31.03.1998 - 9 B 843.97 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris Rn. 25).

40

Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist zur Überzeugung des Senats nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates bei einer Rückkehr in ihr Heimatland zu rechnen hätte. Die Klägerin hat sich in Syrien nicht politisch betätigt, so dass es an dem Vorliegen eines Verfolgungsgrundes - in Betracht käme ersichtlich nur derjenige nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG - fehlt. Sie ist vielmehr wegen des herrschenden Bürgerkrieges und den sich daraus für sich und ihre Familie ergebenden Folgen ausgereist. Der Senat geht davon aus, dass angesichts der erheblichen Zahl der insbesondere im vergangenen Jahr aus Syrien ausgereisten Menschen (knapp 430.000 Flüchtlinge, vgl. ZEIT ONLINE vom 08.06.2016, Asyldokumentation Nr. 599c, und Mediendienst-Integration, Stand: 01.08.2016, Asyldokumentation Nr. 599e) auch dem syrischen Staat bekannt sein dürfte, dass - wie die Klägerin - die weit überwiegende Anzahl der Flüchtenden aus Angst vor dem Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Folgen ihr Heimatland verlassen haben. Allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt stellen daher keine Anzeichen für politische Gegnerschaft zum syrischen Regime dar (so auch Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, juris Rn. 18). Diese Einschätzung deckt sich mit der gegenwärtig vorliegenden Auskunftslage, wonach auf Ebene der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Ebenfalls liegen keine Erkenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien vor (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 07.11.2016, Asyldokumentation Nr. 602). In Übereinstimmung hiermit steht eine Auskunft des Deutschen Orient-Instituts (vom 08.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht, Asyldokumentation Nr. 603), wonach die syrische Regierung, nachdem in beinahe allen Landesteilen im Frühjahr 2011 Proteste und Unruhen ausgebrochen waren, die Kontrolle über größere Teile des Staatsgebiets verloren hat. Danach werden im Osten nach wie vor weiter besiedelte Gebietsteile durch den sogenannten Islamischen Staat kontrolliert. Die Grenzregionen zu Jordanien und der Türkei werden von verschiedenen oppositionellen Rebellengruppen beherrscht; der mehrheitlich kurdische Teil Syriens, besonders im Norden und Nordosten, hat sich selbst zu föderalen Provinzen erklärt. Die Gebiete zwischen den größten Städten im Westen des Landes (vor allem Damaskus und Umland, Hama, Homs, Aleppo und mit Abstrichen auch Latakia) werden durch verschiedene Gruppierungen oder die Regierung kontrolliert. Die Grenzziehung zwischen diesen Zonen unterliegt einer stetigen Veränderung der Frontverläufe und Kontrolle. Befragungen oder Verfolgung durch die syrische Regierung sind also derzeit zunächst nicht in allen Landesteilen realistisch.

41

Diese Auskunft, die sich weiterhin mit der Ausreisegenehmigung und der Einziehung zum Wehrdienst für männliche Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren einschließlich der drohenden Konsequenzen für Deserteure beschäftigt sowie mit der besonderen Gruppe der in Syrien wohnhaften Kurden, bestätigt im Kern die Einschätzung, dass jedenfalls keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien, die nicht im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten stehen wie etwa Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger, Übergriffe oder gar Sanktionen zu erleiden haben. Befragungen sind danach bei einer Wiedereinreise über Damaskus zwar nicht unrealistisch; es ist aber wegen der in der Auskunft hervorgehobenen Personengruppen der Deserteure und Kurden jedenfalls nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass mit einer eventuellen Befragung negative Konsequenzen für diejenigen potentiell Betroffenen zu befürchten sind, die lediglich aufgrund des Bürgerkrieges ihr Heimatland verlassen haben. Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeitet (so bereits die Auskunft der Botschaft Beirut, Referat 313 vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asyldokumentation Nr. 598e).

42

Somit hat die Beklagte der Klägerin zu Recht (nur) subsidiären Schutz gewährt.

43

Die Nebenentscheidungen ergeben sich im Kostenpunkt aus §§ 154 Abs. 1 i. v. m. § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

44

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).


Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten über den ihm zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.

Der Kläger ist ein am ... 1985 in D. geborener Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien arabischer Volkszugehörigkeit muslimischen Glaubens (Sunnit). Er reiste seinen Angaben zufolge am 20. Dezember 2015 auf dem Land Weg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 31. März 2016 einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. Mai 2016 äußerte er sich im Wesentlichen wie folgt:

Bis zu seiner Ausreise aus Syrien am 30. November 2015 habe er in D.,..., gelebt. Seine Ehefrau und sein Kind seien noch in D. Beide habe er aus finanziellen Gründen und aus Angst wegen der Gefährlichkeit der Reise nicht mitgebracht. Wehrdienst habe er vom 1. März 2004 bis zum 1. April 2006 geleistet. Er sei Gefreiter in nicht spezieller Funktion gewesen. Er sei auch nicht Mitglied einer nicht staatlichen bewaffneten Gruppierung gewesen oder in einer sonstigen politischen Organisation. Augenzeuge oder Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder von Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder anderen Misshandlungen) durch kämpfende Einheiten auf die Zivilbevölkerung sei er nicht gewesen. Er habe auf seinem Weg nach Deutschland und in Deutschland weder Kenntnis von Personen erlangt, die er als Unterstützer oder Mitglieder von extremistischen oder terroristischen Organisationen eingeschätzt habe, noch von Personen, von denen er habe annehmen müssen, dass sie für einen Nachrichtendienst arbeiten. Er habe rechtzeitig seine Ausreise aus Syrien geplant, weil es zu dieser Zeit eine große Welle von Einberufungen zum Militärdienst gegeben habe. Das habe er vermeiden wollen. Zum Zeitpunkt der Ausreise habe er noch keine Einberufung erhalten gehabt. Ob jetzt eine Einberufung vorliege, wisse er nicht. Er kenne auch niemanden aus seinem Bekannten- und Freundeskreis, der dann einberufen worden sei, weil viele rechtzeitig vorzeitig ausgereist seien. Vor der Ausreise sei er außer der allgemeinen Lage, z. B. ständige Bombenanschläge, nicht persönlich bedroht gewesen. Bei einer Rückkehr nach Syrien habe er Angst verhaftet zu werden und zum Militärdienst zu müssen. Die allgemeine Sicherheitslage in Syrien sei schlecht. Dies treffe auch insbesondere auf seine Frau und sein Kind zu.

Das Bundesamt erkannte den Kläger mit Bescheid vom 6. Juni 2016 als subsidiär Schutzberechtigten an und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.

Das Verwaltungsgericht Regensburg hat die Beklagte mit Urteil vom 2. August 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Zur Begründung führte es u.a. aus: Der syrische Staat betrachte gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System, die das Gebot der Loyalität ihm gegenüber verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinn des § 3a AsylG zu rechnen.

2. Die Beklagte begründet die vom Senat mit Beschluss vom 22. September 2016 zugelassene Berufung wie folgt:

Es begegne Zweifeln, die Verfolgungsgefahr zumeist aus einem allgemeinen „Abschöpfungsinteresse“ hinsichtlich Erkenntnissen zur Exilopposition ableiten zu wollen. Die insoweit geschilderten Referenzfälle hätten Personen betroffen, bei denen zuvor ein individualisierter Verdacht bestanden habe. Gegen die Annahme einer Regimegegnerschaft jedes Rückkehrers spreche die sehr hohe Zahl der Flüchtlinge. Der syrische Staat dürfte weder Veranlassung noch Ressourcen haben, gegen jeden Rückkehrer vorzugehen. Auch die hohe Anzahl an ausgegebenen syrischen Reisepässen spreche dagegen, dass jedem Rückkehrer unbesehen eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt werde. Die Maßnahmen im Rahmen der Einreisekontrollen seien nicht systematisch, sondern willkürlich. Das erfülle nicht den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Eine unklare Tatsachensituation verlange im Rahmen der gebotenen Prognoseentscheidung tendenziell eine zurückhaltende Beurteilung. Für den Kläger als Reservisten bestehe zwar bei einer Rückkehr die Gefahr Militärdienst leisten zu müssen, allerdings sei noch keine Konkretisierung eingetreten etwa durch einen Einberufungsbefehl. Die abstrakte Möglichkeit, Militärdienst leisten zu müssen, werde nicht als hinreichend risikoerhöhend betrachtet. Eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG sei mangels Anhaltspunkt für eine individuelle Verantwortung bezüglich etwaiger Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht erkennbar.

Die Beklagte beantragt,

in Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 2. August 2016 die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der syrische Staat werde die Flucht eines wehrdienstfähigen Mannes als Ausdruck der Gegnerschaft betrachten. Bei einer Rückkehr nach Syrien drohe dem Kläger daher politische Verfolgung. Es sei auch eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG gegeben. Der Kläger wäre im Falle der Einziehung zum Militärdienst gezwungen, an Kriegsverbrechen der syrischen Armee teilzunehmen.

Die Landesanwaltschaft Bayern äußert sich als Vertreterin des öffentlichen Interesses insbesondere wie folgt:

Die erforderliche Verknüpfung zwischen schädigender Handlung und Verfolgungsgrund sei beim Kläger nicht gegeben. Die Annahme, dass aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Syrer bei der in diesem Fall obligatorischen Befragung von den syrischen Sicherheitskräften allein wegen der Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet würden, sei wenig plausibel und letztlich lebensfremd.

3. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4, Abs. 1, AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger - ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 6. Juni 2016 zugesprochenen subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) - die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer - soweit hier von Interesse - Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Dem nicht vorverfolgt ausgereisten Kläger droht bei einer (rechtlich hypothetisch unterstellten) Rückkehr nach Syrien nach der Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren einen Vorfall genannt hat, der sich etwa einen Monat vor Ausreise ereignet haben soll, ist weder eine Anknüpfung der Maßnahme an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal noch die erforderliche asylerhebliche Intensität vorhanden.

2. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich aber aus den Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe (§ 28 Abs. 1a AsylG).

Ein solcher Nachfluchtgrund besteht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht deshalb, weil der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen (vgl. Urteile des Senats vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30338 und 16.30364, 16.30371 - juris).

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Senats deshalb, weil sich der Kläger als Reservist durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).

Nach diesem Maßstab und der Erkenntnislage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist es zur Überzeugung des Senats beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen D. oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK). Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich als Reservist durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositionellen behandeln (vgl. allgemein dazu BVerfG, B.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315/335; BVerwG, U.v. 19.1.2009 - 10 C 52.07 - juris Rn. 24).

Diese Beurteilung beruht auf einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts (2.3) unter Einbeziehung der Umstände, die das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad charakterisieren (2.1) und der übrigen für die Prognoseentscheidung erheblichen Tatsachen (2.2).

2.1 Eine Auswertung der in beiden Rechtszügen beigezogenen Erkenntnismittel zeigt, dass das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich zunehmend unter Druck geraten ist. Der syrische Staat setzt deshalb alles daran, seine Macht zu erhalten und geht in seinem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor.

Zu den Zielen der syrischen Regierung führt Gerlach in „Was in Syrien geschieht - Essay“ vom 19. Februar 2016 (http: www.b...de/...) aus:

„Das erklärte Ziel des syrischen Regimes, das sich für den rechtmäßigen Vertreter des Staates hält, ist die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik, also gewissermaßen in den Grenzen von 2011. … Wichtiger noch: das Fortbestehen der Machtarchitektur ohne einschneidende Veränderung, die in einer Entmachtung des Präsidenten Assad oder in der Auflösung jenes Machtkomplexes der drei um den Präsidenten gruppierten Clans Assad, Makhlouf und Shalish bestehen könnte. Diesen Kriegszielen ordnete das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele unter - und zu ihrer Verteidigung nahm es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung, sondern auch massive eigene Verluste in Kauf.“

Einem „Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Februar 2012)“ des Auswärtigen Amts vom 17. Februar 2012 ist zu entnehmen:

„Das syrische Regime setzt im Kampf gegen die syrische Opposition die Armee und Sicherheitskräfte gezielt gegen zivile Siedlungsgebiete ein. …

Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Geheimdienste. Es gibt vier große Sicherheitsdienste, die unabhängig voneinander alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sowie sich gegenseitig kontrollieren: Allgemeine Sicherheit, Politische Sicherheit, Militärische Sicherheit und die Sicherheit der Luftwaffe. … Die Befugnisse der Sicherheitsdienste unterliegen keinen definierten Beschränkungen. Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhörzentralen, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelt. …

Syrische Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien anstreben, werden durch das Regime massiv unterdrückt. …

Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränken sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“ (enforced disappearance), tätlichen Angegriffen (z. B. der Karikaturist A. F. und der Oppositionspolitiker R. S.), Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte (z. B. das Kind H. al-K., der Aktivist C. M.) und Mordanschlägen (z.B. der kurdische Oppositionelle M. D.) belegt. Einige Oppositionelle sind daher in den Untergrund gegangen …; viele andere haben Syrien verlassen. …

Menschenrechtsverteidiger schätzen die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen auf insgesamt über 40.000. … Willkürliche Verhaftungen sind in Syrien gegenwärtig sehr häufig und gehen von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen (sog. Shabbiha) aus. …

Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). …

Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. …

Es muss davon ausgegangen werden, dass exilpolitische Tätigkeiten den syrischen Sicherheitsdiensten bekannt werden. Auch ist nicht auszuschließen, dass syrische Familien in Deutschland von den Sicherheitsdiensten als Druckmittel gegenüber noch in Syrien lebenden Verwandten (oder umgekehrt) missbraucht werden. …

Obwohl die syrische Verfassung (Art. 28) und das syrische Strafrecht Folter verbieten und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame unmenschliche Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt an. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung ist in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, unterliegen ebenfalls einem hohen Folterrisiko. …Gegenwärtig kann sich das Individuum de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deutet darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art ´carte blanche´ erhalten haben. …

Es kommt seit Beginn der Unruhen regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitsdienste, Rechtsmittel dagegen existieren nicht. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste kommt es zu Drohungen und körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. …

Fälle von Verschwindenlassen haben seit März 2011 erheblich zugenommen“ (Namen sind im Original vollständig wiedergegeben).

Der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2015 (https: www...ch/...) kann entnommen werden:

„Human Rights Watch kritisierte im Januar 2015, dass trotz der Amnestie noch eine Vielzahl Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Medienschaffende sowie Personen, die humanitäre Hilfe geleistet haben, inhaftiert oder in Untersuchungshaft sind. …

In vielen Fällen werden vor allem Aktivisten, Anwälte und Menschenrechtsaktivisten von den Geheimdiensten wochen- und monatelang ohne Verfahren festgehalten. …

Die Anzahl der seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 verhafteten Personen ist umstritten. Das Violations Documentation Center, eine lokale Monitoring Gruppe, ging im Juli 2014 davon aus, dass 40.853 Personen in Haft sind. Der ehemalige UN-Sondergesandte für Syrien, Lakhdar Brahimi, ging von zwischen 50.000 und 100.000 Inhaftierten des syrischen Regimes aus. Der UN High Commissioner for Human Rights, Zeid Ra'ad Al Hussein, weist auf Schätzungen zwischen zehntausenden und hunderttausenden Inhaftierten hin. Das Syrian Observatory for Human Rights schätzt, dass 200.000 Personen in syrischen Gefängnissen sitzen. …

Dass die Haftbedingungen schlecht sind und in den Gefängnissen gefoltert wird, ist seit langem dokumentiert, auch bereits vor dem Konflikt. Folter ist insbesondere in der ersten Zeit der Haft üblich, um an Informationen zu kommen, die Häftlinge einzuschüchtern und um Schuldeingeständnisse zu erzwingen. Folter und die schlechten Haftbedingungen führen zu Todesfällen. …

Viele friedliche Aktivisten, die aufgrund des Anti-Terrorismus-Gesetzes verurteilt worden sind und von der Amnestie hätten profitieren sollen, blieben weiterhin in Haft.“

Die vierte aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ vom November 2015 (https: www.e...net/...) äußert sich in Fußnummer 74 u.a. wie folgt:

„Verläuft die Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die man für einen Regierungsgegner hält, erfolglos, gehen die Sicherheitskräfte Berichten zufolge dazu über, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Dies geschieht entweder zur Vergeltung der Aktivitäten bzw. des Loyalitätsbruchs der gesuchten Person oder zwecks Einholung von Informationen über ihren Aufenthaltsort oder mit der Absicht, die betreffende Person dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. die gegen sie erhobenen Anschuldigungen anzuerkennen.”

Die Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada (Immigration and Refugee Board of Canada) verweist in einem Bericht (Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 4 - zitiert nach der in das Verfahren eingeführten Übersetzung in die deutsche Sprache) auf folgende Erkenntnisse von Amnesty International (Between Prison and the Grave, Enforced Disappearances in Syria, November 2015), Human Rights Watch (Syria, World Report 2015: Events of 2014, 29.1.2015) und OHCHR (Open Wounds: Torture and Ill-Treatment in the Syrian Arab Republic, 14.4.2014) hin:

„Laut AI hat die in Syrien stationierte Kontrollgruppe Syrian Network for Human Rights über 58.000 Fälle von Zivilisten dokumentiert, die zwischen März 2011 und August 2015 durch die syrische Regierung ´zwangsweise´ verschwunden sind, und am 30. August 2015 immer noch als vermisst gelten (AI, Nov. 2015, 7). Des Weiteren vermerkt dieselbe Quelle, dass alle vier Truppengattungen der syrischen Sicherheitskräfte, bestehend aus dem militärischen Geheimdienst, dem Geheimdienst der Luftwaffe, dem politischen Sicherheitsdienst und dem allgemeinen Geheimdienst (auch Staatsicherheit genannt), Personen zwangsweise verschwinden lassen würden und dass es überall im Land Gefangenenlager gebe (ebd.). AI erklärt, dass diese Gefangenen ´außerhalb des gesetzlichen Schutzes gestellt werden, und dass ihnen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder ein faires Gerichtsverfahren verwehrt wird´; dass Gefangene in überfüllten Behausungen gehalten und regelmäßig einem Katalog der Folter ausgesetzt werden´(ebd., 8). Human Rights Watch und der UNHCR berichten über die weit verbreitete Anwendung des Verschwindenlassens, der Inhaftierung und Folter durch syrische Behörden (UN, 14. Apr. 2014, 1; Human Rights Watch, 29. Jan. 2015, 2 - 3).“

Nach den im Amnesty Report 2016 vom 2. März 2016 (http: www.a...de/...) festgehaltenen Erkenntnissen von Amnesty International hat sich an dieser Lage nichts zum Guten geändert. Dem Report ist u.a. zu entnehmen:

„Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben „verschwunden“. Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. …

Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. …

10.000 Personen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterrorgericht oder vor militärischen Feldgerichten.“

2.2 Darüber hinaus sind folgende Prognosetatsachen zu berücksichtigen:

2.2.1 Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien über den Flughafen D. oder eine andere staatliche Kontrollstelle im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über seinen Auslandsaufenthalt und den Grund seiner Abschiebung befragt wird. Die Sicherheitsbeamten werden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob der Kläger von den Behörden gesucht wird. Die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte und die Sicherheitskontrollen, die von Grenzbeamten am Flughafen D. und anderen Eingangshäfen durchgeführt wird, beinhaltet zu überprüfen, ob der Rückkehrer seinen Wehrdienst abgeleistet hat (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 2 f. und 8, Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Trier v. 12.10.2016 zur Ausreisekontrolle). Auch nach einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe („Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, v. 30.7.2014, S. 7) können Personen, die während ihres Auslandsaufenthalts zum Wehrdienst einberufen wurden, bei ihrer Einreise durch die syrischen Behörden identifiziert werden, da ihr Name auf einer entsprechenden Suchliste zu finden ist.

2.2.2 Zu den Umständen und Folgen einer solchen Überprüfung für einen abgelehnten Asylbewerber, der sich als Wehrpflichtiger oder Reservist durch den Auslandsaufenthalt der Einberufung zum Militärdienst entzogen hat, ergibt die Auskunftslage Folgendes:

Die Ermittlungsabteilung (Research Direcorate) der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde hat dazu verschiedene sachkundige Personen befragt. Ein leitender auf Syrien spezialisierter Gast-Forschungsbeauftragter am King´s College London (Visiting Senior Research Fellow, telefonische Befragung am 15.12.2015) bekundete gegenüber der kanadischen Behörde, dass Sicherheitsbeamte am Flughafen und anderen Grenzübergängen eine „carte blanche“ hätten, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen. Wenn ein Sicherheitsbeamter jemanden verdächtige, nähmen sie ihn möglicherweise sofort mit. In diesem Fall könne die Person verschwinden oder gefoltert werden. Das System sei sehr unberechenbar, Rechtsbehelfe gegen die Misshandlungen der Grenzbeamten gebe es nicht. Mehrere Quellen berichten, dass Männer im wehrpflichtigen Alter besonders gefährdet seien, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Eingangshäfen misshandelt zu werden (so ein emeritierter Professor für Anthropologie und Zwangsmigration der Universität Oxford - emeritus Professor of anthropology and forced migration at Oxford University, telefonische Befragung am 11.12.2015; sowie der Vorstand der Nichtregierungsorganisation „Syrisches Zentrum für Justiz und Rechenschaftspflicht“ - Executive Director „Syria Justice and Accountability Center“, telefonische Befragung am 14.12.2015). Der emeritierter Professor für Anthropologie und Zwangsmigration der Universität Oxford (telefonische Befragung am 11.12.2015) beschrieb Männer im wehrpflichtigen Alter als die „meist gefährdete“ Gruppe in Bezug auf die Behandlung seitens der syrischen Behörden an den Eingangshäfen, „besonders wenn sie niemals im Militär gedient haben“. Eine Programmbeauftragte (program officer) am Center for Civilians in Conflict (CIVIC), die sich spezialisiert hat auf humanitäre und Flüchtlingsthemen in Syrien und im Irak, äußerte in einem Telefoninterview am 11. Dezember 2015, dass junge Männer zwischen 16 und 40 Jahren von den Grenzbeamten „besonders verfolgt“ werden und „allseits der Zwangswehrpflicht unterstellt seien“, auch wenn sie ihren Militärdienst schon abgeleistet hätten (vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 8f.).

2.2.3 Auch aus dem System der allgemeinen Wehrpflicht in Syrien und den während des Kriegs eingeführten Reisebeschränkungen für militärdienstpflichtige Männer lassen sich Erkenntnisse für die vorzunehmende Gesamtschau gewinnen.

Das System der allgemeinen Wehrpflicht beruht auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Männer, die 18 Jahre alt werden, müssen sich zur Generalrekrutierungsstelle begeben (Befragung, Foto, Bluttest). Danach wird ihnen ein Militärdienstbuch ausgehändigt. Bei Beginn des Militärdienstes müssen bei der Generalrekrutierungsstelle die zivilen Ausweise und das Militärdienstbuch abgegeben werden und der Betreffende erhält umgehend den Militärdienstausweis bevor er zu seiner Einheit entsandt wird. Wenn der Dienst absolviert ist, bekommt man „Entlassungspapiere“, die man bei der Generalrekrutierungsstelle abgibt und erhält den zivilen Ausweis und das Militärbuch - versehen mit dem Stempel, dass der Militärdienst geleistet und die Person entlassen wurde (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 5).

Syrische Behörden hätten nach den Ermittlungen der Agence-France-Presse (AFP) das Recht, im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands, alle männlichen Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, wieder einzuberufen (AFP v. 27.3.2012 „Syria Imposes Travel Ban on Men Under 42: Reports“). Zum Thema Reisebeschränkungen der militärdienstpflichtigen Männer heißt es, dass die Regierung allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren offiziell verboten habe, außerhalb des Landes zu reisen (The Christian Science Monitor v. 27.3.2012, „As Syria’s War Rages, Assad Bans Military-Age Men From Leaving“). Einschränkend gibt die AFP an, dass diese Männer reisen dürften, aber vorher eine Genehmigung von den Behörden bräuchten und das bisherige Reiseverbot sich nur auf Männer bezogen habe, die ihre zweijährige Wehrpflicht noch nicht abgeleistet hätten (AFP v. 27.3.2012; vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 6 f.).

Nach den Erkenntnissen des Orient-Instituts habe die syrische Regierung im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet sei, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet hätten. Männliche syrische Staatsangehörige sähen sich nach einer Wiedereinreise nach Syrien in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet, wenn sie älter als 18 Jahre seien, der Einberufung in den Wehrdienst gegenüber. Für den Fall, dass der Wehrdienst vor der Ausreise nicht abgeleistet worden sei, könne dies von der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen (z.B. durch Flucht oder Bestechung eines direkten Vorgesetzten), so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, aber auch Folter zur Folge. Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet worden sei, komme es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen würden (Deutsches Orient-Institut an das Schleswig-Holsteinische OVG undatiert).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt aus („Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee“, v. 30.7.2014, S. 3 ff.), Männer hätten, nachdem sie die allgemeine Wehrpflicht absolviert hätten, die Möglichkeit, für die Dauer von fünf Jahren in den aktiven Militärdienst einzutreten. Ansonsten dienten sie während der nächsten 18 Jahre als Reservisten. Es gebe keine Möglichkeit für einen Ersatzdienst. Wehrdienstverweigerung werde gemäß dem Military Penal Code von 1950, der 1973 angepasst worden sei, bestraft. In Art. 68 sei festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft werde, wer sich der Einberufung entziehe. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlasse und sich so der Einberufung entziehe, werde mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Gemäß Art. 101 werde Desertion mit fünf Jahren oder mit fünf bis zehn Jahren Haft bestraft, wenn der Deserteur das Land verlassen habe.

Im Herbst 2014 habe das Regime verschiedene Maßnahmen erlassen, um die Ausreise wehrdienstpflichtiger Männer zu verhindern. Bereits seit dem Ausbruch des Krieges hätten die syrischen Behörden bei der Ausreise von Männern, die zwischen 18 und 42 Jahre alt seien, eine offizielle Beglaubigung des Militärs verlangt, dass sie vom Dienst freigestellt seien. Am 20. Oktober 2014 habe die „General Mobilisation Administration des Department of Defense“ allen Männern die Ausreise verboten, die zwischen 1985 und 1991 geboren seien. Mit diesen neuen Restriktionen hätten Männer in den Zwanzigern keine Möglichkeiten mehr, das Land legal zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien, Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 4).

2.2.4 Zum Vorgehen des syrischen Regimes bei der Rekrutierung von Wehrdienstverweigerern sind folgende Umstände in den Blick zu nehmen:

Nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden in Kriegszeiten Reservisten einberufen. Die Einberufung als Reservist werde wie die Einberufung in den Militärdienst individuell ausgehändigt. Seit Ende 2012 werden immer mehr Reservisten in den Militärdienst einberufen. Tausende sollen 2012 einen Einberufungsbefehl erhalten haben. Präsident Assad sei dringend auf den Einsatz von Reservisten angewiesen. Im März 2012 habe die syrische Regierung deshalb allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren verboten, das Land ohne Bewilligung zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014, S. 6 f). Seit Herbst 2014 habe das syrische Regime die Mobilisierungsmaßnahmen in die syrische Armee für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seither komme es zu großflächiger Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen hätten. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) habe bei von Sicherheitsdiensten aufgegriffenen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen hätten, Fälle von Folter dokumentiert. Viele Männer, die im Rahmen der Maßnahmen einberufen würden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und würden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 3 f).

Die Deutsche Botschaft Beirut (Referat 313) hat am 3. Februar 2016 eine Anfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Rückkehrgefährdung dahingehend beantwortet, dass in den vergangenen Wochen mehrere tausend Personen in Syrien zum Wehrdienst eingezogen worden seien. Laut Augenzeugenberichten soll sich die Anzahl junger Männer in den Straßen von D. deutlich verringert haben. Einige hätten darüber berichtet, dass über die Überprüfung an Checkpoints hinaus auch Wohnhäuser aufgesucht worden seien, um Wehrdienstverweigerer zu rekrutieren. Auch habe es verlässliche Berichte darüber gegeben, dass Personen aus dem Gefängnis hinaus zum Wehrdienst eingezogen worden seien.

Nach einem Artikel in „Syria Deeply“ (unabhängiges digitales Medienprojekt in New York) vom 16. Dezember 2015 habe es in D. eine erhöhte Anzahl von Verhaftungen an staatlichen Kontrollstellen gegeben; die Behörden würden vermehrt prüfen, ob jemand sich dem Wehrdienst entziehe (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 8f.).

2.2.5 Nach der Überzeugung des Senats kann der von der Beklagten eingewandten gelockerten Ausstellungspraxis bei syrischen Reisepässen seit April 2015 wegen der wirtschaftlichen Dimension für den syrischen Staatshaushalt durch erhebliche Einnahmen keine Zielrichtung des Inhalts entnommen werden, dass dadurch die Ausreise von Männern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten) staatlicherseits geduldet werden soll.

Nach Auskunft der Botschaft Beirut (Referat 313) vom 3. Februar 2016 (Antwort auf eine Anfrage des Bundesamts) werden seit April 2015 von syrischen Stellen innerhalb Syriens, aber auch von den syrischen Auslandsvertretungen wieder vermehrt syrische Reisepässe ausgestellt. Die Kosten belaufen sich innerhalb Syriens (D.) auf ca. 40 USD, außerhalb Syriens auf ca. 400 USD. Da sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 weiter verschlechtert habe, sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute kämen. Letztlich lägen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur Verwendung syrischer staatlicher Einnahmen vor. Im Übrigen kann ein Staat auch andere geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Ausreise der Personengruppe der militärdienstpflichtigen Männer zu erschweren, wie z.B. das Erfordernis einer behördlichen Ausreisegenehmigung (s.o. 2.2.3). Eine gelockerte Ausstellungspraxis bei syrischen Reisepässen lässt daher im Hinblick auf die hier relevante Personengruppe der militärdienstpflichtigen Männer keine Schlüsse auf eine geänderte Haltung syrischer Sicherheitskräfte gegenüber Rückkehrern bei deren Einreise über den Flughafen D. bzw. andere Grenzkontrollen zu.

2.3 Aufgrund einer zusammenfassenden Bewertung der gesamten Umstände steht zur Überzeugung des Senats fest, dass Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen von den syrischen Sicherheitskräften, in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung, insbesondere Folter, droht.

Aus den Erkenntnisquellen geht übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle - insbesondere den Flughafen D. - zurückkehrende Syrer den strengen obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Weiter ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte darüber informiert sind (Datenbanken bzw. Kontrolllisten), ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Ebenso wird für die Sicherheitskräfte ersichtlich sein, ob der Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter ggf. gegen die Mitteilungspflicht seines Wohnortes gegenüber den Militärbehörden verstoßen hat bzw. ob eine Ausreiseerlaubnis der Militärbehörde vorlag. Mehrere Quellen berichten, dass Männer im wehrpflichtigen Alter besonders gefährdet seien, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Eingangshäfen misshandelt zu werden (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 9).

Auch das Auswärtige Amt unterscheidet im Hinblick auf eine Rückkehrgefährdung: Dort liegen zwar keine Erkenntnisse vor, dass unverfolgt ausgereiste Rückkehrer allein aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts und Asylantragstellung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien (Auswärtiges Amt an das Schleswig-Holsteinische OVG v. 7.11.2016). Dem Auswärtigen Amt sind aber Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Dies stehe überwiegend im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammen arbeite (Deutsche Botschaft Beirut v. 3.2.2016 an das Bundesamt).

Seit dem generellen Abschiebestopp im April 2011 liegen nur vereinzelt Fallbeispiele von Rücküberstellungen aus westlichen Ländern vor, so dass insoweit von „Referenzfällen“ nicht ausgegangen werden kann. Laut Auskunft eines juristischen Mitarbeiters vom UNHCR Kanada gebe es nur eingeschränkte Informationen bezüglich der Behandlung von syrischen Rückkehrern seit 2011. Die Presse berichte nicht über die Behandlung von Rückkehrern durch Grenzbeamte (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E, v. 19.1.2016, S. 5).

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Merkmale vornehmlich aus dem Charakter des um seine Existenz kämpfenden Staates und den von seinen Machthabern mit größter Härte und unter Einsatz menschenrechtswidriger Mittel verfolgten Zielen. Das erklärte Ziel des syrischen Regimes ist unter Fortbestehen der Machtarchitektur die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik. Diesen Kriegszielen hat das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele untergeordnet - und zu ihrer Verteidigung hat es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommen, sondern auch massive eigene Verluste (s.o. Nr. 2.1, Gerlach, „Was in Syrien geschieht - Essay“ v. 19. 2.2016).

Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen in die syrische Armee für Rekruten und Reservisten erheblich intensiviert wurden. Dabei sind bei von Sicherheitsdiensten aufgegriffenen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen hatten, auch Fälle von Folter dokumentiert worden. Die Ausreise von militärpflichtigen Personen wurde durch verschiedene Maßnahmen (z.B. Ausreiseerlaubnis) erschwert.

Insoweit wird deutlich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger zur Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit letztlich für die Wiederherstellung und den Erhalt seiner Macht von entscheidender Bedeutung ist. Im Zusammenwirken mit dem Charakter des bedingungslos zur Erreichung seiner Ziele agierenden syrischen Regimes unter weitverbreitetem Einsatz von menschenrechtswidrigen Mitteln, wie insbesondere Folter, ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. Denn diese Personen haben sich trotz des das Regime in seiner Existenz bedrohenden Krieges nicht für einen Militäreinsatz bereitgehalten und so aus der Sicht der Machthaber ein Verhalten gezeigt, das dessen drängenden militärischen Bedürfnissen zuwiderläuft.

An diese (unterstellte) oppositionelle Gesinnung des Rückkehrers knüpft bei seiner Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient. Der Rückkehrer soll durch die unmittelbar bei Einreise erfolgende „Sonderbehandlung“ der Folter - neben der flüchtlingsrechtlich im Grundsatz nicht relevanten Zwangsrekrutierung und ggf. erfolgenden Bestrafung wegen eines Wehrdelikts - für seine in der Bürgerkriegssituation politisch unzuverlässige Haltung und die darin zum Ausdruck kommende regimefeindliche Gesinnung eingeschüchtert und bestraft werden. Diese Verhaltensmuster der syrischen Sicherheitskräfte finden ihre Entsprechung und Bestätigung im allgemeinen Vorgehen der syrischen Regierung gegen Personen, die im Verdacht stehen Oppositionsbewegungen zu unterstützen. Die Auswertung der beigezogenen Erkenntnismittel zeigt vielmehr, dass das syrische Regime zur Erhaltung seiner Macht ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit größter Rücksichtslosigkeit vorgeht. So führt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International im jüngsten Bericht zu Haftbedingungen in Syrien betreffend das Jahr 2016 an, dass die Nachforschungen der Organisation seit dem Beginn der Krise darauf hindeuten würden, dass jeder, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, Gefahr laufe willkürlich inhaftiert zu werden, zu verschwinden oder gefoltert oder misshandelt zu werden und möglicherweise in der Haft zu sterben. Die Gründe für eine Verhaftung wegen des Verdachts der Regimefeindlichkeit würden variieren (Amnesty Report 2016 v. 2. März 2016, S. 16).

Auch aus den Umständen, dass das syrische Regime bei „missliebigen Personen“ menschenrechtswidrige Maßnahmen, insbesondere Folter und „Verschwindenlassen“ anwendet, und zulässt, dass sich das Opfer gegenüber staatlichen Willkürakten nicht zur Wehr setzen kann, können Schlüsse darauf gezogen werden, wie ein Unrechtsstaat mit Personen, die er als illoyal und regimefeindlich einstuft, bei deren Rückkehr verfährt. Human Rights Watch und der UNHCR haben über die weitverbreitete Anwendung des Verschwindenlassens, Inhaftierung und Folter durch syrische Behörden berichtet (Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 4; OHCHR, Open Wounds: Torture and Ill-Treatment in the Syrian Arab Republic v. 14.4.2014; Human Rights Watch, Syria, World Report 2015, 29.1.2015). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist auf die von Human Rights Watch 2012 ausführlich dokumentierte Vorgehensweise der Geheimdienste, die Willkür der Inhaftierung und die miserablen Haftbedingungen in den Haftzentren der verschiedenen Geheimdienstabteilungen. Gemäß dem Bericht des United States Departement of State 2015 habe die Anzahl willkürlicher Verhaftungen vor allem von Jungen ab 10 Jahren sowie Männern im Jahr 2014 zugenommen. Viele Verhaftungen hätten an Checkpoints stattgefunden, die vom Militär, einem der Geheimdienste oder den Paramilitärischen National Defense Forces unterhalten werden. Die UN Kommission über Syrien (UN Commission of Inquiry on Syria) habe über Massenverhaftungen von Männern im wehrdienstfähigen Alter berichtet. Dies sei vor allem in Regionen geschehen, die vom syrischen Regime zurückerobert worden seien. Human Rights Watch habe 2012 über zwanzig verschiedene Foltermethoden dokumentiert, die in den Haftzentren der Geheimdienste entwickelt und angewendet würden. Straffreiheit der Sicherheitskräfte sei die Norm. Aus dem Jahr 2014 seien dem United States Departement of State keine strafrechtlichen Verfahren oder Verurteilungen von Angehörigen der Sicherheitsdienste wegen Missbrauchs oder Korruption bekannt (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse v. 26.10.2015 zu Syrien: Geheimdienst, S. 4f. m.w.N.)

Der UNHCR kommt für den Fall der „Prüfung individueller Asylanträge“ zu der Einschätzung, es sei wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. Art. 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen. (S.25 f, Nr. 36,). Der UNHCR ist der Ansicht, dass Personen mit einem oder mehreren der beschriebenen Risikoprofile „wahrscheinlich“ internationalen Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention benötigten. Unter ein solches Risikoprofil fallen nach Auffassung des UNHCR unter anderem „Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Aufständische, Aktivisten und sonstige Personen, die als Sympathisanten der Opposition angesehen werden; Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen bzw. Personen, die als Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen angesehen werden; Wehrdienstverweigerer und Deserteure der Streitkräfte…“ (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S.25 f.). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 15. Oktober 2015 die Ansicht von Human Rights Watch zugrunde gelegt, dass junge Männer im wehrfähigen Alter von Haft und Misshandlung besonders bedroht seien (vgl. EGMR U.v. 15.10.2015 - 40081/14, 40127/14 - L.M. u.a. ./ Russische Föderation, NVwZ 2016, 1779, Rn. 123-125).

Nach alldem ist nach der Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass die syrischen Sicherheitskräfte die Rückkehrer nicht pauschal der Opposition zuordnen, sondern danach differenzieren, ob der Rückkehrer als Unpolitischer oder Oppositioneller einzustufen ist. Die Verfolgungsprognose führt nach der Überzeugung des Senats auch unter Berücksichtigung der hohen Flüchtlingszahlen (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S. 6, bis Herbst 2015 seien mehr als vier Millionen Syrer ins Ausland geflohen) zu dem Ergebnis, dass die Personengruppe der militärdienstpflichtigen Personen (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich im Bürgerkrieg nicht den Regierungstruppen zur Verfügung gestellt haben, sondern durch Flucht ins Ausland ihren staatsbürgerlichen Aufgaben nicht nachgekommen sind, aus Sicht des syrischen Regimes als oppositionell eingestuft werden und dementsprechend bei einer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich der weit verbreiteten Folterbehandlung unterzogen werden.

3. Ausführungen zu weiteren möglichen Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) seitens des syrischen Regimes im Hinblick auf rückkehrende Militärdienstpflichtige, wie insbesondere zu § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG einschließlich der glaubhaften Darlegung eines ernsthaften Gewissenskonflikts (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 3a Rn 36, 41), sowie zur flüchtlingsrechtlichen Relevanz einer dem Kläger drohenden Bestrafung wegen Kriegsdienstverweigerung mit politischem Charakter („Politmalus“) sind nicht veranlasst.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 1, § 711 ZPO.

6. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 04. August 2016 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beklagte wendet sich im Berufungsverfahren gegen die der Klägerin vom Verwaltungsgericht zuerkannte Eigenschaft eines Flüchtlings im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG.

2

Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge reiste sie am 1. Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag.

3

Die persönliche Anhörung erfolgte am 27. April 2016.

4

Das Bundesamt hat der Klägerin mit Bescheid vom 13. Mai 2016 den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt (Nr. 1) und den Asylantrag im Übrigen abgelehnt (Nr. 2).

5

Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 23. Juni 2016 Klage erhoben.

6

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie sei gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem Stabsfeldwebel der Syrischen Armee, aus Syrien im April 2013 geflohen. Zum Nachweis der Armeezugehörigkeit werde eine beglaubigte Übersetzung des Militärführerscheins für Unteroffiziere vorgelegt. Der Ehemann sei im Januar 2013 desertiert und mit ihr und den minderjährigen Kindern in die Türkei ausgereist. Nicht bloß ihrem Ehemann, sondern auch ihr, der Klägerin, drohe bei einer Rückkehr nach Syrien die zu erwartende obligatorische Rückkehrerbefragung durch syrische Sicherheitskräfte; mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sei sie einer menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Folter ausgesetzt. Unabhängig hiervon habe sie bereits aufgrund des illegalen Verlassens ihres Heimatlandes, der Asylantragstellung und dem längeren Auslandsaufenthalt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der damit einhergehenden vermuteten regimekritischen Haltung mit massiver Bedrohung und Verfolgung zu rechnen. Deshalb sei ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dass den von ihr aufgezeigten Umständen asylrechtliche Relevanz beigemessen werde, sei mittlerweile in der verwaltungsgerichtlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt.

7

Die Klägerin hat beantragt,

8

den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2016 in Ziffer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie sei aus Furcht vor dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und somit aus Gründen, die ihre persönliche Sicherheit beträfen, ausgereist, nicht hingegen wegen Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Verfolger. Die von ihr geäußerte Befürchtung, ihr Auslandsaufenthalt könne zu einer Verfolgung führen, lasse keine andere Bewertung zu. Der syrische Staat stelle seit Januar 2015 Pässe in großer Stückzahl aus und ermögliche damit die Ausreise aktiv.

12

Das Verwaltungsgericht hat nach Anhörung der Beteiligten hierzu durch Gerichtsbescheid vom 4. August 2016 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen und den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben.

13

Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die Klägerin vorverfolgt aus Syrien ausgereist sei, denn ihr stünden beachtliche, den Schutzstatus des § 3 Abs. 1 AsylG auslösende Nachfluchtgründe zur Seite. Mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien sei im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung drohe. Es sei anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansehe, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. An der im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (Urt. v. 06.07.2016, - RN 11 K 16.30889 -) dargestellten Lage in Syrien und der gewonnenen asylrechtlichen Einschätzung habe sich nichts verändert.

14

Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien habe nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen werde. Vielmehr sei mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden würden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg als eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansehe. Unter den derzeitigen Umständen werde jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen.

15

Nach den aktuellen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) sei von einer „immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien“ auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüße der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Die Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert habe, werde von dem Gericht geteilt.

16

Auch der Annahme der Beklagten, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, sei nicht zu folgen. Nach Angaben von Pro Asyl verfolge das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 08.06.2016). Auch nach der vom Verwaltungsgericht Regensburg zitierten Einschätzung des Auswärtigen Amtes sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugutekämen.

17

Der Klägerin stehe schließlich keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung; denn es bestehe nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus.

18

Die Flüchtlingsanerkennung scheide auch nicht aus anderen Gründen aus, so dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung drohe, weil sie die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht werde widerlegen können.

19

Mit der mit Beschluss des Senats vom 27. September 2016 zugelassenen Berufung verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides vom 4. August 2016.

20

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, es gebe keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass abgeschobenen Rückkehrern grundsätzlich ungeachtet besonderer persönlicher Umstände oppositionelle Tätigkeit unterstellt werde und die Befragungen und damit teilweise auch einhergehenden Misshandlungen in Anknüpfung an ein asylrechtliches Merkmal erfolgten. Aus den bislang aufgrund der Auskunftslage zur Verfügung stehenden Einzelfällen könne ungeachtet des Unrechtsgehalts dieses staatlichen Handelns keine Motivation des syrischen Staates abgeleitet werden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien deshalb für sich allein kein Grund für Verhaftung oder Repressalien. Dass Rückkehrer generell der Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt seien, begründe daher lediglich einen Anspruch auf Abschiebungsschutz. Auch aus der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung ließen sich keine belastbaren Erkenntnisse für das Vorliegen einer asylrechtlich erheblichen Gefahr einer politischen Verfolgung herleiten. Der syrische Staat habe weder Veranlassung noch entsprechende Ressourcen, alle zurückgeführten unpolitischen Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund in asylrechtlich relevantem Maße zu verfolgen. Auch die massenhafte Ausstellung von Pässen spreche gegen die Auffassung, dass Rückkehrern wegen eines Auslandsaufenthalts eine regimekritische Gesinnung unterstellt werde.

21

Die Beklagte beantragt,

22

den Gerichtsbescheid, Az. 12 A 222/16, vom 4. August 2016 des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

23

Die Klägerin beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Dass die gegenwärtige Lage in Syrien vom Verwaltungsgericht zutreffend dargestellt und gewürdigt worden sei, ergebe sich auch aus weiteren Länderberichten. Die eingeholten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts seien hingegen nicht geeignet, die Annahmen des Verwaltungsgerichts zu widerlegen. Im Übrigen sei sie, die Klägerin, vorverfolgt ausgereist. Ihr Ehemann sei Unteroffizier bei der syrischen Armee gewesen und habe in einer Abteilung gearbeitet, die sich mit der Ermordung des Libanesen R. beschäftigt habe. 2012 sei ihr Ehemann, als er an der Front habe kämpfen sollen, desertiert und mit seiner Familie im August von Damaskus zunächst nach Latakia geflohen und von dort aus weiter nach Idlib. Aufgrund der Desertation würde ihr, der Klägerin, mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr nach Syrien Verfolgung drohen.

26

Der Senat hat mit Beschluss vom 27. September 2017 Beweis erhoben zu der Frage, ob unverfolgt ausgereiste Rückkehrer wegen einer vermuteten oppositionellen Haltung Befragungen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sind und, sollte dies der Fall sein, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, dass sie deshalb Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates ausgesetzt sein werden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Wegen des Inhalts der Gutachten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (Bl. 114 f., 118f.).

27

Die Klägerin ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung informatorisch zu den von ihr geltend gemachten Verfolgungsgründen angehört worden. Wegen der von ihr hierzu geltend gemachten Angaben wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2016 (Gerichtsakten Bl. 152ff ) Bezug genommen.

28

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Gerichtsakten.

Entscheidungsgründe

29

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 4. August 2016 war daher abzuändern und die Klage abzuweisen.

30

Nach § 3 Abs. 1 AsylG (zitiert nach der hier anwendbaren Variante) ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gemäß § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

31

§ 3a Abs. 1 Satz 1 AsylG definiert den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als dauerhafte oder systematische schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte (vgl. Marx, AsylVfG-Komm., 8. Aufl., § 3a Rn. 3); in Absatz 2 werden besondere Beispiele für das Vorliegen einer Verfolgungshandlung bezeichnet. § 3b Abs. 1 AsylG beschreibt abschließend die maßgeblichen Verfolgungsgründe. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG. Wer eine ihm geltende Verfolgungshandlung (§ 3a) sowie den Wegfall nationalen Schutzes (§ 3c - § 3e) darlegen kann, wird als Flüchtling anerkannt, wenn die Verfolgung auf einem oder mehreren der in § 3b Abs. 1 bezeichneten Verfolgungsgründen beruht. Kann die Anknüpfung der Verfolgung an einen Verfolgungsgrund nicht dargelegt werden, besteht nach Maßgabe der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1) (Marx, a.a.O., § 3a Rn. 50).

32

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, ob eine spezifische Zielrichtung vorliegt, die Wirkung mithin wegen eines geschützten Merkmals erfolgt (BVerfGE 80, 315, 335; BVerfGE 81, 142, 151; Marx, a.a.O., § 3 a, Rn. 54). Danach wohnt dem Begriff der Verfolgung ein finales Element inne, da nur dem auf bestimmte Merkmale einzelner Personen oder Personengruppen zielenden Zugriff erhebliche Wirkung zukommt. Das Kriterium „erkennbare Gerichtetheit der Maßnahme“ und das Erfordernis, dass die Verfolgung an geschützte Merkmale anknüpfen muss, verdeutlichen, dass es auf die in der Maßnahme objektiv erkennbar werdende Anknüpfung ankommt (Marx, a.a.O., Rn. 54).

33

Dabei ist es für die Annahme von Verfolgung nicht erforderlich, dass von politischer Verfolgung Betroffene entweder tatsächlich oder nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sind. Politische Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist (BVerfG, Kammerbeschluss v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5). In diesem Sinne sieht § 3b Abs. 2 AsylG vor, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Dafür, dass die Verfolger einen Verfolgungsgrund unterstellen, müssen jedoch Umstände ermittelt werden (vgl. Marx, a.a.O., § 3b Rn. 78).

34

Nach der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin ist der Senat davon überzeugt, dass diese unverfolgt ihr Heimatland Syrien verlassen hat. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt der Asylbewerber seiner ihm obliegenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO nur dann, wenn er drohende oder bereits erlittene politische Verfolgung in „schlüssiger“ Form vorträgt. Hierzu ist erforderlich, dass er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (ständ. Rspr. BVerwG, Urt. v. 24.11.1981 - BVerwG 9 C 251.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 31; v. 22.03.1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Beschl. v. 26.10.1989 - 9 B 405/89 -, juris, Rn. 8; Beschl. v. 15.08.2003 - 1 B 107/03, 1 PKH 21 PKH 28/03 -, juris Rn. 5). Diese Anforderungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat erstmals in der im Rahmen des Berufungsverfahrens durchgeführten persönlichen Anhörung ausgeführt, ihr Ehemann sei nach Erhalt eines Einsatzbefehls aus der syrischen Armee desertiert und habe mit ihr und den gemeinsamen Kindern Damaskus zunächst in Richtung Latakia verlassen. In Idlib sei er, nachdem er sich als Deserteur offenbart gehabt habe und von einer bewaffneten Person als Mitglied des Ausschusses zur Aufklärung der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri erkannt worden sei, von der Al-Nusra-Front mitgenommen und ca. vierzehn Tage festgehalten worden. Familienangehörige ihres Ehemannes seien ebenfalls festgenommen worden, um den Aufenthaltsort ihres Mannes sowie dessen Familie ausfindig zu machen. Sie selbst seien weiter in die Türkei geflüchtet, von wo sie als einzige weiter nach Deutschland geflüchtet sei. Dieses Vorbringen genügt nicht den Anforderungen an einen schlüssigen, in sich widerspruchsfreien Vortrag. Der Asylbewerber ist gehalten, sich bereits bei der Antragstellung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration über die Tatsachen zu erklären, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.06.1991 - 9 C 131/90 -, juris Rn. 9). Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung bei der Beklagten erklärt, sie sei mit ihrer Familie aus Furcht vor dem Bürgerkrieg geflohen. Sie hat trotz gezielter Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung nicht zu erklären vermocht, warum sie die 50 Minuten währende Anhörung bei der Beklagten nicht dazu genutzt hat, sich über ihr im Rahmen des anhängigen gerichtlichen Verfahrens erstmalig vorgetragenes individuelles Fluchtschicksal zu erklären. Auch, wenn es dem Asylbewerber grundsätzlich unbenommen bleibt, sein Verfolgungsschicksal später, das heißt in dem sich anschließenden (Gerichts-)Verfahren, zu ergänzen und zu konkretisieren, muss das Kerngeschehen grundsätzlich - wie ausgeführt - bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration in sich stimmig und widerspruchsfrei geschildert werden. Daran mangelt es hier. Die Klägerin hat ihr Vorbringen gegenüber demjenigen vor dem Bundesamt erheblich verändert und dann deutlich gesteigert. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu verändern, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Klagebegründung (kurze) Ausführungen zu der Desertation ihres Ehemannes und der anschließenden Flucht der Familie durch und aus Syrien gemacht hat. Denn auch insoweit handelt es sich bereits um gesteigertes Vorbingen gegenüber der erstmaligen Anhörung. Hinzu kommt, dass die Klägerin ihr schriftsätzlich vorgetragenes und ihr mündliches Vorbringen im Berufungsvorbringen weiter gesteigert hat. Sie hat zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens einen in sich stimmigen widerspruchsfreien Vortrag zu Protokoll erklärt. Vielmehr sind die von der Klägerin vorgebrachten mündlichen Schilderungen zu ihrem Verfolgungsschicksal nicht von persönlichem Erleben getragen. Dies schlussfolgert der Senat insbesondere aus den vage gebliebenen, insgesamt konstruiert wirkenden Angaben zu den Umständen der Flucht aus Latakia und der anschließenden Festnahme des Ehemannes nahe der Stadt Idlib. Welche Motivation hinter der Festnahme gestanden haben soll, bleibt völlig unklar. Auch das vorangegangene Fluchtgeschehen von Latakia nach Idlib mittels eines Lkw, auf dessen Ladefläche der Ehemann der Klägerin versteckt worden sein soll, bleibt in den Schilderungen der Klägerin detailarm und von Zufällen getragen, die ein reales Erleben als eher fernliegend erscheinen lassen. Ebenso bleibt es widersprüchlich, dass der Ehemann nach seiner Desertation und dem Weggang nach Latakia offenbar noch weitere acht Monate bei der Militärpolizei gearbeitet und im Wechsel eine Woche in Damaskus und eine Woche in Latakia gearbeitet haben will. Die Entfernung zwischen beiden Städten beträgt rund 330 km einfache Wegstrecke (Luftlinie gut 227 km).

35

Hätten sich die geschilderten Geschehnisse tatsächlich so zugetragen, bleibt umso mehr unverständlich, warum die Klägerin, die auch persönlich bedroht worden sein will, hierzu keinerlei Ausführungen bei ihrer persönlichen Anhörung bei der Beklagten gemacht hat. Weder Nachfragen des Senats in der mündlichen Verhandlung noch solche im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Flüchtlinge und Migration haben es vermocht, Widersprüche aufzulösen und das vorgetragene Verfolgungsschicksal in sich stimmiger zu machen. Im Gegenteil: Dass die Klägerin nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung vor dem Senat ihre informatorische Anhörung dahingehend ergänzt hat, sie sei - obwohl sie bekundet hat, in Syrien keiner Vernehmung ausgesetzt gewesen zu sein - bei der Anhörung vor dem Bundesamt an Vernehmungen in Syrien erinnert gewesen und habe Angst bekommen, ist nicht ansatzweise glaubhaft. Hinzu kommt, dass sie, die zudem keiner politischen Vereinigung angehört und sich auch nicht politisch engagiert hat, auch auf Nachfrage nicht zu erklären vermocht hat, warum sie die Frage nach ihrer Befürchtung bei einer Rückkehr in ihre Heimat dahingehend beantwortet hat, sie befürchte eine Bestrafung, weil die ausgereisten Syrer als Verräter gelten würden. Es hätte vielmehr nahe gelegen, bei einem von realem Erleben getragenen Geschehen von sich aus das Verfolgungsschicksal vom Beginn der Asylantragstellung an nachvollziehbar zu schildern.

36

Bei einer derartigen Sachlage war der Senat im Übrigen nicht gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären und etwa Beweis darüber zu erheben, ob die in Kopie und Übersetzung zu den Gerichtsakten gelangten Dokumente (Unteroffizierausweis und Militärführerschein für Unteroffiziere) echte Urkunden der syrischen Armee darstellen und ob es sich bei der dort abgebildeten Person tatsächlich um den Ehemann der Klägerin handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Ein solcher tatsächlicher Anlass besteht im Prozess wegen Anerkennung als Asylberechtigter dann nicht, wenn der Kläger unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO seine guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form vorträgt (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989, a.a.O., Rn. 8; Beschl. v. 26.11.2007 - 5 B 172/07 - , juris Rn. 3).

37

Hat die Klägerin danach ihr Heimatland unverfolgt verlassen, besteht nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass der totalitäre syrische Staat jeden Rückkehrer pauschal unter eine Art Generalverdacht stellt, der Opposition anzugehören (in diesem Sinne etwa Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 27.01.2014 - 3 A 917/13.Z.A -, juris Rn. 7; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -, juris Rn. 8). In diesem Sinne sind auch die vom Verwaltungsgericht angestellten Erwägungen, die sich im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe sowie auf die vom Verwaltungsgericht Regensburg herangezogenen „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (November 2015, Asyldokumentation Nr. 598b) beziehen, nicht geeignet konkrete Anhaltspunkte für eine - pauschal alle Rückkehrer betreffende - Rückkehrgefährdung anzunehmen. Nach den Erwägungen des UNHCR kann aus Syrien ausgereisten syrischen Staatsangehörigen Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die diesen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus denen die Betroffenen stammen. Diese Einschätzung ist jedoch nicht ausreichend für die Annahme, allen aus Syrien ausgereisten Flüchtlingen würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Wiedereinreise asylrelevante Verfolgung drohen.

38

Bei Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe fehlt es vielmehr an einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund jedenfalls insoweit, als dass sich die Klägerin darauf beruft, sie hätte aufgrund ihrer illegalen Ausreise, der Stellung des Asylantrages und des längeren Aufenthaltes im Bundesgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanter Verfolgung seitens des syrischen Staates zu rechnen. Aufgrund der im Rahmen der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung der Klägerin geht der Senat davon aus, dass diese unverfolgt ausgereist ist, so dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 23).

39

Beachtlich ist die Wahrscheinlichkeit, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme einer Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ob das der Fall ist, beurteilt sich nicht aufgrund einer quantitativen, sondern aufgrund einer qualifizierenden Betrachtungsweise. Eine theoretische Möglichkeit, dass sich eine Gefahr realisiert, reicht allerdings nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 (169) m.w.N.; Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391 (393); Beschl. v. 31.03.1998 - 9 B 843.97 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris Rn. 25).

40

Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist zur Überzeugung des Senats nicht davon auszugehen, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staates bei einer Rückkehr in ihr Heimatland zu rechnen hätte. Die Klägerin hat sich in Syrien nicht politisch betätigt, so dass es an dem Vorliegen eines Verfolgungsgrundes - in Betracht käme ersichtlich nur derjenige nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG - fehlt. Sie ist vielmehr wegen des herrschenden Bürgerkrieges und den sich daraus für sich und ihre Familie ergebenden Folgen ausgereist. Der Senat geht davon aus, dass angesichts der erheblichen Zahl der insbesondere im vergangenen Jahr aus Syrien ausgereisten Menschen (knapp 430.000 Flüchtlinge, vgl. ZEIT ONLINE vom 08.06.2016, Asyldokumentation Nr. 599c, und Mediendienst-Integration, Stand: 01.08.2016, Asyldokumentation Nr. 599e) auch dem syrischen Staat bekannt sein dürfte, dass - wie die Klägerin - die weit überwiegende Anzahl der Flüchtenden aus Angst vor dem Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Folgen ihr Heimatland verlassen haben. Allein die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt stellen daher keine Anzeichen für politische Gegnerschaft zum syrischen Regime dar (so auch Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 06.10.2016 - 14 A 1852/16.A -, juris Rn. 18). Diese Einschätzung deckt sich mit der gegenwärtig vorliegenden Auskunftslage, wonach auf Ebene der Bundesregierung keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Ebenfalls liegen keine Erkenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien vor (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht vom 07.11.2016, Asyldokumentation Nr. 602). In Übereinstimmung hiermit steht eine Auskunft des Deutschen Orient-Instituts (vom 08.11.2016 an das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht, Asyldokumentation Nr. 603), wonach die syrische Regierung, nachdem in beinahe allen Landesteilen im Frühjahr 2011 Proteste und Unruhen ausgebrochen waren, die Kontrolle über größere Teile des Staatsgebiets verloren hat. Danach werden im Osten nach wie vor weiter besiedelte Gebietsteile durch den sogenannten Islamischen Staat kontrolliert. Die Grenzregionen zu Jordanien und der Türkei werden von verschiedenen oppositionellen Rebellengruppen beherrscht; der mehrheitlich kurdische Teil Syriens, besonders im Norden und Nordosten, hat sich selbst zu föderalen Provinzen erklärt. Die Gebiete zwischen den größten Städten im Westen des Landes (vor allem Damaskus und Umland, Hama, Homs, Aleppo und mit Abstrichen auch Latakia) werden durch verschiedene Gruppierungen oder die Regierung kontrolliert. Die Grenzziehung zwischen diesen Zonen unterliegt einer stetigen Veränderung der Frontverläufe und Kontrolle. Befragungen oder Verfolgung durch die syrische Regierung sind also derzeit zunächst nicht in allen Landesteilen realistisch.

41

Diese Auskunft, die sich weiterhin mit der Ausreisegenehmigung und der Einziehung zum Wehrdienst für männliche Staatsangehörige im Alter zwischen 18 und 42 Jahren einschließlich der drohenden Konsequenzen für Deserteure beschäftigt sowie mit der besonderen Gruppe der in Syrien wohnhaften Kurden, bestätigt im Kern die Einschätzung, dass jedenfalls keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien, die nicht im Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten stehen wie etwa Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger, Übergriffe oder gar Sanktionen zu erleiden haben. Befragungen sind danach bei einer Wiedereinreise über Damaskus zwar nicht unrealistisch; es ist aber wegen der in der Auskunft hervorgehobenen Personengruppen der Deserteure und Kurden jedenfalls nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass mit einer eventuellen Befragung negative Konsequenzen für diejenigen potentiell Betroffenen zu befürchten sind, die lediglich aufgrund des Bürgerkrieges ihr Heimatland verlassen haben. Dies entspricht auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeitet (so bereits die Auskunft der Botschaft Beirut, Referat 313 vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asyldokumentation Nr. 598e).

42

Somit hat die Beklagte der Klägerin zu Recht (nur) subsidiären Schutz gewährt.

43

Die Nebenentscheidungen ergeben sich im Kostenpunkt aus §§ 154 Abs. 1 i. v. m. § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

44

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).


Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2017 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Hinsichtlich der Kosten des gesamten Verfahrens ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der auf Grund des Urteils vollstreckbaren Kosten abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe der zu vollstreckenden Kosten leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger, nach eigenen Angaben ein am ... Januar 1998 in Khan Amaba/Region Qunaitra geborener Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien, tscherkessischer Volkszugehörigkeit und moslemischen (sunnitischen) Glaubens, begehrt über den gewährten subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 14. Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, meldete sich am 29. Januar 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und beantragte am 13. Mai 2016 die Gewährung von Asyl. Er legte einen Reisepass der Arabischen Republik Syrien vor, der am 30. Dezember 2015 im „Qunaitra-Center“ mit einer Gültigkeitsdauer von 2 Jahren ausgestellt worden ist und als Geburtsort „Qunaitra“ angibt. Zugleich legte er einen vom Innenministerium der Arabischen Republik Syrien am 3. Oktober 2012 ausgestellten Personalausweis vor, wonach er in Khan Amaba geboren und in Bariqa wohnhaft ist.

3

In seiner Anhörung am 28. Juli 2016 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab der Kläger an, Syrien am 6. Januar 2016 auf dem Luftweg von Damaskus über Beirut verlassen zu haben und über Istanbul, Griechenland, die Balkanroute und Österreich in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Die Reise habe 1 Mio. syrische Lira gekostet. Das Geld stamme von seinen Eltern. Er habe Syrien legal verlassen. Am Flughafen habe eine Kontrolle stattgefunden. Er habe seinen Reisepass vorgelegt. Es habe keine Probleme gegeben. Er habe zuletzt in Damaskus mit seinen Eltern und seinen Geschwistern gelebt. Seine Schwester sei mit ihm ausgereist und befinde sich im Bundesgebiet. Sein Bruder lebe bei seinen Eltern in Damaskus. Er selbst habe die 11. Schulklasse abgeschlossen, die Schule aber ohne Abitur verlassen, weil er Angst gehabt habe, ggf. Wehrdienst verrichten zu müssen. Im Dezember 2015 sei eine Regelung in Kraft getreten, wonach der Geburtsjahrgang 1998 zum Wehrdienst eingezogen werden könne. Er habe eine Zwangsrekrutierung an einer Kontrollstelle beobachtet, sich selbst aber noch schnell entfernen können. Vertreter des Militärs hätten ihn weder aufgesucht noch schriftlich kontaktiert. Er hätte aber sein Wehrdienstbuch am 2. Januar 2016 abholen sollen. Dies habe er nicht getan. Bei der Ausreise sei er am Flughafen gefragt worden, ob er abhauen wolle. Er habe gesagt, er begleite seine Schwester. Er habe zu keinem Zeitpunkt in Syrien Probleme mit Behörden oder offiziellen Stellen gehabt und habe sich nie politisch engagiert. Er befürchte, bei seiner Rückkehr willkürliches Opfer des Krieges zu werden und zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Im Falle einer Rückkehr würde man ihn unverzüglich inhaftieren.

4

Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 30. August 2016 wurde dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt und im Übrigen der Asylantrag abgelehnt (Ziffer 2. des Bescheids). Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, der Kläger habe eine Furcht vor einer Einberufung zum Wehrdienst weder konkret noch substantiiert dargelegt. Er habe auch keine geeigneten Beweismittel vorgelegt, die eine begründete Furcht unterstreichen würden. Der Bescheid ist dem Kläger am 8. September 2016 zugestellt worden.

5

Am 21. September 2016 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Er macht geltend, ihm drohe eine die Flüchtlingseigenschaft begründende Bestrafung, weil er sich dem Wehrdienst entzogen habe. Zudem sei beachtlich wahrscheinlich, dass er im Falle einer Rückkehr nach Syrien allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung sowie des längeren Auslandsaufenthalts verfolgt werde; es würde vermutet werden, dass er gegen das Assad-Regime eingestellt sei. Insoweit sei die Flüchtlingseigenschaft auch ohne individuelle Verfolgungsgeschichte zuzuerkennen. Diese Gefährdungslage sei für wehrpflichtige Männer erhöht. Jedenfalls sei beachtlich wahrscheinlich, dass er nach Rückkehr zum Militärdienst eingezogen und damit gezwungen werde, sich in eine Armee einzufügen, aus deren Reihen heraus im aktuell herrschenden Bürgerkrieg Kriegsverbrechen und Folter begangen würden. Zudem weise er nochmals vorsichtshalber darauf hin, dass er Tscherkesse sei.

6

Ergänzend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er nicht zum Militär wolle, weil er niemanden umbringen und nicht getötet werden wolle. Sein Wehrbuch habe er nicht abholen können. An Kriegsverbrechen wolle er nicht teilnehmen, würde aber wohl dazu gezwungen werden. Das Militär habe sich nach seiner Ausreise nicht an seine Eltern gewandt. Er sei Tscherkesse und werde als solcher in Syrien nicht gemocht. Er habe in Syrien viele Sachen verloren. Seine Familie sei derzeit in Syrien.

7

Der Kläger hat beantragt,

8

unter Aufhebung des Bescheids vom 30. August 2016 in Ziffer 2 die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Mit Urteil vom 15. März 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Dem Kläger drohe im Falle einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG. Der Kläger habe vor seiner Ausreise keine Verfolgung in Syrien erlitten. Dem Kläger drohe auch nicht wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längeren Auslandsaufenthalts beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung. Es gebe keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse, dass die syrischen Sicherheitsbehörden letztlich jedem Rückkehrer, der Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten habe, der Opposition zurechnen würden. Dies erscheine lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch aus der Sicht des syrischen Staates erkennbar sein dürfte, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Staat und seiner Regierung, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen habe. Obwohl in den Jahren 2013 bis 2015 ca. 127.800 Syrer nach erfolgter Ausreise in ihr Heimatland zurückgekehrt seien und trotz der engagierten und intensiven Beobachtung durch oppositionelle Gruppen, internationale Helfer und Hilfsorganisationen fehle es an Informationen, die eine Gefahrenlage für rückkehrende Syrer wegen ihres Asylantrages und Aufenthalts im Bundesgebiet und wegen illegalen Verlassens Syriens belegen würden. Vor diesem Hintergrund könnten Berichte über Einzelvorkommnisse nicht von ausschlaggebender Bedeutung für die Begründung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit sein. Dem Kläger drohe auch nicht in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, die er begangen haben könnte, weil er Syrien ohne die notwendige Ausreisegenehmigung verlassen habe, beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung. Es bestünden keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass ihm eine erhebliche Verfolgungshandlung wegen einer aufgrund der Wehrdienstentziehung vermuteten oppositionellen Einstellung drohen würden. Denn unter den 4,9 Millionen Flüchtlingen, die Syrien bis Ende 2015 verlassen hätten, dürften sich Hunderttausende junge Männer befinden, die noch nicht einberufen worden seien. Jedenfalls hinsichtlich dieser Personen dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich dem Militärdienst zuzuführen. Auch die Zahl der Rückkehrer, unter denen sich auch Militärdienstpflichtige befinden dürften, spreche gegen eine solche Gefahr. Schließlich stelle der mögliche Umstand, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr zum Militär einberufen würde und an Kriegshandlungen teilnehmen müsste, die sich als Kriegsverbrechen darstellen könnten, keine geschlechtsspezifische Verfolgung der Gruppe der Männer im wehrpflichtigen Alter dar. Eine Verfolgungswahrscheinlichkeit ergebe sich auch nicht daraus, dass der Kläger eigenen Angaben zufolge vor der Ausreise in Damaskus gelebt habe und dem sunnitischen Glauben angehöre. Das Urteil ist der Klägervertreterin am 24. März 2017 zugestellt worden.

12

Auf den klägerischen Antrag vom 24. April 2017 hat der Senat mit Beschluss vom 19. Juli 2017 die Berufung zugelassen. Der Beschluss ist dem Kläger am 24. Juli 2017 zugestellt worden. Auf den klägerischen Antrag vom selben Tag ist die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 11. September 2017 verlängert worden. Mit am 11. September 2017 eingegangenem Schriftsatz trägt der Kläger vor, die Klage sei begründet. Ihm stehe ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, da ihm bei Rückkehr nach Syrien begründete Furcht vor Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG drohe. Es sei beachtlich wahrscheinlich, dass ihm Strafverfolgung oder Bestrafung drohe wegen der Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG umfassen würde. Angesichts der fehlenden Möglichkeit, den Wehrdienst in Syrien zu verweigern und einen zivilen Ersatzdienst zu leisten sowie der damit drohenden möglichen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung im Falle einer Verweigerung eines militärischen Einsatzes, sei die Flucht die einzig sichere Möglichkeit, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Eine aktive Wehrdienstverweigerung gegenüber der syrischen Armee könne unter diesen Umständen nicht verlangt werden. Dies entspreche den Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz (Nr. 10), nach welchen auch Personen, die sich vorsorglich, also vor Einberufung, dem Wehrdienst entziehen würden, unter die Schutzvorschrift fallen würden. Nach der Shepherd-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes sei die Inanspruchnahme des internationalen Schutzes nicht nur denjenigen vorbehalten, die persönlich die als Kriegsverbrechen einzustufenden Handlungen begehen müssten, insbesondere den Kampftruppen. Vielmehr sei der Schutz auch auf andere Personen auszudehnen, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheine, dass sie sich bei der Ausübung ihrer Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müssten bzw. dass sie durch die Ausübung ihrer Funktion eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würden. Verübe wie in Syrien die gesamte Armee und nicht nur einzelne Einheiten Kriegsverbrechen, so sei es hinreichend, dass das „Militär als solches“ Kriegsverbrechen begehe. Insoweit unterscheide sich die syrische Armee von den US-Streitkräften, zu der die Shepherd-Entscheidung ergangen sei. Vor dem Hintergrund, dass die gesamte syrische Armee Kriegsverbrechen verübe, sei es offenkundig „hinreichend plausibel“, dass jeder Militärdienst, der bei der syrischen Armee abgeleistet werde, die Vorbereitung oder Durchführung der Handlungen nach § 3 Abs. 2 AsylG unerlässlich unterstütze. Hierzu zähle auch die Rekrutierung und Ausbildung neuer Streitkräfte, auch wenn noch nicht bekannt sei, welcher Einheit der Wehrpflichtige angehören werde. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass der Nachweis der sicheren eigenen Teilnahme an Verbrechen oder systematischen Rechtsverstößen der Einsatzeinheit nicht erforderlich sei, da dies den Prognosemaßstab der begründeten Furcht überdehnen würde. Entsprechendes ergebe sich auch aus den Zurechnungsmaßstäben des Bundesgerichtshofes zur strafrechtlichen Beihilfe an staatlich organisierten Massenverbrechen. In Bezug auf die syrische Armee sei insoweit maßgeblich zu berücksichtigen, dass die gesamte Armee als Apparat staatlich organisierte Kriegsverbrechen begehe und nicht nur bestimmte Einheiten oder gar Personen an diesen beteiligt seien. Sei eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG beachtlich wahrscheinlich, so bedürfe es keiner Verknüpfung mit einem Anknüpfungsmerkmal i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Insoweit finde die Verpflichtung aus dem humanitären Völkerrecht und dem internationalen Strafrecht, bestimmte Handlungen in bewaffneten Konflikten zu unterlassen, ihre Entsprechung im internationalen Flüchtlingsrecht im Fall von Personen, die eine Bestrafung zu gewärtigen hätten, weil sie die von ihnen gemäß Völkerrechts erwartete Zurückhaltung geübt hätten. Selbst wenn man jedoch die Erfüllung eines Anknüpfungsmerkmales im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verlangen würde, so läge ein solches in der sozialen Gruppe von Männern, die sich der Einberufung oder Mobilisierung entzogen hätten. Den diversen sachverständigen Berichten, Auskünften und Stellungnahmen könne auch nicht die eigene „Lebenserfahrung“ entgegengehalten werden. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof habe insoweit zutreffend ausgeführt, dass der syrische Staat in Anbetracht der unbeschreiblichen Menschenrechtsverstöße ein willkürlich handelndes Unrechtssystem darstelle, das sich der Messung an Maßstäben wie der Lebenserfahrung entziehe. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass der UNHCR von Gerichten weltweit als maßgebliche Instanz zitiert werde und ihm unstreitig eine Aufsichtsfunktion über die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zukomme. Auch ein internationaler Rechtsvergleich ergebe, dass der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen sei, wenn der Flüchtling den Wehrdienst verweigere, um derzeit oder in einem späteren Kriegsfall keine Kriegsverbrechen begehen zu müssen. Ergänzend wird auf den Schriftsatz der Klägervertreterin vom 2. Januar 2018 Bezug genommen.

13

Der Kläger beantragt,

14

unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 15. März 2017 (Az: 16 A 5081/16) und des Bescheides vom 30. August 2016 - soweit dieser entgegensteht - die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

15

Die Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, aus der Quellenlage lasse sich nicht tragfähig ableiten, dass im Rahmen der Einreisekontrollen oder in der Folgezeit wehrdienstpflichtige Rückkehrer, die bislang noch keinen Einberufungsbefehl erhalten hätten, deshalb mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen befürchten müssten, weil sie nun im militärpflichtigen Alter zurückkehrten. In den vom Kläger angeführten Erkenntnisquellen werde insoweit letztlich übereinstimmend nur ausgeführt, dass Verfolgungsfälle überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten oder einem nicht abgeleisteten Wehrdienst stünden. Den Quellen fehle jede nähere zahlenmäßige Konkretisierung. Dabei sprächen andere Quellen erkennbar gegen eine hinreichende Gefährdung. Denn laut Schätzungen der Vereinten Nationen und der Regierungen der Länder, die Flüchtlinge aufgenommen hätten, reisten jedes Jahr Hunderttausende von Flüchtlingen nach Syrien, die meisten, um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, Dokumente einzuholen oder zu erneuern oder um Familienmitgliedern und Freunden lebenswichtige Hilfe zu geben, bevor sie wieder in benachbarte Länder einreisen würden. Eine solch umfangreiche Reisetätigkeit zeige, dass die in den benachbarten Ländern lebenden syrischen Flüchtlinge trotz des extrem repressiven Charakters des syrischen Staates davon ausgingen, im Rahmen der auch an den übrigen Grenzübergängen zu Syrien strengen Grenzkontrollen keiner besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Es liege dabei nahe, dass solche zeitweisen Rückreisen nicht nur Frauen und nicht bzw. nicht mehr wehrdienstpflichtige Männer unternähmen, sondern dass sich unter diesen zeitweisen Rückkehrern auch ein erheblicher Anteil an grundsätzlich wehrdienstpflichtigen Männern befinde, jedenfalls soweit diese noch nicht einberufen worden seien. Aus den klägerischen Ausführungen sei zudem nicht erkennbar, dass die Ableistung des Militärdienstes zwangsläufig als Teilnahme an Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtswidrigen Handlungen einzustufen sei. Die Einberufung zu einer bestimmten Einheit, deren Angehörige allesamt durch die Ausübung ihrer Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung von Kriegsverbrechen zumindest unerlässliche Unterstützung leisten würden, sei weder behauptet noch nach den Umständen des Einzelfalls naheliegend. Trotz der Berichte über völkerrechtswidrige Handlungen zeige sich nach der Auskunftslage kein Bild von einem landesweit in solchem Ausmaß praktizierten Vorgehen, dass jedweder Militärangehörige bereits durch seinen Dienst zwangsläufig eine unerlässliche Unterstützung für die Vorbereitung oder für die Durchführung dieser Verbrechen leisten müsste bzw. würde. Auch nach der vom Kläger zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes sei es erforderlich, dass bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheine, dass der Betreffende durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leiste. Nicht zu teilen sei die Auffassung des Klägers, dass es bei einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG keines festzustellenden Verfolgungsgrundes bedürfe, mit dem die Verfolgungshandlung verknüpft sei. Das Gegenteil ergebe sich ohne weiteres aus der eindeutigen gesetzlichen Regelung in § 3a Abs. 3 AsylG. Im Übrigen erfordere die tragfähige Prognoseerstellung, dass eine wenngleich notwendig hypothetische, so doch möglichst realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde gelegt werde. Von daher könne nicht unberücksichtigt bleiben, dass dem Kläger bereits der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt sei, er daher allein dann einer Einreiseüberprüfung durch die syrischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sein könne, wenn er freiwillig zurückkehre. Es sei nicht anzunehmen, dass die syrischen Sicherheitskräfte dem (hypothetisch) freiwillig zurückkehrenden Kläger eine oppositionelle Gesinnung unterstellen würden.

18

Hinsichtlich des Vortrags der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, insbesondere in Bezug auf die Anhörung des Klägers, wird ergänzend auf das Protokoll Bezug genommen. Das Gericht hat u.a. die das Asylverfahren der Schwester des Klägers betreffende Akte beigezogen. Die vom Gericht beigezogenen Akten sowie die im Protokoll der mündlichen Verhandlung näher genannten Erkenntnisquellen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

19

Die zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Die zulässige Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

A.

20

Die Klage ist zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis für die auf Gewährung des Flüchtlingsstatus gerichtete Verpflichtungsklage bei vorhandenem subsidiärem Schutzstatus ist im Hinblick auf die unterschiedliche Ausgestaltung des nachfolgenden Aufenthaltsstatus (vgl. Aufenthaltsstatus nach § 25 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. [Flüchtling] oder 2. Alt. [subsidiärer Schutz] AufenthG; § 26 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG) sowie dessen Verfestigungsmöglichkeiten (vgl. § 26 Abs. 3 und 4 AufenthG) unzweifelhaft gegeben (vgl. auch: OVG Lüneburg, Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 24).

B.

21

Die Klage ist nicht begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 Abs. 1 AsylG zu.

22

In großen Teilen Syriens herrscht ein komplexer Bürgerkrieg (vgl. insgesamt: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - nachfolgend: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bzw. BFA -, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, v. 5.1.2017, G 26/17; IFK [das Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement - IFK - ist eine Forschungsabteilung der Landesverteidigungsakademie, der höchsten Lehr- und Bildungsstätte des Österreichischen Bundesheeres], Fact Sheet Syrien, Nr. 59 – 65 v. 10.02.2017, 27.03.2017, 28.04.2017, 09.06.2017, 25.07,2017, 15.09.2017, 13.10.2017). Daran beteiligt sind eskalierend seit 2011 neben einer sehr großen Anzahl kleinerer Gruppierungen nach derzeitigem Erkenntnisstand folgende größere Machtblöcke:

23

- der syrische Staat mit verschiedenen z.T. selbständig agierenden regierungsfreundlichen syrischen Milizen; diese werden durch Russland und den Iran sowie dem Iran nahestehende bzw. von diesem finanzierte überwiegend schiitische Milizen gestützt,

24

- unterschiedlich ausgeprägte islamistische Gruppierungen, die u.a. die Rebellenallianz der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) gebildet haben, von denen ein Teil mit der Unterstützung der Türkei im Nordwesten Syriens agiert,

25

- der Islamische Staat (Al-Dalls al-Islamiyaa -DAISH; nachfolgend: IS), sowie

26

- die Volksverteidigungseinheiten der kurdischen Partiya Yekitiya Demokrat (Partei der demokratischen Union, PYD), die durch die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützt werden.

27

Diese Akteure stehen wieder in Allianzen mit anderen kleineren Verbänden. Die „Frontlinien“ sind nicht scharf abtrennbar, jede Gruppe verfolgt ihre eigenen Interessen, die sich teilweise mit denen anderer Gruppierungen überlappen können (vgl. Gerlach, „Was geschieht in Syrien“, Bundeszentrale für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte, 8/2016 S. 6 ff.). Die örtlichen Grenzverläufe unterliegen bisher einem ständigen Wandel (vgl. auch: Auswärtiges Amt [AA] v. 2.1.2017 an VG Düsseldorf, Az.508-9-516.80/48808, zu 5 K 7480/16.A, 2017/1; Deutsches Orient-Institut [DOI] v. 22.2.2017 an VGH Baden-Württemberg, G 1/2017; DOI, v. 1.2.2017 an Hessischen VGH, G 6/17). Im Mai 2017 wurden unter der Vermittlung Russlands, des Irans und der Türkei vier Deeskalationszonen eingerichtet (Idlib, Nord-Hama, Nord-Damaskus, Südsyrien), in denen die Kampfhandlungen zunächst für sechs Monate eingestellt werden sollten. Dennoch kam es in einigen Deeskalationszonen weiterhin zu deutlichen Kampfeinsätzen. Im Laufe des Jahres 2017 ist der Einflussbereich des durch den IS kontrollierten Gebiets erheblich zurückgedrängt worden. Nach Pressemeldungen hat Russland den Krieg gegen den IS Anfang Dezember 2017 für beendet erklärt; kurz darauf erklärte der Irak den IS für besiegt. Seitdem scheint es zu einer Konsolidierung der Machtbereiche des syrischen Regimes und der durch die Volksverteidigungseinheiten der kurdischen PYD kontrollierten Gebiete zu kommen (Truppendienst - herausgegeben vom Bundesminister für Landesverteidigung, Österreich -, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017). Der UNHCR (Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien von Februar 2017, Deutsche Version April 2017, G 7/17) spricht u.a. davon, dass „Regierungskräfte und ISIS ... weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit (begehen). Es werden hemmungslos Kriegsverbrechen begangen“ (vgl. Fn. 102). Diese Einschätzung ist im Wesentlichen gestützt auf die Berichte der im August 2011 von der vom Menschenrechtsrat der Generalversammlung der Vereinten Nationen (Human Rights Council der UN-Generalversammlung, UNHRC, nachfolgend: HRC) eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission betreffend die Arabische Republik Syrien (Independant International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic; nachfolgend: COI; u.a. Berichte vom 8.8.2017 - Fassung 6.9.2017 -, A/HCR/36/55, G 25/17; v. 10.3.2017, A/HRC/34/CRP.3, G 24/17; v. 2.2.2017, A/HRC/34/64, G 14/17; v. 11.8.2016, A HRC/33/55, G 14/16).

28

Der Machtbereich des Assad-Regimes ist gekennzeichnet durch ein System von Geheimdiensten, die versuchen, vom Assad-Regime abweichende Stimmen zu unterdrücken. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt zu diesen aus (BFA v. 5.1.2017, G 26/17, S. 17):

29

„Syrien verfügt über eine Myriade von Sicherheits- und Geheimdiensten mit überlappenden Mandaten zur Sammlung von Informationen über die innere Sicherheit. Diese Einheiten können Gegner des Regimes festnehmen und neutralisieren (...). Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen (...).

30

Es gibt vier Hauptzweige der Sicherheits- und Nachrichtendienste. Der Militärische Nachrichtendienst, der Luftwaffennachrichtendienst und das Direktorat für Politische Sicherheit unterstehen dem Innenministerium. Das Allgemeine Nachrichtendienstdirektorat ist eine alleinstehende Organisation und untersteht direkt dem Präsidenten. Diese vier Dienste arbeiten unabhängig voneinander und größtenteils außerhalb des Justizsystems, überwachen einzelne Staatsbürger und unterdrücken Stimmen innerhalb Syriens, die vom Regime abweichen (...). Der Staatssicherheitsapparat wird verwendet, um den Aufstand zu unterdrücken (...). Die größeren Organisationen haben ihre eigenen Gefängniszellen und Verhörzentren (...).“

31

Eine homogene bürgerliche Zivilgesellschaft und ein Verständnis von Staat als Solidaritätsgemeinschaft gibt es in Syrien eher nicht. Im Vordergrund steht regelmäßig der Zusammenhalt über den Clan/den Stamm. Besonders riskant ist diese Situation jeweils für diejenigen, die in ihrem Aufenthaltsbereich von Bevölkerungsgruppen mit anderen Merkmalen dominiert werden, und für diejenigen, die ohnehin im Verhältnis zu ihren Mitbürgern „schwach“ sind. Hinzu kommt, dass die Eingruppierung als Täter bzw. als Opfer in einer solchen Bürgerkriegssituation schwankend sein kann, je nachdem, in welchem Umfeld sich der Betreffende gerade behaupten muss.

32

In diesem Gesamtkontext hat die Beklagte dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt, da davon auszugehen sei, dass dem Kläger bei Rückkehr nach Syrien ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG drohe, d.h. eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vorliege.

33

Vorliegend ist allein die davon zu trennende Frage der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 Abs. 1 AsylG Streitgegenstand. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt über die zuvor bestehende Gefahr hinausgehend voraus, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich eine zielgerichtete Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht; aufgrund des dem Kläger gewährten subsidiären Schutzstatus ist eine Rückkehr dabei nur gedanklich - hypothetisch - zu unterstellen.

34

Zur Überzeugung des Gerichts sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus (nachfolgend I.) nicht erfüllt. Der Kläger ist unverfolgt aus Syrien ausgereist (nachfolgend II.). Ihm droht bei einer gedanklich zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach der Erkenntnislage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung keine Verfolgungshandlung - Inhaftierung oder Rekrutierung - wegen eines die Flüchtlingseigenschaft begründenden Verfolgungsgrundes, weil er sich dem Wehrdienst entzogen hat (nachfolgend IV.), oder wegen anderer Anknüpfungspunkte, wie u.a. seines sunnitischen Glaubens (nachfolgend III.). Ihm ist auch nicht der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, weil ihm aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG beschriebenen flüchtlingsrelevanten Anknüpfungsmerkmalen Bestrafung oder Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt droht, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 3 Abs. 2 AsylG ausschließen würden (wie z.B. Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit), vgl. §§ 3 Abs. 1 i.V.m. 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (nachfolgend V.).

I.

35

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt demnach die begründete Furcht vor einer Verfolgungshandlung voraus, die wegen eines für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevanten Verfolgungsgrundes erfolgt.

36

Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, u. a. der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.

37

Zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschl. v. 22.11.1996, 2 BvR 1753/96, juris, Rn. 5; BVerwG, Beschl. v. 27.4.2017, 1 B 63.17, 1 PKH 21 PKH 23.17, juris Rn. 11). Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.1.2009, 10 C 52.07, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24; Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 3a Rn. 50 ff.).

38

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23.12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Zu bewerten ist letztlich, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint; insoweit geht es also um die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urt. v. 6.3.1990, 9 C 14.89, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. Ergeben die Gesamtumstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung, wird ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162, juris Rn. 17). Auch in solchen Fällen müssen aber die festgestellten Verfolgungsfälle nach Intensität und Häufigkeit zur Größe der Zahl der Verfolgten als ins Gewicht fallend angesehen werden können, wenn das Anknüpfungsmerkmal für eine mögliche Verfolgung auf eine Vielzahl von Personen zutrifft (hier: Entziehung vor Einberufung bzw. Wehrdienstverweigerung); es muss dann also - vergleichbar einer Gruppenverfolgung - eine entsprechende Verfolgungsdichte vorliegen. Hiervon kann nur dann abgesehen werden, wenn ein staatliches Verfolgungsprogramm besteht, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht und das deshalb hinreichend wahrscheinlich eine Verfolgung erwarten lässt (vgl. Berlit, ZAR 2017, 110, 115 m.w.N.; vgl. zur Gruppenverfolgung, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit und gruppengerichteter Verfolgung: Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Auflage 2012, § 30 Rn. 8 ff. ). Die Schwere des befürchteten Eingriffs kann dabei je nach Einzelfall, insbesondere im Zusammenhang mit willkürlich handelnden Staatsmächten, nur bedingt Erkenntnisse zur Gerichtetheit der Verfolgung geben. Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht, welches hierfür den Begriff des „real risk“ verwendet (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011, 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22, juris Rn. 22; Berlit, ZAR 2017, 110, 117).

39

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist zwischen der Frage, ob dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß den §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu unterscheiden.

40

Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011, 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22, juris Rn. 21 f.; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 4.5.2017, 14 A 2023/16.A, NVwZ 2017, 1218, juris Rn. 21 f., OVG Saarlouis, Urt. v. 11.3.2017, 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588, juris Rn. 19; Berlit, ZAR 2017, 110 ff.)

41

Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss unterschieden werden zwischen den in die eigene Sphäre des Asylsuchenden (bzw. hier: des um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden) fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, und den in den allgemeinen Verhältnissen seines Herkunftslandes liegenden Umständen, die seine Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen.

42

Lediglich in Bezug auf erstere muss er eine Schilderung geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Dabei ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast beschwerten Klägers zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Daher kann den eigenen Erklärungen des Klägers größere Bedeutung beizumessen sein, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für Asylverfahren (bzw. wie hier in Verfahren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss - wenn nicht anders möglich - in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Kläger glaubt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1981, 9 C 251.81, InfAuslR 1982, 156; Urt. v. 22.3.1983, 9 C 68.81, juris Rn. 5; Urt. v. 16.4.1985, 9 C 109.84, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16; OVG Koblenz, Urt. v. 16.12.2016, 1 A 10922/16, juris Rn. 32; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Auflage, S. 289).

43

Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse im Herkunftsland reicht es hingegen wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, aus denen sich - ihre Wahrheit unterstellt - hinreichende Anhaltspunkte für eine nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (BVerwG, Urt. v. 24.11.1981, 9 C 251.81, InfAuslR 1982, 156; Urt. v. 22.3.1983, 9 C 68.81, juris; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Auflage, S. 288 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 3/2017, B 1 Rn. 255). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen, die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, aaO., S. 295 f.).

44

In Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsland sind die Gerichte regelmäßig darauf angewiesen, sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnisse gleichsam mosaikartig ein Bild zu machen. Da Abschiebungen nach Syrien jedenfalls seit 2012 nicht mehr erfolgen, hat die Prognose, ob bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG droht, - wie oben dargelegt - aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen.

45

Führt diese Betrachtung zu keinem für den Schutzsuchenden günstigen Ergebnis, verbleibt es bei allgemeinen Beweislastregeln. Die humanitäre Schutzrichtung des Asyl- und Flüchtlingsrechts gebietet weder eine Umkehr der objektiven Beweislast noch eine Folgenabwägung im Sinne eines „better safe than sorry“ (vgl. hierzu Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523). Diesem Ansatz kann vorliegend auch deshalb nicht gefolgt werden, weil es allein um die genaue Ausprägung des Schutzstatus, nicht aber um das Ob der Schutzgewährung geht. Eine denkbare gerichtliche Fehlbeurteilung bei der Frage der Gewährung des Flüchtlingsstatus birgt kein persönliches Risiko für den Schutzsuchenden, weil er infolge des zuerkannten subsidiären Schutzes nachhaltigen Schutz genießt und nicht in Gefahr ist, nach Syrien zurückkehren zu müssen. Die hypothetische Rückkehr ist vielmehr im Rahmen der vorzunehmenden rechtlichen Bewertung ein allein gedanklicher Ansatz, der der Sicherstellung eines einheitlichen Prüfungsmaßstabs geschuldet ist. Gefahrenperpetuierende Auswirkungen kann eine fehlerhafte Verneinung einer politischen Verfolgung allerdings für Angehörige des Schutzsuchenden haben, die derzeit befristet von einem Nachzug ausgeschlossen sind.

46

Nach Auffassung des Senats ist der dargelegte Wahrscheinlichkeitsmaßstab auch dann anzuwenden, wenn ein effektiver Menschenrechtsschutz bereits durch die Gewährung des subsidiären Schutzstatus gewährleistet ist (zweifelnd, aber offen gelassen: VGH Mannheim, Urt. v. 21.8.2017, A 11 S 513/17, S. 13 UA, juris).

47

Unter Anwendung dieser Maßstäbe steht dem Kläger kein Anspruch auf Gewährung des Flüchtlingsstatus zu.

II.

48

Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Nach seinen eigenen Angaben hat er Syrien über den Flughafen Damaskus offiziell und ohne Probleme verlassen.

49

Eine beachtliche Verfolgung wegen seiner tscherkessischen Volkszugehörigkeit ist nicht vorgetragen. In seiner Anhörung beim Bundesamt hat der Kläger vorgebracht, dass er wegen seiner Volkszugehörigkeit nicht wirklich Probleme gehabt habe. Er sei schon einmal angesprochen worden, was er denn in Syrien wolle, das seien aber keine Probleme gewesen (Bl. 81 Beiakte A). In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat er ausgeführt, im „Dorf“ seien die Leute nicht nett zu den Tscherkessen gewesen. Militär und Zivilleute hätten sie für Verräter gehalten. Auch diesem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ist keine beachtliche Verfolgungshandlung zu entnehmen. Zudem steht dem entgegen, dass der Vater des Klägers Beamter war und die Familie nach Angaben des Klägers im Jahr 2013 nach Damaskus gezogen ist und dort vom Assad-Regime unbehelligt gelebt hat; sie ist damit aus dem von der Freien Syrischen Armee gehaltenen Gebiet weggezogen in ein Gebiet, das durch das Assad-Regime gehalten wird. Seine Eltern und sein Bruder leben weiterhin in Damaskus. Von aktuellen Verfolgungshandlungen gegen seine in Damaskus lebenden Familienangehörigen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht berichtet.

III.

50

Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass dem Kläger bei einer gedanklich zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale wegen seiner Ausreise, der erfolgten Asylantragstellung, seines längeren Aufenthalts im westlichen Ausland, seiner Zugehörigkeit zum sunnitischen Glauben, seiner tscherkessischen Volkszugehörigkeit oder/und seiner Abstammung aus der Region Qunaitra - einer seit ca. 2012 von der Freien Syrischen Armee gehaltenen Region - droht. Der Senat sieht es nicht als beachtlich wahrscheinlich an, dass dem Kläger wegen der zuvor genannten Umstände - einzeln oder in ihrer Gesamtheit - durch staatliche Stellen eine regimefeindliche Haltung unterstellt wird.

51

Dass Rückkehrer (gegenwärtig nur aus dem arabischen Raum, zu dem noch Flugverbindungen bestehen) am Flughafen von Damaskus und ggfls. Latakia intensiven Kontrollen ausgesetzt werden und dass Personen, bei denen der Verdacht besteht, dass diese gegen das Assad-Regime eingestellt sind oder sich oppositionell betätigt haben, den Flughafen nicht wie beabsichtigt wieder verlassen können und ihnen Folter und schlimmste Misshandlungen drohen, wird allgemein angenommen und dürfte hinreichend gesichert sein (vgl. Amnesty International - AI -, Report 2017, Syrien, v. 19.2.2017, G 16/17; AI, Human Slaughterhouse, v. Februar 2017, G 15/17; AI, It breaks the human – torture, disease and death in Syria’s prisons, v. August 2016, G 13/16; Human Rights Watch – HRW -: Syrien: Die Geschichten hinter den Fotos getöteter Gefangener - Opfer auf den „Ceasar“-Fotos -, Dezember 2015, G 21/16; ECCHR, Sondernewsletter Menschenrechtsverbrechen in Syrien, Teil I: Folter unter Assad, Strafanzeige in Deutschland gegen hochrangige Angehörige der syrischen Geheimdienste, Oktober 2017, G 48/17; ECCHR, Portraits, Strafanzeige von syrischen Folterüberlebenden zu Folter durch Syriens Luftwaffengeheimdienst, November 2017, G 47/17).

52

1. Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass dem Kläger im Hinblick auf seine Ausreise, die erfolgte Asylantragstellung, seinen längeren Aufenthalt im westlichen Ausland, seine Zugehörigkeit zum sunnitischen Glauben und/oder seine Abstammung aus einer Region, die von regierungsfeindlichen Gruppen gehalten wird (hier: Qunaitra), bei Rückkehr nach Syrien eine (Verfolgungs-)Handlung i.S.d. § 3a AsylG - hier: Befragung mit der konkreten Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung - beachtlich wahrscheinlich droht (die Gefahr einerVerfolgungshandlung mit beachtlichen Gründen verneinend: OVG Münster, Urt. v. 21.2.2017, 14 A 2316/16, DVBl. 2017, 639, juris, Rn. 35 ff.; aufgrund der Zweifel eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungshandlung verneinend: OVG Lüneburg, Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 44; Beschl. v. 12.9.2017, 2 LB 750/17, juris Rn. 40; zweifelnd, aber offenlassend: OVG Koblenz, Urt. v. 16.12.2016, 1 A 10922/16, juris Rn. 48 ff., OVG Saarlouis, Urt. v. 2.2.2017, 2 A 515/16, juris Rn. 22; zuletzt v. 17.10.2017, 2 A 365/17, juris Rn. 22; offen gelassen zur einer rückkehrenden Syrerin: VGH Mannheim, Urt. v. 21.8.2017, A 11 S 513/17, S. 13 Urteilsabdruck - UA- in juris).

53

Dem Senat liegt keine hinreichend dichte Erkenntnislage vor, auf die die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgungshandlung gestützt werden könnte. Über die Behandlung von Rückkehrern nach Syrien liegen dem UNHCR (Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, von Februar 2017, deutsche Übersetzung von April 2017, G 7/17, S. 5) „kaum konkrete Informationen“ vor. Dem Auswärtigen Amt (Auskunft v. 2.1.2017 an VG Düsseldorf, zu 5 K 7221/16.A, Az.: 508-9-516.80/48840, 2017/2; v. 7.11.2016 an das OVG Schleswig, 2016/4) liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass unverfolgt Ausgereiste nach Rückkehr systematisch befragt werden.

54

Der UNHCR (April 2017, G 7/17, S. 15 ff.) sieht Personen, die aus einem Ort stammen, der in einem Gebiet liegt, das sich derzeit oder vormals unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen befindet oder befand, in der Gefahr, Opfer von Verfolgung durch das Assad-Regime zu werden. Die dort benannten Referenzfälle (vgl. Fn. 75, 78 - 83) beziehen sich überwiegend auf Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Rahmen von Rückeroberungen von Gebieten durch die Regierungstruppen - wie z.B. die Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Ost-Aleppo oder Ar Raqqah während der Belagerung -, auf die Rückführung von Bevölkerung aus belagerten Gebieten aus von Regierungstruppen eingenommenen Nachbarorten sowie auf Personen, die regierungsfeindlichen Gruppen Schutz geboten oder die Informationen über regierungsfeindliche Personen haben könnten, etwa im Rahmen von Verhaftungswellen unmittelbar nach der Rückeroberung von Gebieten durch die Regierungstruppen. In einer ähnlichen Situation befindet sich der ins Ausland geflüchteten Kläger, der sich seit ca. 2 Jahre außerhalb Syriens aufhält, nicht. Gegen eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung allein in Anknüpfung an den sunnitischen Glauben sowie die Herkunft aus einer Region, die von regierungsfeindlichen Gruppen gehalten wird, spricht auch die Vielzahl von Binnenvertriebenen. Bei Beginn des Bürgerkrieges waren ca. drei Viertel der syrischen Bevölkerung sunnitischen Glaubens (AA, Lagebericht vom 27.9.2010, 2010/4). Angesichts dessen dürfte eine Vielzahl der 6,3 Millionen binnenvertriebenen Syrer (UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic, update V, HCR/PC/SYR/17/01, November 2017, G 35/17, S. 7) sunnitischen Glaubens sein und ursprünglich aus Regionen stammen, die derzeit oder zeitweise während des Bürgerkrieges in der Hand regierungsfeindlicher Gruppen sind bzw. waren. Von diesen sind im 1. Halbjahr 2017 ca. 440.000 in ehemals von regierungsfeindlichen Gruppen gehaltene Gebiete zurückgekehrt, insbesondere nach Aleppo, Hama, Homs und Damaskus (UNHCR, „UNHCR meldet Anstieg bei Rückkehrern nach Syrien“, v. 30.6.2017, G 21/17, S. 2).

55

Zweifel an einer Verfolgung von aus dem Ausland zurückkehrenden Asylbewerbern sunnitischen Glaubens, die aus Gebieten stammen, die derzeit oder ehemals unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppen stehen oder standen, ergeben sich zudem angesichts der ständig gestiegenen Zahl - derzeit insgesamt ca. 6,4 Millionen - der in den letzten Jahren aus Syrien Geflohenen (Ende 2011: 19.900; Ende 2012: rund 728.000; Ende 2015: rund 4.800.000; zitiert nach OVG Lüneburg, Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 44; Ende 2017 - rund 5,44 Mio. in die Nachbarstaaten der Region und zusätzlich ca. 1 Mio. in Staaten des westlichen Europas, vgl. UNHCR, Syria, Regional Refugee Response, abgerufen am 13.12.2017, G 36/17). Dies ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung von rd. 22 Millionen Einwohnern Syriens bei Beginn des Bürgerkrieges (vgl. AA, Länderinformation Syrien, August 2016, 2016/1). Auf die weit überwiegende Zahl der ins Ausland Geflüchteten werden die oben genannten Kriterien zutreffen.

56

Des Weiteren ergeben sich Zweifel an einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung jedes Rückkehrers bzw. einer beachtlichen Größenordnung von Rückkehrern aus der nicht geringen Zahl freiwilliger Rückkehrer aus dem Ausland. So sollen im August 2015 mehrere tausend Personen über die syrisch-jordanische Grenze zurückgekehrt sein und im Juli 2015 rd. 2300 aus dem Irak (vgl. SFH, Syrien: Rückkehr, v. 21.3.2017, G 5/17, S. 4; DOI, v. 22.2.2017, G 1/17; DOI, Auskunft an VGH Kassel v. 1.2.2017, G 6/17, S. 1). Andere Berichte (vgl. Immigration and Refugee Board of Canada - IRB -, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, v. 19.01.2016, G 5/16, S. 2 - zitiert nach der deutschen Übersetzung -) gehen davon aus, dass „Hunderttausende von Flüchtlingen jedes Jahr nach Syrien reisen, meistens um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, Dokumente einzuholen oder zu erneuern oder um Familienmitgliedern und Freunden lebenswichtige Hilfe zu geben, bevor sie wieder in benachbarte Länder einreisen“. Nach Angaben des UNHCR (v. 30.6.2017, G 21/17) sind seit 2015 insgesamt 260.000 syrische Flüchtlinge aus den angrenzenden Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt, davon die meisten aus der Türkei in den Norden Syriens; im 1. Halbjahr 2017 sind 31.000 Syrer aus den angrenzenden Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt. Die vielfach beobachtete Land-Einreise über die Staatsgrenzen (u.a. aus Jordanien, Irak, Türkei) lässt zwar keine zwingenden Rückschlüsse auf die Umstände einer Einreise über den für Rückkehrer derzeit vor allem in Betracht zu ziehenden Flughafen Damaskus, ggfls. auch den Flughafen Latakia (vgl. SFH v. 21.3.2017, G 5/17, S. 6) zu, sie zeigt aber, dass diese Personen trotz der vorherigen Flucht das Risiko einer Rückkehr auf sich genommen haben.

57

Das Auswärtige Amt (v. 2.1.2017, 2017/2) führt ebenfalls aus, dass ihm Fälle bekannt sind, in denen syrische Staatsangehörige nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus dem Bundesgebiet für mehrere Monate nach Syrien zurückgekehrt sind.

58

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das vorstehend Ausgeführte noch in verstärktem Maße gelten würde, wenn im Rahmen einer gedanklichen Rückkehrsituation zu berücksichtigen wäre, dass die Situation, in der sich der Kläger befindet, auf eine Vielzahl von ins Ausland geflüchteten Syrern zutrifft und daher gedanklich die Rückkehr einer Vielzahl dieser Personen zu unterstellen wäre.

59

2. Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass dem Kläger bei Rückkehr nach Syrien im Hinblick auf seine tscherkessische Volkszugehörigkeit eine (Verfolgungs-)Handlung i.S.d. § 3a AsylG beachtlich wahrscheinlich droht.

60

Hiergegen spricht bereits, dass der Kläger unverfolgt ausgereist ist, die Familie des Klägers weiterhin in Damaskus lebt und der Kläger auch in Bezug auf diese nicht von Verfolgung berichtet hat. Aus der von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht eingereichten Anfragebeantwortung von ACCORD vom 21. Mai 2014 ergeben sich für den Senat keine anderen Erkenntnisse. Diese lässt eher den Schluss zu, dass dem Kläger durch das Assad-Regime aufgrund der tscherkessischen Volkszugehörigkeit keine Regimegegnerschaft zugeschrieben wird. Dort wird die Einschätzung wiedergegeben, dass sich das Assad-Regime auf die Loyalität der Minderheiten in Syrien habe verlassen können, zu denen auch das Volk der Tscherkessen zähle. Unter Baschar al-Assad habe es sogar einen tscherkessischen General gegeben, der zum Innenminister ernannt worden sei. Die Unterstützung des Assad-Regimes durch die Tscherkessen schwinde aber im Laufe des Bürgerkrieges. Auch die Tscherkessen müssten im Bürgerkrieg u.a. durch die Kriegshandlungen im Bereich der von Tscherkessen besiedelten Golanhöhen Partei ergreifen und sich auf die Seite des Assad-Regimes oder die Seite anderer Bürgerkriegsparteien stellen. Über die Lage von nach Syrien zurückkehrenden Tscherkessen lägen keine Informationen vor.

61

In Übereinstimmung mit der so beschriebenen Situation der Tscherkessen ist die Familie des Klägers wegen der Kriegshandlungen in der Region Qunaitra nach Angaben des Klägers im Jahr 2013 von dort nach Damaskus verzogen. Sie haben sich damit in ein Gebiet begeben, das durch das Assad-Regime gehalten wird und damit - wenn überhaupt - zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht auf Seiten der regimefeindlichen Kräfte stehen. Dass sich nach Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Familie des Klägers nicht umgemeldet habe, ändert daran nach Einschätzung des Senats nichts. Zudem bestehen an der Richtigkeit dieser Einlassung des Klägers durchgreifende Zweifel. Insoweit wird auf die Ausführungen hierzu unter IV. 2. c) Bezug genommen.

62

3. Selbst wenn das Gericht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG bei Rückkehr bejahte, fehlt es an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bezüglich der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG. Um als Flüchtling anerkannt zu werden, müsste zu einer Verfolgungshandlung hinzukommen, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit diese Verfolgungshandlung aus flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgründen i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfolgt. Die dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen lassen einen solchen hinreichend verlässlichen Schluss auf das Bestehen der notwendigen Verknüpfung nicht zu.

63

a) Es lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht feststellen, dass das Assad-Regime mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedem unverfolgt für längere Zeit ausgereisten syrischen Staatsbürger, der im Ausland ein Asylverfahren betrieben hatte und wieder zurückkehrt, pauschal unterstellt, ein Regimegegner zu sein bzw. in Verbindung mit oppositionellen Kreisen im Exil zu stehen, sofern nicht besondere, individuelle gefahrerhöhende Merkmale vorliegen (wie hier auch: OVG Münster, Urt. v. 21.2.2017, 14 A 2316/16.A, DVBl. 2017, 639, juris; Urt. v. 4.5.2017, 14 A 2023/16.A., NVwZ 2017, 1218, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 16.12.2016, 1 A 10922/16, juris; OVG Saarlouis, Urt. v. 2.2.2017, 2 A 515/16, juris; Urt. v. 17.10.2017, 2 A 365/17, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.9.2017, 2 LB 750/17, juris; zu einer Syrerin: VGH Mannheim, Urt. v. 21.8.2017, A 11 S 513/17, S. 13 UA, juris; OVG Schleswig, Urt. v. 23.11.2016, 3 LB 17/16, juris; VGH München, Urt. v. 12.12.2016, 21 B 16.30338, juris; a.A. UNHCR, v. 04/2017, G 7/17, S. 30; allerdings führt der UNHCR diese Gruppe im Bericht vom November 2017, G 35/17, S. 35 f. -, nicht mehr auf).

64

Allerdings entsprach es für die Zeit vor Ausbruch der Unruhen in Syrien und bis in die Anfangszeit des Bürgerkriegs hinein wohl weitgehend gesicherter Erkenntnis, dass nach der ständigen Praxis der syrischen Sicherheitskräfte (im weitesten Sinn) bei der offiziellen Wiedereinreise nach einem längeren Auslandsaufenthalt Rückkehrer regelmäßig einem intensiven Verhör unterzogen wurden, das je nach den Umständen auch Stunden dauern konnte. Insbesondere im Falle einer Verbringung der Betreffenden in ein Haft- oder Verhörzentrum der (vier) syrischen Geheimdienste drohte zudem konkret die Anwendung von Folter und menschenrechtswidriger Behandlung, wobei hiermit regelmäßig auch Informationen über eventuelle eigene regimekritische Handlungen im Ausland, aber auch über die Exilszene im Allgemeinen herausgepresst werden sollten. Diese Gefahr wurde etwa vom Auswärtigen Amt als sehr hoch eingeschätzt (vgl. Lagebericht vom 27.9.2010, 2010/4, S. 16). In der Rechtsprechung wurde deshalb z.T. angenommen, dass den staatlichen Maßnahmen auch die erforderliche Gerichtetheit zukam (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 19.6.2013, A 11 S 927/13, juris; a.A. aber etwa OVG Münster, Beschl. v. 7.5.2013, 14 A 1008/13.A, juris).

65

Im Laufe des Bürgerkriegs haben sich jedoch in verschiedener Hinsicht Veränderungen in Syrien ergeben. So kann insbesondere aus verschiedenen Berichten von Amnesty International eine endemische Zunahme von Misshandlungen und Folter einschließlich Verschwindenlassen der Betroffenen entnommen werden (vgl. AI, 8/2016, G 13/16, S. 12 ff.; AI, v. 2/2017, G 15/17; AI, Report 2016/2017, v. 22.2.2017, G 17/17 – vgl. auch dt. Übersetzung v. 19.2.2017, G 16/17, S. 9 f.). Es handelt sich um Praktiken, die von Seiten des syrischen Regimes im Grundsatz schon seit vielen Jahren systematisch eingesetzt werden, um jede Opposition und jeden Widerstand zu unterdrücken bzw. zu zerschlagen (vgl. BFA, v. 5.1.2017, S. 19 f., G 26/17). Zudem ist die Zahl der im Ausland lebenden syrischen Flüchtlinge seit dem Beginn des Bürgerkriegs auf ca. 6,4 Millionen gestiegen ist (s.o.; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 21.02.2017, 14 A 2316/16.A, DVBl. 2017, 639).

66

Bei dieser Ausgangslage kann der Senat nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht die Überzeugung gewinnen, dass syrische Sicherheitskräfte unterschiedslos jedem rückkehrenden Asylbewerber unterstellen, (vermeintlich) ein Regimegegner zu sein, sofern nicht besondere, individuelle gefahrerhöhende Merkmale vorliegen. Vor diesem Hintergrund ist ein Rückschluss von vor Beginn oder zu Anfang des Bürgerkriegs vermutlich stattgefundenen flüchtlingsrelevanten Eingriffen im Kontext der Einreise auf die heutigen Verhältnisse nicht tragfähig und kann die weitgehend fehlenden Erkenntnisse nicht ersetzen. Aus diesem Grund bestehen auch keine weiteren erfolgversprechenden Ermittlungsansätze.

67

Wie ausgeführt liegen nur wenige Dokumente vor, die die hier interessierende Fragestellung der aktuellen Behandlung von Rückkehrern erörtern. Ihnen lassen sich ausnahmslos keine konkreten und nachvollziehbaren Gesichtspunkte entnehmen, die einen verlässlichen Schluss auf die erforderliche Gerichtetheit zulassen. Hierzu führt das OVG Lüneburg in einem die Rückkehr eines Syrers betreffenden Verfahren nach Ansicht des Senats zutreffend aus (Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 53 - 67):

68

„Der vom UNHCR 4/2017 gezogenen Folgerung, sein Bericht belege eine politische Verfolgung durch staatliche Kräfte bei Rückkehr nach Syrien (vgl. S. 30 unter 5. mit Fußn. 146), vermag der Senat nicht zu folgen. Belastbare Erkenntnisse, dass die syrischen Sicherheitsbehörden dem Grunde nach diesen Rückkehrern eine oppositionelle Haltung zuschreiben, sind dem Bericht nicht zu entnehmen. Zum einen beruhen die vom UNHCR 4/2017 wiedergegebenen - teilweise lediglich telefonisch (vgl. hierzu IRB Canada v. 19.1.2016) erfolgten - Einschätzungen nur auf Berichten/ Wertungen einzelner Personen und dabei wiederum vor allem auf „Hörensagen“, nicht aber auf zurechenbaren Äußerungen von Personen, die aus eigener Erfahrung Mitteilung über verschiedene Einzelfälle machen können; Einzelschicksale sind danach nicht nachprüfbar. So wird - unter Hinweis auf das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB Canada v. 19.1.2016) - eine emeritierte Professorin für Anthropologie und erzwungener Migration an der Oxford Universität, vormals Leiterin des Refugee Studies Centre in Oxford erwähnt, die ihre Einschätzung wiedergibt, aber keine konkreten Fälle benennt. Auch der Executive Direktor des Syria Justice and Accountability Center benennt keine konkreten, nachprüfbaren Einzelfälle, sondern teilt seine Bewertung der Lage mit, wobei er einerseits darauf hinweist, ein rückkehrender Asylantragsteller gelte als regierungsfeindlich, was als Zuschreibung eines Verfolgungsgrundes zu bewerten wäre, andererseits aber auch ausführt, Rückkehrer würden gefoltert, weil der Staat über andere Asylbewerber/Oppositionelle Informationen gewinnen wolle - was auf ein lediglich wahllos routiniertes Zugreifen mit dem Ziel, möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen überhaupt erst zu erlangen („fischen“) weist und als solches keine auf einen Verfolgungsgrund „gerichtete“ Maßnahme darstellen würde (vgl. dazu unten). Die dritte genannte Quelle, ein Gastwissenschaftler des Kings College London, der Spezialist für Syrien sei und Sachverständigenaussagen in Asylverfahren von Syrern in Großbritannien gemacht haben soll, trägt die Folgerung des UNHCR schon deswegen nicht, weil diese Quelle lediglich erklärt hat, ein rückkehrender Asylbewerber könne festgenommen werden, dies geschehe aber nicht automatisch; einige Regierungsmitarbeiter betrachteten Rückkehrer als Regierungskritiker, andere Regierungsmitarbeiter würden dagegen anerkennen, dass es auch andere Gründe gebe, das Land zu verlassen (vgl. Fußn. 146). Hinsichtlich der weiteren Ausführungen des IRB Canada (v. 19.1.2016) hat bereits das OVG NW (Urt. v. 21.2.2016 - 14 A 2316/16 -, juris Rnr. 51 ff) festgehalten, dass der dort unter Nr. 3 geschilderten Fall eines aus Australien rückkehrenden Asylbewerbers besonders liege, weil dieser wegen des mitgeführten Geldes in den Verdacht eines Revolutionsfinanciers gekommen war (vgl. auch OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG Rnr. 91) und weiter zutreffend ausgeführt:

69

„Weitere Meldungen über Festnahmen bei Einreise (die Rede ist in der genannten Antwort von etwa 35 nach Ägypten geflohenen Palästinensern) lassen mangels Kenntnis der Einzelumstände keinen Rückschluss auf den Anlass der Festnahmen zu. Das Immigration and Refugee Board of Canada zitiert im Weiteren lediglich die Meinung eines Oxford-Professors, eines Forschers am Londoner King's College und eines Funktionärs einer Menschenrechtsorganisation (Syria Justice and Accountability Centre, vgl. die Selbstdarstellung im Internet unter https://syriaaccountability.org/about/), dass abgelehnte Asylbewerber wegen ihres Asylantrags verfolgt würden, ohne dass dafür tatsächliche Anhaltspunkte aufgezeigt würden. Daher kann dies nicht als relevante tatsächliche Erkenntnis, sondern als nicht weiter begründete Meinung gewertet werden.“

70

Das vom UNHCR 4/2017 weiter zitierte US Departement of State führt in seinem „Country Report on Human Rights Practices for 2015“ für Syrien (S. 34, ebenso Country Report on Human Rights Practices for 2016, S. 36) zwar aus, dass Personen, die erfolglos Asyl in anderen Ländern beantragt hätten, verfolgt worden seien, jedoch ohne Nennung konkreter Vorfälle. Zudem verweist der Bericht auf ein Gesetz, dass denjenigen mit Verfolgung bedroht, der in einem anderen Land Zuflucht sucht, um einer Strafe in Syrien zu entgehen. Auch aus dieser Fundstelle kann daher nicht die Erkenntnis gewonnen werden, dass dem Grunde nach jeder rückkehrende Asylbewerber als vermeintlicher Oppositioneller vom syrischen Staat Verfolgungshandlungen zu befürchten hat (so zutreffend OVG NW, Urt. v. 21.2.2017, aaO., Rnr 54 f).

71

Soweit UNHCR 4/2017 (Fußnote146) zum anderen auf Quellen aus der Zeit vor 2011 verweist, die die Gleichstellung einer illegalen Ausreise und Asylantragstellung mit einer regimefeindlichen Gesinnung belegten (vgl. dazu OVG Sachsen-Anh., Urt. v. 18.7.2012 - 3 L 147/12 -, juris; kritisch zu dieser Einschätzung Bay. VGH, Urt. v. 12.12.2016 - 21 B 16.30371 -, juris, OVG Rheinl-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris), kann auf diese Einschätzungen aus jener Zeit schon aufgrund der gravierenden Veränderung der politischen Situation und des infolgedessen - ohne die rd. 6,6 Mio. Binnenflüchtlinge (vgl. AI, Report 2016/2017, Syrien) - auf rd. 4,8 Mio. angewachsenen Flüchtlingsstroms (Ende 2011 waren es lediglich rd. 19.900, s.o.) nicht mehr zurückgegriffen werden (vgl. nunmehr auch OVG Sachsen-Anh., Beschl. v. 29.3.2017 - 3 L 249/16 -, juris).

72

Der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH v. 21.3.2017 Syrien: Rückkehr) sind ebenfalls keine konkreten individualisierbaren Einzelfälle zur Behandlung von Rückkehrern zu entnehmen. Die SFH verweist vielmehr ihrerseits u.a. auf das IRB Canada (v. 19.1.2016) und auf die darin erwähnten Informationen sowie auf die Stellungnahme des US Department of State (s.o.). Letztlich beziehen sich mithin eine Vielzahl von Quellen aufeinander, ohne den Erkenntnishorizont durch neue belastbare Erkenntnisse erweitern zu können.

73

Ein erhebliches Indiz dafür, dass Rückkehrer vom syrischen Staat nicht ohne weiteres als Regimegegner eingeschätzt werden, ergibt sich für den Senat aus der genannten Stellungnahme des IRB Canada unter Nr. 1 „Overwiew“, wonach Hunderttausende Flüchtlinge aus den Anrainerstaaten jedes Jahr nach Syrien einreisen sollen, um dort persönliche Angelegenheiten zu regeln, meistens um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, Dokumente einzuholen oder zu erneuern oder um Familienmitgliedern und Freunden lebenswichtige Hilfe zu geben, bevor sie wieder in die benachbarten Länder zurückkehren. Eine solche umfangreiche Reisetätigkeit zeigt, dass die in die benachbarten Ländern Geflohenen trotz des (extrem) repressiven Charakters des syrischen Staates davon ausgehen, im Rahmen der Grenzübergänge zu Syrien keiner gravierenden Gefährdung ausgesetzt zu sein (vgl. auch OVG NW, Urt. 21.2.2017, aaO., Rnr. 53, Bay VGH, Urt. v. 12.12.2016, aaO, Rnr. 78).

74

Die Annahme, erfolglose Asylbewerber aus dem westlichen Ausland würden - im Gegensatz zu den in die Anrainerstaaten Syriens Geflüchteten - deshalb (unterschiedslos) als Oppositionelle betrachtet, weil die syrische Regierung eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land für den Ursprung des Bürgerkriegs verantwortlich mache, ist eine bloße Vermutung, die angesichts der hohen Zahl in das westliche Ausland geflüchteter und hypothetisch zurückkehrender Syrer dem Senat nicht plausibel erscheint. Mag es bei einer überschaubaren Anzahl von Flüchtlingen wie vor 2011 noch nachvollziehbar gewesen sein, dass diese vom syrischen Regime durchweg als potentielle Gegner angesehen werden könnten, kann dies nicht mehr bei den heutigen Zahlen gelten. Im Gegensatz zur damaligen Lage ist die Zahl derer, die Syrien verlassen haben, heute nicht mehr relativ gering. Zudem ist es mittlerweile nicht mehr erforderlich, eine etwaige von außen organisierte Verschwörung aufzudecken. Die Beteiligung zahlreicher anderer (Groß-)Mächte an den Auseinandersetzungen, die jeweils eigene unterschiedliche Ziele verfolgen, steht vielmehr fest (vgl. oben).

75

Den Verfassungsschutzberichten (zitiert bei OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rnr. 121) lässt sich eine systematische Beobachtung aller mittlerweile im Bundesgebiet lebenden Syrer ebenfalls nicht entnehmen. Ihre Beobachtung gilt in erster Linie oppositionellen Tätigkeiten. Eine umfassende Beobachtung wäre angesichts der großen Zahl hier aufhältiger Personen aus Syrien schon faktisch ausgeschlossen (vgl. OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 - juris, Rnr. 121).

76

Die generell nicht auszuschließende Anwendung von Misshandlung oder Folter bei Rückkehr stellt als solche schließlich kein wesentliches Indiz für eine politische Motiviertheit der Verfolgung dar; denn es ist zu bedenken, dass dieses Verhalten nicht erst anlässlich der aktuellen bürgerkriegsähnlichen Situation seit 2011 entstanden ist, sondern in Syrien die Sicherheitsdienste aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis immer schon weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und auch in der Vergangenheit verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft waren. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste hatten schon in der Vergangenheit systematisch Gewalt angewandt, ohne dass die Möglichkeit effektiver strafrechtlicher Abwehr bestand. Schon unter Hafis al-Assad wurde jegliche Opposition brutal unterdrückt und es verschwanden Personen, so sollen seit 1980 bis 2010 rd. 17.000 Personen verschwunden sein (AA, Lagebericht v. 27.9.2010; allg. vgl. Lange „Ein historischer Überblick“, Bundeszentrale für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte, 8/2013 S. 37, 42 f.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 - juris, Rnr. 154; zur langjährigen Praxis von Misshandlungen und Folter vgl. auch VGH Bad.-Württb., Urt. v. 2.5.2017 - A 11 S 562/17 -, juris Rnr. 48).

77

Soweit Rückkehrer unter Drangsalierungen bis hin zur Folter befragt werden sollten, würde sich dies daher in Anlehnung an die Ausführungen des OVG Rheinland-Pfalz auch nach Auffassung des Senats um ein willkürliches, von keiner irgendwie gearteten Gerichtetheit bestimmtes Verhalten der in rechtsfreien Räumen agierenden verschiedenen Sicherheitskräfte handeln, möglicherweise auch um ein wahllos-routiniertes Fischen nach Informationen, wodurch einen konkreten Verdacht überhaupt erst begründende Hinweise gewonnen werden sollen, aufgrund derer sodann eine Zuschreibung von Verfolgungsgründen erfolgen könnte (vgl. OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016, aaO. Rnr. 121, vgl. auch OVG d. Saarl. v. 11.3.2017 - 2 A 215/17 -, juris).

78

Schon das Auswärtige Amt (Ad-hoc-Bericht v. 17.2.2012) hat auf willkürliche Verhaftungen und darauf hingewiesen, dass die Sicherheitskräfte im Zuge der Bekämpfung der Opposition von dem syrischen Regime eine „carte blanche“ erhalten hätten, jeder agiere für sich im rechtsfreien Raum.

79

Dieses willkürlich-wahllose Verhalten bei etwaigen Rückkehrer-Befragungen wird auch durch den UNHCR-Bericht 4/2017 selbst deutlich. So heißt es dort, dass Personen „ohne bestimmten Grund entsprechend der weit verbreiteten Willkür und des Machtmissbrauchs durch Sicherheitsbeamte inhaftiert und misshandelt“ werden (S. 6), das System sei „äußerst unvorhersehbar“, es seien „alle Personen“ einem Misshandlungsrisiko durch Grenzbehörden ausgesetzt (Fußnote 32), die einzelnen regierungstreuen Sicherheitsbereiche hätte gleichsam freie Hand erhalten, es erfolgten Übergriffe auf Einwohner Syriens, die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische politische Ansichten „im weitesten Sinn“ verträten, es seien „zahlreiche Protesteilnehmer, Aktivisten, Wehrdienstentzieher, Deserteure, Laienjournalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Ärzte und andere Personen, denen regierungsfeindliche Haltungen zugeschrieben wurden, willkürlich verhaftet worden“. Ein unterschiedsloses Vorgehen belegt auch der Hinweis, dass die International Crisis Group (ICG) den Einsatz von Luftschlägen durch die syrische Regierung als „Teil einer Strategie der verbrannten Erde und der kollektiven Bestrafung“ bezeichnet habe (S. 18).

80

Die SFH sprich in ihrer Stellungnahme ebenfalls von „Willkür“ (vgl. Überschrift Punkt 5.2) und weist unter Bezugnahme auf AI (Between Prison and the Grave, v. 5.11.2015) auf den „verbreiteten Opportunismus der syrischen Sicherheitsbeamten (hin), die entweder aus Profitgier oder aus persönlicher Rache Menschen verhaften und verschwinden lassen“. Der Verweis auf die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Bestechung zu arrangieren (im Korruptionswahrnehmungsindex steht Syrien an 173. Stelle von 176 untersuchten Ländern, UNHCR Fußnote 9), bestätigt die Annahme rein willkürlichen/wahllosen Verhaltens.

81

Gleiches ergibt sich aus dem vom IRB (v. 19.1.2016, S. 5) zitierten OHCHR-Report 2014, der zwar zunächst verschiedene, möglicherweise noch unterscheidbare in das Blickfeld des syrischen Staates geratene Gruppierungen nennt (u.a. activists, students, humanitarian workers), letztlich aber die Bedrohung unterschiedslos ausdehnt auf „those who were in the wrong place at the wrong time“.

82

Erfolgen etwaige Übergriffe aber unterschiedslos, so geschehen sie letztlich wahllos, mithin ohne Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund (vgl. hierzu, BVerwG, Beschl. v. 27.4.2017 - 1 B 63.17 -, juris, vgl. OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris, OVG d. Saarl., Urt. v. 11.3.2017 - 2 A 215/17 -, juris).“

83

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der UNHCR in seinem Bericht von November 2017 (G 35/17, insbesondere S. 35 ff.) nicht mehr erwähnt, dass aus dem Ausland zurückkehrenden syrischen Asylbewerbern allein aufgrund des im Ausland betriebenen Asylverfahrens beachtlich wahrscheinlich eine oppositionelle Haltung zugeschrieben werde. Auch das Auswärtige Amt spricht in seiner Stellungnahme vom 17. Oktober 2017 (Auskunft an VG Magdeburg, 2017/10) davon, dass die Willkür von Inhaftierungen, auch zum Erpressen von Lösegeld etc. extrem hoch sei.

84

b) Die Zugehörigkeit zum sunnitischen Glauben stellt zur Überzeugung des Senats keinen risikoerhöhenden Faktor dar, aufgrund dessen dem Kläger bei einer Rückkehr nach Damaskus beachtlich wahrscheinlich die Gefahr einer Verfolgung drohen würde, weil ihm deshalb eine regimefeindliche Haltung zugeschrieben werden würde.

85

Soweit der UNHCR in seiner Stellungnahme von November 2015 (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, G 15/15, S. 26) davon ausgeht, dass die Mitgliedschaft in religiösen Gruppen - darunter auch die Sunniten - ein gefahrerhöhendes Moment sein könne, kann dieses nicht generell gelten, sondern muss jeweils im regionalen Kontext und in der ggf. spezifischen Konfliktsituation beurteilt werden. Dies gilt zur Überzeugung des Senats gerade in Bezug auf Personen sunnitischen Glaubens, da knapp drei Viertel der syrischen Bevölkerung bei Ausbruch des Bürgerkriegs sunnitischen Glaubens waren und Angehörige des sunnitischen Glaubens innerhalb des Assad-Regimes hohe Stellungen einnehmen.

86

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der UNHCR in seiner Stellungnahme von November 2017 (G 35/17, S. 54 ff.) die Angehörigkeit zum sunnitischen Glauben nicht mehr als per se risikoerhöhenden Faktor ansieht und auch nicht als ein Merkmal, aufgrund dessen der Person regierungsfeindliche Absichten unterstellt werden (ebenso: VGH Mannheim, Urt. v. 9.8.2017, A 11 S 710/17, DVBl. 2017, 1317, juris Rn. 48). Vielmehr geht der UNHCR davon aus, dass die Verfolgungsgefahr für Mitglieder religiöser und ethnischer Gruppen von Region zu Region variiert und von den spezifischen Konfliktbedingungen der jeweiligen Region abhänge. Eine Verfolgungsgefahr ergebe sich insbesondere für Angehörige religiöser und ethnischer Gruppen, die aus Gebieten stammten, die von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden würden, so dass diesen abhängig von den individuellen Umständen des Einzelfalles der Flüchtlingsschutz zu gewähren sei. Hierunter fällt der Kläger als Sunnit nicht. Zu berücksichtigen ist dabei zudem, dass der Kläger seit 2013 bis zu seiner Ausreise in Damaskus gelebt hat. Dafür dass Sunniten in Damaskus wegen ihrer Religionszugehörigkeit durch das Assad-Regime verfolgt werden, liegen dem Senat keine Erkenntnisse vor.

87

c) Der Senat hat keine belastbaren Erkenntnisse, dass die tscherkessische Volkszugehörigkeit Anknüpfungspunkt für eine Verfolgung durch das Assad-Regime ist. Insoweit wird ergänzend auf die vorstehenden Ausführungen unter 2. Bezug genommen.

88

d) Das Gericht hat auch keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Herkunft des Klägers aus der Region Qunaitra, die ca. seit 2012 von der Freien Syrischen Armee gehalten wird, beachtlich wahrscheinlich Anknüpfungspunkt für eine Verfolgung durch das Assad-Regime ist, weil ihm deshalb eine regimefeindliche Haltung zugeschrieben werden würde. Hiergegen spricht bereits, dass die Familie des Klägers nach seinen eigenen Angaben 2013 nach Damaskus umgezogen ist und seitdem dort lebt, ohne in Schwierigkeiten mit dem Assad-Regime gekommen zu sein. Der Kläger ist nach seinem eigenen Vorbringen bis zu seiner (offiziellen) Ausreise über den Flughafen Damaskus zur Schule gegangen; insoweit geht das Gericht davon aus, dass er in Damaskus zur Schule gegangen ist (vgl. zur Herkunft aus Aleppo: VGH Mannheim, Urt. v. 9.8.2017, A 11 S 710/17, DVBl. 2017, 1317, juris Rn. 49). Auch seine Schwester hat in Damaskus gelebt und dort von 2013 - Mitte 2015 studiert.

89

e) Nach Ansicht des Senats begründet auch die Gesamtheit dieser Umstände keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung in Anknüpfung an die aufgeführten Umstände; insbesondere liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass beachtlich wahrscheinlich dem Kläger bei Rückkehr in Anknüpfung daran eine regimefeindliche Haltung unterstellt werden würde.

IV.

90

Eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung des Klägers in Anknüpfung an asylrechtlich erhebliche Merkmale wegen seines Auslandsaufenthalts im wehrdienstfähigen Alter konnte - auch in Verbindung mit den vorgenannten Umständen - zur Überzeugung des Senats nicht ermittelt werden. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse zu den Regelungen über den Wehr- und Militärdienst und die Praxis deren Umsetzung (1.) geht der Senat davon aus, dass der Kläger bisher nicht gegen Vorschriften des syrischen Rechts im Zusammenhang mit der Wehrpflicht verstoßen hat (2.). Aber auch wenn der Senat unterstellt, dass das Assad-Regime den Kläger aufgrund des längeren Aufenthalts im wehrdienstfähigen Alter bei einer hypothetischen Rückkehr wie einen Wehr- bzw. Militärdienstentziehber bzw. -verweigerer behandeln würde, bestehen zur Überzeugung des Senats keine hinreichenden Erkenntnisse, dass dem Kläger bei Rückkehr in Anknüpfung daran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen (3.) wegen flüchtlingsrechtlich erheblicher Merkmale (4.) drohen würden.

91

1. Zum Wehr- bzw. Militärdienst geht der Senat von Folgendem aus (soweit nicht besonders aufgeführt, liegen der Einschätzung folgende Erkenntnisquellen zugrunde: AA, v. 2.1.2017, 2017/1; Dt. Botschaft Beirut, Auskunft an das BAMF v. 3.2.2016, 2016/1; BFA, v. 5.1.2017, G 26/17; BFA, Fact Finding Mission Report Syrien v. August 2017, G 11/17; DOI, v. 1.2.2017, G 6/17; DOI, Auskunft an das OVG Schleswig v. 8.11.2016, G 3/16; Danish Refugee Council - DRC -, Syria v. August 2017, G 23/17; SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion v. 23.3.2017, G 19/17; SFH v. 21.3.2017, G 5/17; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, G 8/15; SFH, Syrien: Die National Defense Forces v. 28.3.2015, G 9/15; SFH, Syrien: Umsetzung der Amnestien v. 14.4.2015, G 10/15; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, v. 30.7.2014, G 3/14; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“ v. 20.10.2015, G 13/15; Finnische Einwanderungsbehörde, Syria: Military Service, National Defense Forces, armed groups supporting Syrian Regime and armed opposition, v. 23.08.2016, G 15/16; UNHCR, April 2017, G 7/17; UNHCR, November 2017, G 35/17):

92

In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht, die grundsätzlich für alle syrischen Männer unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund wie auch für Palästinenser, die in Syrien leben, gilt; auch Oppositionelle werden einberufen. Die Registrierung für die Wehrpflicht erfolgt im Alter von 18 Jahren. Nach Auskunft des BFA (08/2017, G 11/17, S. 18) sind junge Männer im Alter von 17 Jahren aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von mindestens 18 Jahren werden die Männer per Einberufungsbescheid zum Ableisten des Wehrdienstes aufgefordert. Zudem werden junge Männer an Kontrollstellen oder bei Razzien auf öffentlichen Plätzen (zwangs)rekrutiert (AA, 2.1.2017, 2017/1; BFA, 08/2017, G 11/17,S. 18; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 13,). Jeder Mann im Alter zwischen 18 und 42 Jahren ist verpflichtet, einen zweijährigen Militärdienst abzuleisten. Allerdings weisen einzelne Quellen darauf hin, wonach die Wehrpflicht in der Praxis in Einzelfällen bis zum 50. bzw. sogar bis zum 60. Lebensjahr ausgeweitet wird bzw. jeder Mann in einem im weitesten Sinne wehrfähigen Alter rekrutiert werden kann; daneben soll es auch zu Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen kommen (BFA, 08/2017, G 11/17, S. 18; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8; SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 5 ff.).

93

Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit gemacht. Zudem bestehen Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis 27 Jahre. Diese Regelungen gelten zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung. Für im Ausland lebende Männer gibt es z.T. die Möglichkeit, sich gegen Zahlung einer Geldkompensation vom Militärdienst zu befreien (vgl. BFA, 08/2017, G 11/17, S. 19 f.; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8 f.; SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 8).

94

Es besteht keine Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern bzw. zivilen Ersatzdienst zu leisten. Entlassungen aus dem Militärdienst sind nach den verwerteten Erkenntnisquellen seit dem Jahre 2011, dem Beginn der militärischen Auseinandersetzung, eher zur Ausnahme geworden; viele Wehrpflichtige sind über Jahre hinweg in der Armee tätig und oftmals wäre Desertion die einzige Möglichkeit, den Militärdienst zu beenden.

95

Gediente Wehrpflichtige müssen nach Beendigung des Wehrdienstes als Reservisten jederzeit abrufbar sein. In der Vergangenheit wurden alle Männer bis zum Alter von 42 Jahren als Reservisten geführt; aufgrund der prekären Personalsituation gibt es gegenwärtig kein festgesetztes Höchstalter für die Aktivierung von Reservisten mehr, vielmehr werden nach den vorliegenden Auskünften im Einzelfall - je nach Ausbildung und bisheriger Tätigkeiten für die Armee - Männer im Alter von bis zu 50 oder sogar 60 Jahren erneut zum Dienst verpflichtet.

96

Über die aktuelle Praxis der Rekrutierung wird berichtet (vgl. insgesamt zum Nachfolgenden: BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 23; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8, 13), dass es im Zeitraum von März 2016 bis März 2017 keine Generalmobilmachung gegeben hat. Jedoch wurden offenbar in verschiedenen Wellen die Bemühungen intensiviert, Wehrpflichtige und Reservisten einzuziehen; nach einigen Quellenangaben erfolgte dies deshalb, weil nur wenige Männer auf die Einberufung reagiert und sich zum Dienst eingefunden haben (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8). Die regulären Rekrutierungsmethoden würden immer noch angewendet werden, weil das Regime zeigen wolle, dass sich nichts verändert habe. So würden Rekrutierungsschreiben verschickt, wenn Männer das wehrfähige Alter erreichen. Es gebe aber auch Männer im wehrpflichtigen Alter, die frei in Syrien lebten (BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 23). Insgesamt sei schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Rekrutierung durch die syrische Armee tatsächlich durchgesetzt werde. In der syrischen Armee herrsche zunehmende Willkür und die Situation könne sich von einer Person zur anderen unterscheiden (BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 22). So wird über die im Land errichteten Kontrollstellen beispielsweise berichtet (UNHCR, April 2017, G 7/17, S. 24 ff.; UNHCR, Auskunft an VGH Kassel v. 30.5.2017, G 9/17, S. 2), dass an diesen in großem Maße Männer im wehrdienstfähigen Alter, die einen Einberufungsbescheid erhalten hätten, aber auch solche, bei denen dies noch nicht der Fall gewesen sei, eingezogen würden, während an anderer Stelle berichtet wird, an diesen würden massenhaft Bestechungsgelder verlangt (vgl. zur finanziellen Lage: Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017, S. 7, und Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 15 07 2017, S. 3, ca. 2000 Kontrollstellen; Truppendienst, Streitkräfte des Assad-Regimes, Februar 2017, S. 2: „... während die Armee Bestechungsgelder an Kontrollpunkten kassiert ...“).

97

Männer im Alter zwischen 18 und 42 Jahren dürfen seit März 2012 nur mit einer offiziellen Beglaubigung des Militärs, mit der bescheinigt wird, dass sie von der Wehrpflicht bzw. vom Militärdienst freigestellt sind, das Land verlassen; seit Herbst 2014 besteht darüber hinaus für Männer, die zwischen 1985 und 1991 geboren sind, ein generelles Ausreiseverbot. Jungen Männern vor Erreichen des 18. Lebensjahres wird die Ausreise erschwert, indem Reisepässe nur für eine kurze Gültigkeitsdauer ausgestellt werden (BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 24).

98

Neben den Streitkräften des Assad-Regimes, der Syrisch-Arabischen Armee (nachfolgend: syrische Armee), besteht eine Vielzahl von dem Assad-Regime treuen Milizen und Kampfverbänden, die vom Assad-Regime unterstützt werden. Sie werden von politischen Akteuren wie der Syrisch Arabischen Baath Partei, von Palästinensern, reichen Geschäftsmännern oder ethnischen Akteuren angeführt. Auch die verschiedenen Geheimdienste rekrutieren ihre eigenen paramilitärischen Gruppen. Die lokalen Verteidigungsmilizen sind oft nach Konfession organisiert und kämpfen, um ihre Herkunftsregion zu verteidigen (SFH v. 23.3.2017, G 19/17, S. 3). Das Assad-Regime hat mit der Unterstützung des Irans versucht, diese Milizen in den 2013 gegründeten Nationalen Verteidigungskräften (National Defense Forces, NDF) zu bündeln und unter die Kontrolle der syrischen Armee zu bringen. Dabei scheint es so zu sein, dass die NDF als Dachorganisation konzipiert wurde, unter dem regimefreundliche Milizen unter der Kontrolle der syrischen Armee organisiert wurden (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 15; BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 25). Die genaue Mannstärke der NDF ist nicht bekannt, Schätzungen reichen von 60.000 bis 100.000 Mitglieder. Kämpfer der NDF gelten als dem Regime loyaler als die Wehrdienstleistenden in der Armee. Indem man der NDF beitrete, könne man den Wehr- bzw. Militärdienst bei der syrischen Armee vermeiden und den Einsatzort besser beeinflussen. Der Beitritt zu den NDF sei grundsätzlich freiwillig, allerdings solle es auch Zwangsrekrutierungen gegeben haben. Daneben gibt es auch Hinweise, dass das Assad-Regime versucht, Männer in den Militärdienst einzuziehen, die sich gemäß ihrem Versprechen anstelle des Militärdienstes bereits einer lokalen Miliz angeschlossen haben (vgl. BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 25 f.; SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 3, 6). Die NDF unter der Führung des Assad-Regimes sollen 2016 weitgehend auseinandergebrochen sein. Da die paramilitärischen Gruppen von unterschiedlichen Geldgebern mit eigenen Zielen geführt wurden, ist es auch zu direkten Konfrontationen mit dem Assad-Regime gekommen (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 3; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 15). Aktuell wird berichtet, dass den Milizen der NDF etwa 100.000 Männer angehören, die mit der syrischen Armee kämpfen, diese Milizen jedoch inzwischen durch den Iran bezahlt werden und unter deren Befehlsgewalt eingegliedert sind (vgl. Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017, S. 7). Hinzu kommen Lokale Verteidigungskräfte (LDF), die Teil der vom Iran finanzierten und kontrollierten Hisbollah/Syrien sein sollen, die vom Assad-Regime als „Mitglieder der syrischen Streitkräfte“ angesehen werden, obwohl diese nicht unter dem Kommando des Assad-Regimes stehen (vgl. Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017, S. 7).

99

Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. AA, 2.1.2017, 2017/1; Dt. Botschaft Beirut, 3.2.2016, 2016/1; SFH, 30.07.2014, G 3/14; SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 8 f.). Nach dessen Artikel 98 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Artikel 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Berichten zufolge kann auch ein Wehrdienstentzug durch illegale Ausreise von nicht gemusterten bzw. nicht einberufenen Wehrpflichtigen mit Geldbuße oder Gefängnis bestraft werden (AA, 02.01.2017, 2017/1, S. 5).

100

Die Umsetzung der Bestrafung scheint willkürlich zu sein (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 10 f.). Insoweit gibt es einerseits Stellungnahmen, dass zurückkehrenden Wehrdienstpflichtigen Haft, Folter, Misshandlungen, Einsatz an der Front sowie dauerhaftes Verschwinden bzw. Tod drohe (vgl. DOI, 8.11.2016, G 3/16, wonach bei Wehrdienstentziehung eine harte Strafe bis hin zu Todesstrafe, aber oft auch Folter drohe; Dt. Botschaft Beirut, 3.2.2016, 2016/1, wonach im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst Fälle von Haft oder dauerndem Verschwinden bekannt geworden seien; IRB Canada, 19.1.2016, G 5/16, wonach Wehrdienstpflichtige eine sehr vulnerable Gruppe darstellen; Danish Refugee Council, SYRIA, Update on Military Service, September 2015, G 11/15, S. 18, wonach das syrische Regime bei Wehrdienstentziehung mit Einberufung nach Arrest, Einsatz an der Front, Bestrafung, Misshandlung reagiert; SFH v. 28.3.2015, G 8/15, wonach es bei ergriffenen Wehrdienstverweigerern in der Haft zu Folter komme). Andererseits wird aber auch berichtet, dass die Bestrafung häufig von der Position und dem Rang des Betreffenden, seinem Profil, aber auch dem Bedarf an der Front abhänge (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 10). Weiter wird ausgeführt, dass einige der Verhafteten zwar zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen würden, andere aber lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt würden (SFH, 28.3.2015, G 8/15; BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 27). Das DRC berichtet unter Berufung auf verschiedene Quellen, u.a. C. Kozak (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 13 f., Fn. 62), dass Wehrdienstentzieher, wenn sie aufgegriffen werden, riskieren in den Militärdienst gesandt zu werden, während Deserteuren härtere Strafen drohten, wie z.B. Haft oder Todesstrafe. Der UNHCR (11/2017, G 35/17, S. 39 unten/S. 40 oben) führt hierzu aus, dass unabhängige Beobachter bemerken, dass Wehrdienstentziehung von der Regierung wahrscheinlich als politischer, gegen die Regierung gerichteter Akt betrachtet werde, der zu einer Bestrafung führen könne, die über die strafrechtlich vorgesehenen Sanktionen hinausgehe, einschließlich härterer Behandlung bei der Inhaftierung, während der Haft und Befragungen sowie während des militärischen Einsatzes, wenn sie wieder eingesetzt werden. In der Praxis würden Berichten zufolge Wehrdienstentzieher aber eher, als dass sie nach dem Militärstrafgesetzbuch bestraft würden, innerhalb von Tagen oder Wochen nach ihrer Verhaftung an die Front geschickt, oft nach nur minimaler Ausbildung. Nach anderen Berichten gebe es aber auch Deserteure, die nachdem sie wieder aufgegriffen worden seien, in den Militärdienst bzw. an die Front geschickt worden seien (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 14 mit Fn. 67 - 69). Insgesamt ist die Zahl der Wehr- bzw. Militärdienstverweigerer sehr hoch (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 13; UNHCR, 30.5.2017, G 9/17, S. 2; UNHCR, April 2017, G 7/17, Fn. 117). Nicht in jedem Einzelfall würden Nachforschungen betrieben (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 13).

101

2. Der Kläger konnte den Senat nicht davon überzeugen, dass er durch seine Ausreise und seinen Auslandsaufenthalt gegen Vorschriften des syrischen Strafrechts verstoßen hat, weil er sich dem Militärdienst entzogen habe.

102

a) Eine Entziehung von der Wehrpflicht setzt nach den vorstehenden Ausführungen voraus, dass der Kläger einen Einberufungsbescheid erhalten hat. Der Umstand, dass der Kläger sein Wehrbuch nicht abgeholt hat, ist insoweit nicht ausreichend. Nach seinem Vorbringen hat der Kläger bis zu seiner Ausreise keinen Einberufungsbescheid erhalten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger erklärt, seinen Eltern sei nach seiner Ausreise kein Einberufungsbescheid zugegangen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hat er dies nicht weiter ergänzt.

103

b) Angesichts des Umstandes, dass der Kläger am 6. Januar 2016 Syrien über den Flughafen Damaskus legal verlassen hat, geht der Senat zudem davon aus, dass der Kläger vom Militärdienst freigestellt war. Zum Zeitpunkt der Ausreise war der Kläger bereits 18 Jahre alt. Nach den vorstehend genannten Quellen ist eine legale Ausreise für Männer ab 18 Jahren nur mit Genehmigung der Militärbehörden möglich. Am Flughafen Damaskus finden umfangreiche Personen- und Grenzkontrollen statt, so dass eine illegale Ausreise nahezu unmöglich sein dürfte (vgl. AA, Auskunft an VG Trier v. 12.10.2016, 2016/5). Soweit der Kläger in der Befragung bei dem Bundesamt berichtet hat, dass er am Flughafen in Damaskus von Kontrollbeamten befragt worden sei, ob er sich der Wehrpflicht entziehen wolle, und er dies verneint habe und man ihn dann habe passieren lassen, ist dies für das Gericht nicht glaubhaft. Die Schilderung ist detailarm und erfolgte erst auf Nachfrage, obwohl dies für den Kläger auch angesichts der drohenden Verhaftung eine sehr prekäre Situation gewesen sein muss. Soweit der Kläger seinen Vortrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht bekräftigt und ergänzt sowie mit der Aussage seiner Schwester harmonisiert hat, die erklärt hat, der Kläger habe sich am Flughafen nicht geäußert, ist auch diese Aussage zur Überzeugung des Berufungsgerichts nicht glaubhaft. Hinsichtlich der Frage, wann der Reisepass von den syrischen Beamten gestempelt worden ist, ist sie zudem in sich widersprüchlich und auch deshalb unglaubhaft. Beide Aussagen widersprechen der oben ausgeführten Faktenlage, wonach bei der Ausreisekontrolle - gerade auch am Flughafen Damaskus - gezielt überprüft wird, ob eine ggf. notwendige Genehmigung der Militärbehörden vorliegt.

104

Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zudem erklärt hat, dass er keine Bestechungsgelder für seine Ausreise geleistet hat, geht der Senat davon aus, dass der Kläger von der Wehrpflicht freigestellt war, da er nur so Syrien legal verlassen konnte. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht Gegenteiliges behauptet hat, hält der Senat dies angesichts der vorstehenden Ausführungen nicht für glaubhaft.

105

c) Es ist auch nicht zu erkennen, dass der Kläger das Land entgegen den gesetzlichen Bestimmungen verlassen hat, ohne eine Adresse hinterlassen zu haben, unter der er erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzogen hat. Der Senat geht vielmehr davon aus, dass der Kläger bis zu seiner Ausreise bei seinen Eltern in Damaskus wohnhaft und den syrischen Militärbehörden dies auch bekannt war. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger dort offiziell gemeldet war, haben die syrischen Behörden mit dem Kläger in Hinblick auf die Abholung seines Wehrbuches Kontakt gehabt. Dass der Kläger hierbei nicht seine Wohnadresse in Damaskus genannt haben will, erscheint nicht nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass die gesamte Familie Anfang 2016 seit mehr als zwei Jahren in Damaskus gelebt hat. Zudem ist der Kläger dort zur Schule gegangen, seine Schwester hat nach ihren Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt dort am 10. November 2013 ihr Studium aufgenommen sowie ca. 18 Monate in Damaskus studiert und sein im Ruhestand befindlicher Vater wird dort seine Rente bezogen haben. Dies legt es nahe, dass die Familie des Klägers sich dort auch offiziell angemeldet hat und der Kläger in der Anhörung vor dem Bundesamt zutreffend erklärt hat, seine letzte offizielle Wohnanschrift sei die in Damaskus benannte Anschrift gewesen, wie dies im Protokoll der Anhörung niedergelegt ist. Soweit der Kläger demgegenüber in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erklärt hat, bei der Anhörung vor dem Bundesamt sei nur nach der letzten Wohnanschrift, nicht aber nach der letzten offiziellen Anschrift gefragt worden, erscheint dies nicht glaubhaft. Hiergegen sprechen die zuvor genannten Umstände.

106

3. Aber auch wenn der Senat unterstellt, dass das Assad-Regime den Kläger aufgrund des längeren Auslandsaufenthalts im wehrdienstfähigen Alter bei einer hypothetischen Rückkehr wie einen Wehr- bzw. Militärdienstentzieher behandeln würde, der der Einberufung nicht gefolgt ist, ohne Genehmigung des Militärs das Land verlassen hat und keine Adresse hinterlassen hat, unter der er für die Militärbehörden erreichbar ist, lässt sich nach Ansicht des Senats den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht hinreichend verlässlich entnehmen, dass dem Kläger beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründen, insbesondere wegen einer unterstellten Regimegegnerschaft, droht. Insoweit kann nicht beachtlich wahrscheinlich festgestellt werden, dass dem Kläger eine Bestrafung bzw. Inhaftierung (nachfolgend a)) droht und ihm insoweit eine regimefeindliche Haltung unterstellt werden würde (nachfolgend b)). Ebenso liegen keine hinreichenden Erkenntnisse dazu vor, dass dem Kläger sonstige Verfolgungshandlungen wie eine härtere Behandlung während des Militärdienstes oder ein unmittelbarer Fronteinsatz aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründen droht (nachfolgend c)). Die dem Kläger drohende Rekrutierung erfolgt ebenfalls nicht in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe.

107

a) Den Erkenntnisquellen lassen sich zur Überzeugung des Senats keine Anhaltspunkte in hinreichender Dichte dafür entnehmen, dass der Kläger bei der gedanklich zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien bestraft bzw. inhaftiert werden würde, selbst wenn das Assad-Regime dem Kläger die Erfüllung der Straftatbestände der Wehrdienst- bzw. Militärdienstentziehung unterstellen würde. Insoweit liegen uneinheitliche Erkenntnisse darüber vor, ob einem Wehrdienst- bzw. Militärdienstentzieher allein eine Einziehung zum Wehrdienst und ein Militäreinsatz oder allein oder zusätzlich eine Inhaftierung bzw. ein Strafverfahren droht; es scheint eher wahrscheinlich zu sein, dass diesen Personen allein eine Einziehung zum Wehr- bzw. Militärdienst droht. Gleichzeitig lassen sich den Erkenntnisquellen nicht in hinreichender Dichte Verfolgungsfälle - d.h. konkrete Berichte über Fälle und Anzahl von Inhaftierung und ggf. Misshandlungen aufgrund von Wehr- bzw. Militärdienstentziehung - entnehmen, die im Verhältnis zu den erheblichen Rekrutierungsanstrengungen des Assad-Regimes z.B. an im Land errichteten Kontrollpunkten als ins Gewicht fallend angesehen werden können.

108

aa) Die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen beurteilen die Folgen einer Entziehung vor dem Wehrdienst bzw. Militärdienst uneinheitlich. Ihnen lassen sich zudem keine hinreichenden Fakten dafür entnehmen, dass (ggf. zurückkehrenden) Wehr- bzw. Militärdienstdienstverweigerern beachtlich wahrscheinlich eine Bestrafung und/oder Inhaftierung droht, sofern keine weiteren individuellen Anhaltspunkte auf eine Regimegegnerschaft hindeuten.

109

Berichte zu aus dem Ausland zurückkehrenden Personen, die sich durch Ausreise dem Wehrdienst bzw. dem Militärdienst entzogen haben, liegen nicht vor. Auch aufgrund der Erkenntnisse zu den in Syrien aufgegriffenen Wehr- bzw. Militärdienstentziehern hat der Senat keine hinreichend belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass diesen beachtlich wahrscheinlich Inhaftierung und Misshandlung droht.

110

(1) Der UNHCR führt in seiner Stellungnahme von November 2017 (G 35/17, S. 40, Fn. 227 unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des UNHCR von Februar 2017) sowie vom 30. Mai 2017 (G 9/17, S. 2) aus, dass Berichten zufolge in der Praxis Wehr- bzw. Militärdienstentziehern eher als strafrechtliche Sanktionen (Inhaftierung) nach dem Militärstrafgesetz innerhalb von Tagen bzw. Wochen nach ihrer Festnahme ein Einsatz an vorderster Front droht, oft nur mit einer minimalen Ausbildung. In der deutschen Übersetzung von April 2017 (G 7/17, S. 23 und Fn. 113) der in Bezug genommenen Stellungnahme vom Februar 2017 heißt es, dass berichtet werde, dass Wehrdienstentzieher in der Praxis festgenommen und unterschiedlich lange inhaftiert würden und danach in ihrer militärischen Einheit Dienst leisten müssten. Aus Berichten gehe hervor, dass sie während der Haft dem Risiko von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt seien. Als Referenz wird eine Anwältin von Human Rights Watch (HRW) mit der Äußerung zitiert, HRW wisse, dass Menschen in Syrien aufgrund ihrer Weigerung, in der Armee zu dienen, inhaftiert seien. Zudem wird ein Bericht von Al Jazeera vom Juni 2016 angeführt, wonach mögliche Folgen für Wehrdienstentzieher umgehende Einziehung nach der Festnahme, Einsatz an vorderster Front, Untersuchung und Folter und/oder Inhaftierung seien. Welche Konsequenz(en) die Wehrdienstentziehung habe, könne vom Profil der betreffenden Person, ihren Verbindungen und dem Gebiet abhängen. Wenn die Behörden die betreffende Person verdächtigten, Verbindungen zu Oppositionsgruppen zu haben, dann würden Ermittlungen und Misshandlungen, einschließlich Folter folgen.

111

Der Bericht von Al Jazeera deutet eher darauf hin, dass eine Inhaftierung mit Misshandlung und Folter droht, wenn aufgrund weiterer Umstände von einer oppositionellen Haltung ausgegangen wird. Ob dies auch den von der Anwältin von HRW zitierten Fällen zugrunde liegt, lässt sich dem Zitat nicht entnehmen; dies kann der Senat nicht ausschließen. Dem Bericht ist nicht zu entnehmen, auf welche Faktenlage er gestützt ist. Eine zahlenmäßige Größenordnung, die für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von Inhaftierung und Folter insbesondere angesichts der Tatsache, dass Wehrdienstentziehung in Syrien weit verbreitet ist, sowie angesichts der nachstehend unter bb) aufgeführten Erwägungen notwendig wäre, kann dem Bericht nicht entnommen werden.

112

Soweit ein Einsatz an vorderster Front innerhalb von wenigen Tagen und Wochen nach der Festnahme berichtet wird, führt der UNHCR in seiner Stellungnahme von April 2017 an anderer Stelle (vgl. G 7/17, S. 25 und Fn. 122) aus, dass es gängige Praxis sei, Wehrpflichtige und Reservisten nach begrenzter oder ganz ohne militärische Ausbildung an den Frontlinien einzusetzen. Als Referenz wird in der Fußnote 122 der Syrienexperte des Institute for the Study of War (ISW), Herr Kozak, zitiert, wonach Reservisten fast grundsätzlich an die vorderste Front und neu eingezogene Wehrdienstleistende fast ohne Ausbildung in den Kampf geschickt würden. Angesichts dessen kann nicht beachtlich wahrscheinlich festgestellt werden, dass Militärdienstentzieher nach ihrer Festnahme härter behandelt werden als Personen, die der Einberufung zum Wehrdienst bzw. der Einberufung als Reservist gefolgt sind (vgl. zum sog. Politmalus: BVerfG, Beschl. v. 29.4.2009, 2 BvR 78/08, juris Rn. 18 m.w.N.; BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017, 1 B 22.17, juris Rn. 14).

113

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Inhaftierung ergibt sich auch nicht aus der Stellungnahme von Herrn Kozak, die in der Stellungnahme des UNHCR von November 2017 sowie vom 30. Mai 2017 wiedergegeben wird (UNHCR, 11/2017, G 35/17, S. 40, Fn. 226 - E-Mail v. C. Kozak v. 6.10.2017; UNHCR, 30.5.2017, G 9/17, S. 3 Fn. 14 - E-Mail v. C. Kozak v. 18.5.2017 -, vgl. auch S. 6, E-Mail v. 24.5.2017). Herr Kozak wird dahingehend zitiert, er habe Berichte gehört, dass das Verhalten eingezogener Wehrdienstentzieher durch Militäroffiziere und andere Offizielle als verräterisch und regierungsfeindlich angesehen würde. In der Stellungnahme des UNHCR vom 30. Mai 2017 (G 9/17, S. 6) wird er dahingehend zitiert, dass die Regierung in der Praxis aufgrund des anhaltenden Bedarfes an Streitkräften ein begrenztes Interesse daran zeige, Wehrdienstentzieher den geltenden rechtlichen Sanktionen zu unterziehen. Anstatt langjähriger Gefängnisstrafen scheine die rasche Einberufung in den Wehrdienst die bevorzugte Reaktion auf Wehrdienstentziehung zu sein und zwar selbst bei Personen, die in Regionen wohnten, die zuvor unter der Kontrolle von Oppositionsgruppen gestanden hätten. Die meisten Wehrdienstentzieher befänden sich daher vermutlich nicht für lange Zeit im Strafverfolgungssystem. Die brutalen Bedingungen der Einziehung zum Militärdienst mit haftähnlicher Internierung auf Militärstützpunkten und minimalem Training vor dem Fronteinsatz blieben jedoch bestehen. Den Äußerungen ist nicht zu entnehmen, auf welcher Faktenlage sie beruhen, ob es sich um eine wertende Einschätzung handelt oder diesen Äußerungen Erkenntnisse über entsprechende Inhaftierungen und ggf. in welcher Größenordnung bzw. unter welchen Umständen zugrunde liegen. Die Angabe einer die Einschätzung stützenden Faktenlage ist zur Überzeugung des Gerichts auch angesichts der nachfolgend unter bb) ausgeführten Erwägungen - insbesondere des hohen Personalbedarfs des Assad-Regimes - notwendig, die dafür sprechen, dass Wehrdienstentzieher nach einer Festnahme ohne vorangegangenes Strafverfahren oder Strafhaft umgehend zum Militärdienst eingezogen werden, d.h. auf Militärbasen verbracht, dort ausgebildet und dann an der Front eingesetzt werden.

114

Die weiteren vom UNHCR in der Stellungnahme vom 30. Mai 2017 (G 9/17, S. 6 f.) genannten Referenzquellen (J. Landis, R. Davis und L. Fakih) gehen nach ihrem Verständnis des Assad-Regimes bzw. auf der Grundlage von nicht näher genannten Interviews davon aus, dass Wehrdienstverweigerung als regierungsfeindlich angesehen werde. Den Äußerungen lässt sich - soweit es sich nicht nur um Wertungen handelt - keine Faktengrundlage entnehmen.

115

Die vom UNHCR genannten zusätzlichen Risikofaktoren knüpfen an eine vermutete Regimegegnerschaft an. Anhaltspunkte ergeben sich insoweit in Bezug auf den Kläger nicht. Aus der Region Qunaitra ist er mit seinen Eltern nach Damaskus und somit in ein von dem Assad-Regime kontrolliertes Gebiet geflohen. Seine Eltern leben dort nach den Angaben des Klägers unbehelligt. Soweit die Stellungnahme des UNHCR dahin zu verstehen sein sollte, dass sich allein die Stellung eines Asylantrages bzw. die Registrierung als Flüchtling risikoerhöhend auswirkt, vermag der Senat dies - wie unter III. ausgeführt sowie angesichts der Zahl von ca. 6,5 Mio. Flüchtlingen - nicht zu teilen. Wie ausgeführt fehlen belastbare Erkenntnisse über den Umgang des Assad-Regimes mit zurückkehrenden syrischen Staatsangehörigen im wehrdienstfähigen Alter.

116

(2) Das DRC (08/2017, G 23/17, S. 13 unter Hinweis auf C. Kozak) geht davon aus, dass die individuelle Verfolgung von einzelnen Personen, die sich dem Wehrdienst bzw. dem Militärdienst entzogen hätten, auch angesichts der Vielzahl derjenigen, die der Einberufung nicht gefolgt seien, nicht im Vordergrund stehe. Weiter wird dort (S. 13 f., Fn. 62) unter Berufung auf C. Kozak und andere Quellen ausgeführt, dass Wehrdienstentzieher, wenn sie festgenommen werden, riskieren zum Militärdienst eingezogen zu werden, während Deserteuren eher schwerere Konsequenzen drohen, wie Inhaftierung (imprisonment) oder die Todesstrafe.

117

(3) Das Auswärtige Amt (2.1.2017, 2017/2, S. 2 f.) berichtet über Befragungen von Rückkehrern aus dem Ausland durch Sicherheitsdienste sowie, dass die Sicherheitsdienste im rechtsfreien Raum agieren würden; es führt jedoch gleichzeitig aus, dass zu einer systematischen Anwendung von schwerwiegenden Eingriffen bei derartigen Befragungen keine Erkenntnisse vorlägen. Zur speziellen Verfolgungsgefahr für zurückkehrende Wehrdienstentzieher äußert sich das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 13. September 2017 an das VG Köln (2017/9, S. 1). Es führt aus, dass über die Exekution von desertierten Soldaten berichtet werde, sowie über willkürliche Verhaftungen von Männern, die sich nicht ausweisen könnten und aus umkämpften Gebieten geflohen seien. „Dies gilt auch für Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich dem Militärdienst entzogen haben“. Selbst wenn sich diese Äußerung nicht nur auf willkürliche Verhaftungen, sondern auch auf die Exekution beziehen sollte, ist diese nicht weiter belegte Äußerung auch angesichts der gegenteiligen Erkenntnisse, dass die Rekrutierung von Wehrpflichtigen im Vordergrund stehe, nicht belastbar.

118

In der Auskunft der deutschen Botschaft Beirut (3.2.2016, 2016/1, S. 1) wird von Fällen berichtet, bei denen Rückkehrer befragt, zeitweilig inhaftiert und dauerhaft verschwunden seien. Dies stehe aber überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten. Der erkennende Senat geht - wie nachfolgend unter b. ausgeführt - nicht davon aus, dass Wehrdienstentziehern allein aufgrund der Wehrdienstentziehung eine Regimegegnerschaft zugeschrieben wird.

119

(4) Das Deutsche Orient-Institut führt in seiner Auskunft vom 8. November 2016 (G 3/16, S. 1, 2) zwar aus, dass wenn die Ausreise u.a. dem Zweck gedient habe, sich dem Wehrdienst zu entziehen, dies eine harte Bestrafung nach sich ziehe. Dem stehen aber die anders lautenden neueren Stellungnahmen des UNHCR entgegen, wonach derzeit die Einziehung zum Militärdienst im Vordergrund stehe. Zudem führt das DOI aus, dass die ihm zur Verfügung stehende Datenlage aufgrund der aktuellen Lage in Syrien hinsichtlich behördlicher Aktivitäten und Vorgehensweisen des syrischen Staates nicht immer belastbar sei.

120

(5) Das Immigration and Refugee Board of Canada (IRB Canada) berichtet in seiner Stellungnahme vom 19. Januar 2016 (G 5/16, S. 8 f. dt. Übersetzung) von einer Gefährdung nicht gedienter Männer bei Einreise über die Flughäfen. Es bleibt aber unklar, auf welcher Faktenlage die benannten Referenzquellen (CIVIC, Executive Direktor, Emeritus Professor) zu der Einschätzung gekommen sind und ob es bei den inhaftierten Personen weitere Anhaltspunkte für eine mögliche oppositionelle Einstellung oder die Zuschreiben einer regimefeindlichen Einstellung gab. An anderer Stelle wird im Bericht ausgeführt (G 5/16, S. 5 dt. Übersetzung), dass es nur „limitierte“ Informationen bezüglich der Behandlung von syrischen Rückkehrern seit 2011 gebe bzw. es „sehr schwer“ sei, Informationen über die Behandlung von Rückkehrern durch Grenzbeamte zu erhalten, da die Presse darüber nicht berichten könne. Jedoch habe man bruchstückhafte Darlegungen von Syrern in Damaskus gehört, von Leuten, die nach Syrien zurückgekehrt und dann verschwunden seien; in manchen Fällen hätten sie auch Verwandten von ihren Plänen zurückzukehren berichtet, sie seien dann aber niemals angekommen und hätten auch nicht mehr erreicht werden können. Eine Frau habe berichtet, dass im Juni 2012 zwei Verwandte verhaftet und verschwunden seien, als sie nach Syrien zurückgekehrt seien. Derartige vereinzelte Referenzfälle können angesichts der Vielzahl von Wehrdienstentziehern nach Ansicht des Senats nicht als ausreichende Faktenlage für die Annahme einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung dienen.

121

(6) Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (21.3.2017, G 5/17, S. 8) zitiert im Wesentlichen den Bericht des IRB Canada vom 19. Januar 2016 (G 5/16, S. 8 f. dt. Übersetzung), wonach Männer im wehrdienstfähigen Alter besonderes gefährdet seien, Opfer von Misshandlungen zu werden. Auf die vorstehenden Ausführungen unter (5) zu dieser Stellungnahme wird Bezug genommen.

122

(7) Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 27) führt unter Berufung auf den Danish Immigration Service aus, dass ein Wehrdienstverweigerer, der aufgegriffen würde, zum Dienst in der Armee geschickt werden könnte. Die Konsequenzen hingen jedoch vom Profil und den Beziehungen der Person ab. Wenn es eine Verbindung zu einer oppositionellen Gruppe gebe, wären die Konsequenzen ernster. Im Bericht des BFA von August 2017 (G 11/17, S. 20 und Fn. 51) geht dieses unter Berufung auf Interviews mit einer europäischen diplomatischen Quelle in Beirut am 18.5.2017 sowie vom selben Tag mit Lama Fakih davon aus, dass bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung die Meinungen der Quellen auseinandergingen. Während die einen darin eine „Foltergarantie“ und ein „Todesurteil“ sähen, würden andere sagen, dass Verweigerer sofort eingezogen würden.

123

bb) Zudem begründen die nachfolgenden Erwägungen Zweifel daran, dass zurückkehrenden Wehrdienstverweigerern beachtlich wahrscheinlich eine Bestrafung und/oder Inhaftierung droht, wenn keine individuellen Anhaltspunkte auf eine Regimegegnerschaft hindeuten.

124

(1) Die syrische Armee ist personell erheblich geschwächt, so dass ein hoher Personalbedarf an einsatzbereiten Soldaten besteht.

125

Die syrische Armee ist durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen deutlich geschwächt und hat einen Mangel an Soldaten zu verzeichnen. Es wird berichtet (BFA, 5.1.2017, G 26/17, S. 23; DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8,), dass viele Männer ihrer Einberufung nicht Folge leisten. Berichten zufolge sollen die kampffähigen Truppen der syrischen Armee von ehemals 300.000 Soldaten auf ca. 125.000 bis 175.000, nach einer Angabe sogar auf aktuell 25.000 - 30.000 Soldaten reduziert sein, da sich das Assad-Regime finanziell mehr nicht leisten könne (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 2; Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017, S. 7; vgl. zum Zerfall der Armee auch: Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 15 07 2017, S. 3; Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 19 04 2017, S. 2, 9, 13). Bereits im Jahr 2014 soll das Assad-Regime nur noch über 100.000 Soldaten verfügt haben (UNHCR, 30.5.2017, G 9/17, S. 2, Fn. 7 unter Verweis auf C. Kozak), von denen nur 30.000 - 40.000 tatsächlich in der Lage gewesen seien, militärische Operationen durchzuführen (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 2); im November 2016 soll die syrische Armee nur noch über 50.000 Soldaten verfügt haben (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 2). Daneben besteht - wie bereits ausgeführt - eine Vielzahl von regierungstreuen Milizen.

126

Russland versucht seit Beginn seiner Intervention in Syrien im September 2015, die syrischen Sicherheitsapparate und die syrische Armee zu stärken. So sollten auf Initiative Russlands mit neuen Kommandostrukturen die paramilitärischen Gruppen unter die Kontrolle der syrischen Armee gebracht werden; dazu sollen im Oktober 2015 bzw. November 2016 das IV. Angriffskorps (Fourth Storming Corps - Latakia) bzw. das V. Angriffskorps (Fifth Storming Corps - Damaskus) gegründet worden sein. Im IV. Angriffskorps sollten lokale Milizen und reguläre syrische Einheiten vereint werden; dieser Ansatz konnte nicht umgesetzt werden. Im V. Angriffskorps sollen Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, Deserteure und Beamte aufgeboten werden, um unter der gemeinsamen Führung der syrischen Armee, der Hisbollah und Russlands zu kämpfen (DRC v. 08/2017, G 23/17, S. 8; SFH v. 23.3.2017, G 19/17, S. 4; Truppendienst, Streitkräfte des Assad-Regimes, v. 15.2.2017).

127

Der Zerfall der syrischen Armee scheint sehr weitgehend zu sein; so soll diese im Wesentlichen nur noch aus der Division der Republikanischen Garde und der 4. Panzerdivision bestehen, die beide fast ausschließlich aus Alawiten bestehen, die unterstützt werden durch dem Assad-Regime treue unter verschiedenen Kommandos stehende syrische Milizen. Zugleich berichten verschiedene Quellen, dass inzwischen die syrische Armee in große Militäroperationen nur zu einem Bruchteil involviert sei. In solchen verlasse sich das Assad-Regime auf eine Mischung aus Elite-Einheiten, loyalen Milizen und ausländischer Unterstützung, insbesondere die iranischen „Islamischen Revolutionsgarden“ (IRGC), afghanische und irakische schiitische Milizen und die libanesischen Hisbollah-Milizen. Diejenigen Einheiten, in denen Wehrpflichtige überwiegend eingesetzt würden, seien daran nicht beteiligt (DRC v. 08/2017, G 23/17, S. 9; Truppendienst, Streitkräfte des Assad-Regimes, v. 15.2.2017; vgl. zur Unterstützung durch iranische und russische Kampfverbände sowie von durch den Iran gestützte schiitische Milizen aus dem Irak und Libanon: Gerlach, Herrschaft über Syrien, 2015, S. 215 ff. [zu schiitischen Milizen aus dem Irak], S. 237 ff. [zu libanesischen Hisbollah-Milizen], S. 257 ff. [zu iranischen Truppen und Milizen], S. 282 ff. [zum Einfluss Russlands]; IFK, Fact Sheet Syrien Nr. 63, Internationales Konflikt- und Krisenmanagement sowie Militärische Entwicklungen; IFK, Fact Sheet Syrien Nr. 61, Internationales Konflikt- und Krisenmanagement; IFK, Fact Sheet Syrien & Irak, Jahresrückblick 2016, v. 31.1.2017, Internationales Konflikt- & Krisenmanagement, Syrien; Streitkräfte des Assad-Regimes, v. 15.2.2017; Truppendienst, Der syrische Bürgerkrieg - Update 06 12 2017, S. 5 ff., Update 15 07 2017, S. 3 f., Update 19 04 2017, S. 2 f., 9, 13, Update 15 02 2017, S. 7 f., Update 15 12 2016, S. 2).

128

(2) Gleichzeitig hat das Assad-Regime verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die in der Armee entstandenen Lücken wieder zu schließen. Zum einen werden Verhaftungen von Deserteuren und von Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, sowie Zwangsrekrutierungen berichtet (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 2). Darüber hinaus wird berichtet, dass das Assad-Regime bei Kapitulationsverhandlungen über Gebiete, die von der Opposition besetzt waren, verlange, dass die jungen Männer der Region in die syrische Armee eintreten. So sollen nach der Eroberung von Ost-Aleppo 5000 Männer in den Wehrdienst eingezogen worden sein. Selbst Häftlinge sollen unter Druck gesetzt werden, in die syrische Armee einzutreten (vgl. SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 7). Andererseits versucht das Assad-Regime, mit Amnestien und der Erhöhung des Soldes Anreize für den Eintritt in den Militärdienst zu schaffen (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 3, 12; BFA, 08/2017, G 11/17, S. 23). Dem Bestreben des Assad-Regimes nach einer Erhöhung der Zahl seiner Militärangehörigen durch Rekrutierung würde es auch angesichts der Berichte darüber, dass den Einberufungen im großem Umfang (nach Angaben der SFH sollen zwischen 70.000 - 110.000 Soldaten desertiert sein oder sich dem Wehrdienst entzogen haben) nicht Folge geleistet wird (DRC, 08/2017, G 23/17, S. 8; SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 2), zuwider laufen, wenn die so rekrutierten Soldaten zunächst inhaftiert, misshandelt und im schlimmsten Fall getötet würden.

129

Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass ein hoher Vertreter des Militärs eine harte Bestrafung der Zurückkehrenden angekündigt hat (Spiegel v. 11.9.2017, Assads Top-General droht Flüchtlingen). Es handelt sich um eine einzelne Äußerung, bei der schon fraglich ist, ob die Person für das Assad-Regime sprechen kann.

130

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach Ansicht des Senats bei der erforderlichen Prognose zudem zu berücksichtigen ist, dass nach Angaben des UNHCR (v. 13.12.2017, G 36/17) insgesamt mehr als 5,4 Millionen Syrer als Flüchtlinge in den Ländern Türkei (3,38 Mio.), Libanon (ca. 1 Mio.), Jordanien (ca. 655 T.), Irak (ca. 247 T.), Ägypten (ca. 126 T.) und in Nordafrika (ca. 30 T.) registriert waren. Hinzu kommen ca. 1 Mio syrische Flüchtlinge, die ins westliche Europa geflüchtet sind. Allein unter den vom UNHCR erfassten 5,4 Mio. Flüchtlingen befinden sich ca. 25 % männliche Flüchtlinge im Alter zwischen 18 und 59 Jahren. Bei der nach Ansicht des Gerichts prognostisch zu unterstellenden Rückkehr einer Vielzahl dieser Flüchtlinge nach Syrien ist nach Auffassung des Gerichts nicht zu prognostizieren, wie das Assad-Regime sich diesen gegenüber verhalten wird. Insbesondere eine Bestrafung auch nur eines beachtlichen Teils dieser mehr als 1,5 Mio. männlichen Rückkehrer ist für das Gericht nicht hinreichend wahrscheinlich. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch der Umstand, dass seit 2015 260.000 Syrer, davon 31.000 im 1. Halbjahr 2017, zumindest zeitweise nach Syrien zurückgekehrt sind – darunter dürften auch Männer im wehrdienstfähigen Alter sein - Zweifel daran begründet, dass beachtlich wahrscheinlich eine Inhaftierung einer beachtlichen Zahl von Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter erfolgen wird.

131

b) Den Erkenntnisquellen lassen sich zur Überzeugung des Senats auch keine hinreichend verlässlichen Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Wehrdienstverweigern beachtlich wahrscheinlich durch das Assad-Regime eine regimefeindliche Haltung unterstellt wird und ihnen daher in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgung droht.

132

aa) Den Erkenntnisquellen lassen sich keine hinreichenden Fakten für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Zuschreibung einer Regimegegnerschaft entnehmen.

133

(1) Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet, dass die Bestrafung von Wehrdienstverweigerern häufig von der Position und dem Rang des Betreffenden, aber auch von dem Bedarf an der Front abhängt (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 10). Ebenfalls wird berichtet, dass einige der Festgenommenen zwar zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen würden, andere aber lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt würden (SFH, 28.3.2015, G 9/15; DRC 9/2015, G 11/15, S. 18). An anderer Stelle weist die Schweizerische Flüchtlingshilfe (v. 21.3.2017, G 5/17, S. 10) darauf hin, dass prinzipiell davon ausgegangen werden müsse, dass jede Person, die nach Syrien zurückkehre, verhaftet und misshandelt werden könne. Die Willkür zeige sich auch darin, dass sich einzelne mit Bestechung freikaufen könnten. Amnesty International beschreibe den weit verbreiteten Opportunismus der syrischen Sicherheitsbeamten, die entweder aus Profitgier oder aus persönlicher Rache Menschen verhaften und verschwinden ließen. Auch seien viele Menschen in Haft, weil sie aus persönlichen Gründen von Informanten diffamiert worden seien. Diese Willkür spiegelt sich auch in der Struktur der Sicherheitsdienste wieder (s.o. S. 10).

134

(2) Hingegen geht der UNHCR davon aus, dass nach Stellungnahmen unabhängiger Beobachter Wehrdienstentziehung „wahrscheinlich“ als politischer Akt gegen die Regierung aufgefasst werde, was die Behandlung, der Wehrdienstentzieher ausgesetzt seien, ganz oder teilweise motivieren könne (11/2017, G 35/17, S. 39 mit Fn. 224; 30.5.2017, G 9/17, S. 3 mit Fn. 13 und 14, S. 6 f.). Allerdings führt der UNHCR in seiner Stellungnahme vom 30. Mai 2017 (G 9/17, S. 3) weiter aus, dass „oft nicht zu unterscheiden und festzustellen“ sei, ob die gegen die Betroffenen angewandten Sanktionen als Antwort auf die Straftat der Wehrdienstentziehung oder auf die unterstellten oppositionellen Überzeugungen erfolgten. Die vom UNHCR angeführten Referenzquellen lassen nicht erkennen, auf welcher Faktenlage diese zu der Einschätzung der Unterstellung einer regimefeindlichen Haltung gelangt sind; der Senat sieht sich angesichts der dargelegten Stellungnahmen, die von willkürlichen Behandlungen ausgehen, der dargelegten Interessenlage, der Vielzahl von Wehr- und Militärdienstentziehern nicht in der Lage, diese Einschätzung zu teilen und Inhaftierung und Misshandlung wegen einer (unterstellten) regimefeindlichen Haltung als beachtlich wahrscheinlich anzusehen:

135

Der vom UNHCR als Referenzquelle genannte Herr Kozak hat erklärt (UNHCR, 30.5.2017, G 9/17, S. 3, Fn. 14, E-Mail von C. Kozak v. 18.5.2017), er habe gehört, dass das Verhalten von bereits einberufenen Wehrdienstverweigerern von Militäroffizieren und anderen Beamten als verräterisch und regierungsfeindlich angesehen werde könne. In der Stellungnahme des UNHCR vom November 2017 (G 35/17, S. 39, Fn. 224) wird Herr Kozak dahingehend zitiert (E-Mail v. 6.10.2017), dass nach seiner Einschätzung die Regierung Sanktionen gegen Wehrdienstentzieher verhänge als strafrechtliche Ahndung, aber auch weil sie die Wehrdienstentziehung als politische oder regierungsfeindliche Tätigkeit ansehe.

136

Die in der Stellungnahme des UNHCR vom 30. Mai 2017 (G 9/17, S. 6) aufgeführten weiteren Referenzquellen (J. Landes, R. Davis und L. Fakih) geben z.T. ihre subjektive Einschätzung wieder. Für den Senat ist nicht erkennbar, auf Grundlage welcher Fakten (genannt werden von R. Davis „Interviews“) diese Einschätzung erlangt worden ist.

137

(3) Die Unabhängige Untersuchungskommission für Syrien führt im Bericht vom 11. August 2016 (A/HRC/33/55, G 14/16, S. 13 Rn. 75) aus, dass Zivilisten, hauptsächlich Männer im kampffähigen Alter, weiterhin von den Straßen Syriens verschwinden würden. Zehntausende von Syrern würden vermisst, viele unter Umständen, die vermuten ließen, dass sie gewaltsam verschwunden seien. Nicht näher referiert ist, ob es sich um (Zwangs-)Rekrutierungen oder Inhaftierungen handelt und aus welchen Gründen diese erfolgen.

138

bb) Auch allgemeine Erwägungen lassen zweifeln, ob Wehr- bzw. Militärdienstentziehern beachtlich wahrscheinlich eine regimefeindliche Haltung unterstellt werden wird. Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass berichtet wird, im Rahmen von Kapitulationsverhandlungen über Gebiete, die von der Opposition besetzt waren, werde verlangt, dass die jungen Männer in die syrische Armee eintreten, und sogar Häftlinge unter Druck gesetzt werden, in die Armee einzutreten (SFH, 23.3.2017, G 19/17, S. 7; HRC COI, 2.2.2017, G 14/17, S. 18 zu Ost-Aleppo). Das Verhalten des Assad-Regimes scheint insoweit primär durch Überlegungen zur Erhaltung seiner Macht gekennzeichnet zu sein. In diesem Kontext fehlen hinreichend verdichtete Erkenntnisse darüber, wie das Assad-Regime mit einer Vielzahl zurückkehrender Männer, die sich der Einberufung zum Wehrdienst oder dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, umgehen würde.

139

Ergänzend nimmt der Senat auf die im Urteil des Verwaltungsgerichts (S. 17 ff. UA) angeführten Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts Koblenz vom 16. Dezember 2016 (1 A 10922/16, juris Rn. 150 ff.) Bezug.

140

c) Nach Ansicht des Senats lässt sich den Erkenntnisquellen nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, dass dem Kläger beachtlich wahrscheinlich andere Verfolgungshandlungen wie ein unmittelbarer Fronteinsatz aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründen, insbesondere wegen einer unterstellten Regimegegnerschaft, droht.

141

Insoweit wird - wie ausgeführt - berichtet, dass die Ausbildungszeit der Wehrpflichtigen oft kurz (45 Tage) sei (BFA, 08/2017, G 11/17, S. 18) und die Betreffenden häufig unverzüglich an die Front geschickt würden (UNHCR, April 2017, G 7/17, S. 25 f.). Es ist für den Senat angesichts der Schilderungen, dass dies alle Wehrpflichtigen und Reservisten treffe (vgl. UNHCR, April 2017, G 7/17, S. 25 und Fn. 122), nicht hinreichend belastbar erkennbar, dass dies nur Wehrdienstverweigerer oder Reservisten trifft, die sich der Einberufung entzogen haben. Für den Senat ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dies in Anknüpfung an eine aufgrund der Wehrdienstentziehung dem Kläger zugeschriebene regimefeindliche Haltung erfolgt.

142

d) Insgesamt erscheint es dem Gericht zwar beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nach seiner Rückkehr nach Syrien - wie er es befürchtet - rekrutiert würde. Die Heranziehung zur Wehrpflicht bzw. Rekrutierung volljähriger Männer stellt aber keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar, weil diese nicht wegen eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, sondern alle Männer trifft, die Wehrdienst abzuleisten haben oder als Reservist wieder eingezogen werden könnten (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.8.1986, 9 C 322/85, DVBl. 1987, 47, juris Rn. 11; OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.9.2017, 2 LB 750/17, juris Rn. 63). Es kann daher offen bleiben, ob vorliegend die Rekrutierung eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG darstellt. Jedenfalls fehlt es in Bezug auf die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft daran, dass die Rekrutierung zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt wird, die durch die Maßnahmen gerade wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe getroffen werden sollen. Insbesondere ist die Gruppe der Männer, die sich dem Wehr- bzw. Militärdienst entzogen haben, keine soziale Gruppe i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Insoweit fehlt es jedenfalls daran, dass die Gruppe dieser Männer in Syrien eine abgegrenzte Identität hat; es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die syrische Gesellschaft die Männer, die sich dem Wehr- bzw. Militärdienst entzogen haben, als soziale Gruppe wahrnimmt. Auch liegt insoweit keine Anknüpfung an das (männliche) Geschlecht vor. Da in Syrien nur Männer wehrdienstpflichtig sind, ist es selbstverständlich, dass sich Sanktionen wegen Verletzung dieser Pflicht nur gegen Männer richten.

143

4. Andere Obergerichte (vgl. VGH München, Urt. v. 14.2.2017, 21 B 16.31001, juris; VGH Mannheim, Urt. v. 28.6.2017, A 11 S 664/17, Asylmagazin 2017, 349, juris; VGH Kassel, Urt. v. 6.6.2017, 3 A 3040/16.A, juris - für rückkehrende Wehrdienstentzieher, die aus einem regierungsfeindlichen Gebiet stammen) sind zu der Überzeugung gelangt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Syrien zurückkehrenden Männern eine Inhaftierung und menschenrechtswidrige Misshandlung droht, weil das Assad-Regime ihnen eine regimefeindliche Haltung zuschreiben werde. Da keine Erkenntnisse über nach Syrien zurückkehrende Männer vorlägen, die sich dem Wehr- bzw. Militärdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, wird dies zum Teil aus der Brutalität des Vorgehens des Assad-Regimes gegenüber Regimegegnern, insbesondere aus dem Vorgehen der Geheimdienste, geschlossen sowie aus dem Charakter des um seine Existenz kämpfenden Staates zur Wiederherstellung seines Herrschaftsmonopols abgeleitet (vgl. VGH München, a.a.O., Rn. 83). Zugleich wird angenommen, dass eine harte und menschenrechtswidrige Bestrafung von Männern, die sich dem Wehr- bzw. Militärdienst entzogen haben, belegt sei, und von der erforderlichen Gerichtetheit auf Merkmale i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG im Hinblick auf den gegen die Zivilbevölkerung geführten Vernichtungskrieg, das dominierende Freund/Feind-Schema und wegen der Intensität der Verfolgungsmaßnahmen auszugehen sei (VGH Mannheim, Urt. v. 28.6.2017, A 11 S 664/17, Rn. 59 ff.). Zum Teil werden die vom UNHCR genannten Referenzquellen als hinreichende tatsächliche Faktenlage angesehen.

144

Dem folgt der Senat nicht. Wie ausgeführt ist nach Auffassung des Senats den Erkenntnisquellen eher zu entnehmen, dass Rückkehrer im wehrdienstfähigen Alter allein rekrutiert und dem Militärdienst zugeführt werden; zudem fehlt es an einer hinreichend verlässlichen Faktenlage, auch im Hinblick auf die Frage, aus welchen Gründen eine Inhaftierung erfolgt. Der erkennende Senat gründet seine Ansicht, dass insoweit schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgungshandlung ausgegangen werden kann, darauf, dass in den Erkenntnisquellen gewichtige Hinweise vorhanden sind, dass Personen, die sich dem Wehr- bzw. Militärdienst entzogen haben, im ausgeführten Gesamtkontext und angesichts des Bedarfs an Soldaten in das Militär eingezogen werden. Die fehlende beachtliche Wahrscheinlichkeit eines an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal anknüpfenden Verfolgungsgrundes beruht auf einer anderen Bewertung des Assad-Regimes und auf insoweit nicht in hinreichender Dichte vorhandenen Referenzfällen. Als handlungsleitendes Muster des Assad-Regimes vermag der Senat ein Freund/Feind-Schema nur bedingt zu erkennen; neben der Willkür einzelner handelnder Akteure dürften die Handlungen des Assad-Regimes vor allem dadurch bestimmt sein, was der Machterhaltung bzw. dem Vorteil des Regimes dient. Der z.T. menschenrechtswidrige und mit großer Härte geführte Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Gebieten, die von Oppositionellen gehalten werden, zielt nach Überzeugung des Senats im Wesentlichen auf die Vernichtung des im Schutz der Zivilbevölkerung kämpfenden Gegners. Auch wenn die jeweilige Zivilbevölkerung dafür bestraft werden sollte, dass diese dem kämpfenden Gegner „Schutz bietet“, so würde auch dieser Umstand keinen Schluss darauf zulassen, wie das Assad-Regime mit Personen umgeht, die sich dem Wehr- bzw. Kriegsdienst entzogen haben. In diesem spezifischen Gesamtkontext kann die Intensität möglicher Verfolgungshandlungen nicht die Gerichtetheit der Verfolgung indizieren.

V.

145

Dem Kläger ist nicht deshalb der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, weil ihm in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG eine Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes droht, der Verstöße gegen das Völkerstrafrecht i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde. Insbesondere kann er sich nicht auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG berufen.

146

1. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG lautet:

147

„Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

148

(...)
5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 fallen,...“

149

Der in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG in Bezug genommene § 3 Abs. 2 AsylG lautet:

150

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling (...), wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

151

1. ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2. vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3. den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.

152

a) § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG setzt die Vorgaben aus Art. 9 Abs. 2 lit. e) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 lit. a) RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) um. Aus den Materialien zur Entstehung der Qualifikationsrichtlinie ist dabei ersichtlich, dass die Richtlinie grundsätzlich das Recht der Staaten auf Durchsetzung einer Wehrpflicht bzw. eines Militärdienstes respektiert. Denn ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, wie ihn die EU-Kommission im Entwurf der Qualifikationsrichtlinie vorgeschlagen hatte, ist in Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU nicht übernommen worden (vgl. Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 3a Rn. 36 f.). Hiervon macht Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU (bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) eine Ausnahme und privilegiert die Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 lit. a) RL 2011/95/EU (vgl. § 3 Abs. 2 AsylG) fallen, also im Rahmen des Militärdienstes Kriegsverbrechen i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG begangen werden würden.

153

Auch bei Vorliegen einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist es nach § 3 Abs. 3 AsylG erforderlich, dass die Verfolgungshandlung - vorliegend eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes - wegen einer der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründe besteht (vgl. OVG Münster, Urt. v. 4.5.2017, 14 A 2023/16.A, NVwZ 2017, 1218, juris Rn. 100; offen gelassen: OVG Lüneburg, Urt. v. 12.9.2017, 2 LB 750/17, juris Rn. 70 ff.).

154

Da die Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG an die (drohende) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes anknüpft, wird insoweit regelmäßig eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen einer politischen Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegen. Denn die Verweigerung des Militärdienstes, um nicht an Kriegsverbrechen i.S.d. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG mitzuwirken oder diese zu unterstützen, dürfte regelmäßig Ausdruck einer politischen Überzeugung sein (vgl. Treiber in: GK-AufenthG, Stand April 2011, § 60 AufenthG Rn. 169).

155

Die gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG privilegierte Verfolgungshandlung knüpft an eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes an, wenn der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen i.S.d. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG umfassen würde. Unter den Anwendungsbereich der Regelung fallen Ausländer, die ihrer gesetzlich angeordneten Wehrpflicht folgen, freiwillig Wehrdienst oder als Berufssoldaten Militärdienst leisten (Marx, Handbuch zum Flüchtlingsrecht, 2. Auflage 2012, § 14 Rn. 176), sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind. Nicht jeder Dienst von Wehrpflichtigen umfasst dabei auch Militärdienst (vgl. zu den unterschiedlichen Begriffen: UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 10 vom 12.11.2014, S. 3, unter II. Terminologie). Im Hinblick auf Wortlaut und Zielrichtung der Norm liegt ein „Militärdienst“ nicht vor, wenn und solange nur eine militärische Ausbildung erfolgt, in der der Soldat nicht in Teile des Militärs eingebunden ist, die an einer militärischen Auseinandersetzung beteiligt sind.

156

Der Europäische Gerichtshof (Urt. v. 26.2.2015, C-472/13, Shepherd, EuGRZ 2015, 160, juris Rn. 34; dem folgend: OVG Lüneburg, Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 102 ff.; vgl. auch: OVG Münster, Urt. v. 4.5.2017, 14 A 2023/16.A, NVwZ 2017, 1218, juris Rn. 95 ff.) hat zum persönlichen Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 2 lit. e) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 lit. a) RL 2004/83/EG, der identisch ist mit Art. 9 Abs. 2 lit. e) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 lit. a) RL 2011/95/EU, entschieden, dass in Anbetracht des Ziels der Qualifikationsrichtlinie, die Personen zu bestimmen, die wegen besonderer Umstände tatsächlich internationalen Schutz benötigten und rechtmäßig in der Union darum ersuchten, „die Eigenschaft als Militärangehöriger eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung“ (Unterstreichung nur hier) darstelle, um den Schutz zu genießen, der mit den Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie verbunden sei. Dabei sei die Inanspruchnahme des internationalen Schutzes nicht allein denjenigen vorbehalten, die persönlich als Kriegsverbrechen einzustufende Handlungen begehen müssten, insbesondere den Kampftruppen. Dieser Schutz könne auf andere Personen aber nur dann ausgedehnt werden, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheine, dass der Betroffene durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Kriegsverbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (Tenor 2. Spiegelstrich) bzw. er sich in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müsse (Rn. 38; vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 27.6.2017, 2 LB 91/17, juris Rn. 102 ff.; s. auch: Treiber, GK-AufenthG, April 2011, § 60 Rn. 169). Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen erfordert dabei nicht, dass der Internationale Strafgerichtshof bereits Handlungen der Einheit, der der Antragsteller angehört, geahndet hat oder feststeht, dass Kriegsverbrechen begangen wurden (ebenso: Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 14 Rn. 192 ff.; Treiber, GK-AufenthG, § 60 Rn. 265 S. 215); insoweit ist vielmehr hinreichend, dass der Antragsteller darzulegen vermag, dass solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Einheit, der er angehört, begangen wurden oder werden (EuGH, Urt. v. 26.2.2015, C-472/13, Shepherd, EuGRZ 2015, 160, juris Rn. 43).

157

Diesem Ansatz folgt der erkennende Senat und wendet diese Grundsätze auf die Auslegung der vorliegend maßgeblichen Regelungen in Art. 9 Abs. 2 lit. e) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 lit. a) RL 2011/95/EU bzw. §§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG an. Demnach ist nicht Voraussetzung, dass dem Kläger eine persönliche Verantwortung für die Teilnahme an Kriegsverbrechen nachgewiesen wird, wie es der Fall sein müsste, wenn dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft im Hinblick auf die Ausschlusstatbestände des § 3 Abs. 2 AsylG versagt werden würde (Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 14 Rn. 201 ff.; UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 10, vom 12.11.2014, S. 12 Ziffer 23); vielmehr handelt es sich um eine präventive Norm, die diejenigen Militärangehörigen schützen will, die Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht nicht begehen wollen.

158

b) Voraussetzung für die Anwendung von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist jedoch, dass im maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Kläger entweder Militärangehöriger ist bzw. vor seiner Flucht war, und sich dem Militärdienst durch Flucht entzogen hat bzw. entzieht. Dies setzt jedenfalls eine Einberufung zum Militärdienst voraus, da nur dann der Kläger im weitesten Sinne als Militärangehöriger angesehen werden könnte und der persönliche Anwendungsbereich der Regelung eröffnet wäre. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

159

2. Selbst wenn man § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG - entgegen der Ansicht des Senats - darüber hinaus dahingehend auslegen wollte, dass es hinreichend wäre, dass bei Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich eine Rekrutierung drohen und sodann eine Verweigerung des Militärdienstes erfolgen würde, so würde auch dann dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft im Hinblick auf diese Vorschrift nicht zuzusprechen sein.

160

Denn es ist nicht beachtlich wahrscheinlich davon auszugehen, dass der Kläger sich einer Rekrutierung durch Verweigerung des Militärdienstes widersetzen würde. Der Kläger hat ausgeführt, dass er sich wie alle syrischen Männer einer Rekrutierung nicht entziehen könnte, weil dies dazu führen würde, dass die syrischen Organe ihn inhaftieren und in diesem Zusammenhang misshandeln und/oder der Folter unterwerfen oder ihn töten würden. Würde er rekrutiert werden, sähe er sich gezwungen, dem zu folgen. Damit droht ihm auch bei einer gedanklich zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien keine Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes.

161

Soweit der Kläger demgegenüber unter Berufung auf Literatur und Rechtsprechung ausländischer Gerichte vorbringt, dass eine präventive Entziehung vor der Rekrutierung und Teilnahme an Kriegsverbrechen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründe, folgt der Senat dem nicht. Wie ausgeführt erfolgt die Rekrutierung durch das Assad-Regime nicht beachtlich wahrscheinlich wegen eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfolgten Merkmale; ihm fehlt die im Sinne dieser Regelung notwendige (politische) Gerichtetheit. Dem dennoch bestehenden Schutzbedürfnis des Klägers - auch wegen der geltend gemachten drohenden Rekrutierung und ggf. Teilnahme an Kriegsverbrechen - hat die Beklagte durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes umfassend Rechnung getragen.

162

3. Es kann daher offen bleiben, ob der Kläger hinreichend plausibel dargelegt hat, dass er, wenn er rekrutiert würde, in einer Einheit Dienst leisten müsste, in der er hinreichend unmittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt wäre.

C.

163

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt; insbesondere kann eine grundsätzlich klärungsbedürftige Tatsachenfrage die Zulassung der Revision nicht begründen (BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017, 1 B 22.17, NVwZ 2017, 1204, juris).

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziff. 2 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage über den ihm von der Beklagten zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der 1987 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien, arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste seinen Angaben zufolge am *. Dezember 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … April 2016 einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) beschränkt.

Zur Begründung trug der Kläger bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 7. Juli 2016 im Wesentlichen vor, dass er vor der Bürgerkriegssituation in Syrien geflohen sei und seine erneute Heranziehung zum Militärdienst befürchtet habe. Sowohl das Regime als auch die FSA hätten versucht ihn zu rekrutieren. Deshalb habe er Syrien im April 2013 verlassen und sich im Libanon aufgehalten, bevor er dann im November 2015 nach Europa gereist sei.

Mit Bescheid vom … Juli 2016, zugestellt am … Juli 2016, erkannte das Bundesamt dem Kläger subsidiären Schutz zu (Ziff. 1. des Bescheides) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziff. 2. des Bescheides). Zur Begründung der Teilablehnung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keine individuellen Bedrohungen oder Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 AsylG geschildert, sondern sich nur auf die allgemeine Gefährdung und seine Angst, als Reservist zum Militärdienst eingezogen zu werden, berufen. Diese beruhe aber nur auf Vermutungen.

Am … Juli 2016 erhob der Kläger zur Niederschrift am Verwaltungsgericht München Klage, mit der er beantragte,

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziff. 2 des Bescheids vom 13. Juli 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Zur Begründung der Klage trug der Bevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen vor, dass der Kläger aufgrund der aktuellen Situation in Syrien aus beachtlichen Nachfluchtgründen wegen seiner trotz Militärdienstpflichtigkeit erfolgten illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und dem Aufenthalt im Ausland mit längerfristigem Aufenthaltszweck von Verfolgung bedroht sei. Die Tatsache, dass der Kläger vor seiner Ausreise keinen Einberufungsbefehl erhalten habe, stehe der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 im Verfahren 21 B 16.30372 sowie die darin zitierten Erkenntnismittel werde verwiesen.

Die Beklagte hat die Verwaltungsakten auf elektronischem Weg vorgelegt und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 27. März 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG).

Der Bevollmächtigte des Klägers verzichtete mit Schriftsatz vom11. August 2016, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Mit Beschluss vom 11. Mai 2017 wurde dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat in der Sache Erfolg.

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid ist in Ziff. 2 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war deshalb insoweit aufzuheben.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor, denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer unterstellten Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C-25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C-33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C-118/90 – juris Rn. 17).

Ob alleine der Umstand, dass der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat, die begründete Furcht rechtfertigt, dass staatliche syrische Stellen ihn bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen, kann dabei vorliegend dahinstehen.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger, der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10920/16.OVG – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris; OVG NRW, U.v. 4.5.2017 – 14 A 2023/16.A – Juris).

Das Gericht geht nach der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Einreise über den Flughafen … oder eine andere staatliche Kontrollstelle Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ drohen. Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber für den Erhalt ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei einer Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung, als Oppositionellen behandeln und einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterziehen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 – juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10920/16.OVG – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris).

Im Einzelnen ist hierzu auszuführen:

Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von (jedenfalls) 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands als Reservisten wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Einigen Berichten zufolge wurde wegen der angespannten Personalsituation das Höchstalter für den Militärdienst inzwischen erhöht, wobei es hierzu keine offizielle Regelung zu geben scheint. Teilweise wird berichtet, dass das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile auf 45 Jahre oder älter angehoben wurde. Je nach Gebiet und Fall würden Reservisten auch im Alter von 50 bis 60 Jahren noch zum aktiven Dienst einberufen. Zudem kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert. Die Aufforderung sich zum Dienst zu melden, erfolge mündlich, die schriftliche Benachrichtigung werde nicht ausgehändigt. Die Betreffenden können aber auch an Kontrollpunkten eingezogen werden (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015; BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, Gesamtaktualisierung vom 5.1.2017).

Aus den Erkenntnisquellen geht weiter übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle – insbesondere den Flughafen … – zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Dabei ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Nach verschiedenen aktuellen Erkenntnisquellen sind dabei Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden.

Aus den verstärkten Mobilisierungsversuchen ergibt sich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger für die Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit für die Wiederherstellung und den Erhalt der Macht von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. An diese unterstellte oppositionelle Gesinnung knüpft bei einer Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und der Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient, so dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft bei dem im wehrdienstfähigen Alter befindlichen Kläger vorliegen, § 3 b Abs. 2 AsylG.

Eine dem Kläger zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht (vgl. Lagebericht v. 27.9.2010, S. 15).

Es ist schließlich auch nichts dahingehend vorgetragen oder ersichtlich, dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und Abs. 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 AufenthG entgegenstehen könnte.

Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gemäß § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheids vom 16. November 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage über den ihm von der Beklagten zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der Kläger ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien und arabischer Volkszugehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben im Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am … März 2016 Asylantrag, der auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) beschränkt wurde.

Bei seiner Anhörung am … Oktober 2016 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe befürchtet, zwangsweise als Reservist zum Militärdienst rekrutiert zu werden. Außerdem habe man in Syrien kein normales Leben mehr führen können.

Mit Bescheid vom … November 2016 erkannte das Bundesamt dem Kläger subsidiären Schutz zu (Nr. 1), im Übrigen lehnte es den Asylantrag ab (Nr. 2). Zur Begründung der Teilablehnung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne der Definition. Eine politisch motivierte Verfolgung habe der Kläger weder vorgetragen noch sei eine solche nach Aktenlage erkennbar.

Am … November 2016 ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten Klage erheben und beantragen,

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheids vom … November 2016 verpflichtet, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Zur Begründung der Klage trugen seine Bevollmächtigten im Wesentlichen vor, dass der Kläger aufgrund der aktuellen Situation in Syrien aus beachtlichen Nachfluchtgründen wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem Aufenthalt im Ausland mit längerfristigem Aufenthaltszweck von Verfolgung und Folter bedroht sei.

Die Beklagte hat die Behördenakte auf elektronischem Weg vorgelegt, ohne einen Klageantrag zu stellen.

Mit Beschluss vom … Februar 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.

Die Bevollmächtigten des Klägers verzichteten mit Schriftsatz vom … November 2016, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom … März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Gründe

Die Klage, über die mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO), ist zulässig und begründet. Mangels Zustellnachweises in der Behördenakte hat die Klagefrist nach § 57 Abs. 1 VwGO nicht zu laufen begonnen.

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 2 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war deshalb insoweit aufzuheben.

Nach § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer unterstellten Rückkehr in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.

Die begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich hier aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33/07 - juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).

Zwar rechtfertigt hiernach entgegen der bisherigen Rechtsprechung der Kammer der Umstand, dass der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat, alleine nicht die begründete Furcht, dass staatliche syrische Stellen ihm bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen (vgl. ausführlich hierzu: BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16 30338, 21 B 16.30364 und 21 B 16.30371 - jeweils juris; OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 - 2 A 515/16 - juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10920/16.OVG - juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17/16 - juris).

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Gerichts jedoch aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger, der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16.30372 juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 - 2 A 515/16 - juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10920/16.OVG - juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17/16 - juris).

Das Gericht geht nach der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ drohen. Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber für den Erhalt ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei einer Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung, als Oppositionellen behandeln und einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterziehen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 - 21 B 16.30372 - juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 - 2 A 515/16 - juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 - 1 A 10920/16.OVG - juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17/16 - juris).

Im Einzelnen:

Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Seither kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015).

Aus den Erkenntnisquellen geht weiter übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle - insbesondere den Flughafen Damaskus - zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Dabei ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Nach verschiedenen aktuellen Erkenntnisquellen sind dabei Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden.

Aus den verstärkten Mobilisierungsversuchen ergibt sich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger für die Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit für die Wiederherstellung und den Erhalt der Macht von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. An diese unterstellte oppositionelle Gesinnung knüpft bei einer Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und der Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient, so dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft bei dem im wehrdienstfähigen Alter befindlichen Kläger vorliegen, § 3 b Abs. 2 AsylG.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative, § 3 e AsylG, steht ihm nicht zur Verfügung (vgl. Lagebericht v. 27.9.2010, S. 15).

Dafür dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2, Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegenstehen, ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.

Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. Juli 2016 wird aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten über den ihr zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.

Die Klägerin ist eine am ... 1997 in Damaskus geborene Staatsangehörige der Arabischen Republik Syrien arabischer Volkszugehörigkeit muslimischen Glaubens (Sunnitin). Sie reiste ihren Angaben zufolge am 10. November 2015 auf dem L. Weg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. März 2016 einen Asylantrag.

Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 17. März 2016 äußerte sie sich im Wesentlichen wie folgt:

Sie habe bis zu ihrer Ausreise Ende September 2015 in Damaskus (...) gelebt. Ihren Reisepass habe sie auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland verloren. Ihre Mutter sei bereits verstorben. Sie sei gemeinsam mit dem Vater nach Deutschland geflüchtet. Ein Bruder lebe ebenfalls bereits hier. Lediglich ihre Großmutter sei in Syrien geblieben. Sie sei nicht Mitglied einer nichtstaatlichen, bewaffneten Gruppierung oder einer politischen Partei gewesen. Das sei auch jetzt nicht der Fall. Augenzeuge oder Opfer von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder von Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder anderen Misshandlungen) durch kämpfende Einheiten sei sie nicht gewesen. Sie habe auf ihrem Weg nach Deutschland und in Deutschland weder Kenntnis von Personen erlangt, die sie als Unterstützer oder Mitglieder von extremistischen oder terroristischen Organisationen eingeschätzt habe, noch von Personen, von denen sie habe annehmen müssen, dass sie für einen Nachrichtendienst arbeiten. Die Lage in Syrien habe sich zunehmend verschlechtert. Zur Schule habe sie noch unter schwierigen Bedingungen gehen können, aber die Universität aufzusuchen, sei ihr nicht mehr möglich gewesen. Es seien Fassbomben geworfen worden. Dort wo sie aufgewachsen sei, sei ab 20:00 Uhr auf der Straße geschossen worden. Die Familie habe sich deshalb zur Ausreiseadresse begeben, wo es auch nicht besser gewesen sei. Hier habe die syrische Armee geherrscht; die Fassbomben, die über sie abgeworfen worden seien, habe man den Gegnern zugeschrieben. Es sei ihr zu gefährlich gewesen, deshalb sei sie ausgereist. Der Vater und ihr Bruder seien aus den gleichen Gründen geflüchtet. Zusätzlich hätten sie bezüglich des Bruders eine Einberufung zur syrischen Armee befürchtet. Für den Fall der Rückkehr befürchte sie Entführungen und Anschläge.

Das Bundesamt erkannte die Klägerin mit Bescheid vom 22. März 2016 als subsidiär Schutzberechtigte an und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.

Das Verwaltungsgericht Regensburg hat die Beklagte mit Urteil vom 13. Juli 2016 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Zur Begründung führte es unter anderem aus: Der syrische Staat betrachte gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfung und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System, die das Gebot der Loyalität ihm gegenüber verletze. Ein solches Verhalten werde - ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen - vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland hätten in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinn des § 3a AsylG zu rechnen.

2. Die Beklagte begründet die vom Senat mit Beschluss vom 20. September 2016 zugelassene Berufung wie folgt:

Es begegne Zweifeln, die Verfolgungsgefahr zumeist aus einem allgemeinen „Abschöpfungsinteresse“ hinsichtlich Erkenntnissen zur Exilopposition ableiten zu wollen.

Gegen die Annahme, dass bei jedem Rückkehrer eine Regimegegnerschaft vermutet werde, spreche die mittlerweile sehr hohe und weiter zunehmende Zahl der Flüchtlinge. Der syrische Staat dürfte weder Veranlassung noch Ressourcen haben, gegen jeden Rückkehrer vorzugehen. Die hohe Anzahl an ausgegebenen syrischen Reisepässen spreche ebenfalls dagegen, dass jedem Rückkehrer eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt werde. Dem entspreche es, dass sich ein erheblicher Teil der syrischen Asylbewerber für den Fall einer Rückkehr nicht vor Verfolgung in Anknüpfung an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG fürchte, sondern ausschließlich vor Kriegsgefahren und Kriegsfolgen. Diese Erkenntnis habe das Bundesamt aus mehr als 130.000 in diesem Jahr durchgeführten Anhörungen gewonnen.

Die Beklagte beantragt,

in Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. Juli 2016 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Verwaltungsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine staatliche Verfolgung aufgrund einer zumindest unterstellten politischen Überzeugung drohe. Das Immigration and Refugee Board of Canada habe in einer Auskunft vom 16. Januar 2016 (tatsächlich 19.1.2016) festgestellt, dass die syrischen Behörden bei Einreise der Rückkehrer freie Hand im Umgang mit diesen hätten. Sie könnten sie ohne ersichtlichen Grund festnehmen und foltern. Das geschehe auch mit Personen, die nichts mit der Revolution zu tun hätten. Ausreichend sei, dass der Beamte vor Ort einen schlechten Eindruck von dem Rückkehrer habe. Es würden auch Personen festgenommen, weil ein Familienmitglied behördlich gesucht werde, was im Vorfeld kaum herauszufinden und das Risiko deshalb kaum einzuschätzen sei. Die kanadische Behörde zitiere in ihrer Auskunft verschiedene Experten, denen zufolge solche Personen bei ihrer Rückkehr „definitiv“ mit Haft und Folter rechnen müssten, die versucht hätten, im Ausland eine Flüchtlingsanerkennung zu erlangen.

Die Praxis syrischer Behörden, gesuchte Personen verschwinden zu lassen, bestätige auch der Bericht von amnesty international (Between Prison and the Grave, November 2015). Danach seien für die Zeit zwischen März 2011 und August 2015 über 58.000 solcher Fälle bekannt.

Das Home Office des Vereinigten Königreichs bestätige ebenfalls, dass erfolglose Asylbewerber bei einer Rückkehr nach Syrien dem echten Risiko einer Verhaftung und ernsthaften Misshandlung aufgrund einer zugeschriebenen politischen Meinung ausgesetzt seien (Country Information and Guidance Report: Syria, vom Dezember 2014).

Auch das United States Department of State gehe davon aus, dass erfolglose Asylbewerber bei der Rückkehr nach Syrien verfolgt würden. Das Gesetz sehe eine solche Möglichkeit sogar vor. Festnahmen würden regelmäßig selbst nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren oder gar Jahrzehnten erfolgen (Country Reports on Human Rights Practices for 2014 vom 25.6.2015)

Die Landesanwaltschaft Bayern äußert sich als Vertreterin des öffentlichen Interesses unter anderem wie folgt:

Die erforderliche Verknüpfung zwischen schädigender Handlung und Verfolgungsgrund sei bei der Klägerin nicht gegeben. Die Annahme sei wenig plausibel und letztlich lebensfremd, dass aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Syrer bei der in diesem Fall obligatorischen Befragung von den syrischen Sicherheitskräften allein wegen der Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet würden.

3. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat der Klage mit Urteil vom 13. Juli 2016 zu Unrecht stattgegeben. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt mit Bescheid vom 22. März 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). § 3 Abs. 4 AsylG gibt der Klägerin in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen darauf gerichteten Anspruch, denn sie ist kein Flüchtling im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer - soweit hier von Interesse - Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Arabischen Republik Syrien nicht vor (1.), noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem die Klägerin ihr Herkunftsland verlassen hat (2.)

1. Der Senat konnte aufgrund des bisherigen Ablaufs des Asylverfahrens und aufgrund der Anhörung der Klägerin in der Berufungsverhandlung nicht die erforderliche Überzeugung (vgl. dazu BVerwG, U.v. 11.11.1986 - 9 C 316.85 - juris) davon gewinnen, dass sie die Arabische Republik Syrien aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG verlassen hat.

Die Klägerin hat erstmals in der Berufungsverhandlung eine Vorverfolgung geltend gemacht. Dieses Vorbringen ist nicht glaubhaft. Es ist gegenüber den in der Anhörung durch das Bundesamt am 17. März 2016 genannten Fluchtgründen gesteigert und steht dazu in Widerspruch, ohne dass die Klägerin diese Unregelmäßigkeiten überzeugend auflösen konnte.

Gegenüber dem Bundesamt sprach die Klägerin nach dem Inhalt der Niederschrift über die Anhörung am 17. März 2016 lediglich allgemein davon, die Lage in Syrien habe sich zunehmend verschlechtert. Zur Schule habe sie noch unter schwierigen Bedingungen gehen können, aber die Universität aufzusuchen, sei ihr nicht mehr möglich gewesen. Es seien Fassbomben geworfen worden. Dort wo sie aufgewachsen sei, sei ab 20:00 Uhr auf der Straße geschossen worden. Die Familie habe sich deshalb zur Ausreiseadresse begeben, wo es auch nicht besser gewesen sei. Hier habe die syrische Armee geherrscht; die Fassbomben, die über sie abgeworfen worden seien, habe man den Gegnern zugeschrieben. Es sei ihr zu gefährlich gewesen, deshalb sei sie ausgereist. Der Vater und ihr Bruder seien aus den gleichen Gründen geflüchtet. Zusätzlich hätten sie bezüglich des Bruders eine Einberufung zur syrischen Armee befürchtet.

Ihr Vorbringen steigernd und im Widerspruch zu dem ursprünglich genannten Fluchtgrund hat sie im Rahmen der informatorischen Befragung durch den Senat davon gesprochen, sie sei verfolgt worden. Es seien Militärpersonen zu ihnen nach Hause gekommen und hätten verlangt, dass sie Syrien binnen zwei Wochen verlasse. Der Geheimdienst habe ihren Bruder mitgenommen und für einige Stunden verhaftet. Auch sie sei vom Geheimdienst verhört worden und dabei bezüglich der Ausreise ihres Bruders befragt worden. Der Bruder habe damals in Jordanien gelebt und sei jetzt in den Niederlanden.

Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund die Klägerin diese aus ihrer Sicht wesentlichen Fluchtgründe nicht schon gegenüber dem Bundesamt vorgebracht hat. Ihre Erklärung, sie habe dort nur die Fragen beantwortet und sei nach dem nunmehr Gesagten nicht befragt worden, überzeugt nicht. Der Entscheider des Bundesamtes hat der Klägerin ausdrücklich die Frage gestellt: „Was ist Ihnen persönlich vor der Ausreise aus Syrien passiert?“ Das war so allgemein formuliert, dass die Klägerin Anlass hatte, ihre Fluchtgründe umfassend darzulegen. Hinzu kommt, dass die Klägerin abschließend auf eine entsprechende Frage der Entscheiderin hin erklärte, sie habe bereits alles erzählt.

Angesichts dieser Umstände veranlasst der Hinweis des Bevollmächtigten der Klägerin keine andere Bewertung, die Anhörungen beim Bundesamt seien vor allem in der Zeit nach Rückkehr zu einer individuellen Prüfung und Anhörung syrischer Asylbewerber sehr kursorisch durchgeführt worden. Es besteht auch kein konkreter Anhalt dafür, dass im Fall der Klägerin die Behauptung des Bevollmächtigten zutrifft, vielfach sei den Asylbewerbern vom Dolmetscher gesagt worden, sie sollten nicht zu lange reden. Das umso weniger, als die Klägerin ausweislich der Anhörungsniederschrift auf Nachfrage bestätigte, dass sie ausreichend Gelegenheit hatte, die Gründe für ihren Asylantrag zu schildern.

Nach Vorstehendem kann offenbleiben, ob die von der Klägerin nunmehr behauptete Vorverfolgung überhaupt von flüchtlingsschutzrelevanter Bedeutung ist.

2. Die Klägerin kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nichts daraus für sich ableiten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht allein deshalb, weil die Klägerin aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen die Klägerin bei einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle als Oppositionelle betrachten und sie deshalb wegen einer ihr unterstellten politischen Überzeugung verfolgen.

2.1 Davon wäre nur dann auszugehen, wenn der Klägerin bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihr nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Klägerin nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 - juris Rn. 17).

2.2 Nach diesem Maßstab und nach der Erkenntnislage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle wegen ihres Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland eine politische Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Bei der zusammenfassenden Bewertung aller Umstände haben die gegen eine Verfolgungsgefahr sprechenden Gründe größeres Gewicht als die dafür sprechenden Gründe. Diese Erkenntnis beruht auf Folgendem:

2.2.1 Eine Auswertung der in beiden Rechtszügen beigezogenen Erkenntnismittel zeigt, dass das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich zunehmend unter Druck geraten ist. Der syrische Staat setzt deshalb alles daran, seine Macht zu erhalten und geht in seinem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor.

Zu den Zielen der syrischen Regierung führt Gerlach in „Was in Syrien geschieht - Essay“ vom 19. Februar 2016 (http: www.bpb.de/apuz/221168/was-in-syrien-geschieht?p=all) aus:

„Das erklärte Ziel des syrischen Regimes, das sich für den rechtmäßigen Vertreter des Staates hält, ist die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik, also gewissermaßen in den Grenzen von 2011. … Wichtiger noch: das Fortbestehen der Machtarchitektur ohne einschneidende Veränderung, die in einer Entmachtung des Präsidenten Assad oder in der Auflösung jenes Machtkomplexes der drei um den Präsidenten gruppierten Clans Assad, Makhlouf und Shalish bestehen könnte. Diesen Kriegszielen ordnete das Regime in den vergangenen fünf Jahren alle anderen Sekundärziele unter - und zu ihrer Verteidigung nahm es nicht nur zehntausende Tote unter der Zivilbevölkerung, sondern auch massive eigene Verluste in Kauf.“

Einem „Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Februar 2012)“ des Auswärtigen Amts vom 17. Februar 2012 ist zu entnehmen:

„Das syrische Regime setzt im Kampf gegen die syrische Opposition die Armee und Sicherheitskräfte gezielt gegen zivile Siedlungsgebiete ein. …

Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Geheimdienste. Es gibt vier große Sicherheitsdienste, die unabhängig voneinander alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sowie sich gegenseitig kontrollieren: Allgemeine Sicherheit, Politische Sicherheit, Militärische Sicherheit und die Sicherheit der Luftwaffe. … Die Befugnisse der Sicherheitsdienste unterliegen keinen definierten Beschränkungen. Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhörzentralen, bei denen es sich um rechtsfreie Räume handelt. …

Syrische Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen und die Neuordnung Syriens nach demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Prinzipien anstreben, werden durch das Regime massiv unterdrückt. …

Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränken sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“ (enforced disappearance), tätlichen Angegriffen (z. B. der Karikaturist A. F. und der Oppositionspolitiker R. S.), Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte (z. B. das Kind H. al-K., der Aktivist C. M.) und Mordanschlägen (z.B. der kurdische Oppositionelle M. D.) belegt. Einige Oppositionelle sind daher in den Untergrund gegangen …; viele andere haben Syrien verlassen. …

Menschenrechtsverteidiger schätzen die Zahl der Verhafteten und Verschwundenen auf insgesamt über 40.000. … Willkürliche Verhaftungen sind in Syrien gegenwärtig sehr häufig und gehen von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen (sog. Shabbiha) aus. …

Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). …

Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. …

Es muss davon ausgegangen werden, dass exilpolitische Tätigkeiten den syrischen Sicherheitsdiensten bekannt werden. Auch ist nicht auszuschließen, dass syrische Familien in Deutschland von den Sicherheitsdiensten als Druckmittel gegenüber noch in Syrien lebenden Verwandten (oder umgekehrt) missbraucht werden. …

Obwohl die syrische Verfassung (Art. 28) und das syrische Strafrecht Folter verbieten und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame unmenschliche Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, wenden Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt an. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung ist in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, unterliegen ebenfalls einem hohen Folterrisiko. …Gegenwärtig kann sich das Individuum de facto in keiner Weise gegenüber staatlichen Willkürakten zur Wehr setzen. Vieles deutet darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime eine Art ´carte blanche´ erhalten haben. …

Es kommt seit Beginn der Unruhen regelmäßig und systematisch zu willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitsdienste, Rechtsmittel dagegen existieren nicht. Vor allem im Gewahrsam der außerhalb jeder Kontrolle agierenden Geheimdienste kommt es zu Drohungen und körperlichen Misshandlungen sowie zu ungeklärten Todesfällen. …

Fälle von Verschwindenlassen haben seit März 2011 erheblich zugenommen“ (Namen sind im Original vollständig wiedergegeben).

Der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2015 (https: …www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150414-syr-amnestien.0.pdf) kann entnommen werden:

„Human Rights Watch kritisierte im Januar 2015, dass trotz der Amnestie noch eine Vielzahl Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Medienschaffende sowie Personen, die humanitäre Hilfe geleistet haben, inhaftiert oder in Untersuchungshaft sind. …

In vielen Fällen werden vor allem Aktivisten, Anwälte und Menschenrechtsaktivisten von den Geheimdiensten wochen- und monatelang ohne Verfahren festgehalten. …

Die Anzahl der seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 verhafteten Personen ist umstritten. Das Violations Documentation Center, eine lokale Monitoring Gruppe, ging im Juli 2014 davon aus, dass 40.853 Personen in Haft sind. Der ehemalige UN-Sondergesandte für Syrien, Lakhdar Brahimi, ging von zwischen 50.000 und 100.000 Inhaftierten des syrischen Regimes aus. Der UN High Commissioner for Human Rights, Zeid Ra'ad Al Hussein, weist auf Schätzungen zwischen zehntausenden und hunderttausenden Inhaftierten hin. Das Syrian Observatory for Human Rights schätzt, dass 200.000 Personen in syrischen Gefängnissen sitzen. …

Dass die Haftbedingungen schlecht sind und in den Gefängnissen gefoltert wird, ist seit langem dokumentiert, auch bereits vor dem Konflikt. Folter ist insbesondere in der ersten Zeit der Haft üblich, um an Informationen zu kommen, die Häftlinge einzuschüchtern und um Schuldeingeständnisse zu erzwingen. Folter und die schlechten Haftbedingungen führen zu Todesfällen. …

Viele friedliche Aktivisten, die aufgrund des Anti-Terrorismus-Gesetzes verurteilt worden sind und von der Amnestie hätten profitieren sollen, blieben weiterhin in Haft.“

Die vierte aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ vom November 2015 (https: …www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf) äußert sich in Fußnummer 74 u.a. wie folgt:

„Verläuft die Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die man für einen Regierungsgegner hält, erfolglos, gehen die Sicherheitskräfte Berichten zufolge dazu über, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Dies geschieht entweder zur Vergeltung der Aktivitäten bzw. des Loyalitätsbruchs der gesuchten Person oder zwecks Einholung von Informationen über ihren Aufenthaltsort oder mit der Absicht, die betreffende Person dazu zu bewegen, sich zu stellen bzw. die gegen sie erhobenen Anschuldigungen anzuerkennen.”

Die Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada (Immigration and Refugee Board of Canada) verweist in einem Bericht (Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19. Januar 2016, S. 4 - zitiert nach der in das Verfahren eingeführten Übersetzung in die deutsche Sprache) auf folgende Erkenntnisse von Amnesty International (Between Prison and the Grave, Enforced Disappearances in Syria, November 2015), Human Rights Watch (Syria, World Report 2015: Events of 2014, 29.1.2015) und OHCHR (Open Wounds: Torture and Ill-Treatment in the Syrian Arab Republic, 14.4.2014) hin:

„Laut AI hat die in Syrien stationierte Kontrollgruppe Syrian Network for Human Rights über 58.000 Fälle von Zivilisten dokumentiert, die zwischen März 2011 und August 2015 durch die syrische Regierung ´zwangsweise´ verschwunden sind, und am 30. August 2015 immer noch als vermisst gelten (AI, Nov. 2015, 7). Des Weiteren vermerkt dieselbe Quelle, dass alle vier Truppengattungen der syrischen Sicherheitskräfte, bestehend aus dem militärischen Geheimdienst, dem Geheimdienst der Luftwaffe, dem politischen Sicherheitsdienst und dem allgemeinen Geheimdienst (auch Staatsicherheit genannt), Personen zwangsweise verschwinden lassen würden und dass es überall im Land Gefangenenlager gebe (ebd.). AI erklärt, dass diese Gefangenen ´außerhalb des gesetzlichen Schutzes gestellt werden, und dass ihnen die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder ein faires Gerichtsverfahren verwehrt wird´; dass Gefangene in überfüllten Behausungen gehalten und regelmäßig einem Katalog der Folter ausgesetzt werden´(ebd., 8). Human Rights Watch und der UNHCR berichten über die weit verbreitete Anwendung des Verschwindenlassens, der Inhaftierung und Folter durch syrische Behörden (UN, 14. Apr. 2014, 1; Human Rights Watch, 29. Jan. 2015, 2 - 3).“

Nach den im Amnesty Report 2016 vom 2. März 2016 (http: …www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) festgehaltenen Erkenntnissen von Amnesty International hat sich an dieser Lage nichts zum Guten geändert. Dem Report ist u.a. zu entnehmen:

„Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben „verschwunden“. Unter ihnen befanden sich friedliche Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten Angehörigen inhaftiert worden waren. …

Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. …

10.000 Personen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterrorgericht oder vor militärischen Feldgerichten.“

2.2.2 Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber um des Erhalts ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft willen mit äußerster Härte gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist es zur Überzeugung des Senats nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin allein wegen ihrer Ausreise, ihres Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet wird und deshalb Verfolgungshandlungen im Sinn des § 3a Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (so auch OVG SH, U.v. 23.11.2016 - 3 LB 17.16 - juris; OVG NW, B.v. 6.10.2016 - 14 A 1852/16.A - juris; a.A. OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 18.7.2012 - 3 L 147.12 - juris).

2.2.2.1 Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt wird. Die Sicherheitsbeamten werden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob die Klägerin von den Behörden gesucht wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine „carte blanche“ haben, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S. 2 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Verwaltungsgericht Trier vom 12.10.2016 zur Ausreisekontrolle).

2.2.2.2 Zu den Folgen, die sich im Rahmen einer solchen Überprüfung für einen abgelehnten Asylbewerber ergeben, ist die Auskunftslage nicht einheitlich.

a) Die Ermittlungsabteilung (Research Directorate) der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde hat dazu verschiedene sachkundige Personen befragt. Ein emeritierter Professor für Anthropologie und Zwangsmigration der Universität Oxford (emeritus Professor of anthropology and forced migration at Oxford University, telefonische Befragung am 11.12.2015) äußerte sich dahingehend, ein abgelehnter Asylbewerber werde höchstwahrscheinlich festgenommen und inhaftiert; groß sei die Wahrscheinlichkeit, dass solche Personen gefoltert würden, um eine Aussage zu erhalten, aus welchem Grund sie geflohen seien.

Der Vorstand der Nichtregierungsorganisation „Syrisches Zentrum für Justiz und Rechenschaftspflicht“ (Executive Director „Syria Justice and Accountability Center“, telefonische Befragung am 14.12.2015) sagte, ein abgelehnter Asylbewerber werde auf jeden Fall festgenommen und inhaftiert. Ihm würde vorgeworfen, im Ausland falsche Informationen verbreitet zu haben, und er würde wie ein Oppositioneller behandelt. Er würde einer Folter unterworfen, wobei die Behörden versuchen würden, Informationen über andere abgelehnte Asylbewerber oder Oppositionelle zu bekommen. Der abgelehnte Asylbewerber riskiere, zu Tode gefoltert zu werden oder gefoltert zu werden und dann für eine sehr lange Zeit in Haft genommen zu werden.

Ein leitender auf Syrien spezialisierter Gast-Forschungsbeauftragter am King´s College London (Visiting Senior Research Fellow, telefonische Befragung am 15.12.2015) bekundete gegenüber der kanadischen Behörde, es bestünde die Möglichkeit, dass ein abgelehnter Asylbewerber wegen eines Asylantrags im Ausland festgenommen und inhaftiert werden könnte. Er war aber des Weiteren der Meinung, dass das nicht „automatisch“ der Fall sei. Die mehr traditionsbewussten syrischen Beamten seien der Überzeugung, dass alle Asylbewerber Regierungsgegner seien, und somit einer Festnahme, Inhaftierung und Folter unterworfen werden könnten. Es gebe aber auch Beamte, die verstünden, dass manche Leute vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen hätten. Nichts sei „automatisch“ oder vorhersehbar. Allerdings habe der Konflikt wahrscheinlich das Misstrauen der Beamten erhöht (vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S. 6 f.).

Die kanadische Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde zitiert in diesem Zusammenhang zudem aus den „Länderberichten über die Handhabung der Menschenrechte für 2014“ des Auswärtigen Amts der Vereinigten Staaten (US Department of State´s „Country Reports on Human Rights Practices for 2014“). Danach seien Syrer, die im Ausland erfolglos Asyl gesucht haben, bei ihrer Rückkehr der Strafverfolgung ausgesetzt. Das Gesetz sehe die Strafverfolgung jeglicher Person vor, die in einem anderen Land Zuflucht suche, um der Strafe in Syrien zu entfliehen. Das Regime nehme routinemäßig Dissidenten und ehemalige Staatsbürger mit unbekannter politischer Zugehörigkeit fest, die versucht hätten, nach Jahren oder sogar Jahrzehnten des selbst auferlegten Exils in das Land zurückzukehren.

b) Demgegenüber beantwortete die Deutsche Botschaft Beirut (Referat 313) eine Anfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Rückkehrgefährdung unter dem 3. Februar 2016 dahin, dem Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse vor, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten. Allerdings seien Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer befragt, zeitweilig inhaftiert worden seien oder dauerhaft verschwunden seien. Das stehe überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeite.

Die Frage des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts, ob unterflogt ausgereiste Asylbewerber bei Rückkehr nach Syrien Befragungen seitens des syrischen Staates ausgesetzt seien und - bejahendenfalls - wie hoch die Gefahr einzuschätzen sei, dass sie deshalb Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Staats ausgesetzt werden, beantwortete das Auswärtige Amt mit Auskunft vom 7. November 2016 wie folgt: Das Amt habe keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unterflogt ausgereisten Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien. Es lägen keine Erkenntnisse vor, dass diese Rückkehrer allein aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien.

Der UNHCR ist für den Fall einer Einzelfallprüfung von Asylanträgen syrischer Asylbewerber der Ansicht, dass Personen mit einem oder mehreren der in den Erwägungen des UNHCR angeführten Risikoprofile „wahrscheinlich“ internationalen Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention benötigen. Unter ein solches Risikoprofil fallen nach Auffassung des UNHCR unter anderem „Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Aufständische, Aktivisten und sonstige Personen, die als Sympathisanten der Opposition angesehen werden; Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen bzw. Personen, die als Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen angesehen werden; Wehrdienstverweigerer und Deserteure der Streitkräfte; Mitglieder der Regierung und der Baath-Partei, die ihre Ämter niedergelegt haben; Familienangehörige von tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern sowie andere Personen, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern in Verbindung gebracht werden; Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben“ (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S. 25 f.).

2.2.2.3 Aufgrund einer zusammenfassenden Bewertung der gesamten Umstände steht fest, dass die gegen eine Verfolgung der Klägerin sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen die dafür sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kann nicht von einem bei jedem Rückkehrer bestehenden in gleicher Weise realen Risiko von Misshandlung und Folter ausgegangen werden. Der Senat ist vielmehr davon überzeugt, dass die syrischen Sicherheitskräfte bei zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerbern selektiv vorgehen und erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung begründen.

a) Dabei bleibt nicht außer Betracht, dass der um seine Existenz kämpfende syrische Staat und dessen Machthaber ihre Ziele, nämlich die Wiederherstellung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium Syriens sowie der Machterhalt zugunsten des Präsidenten Assad und der um ihn gruppierten Clans mit größter Härte und menschenrechtswidrigen Mitteln verfolgen. In dieses Bild scheinen sich die Äußerungen der von der Ermittlungsabteilung der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde befragten sachkundigen Personen einzufügen. Gegen deren Annahme, abgelehnte Asylbewerber würden (allein) wegen des Asylantrags im Ausland „auf jeden Fall“ bzw. „höchstwahrscheinlich“ oder möglicherweise festgenommen, inhaftiert und gefoltert, spricht aber neben der Tatsache, dass die Bewertungen der sachkundigen Personen nicht näher konkretisiert sind, Folgendes:

Die im angefochtenen Gerichtsbescheid in Bezug genommenen (GA S. 7), in einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 17. Februar 2012 (3 L 147/12) beschriebenen Fälle von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, sind nicht geeignet, eine allein auf die Asylantragstellung zurückzuführende politische Verfolgung zu belegen. Im Gegenteil, die insoweit ausweislich des vorbezeichneten Urteils von Amnesty International („Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und von dem kurdischen Informationsdienst „KURDWATCH“ dokumentierten neun Fälle zeigen, dass Verfolgungsmaßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte nicht allein durch die Asylantragstellung, sondern durch hinzutretende Umstände ausgelöst wurden. Dazu in der Reihenfolge der Fälle wie sie im Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 17. Februar 2012 angeführt sind:

- Der syrische Kurde B. K. hatte in Zypern erfolglos Asyl beantragt und wurde im Juni 2009 bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Hier trat zum Asylantrag hinzu, dass B. K. nach den Erkenntnissen von amnesty international bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft war. Er war damit bereits vor seiner Ausreise in das Blickfeld der syrischen Dienste geraten.

- Der syrische Kurde K. K. wurde nach abgelehntem Asylantrag am 1. September 2009 nach Syrien abgeschoben. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Herrn K. wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Allerdings, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt lässt das unerwähnt, war Gegenstand des geheimdienstlichen Verhörs auch die Teilnahme des Verhafteten an einer Kundgebung gegen das Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und der Arabischen Republik Syrien. Nach Angaben des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien hat der Rechtsanwalt des Herrn K. mitgeteilt, dass sich die nachfolgende Anklage auf den Vorwurf gestützt habe, Herr K. habe in Deutschland an dieser Kundgebung teilgenommen. Ein Monitoring durch den Verbindungsbeamten bestätigte, dass Herr K. der Aussage seines Anwaltes entsprechend wegen der Teilnahme an einer Kundgebung in Deutschland verurteilt wurde (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylrelevante Informationen, Rückübernahmeabkommen, Identitätspapiere, Asyl-Like-Minded Group und aktuelle Situation, April 2011, S. 11 f.).

- Der syrische Kurde A. al-K. H. wurde im August 2010 aus Norwegen abgeschoben und bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Hier tritt hinzu, dass es sich bei Herrn A. al-K. H. um den stellvertretenden Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen handelte, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Er war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasste.

- Nach einem von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige (kurdische) Familie nach Damaskus abschieben lassen. H. H. und K. H. wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. In diesem Fall kommt hinzu, dass die beiden festgenommen wurden, weil sie in Deutschland straffällig geworden waren. Der Aussage des H. H. zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so H. H., sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden.

- Der staatenlose Kurde D. A. wurde nach seiner Abschiebung aus Dänemark am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Herr A. war in Dänemark politisch aktiv.

- Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Herrn D. Y. M. vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In diesem Fall tritt hervor, dass der Betroffene in Zypern gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen hatte.

- Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen B. N. und seinen Sohn A. N. nach Syrien abschieben lassen. Beide wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Herrn A. N. wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater, Herr B. N, wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Er wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen. Unabhängig davon, dass es sich bei den Betroffenen um registrierte Staatenlose handelte, tritt hier die Problematik der Identitätsfeststellung in den Vordergrund.

- Am 8. Februar 2011 wurde Herr A. A. von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich dem Königreich Dänemark zuvor die Rücknahme des Herrn A. zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Herrn A. begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Herrn A. nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Herr A. von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Herrn A. mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Herr A. leugnete das und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Herr A. gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. Es ist auch in diesem Fall ohne Weiteres erkennbar, dass Anlass für die angebliche Misshandlung nicht (allein) ein Asylantrag des abgeschobenen Syrers war.

- Im Fall des Herrn K. H., der im Zuge seiner Abschiebung aus Deutschland am 13. April 2011 am Flughafen Damaskus festgenommen wurde, ergab sich das Interesse des syrischen militärischen Nachrichtendienstes an der Person des Abgeschobenen aus dessen exilpolitischen Aktivitäten, zu denen er im Verlauf einer einwöchigen Haft verhört wurde.

In die gleiche Richtung weisen auch zwei Fallbeispiele der kanadischen Immigrations- und Flüchtlingsbehörde im Zusammenhang mit der Behandlung von abgelehnten Asylbewerbern. So soll ein syrischer Mann, der in Australien ohne Erfolg Asyl beantragt hatte, bei seiner Rückkehr im August 2015 von syrischen Regierungsbeamten am Flughafen Damaskus „ausgesondert“ worden sein, „weil er von Al-Harra in der Provinz Daraa stammte. … Den Berichten zufolge beschuldigten ihn syrische Beamte, ein ´Finanzier der Revolution´ zu sein, als sie Bargeld bei ihm fanden, das ihm von der australischen Regierung für seine Rückkehr gegeben worden war; sie ´folterten´ ihn 20 Tage lang, dazu gehörten Schläge in das Gesicht, auf den Rücken und die Brust …“. Des Weiteren verweist die kanadische Behörde auf eine Stellungnahme von Human Rights Watch vom November 2013. Danach sollen laut dem UNHCR etwa 35 Palästinenser aus Syrien, die während des syrischen Konflikts nach Ägypten geflohen waren, nach Syrien zurückgeschickt worden sein; einige wurden bei Ankunft am Flughafen festgenommen (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S. 6).

b) Es gibt keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die Eingriffsschwelle der syrischen Stellen bei künftigen Abschiebungen wesentlich niedriger wäre und sie Rückkehrer unabhängig von signifikanten gefahrerhöhenden Merkmalen oder Umständen allein wegen der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgen.

Insoweit führt die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht weiter, der syrische Staat sei infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nehme. Dabei ist nicht nachvollziehbar belegt, dass die syrischen Sicherheitskräfte nunmehr - anders als bis zum Abschiebestopp im Jahr 2011 - allein die Asylantragstellung in Deutschland als Hinweis auf eine oppositionelle Haltung betrachten würden. Solches ergibt sich auch nicht aus dem Verweis des Verwaltungsgerichts auf eine Zuspitzung der Situation in Syrien und einen Überlebenskampf des Assad-Regimes. Eine derartige Zuspitzung ist schon mit Blick auf die allgemein bekannte Tatsache zweifelhaft, dass sich die militärische Lage aufgrund der seit dem 30. September 2015 massiven militärischen Unterstützung durch die Russische Föderation zugunsten des syrischen Staates, wenn auch nicht entspannt, so doch jedenfalls verbessert hat. Unabhängig davon ließe sich eine Zuspitzung der Situation in Syrien auch dahin interpretieren, dass die syrischen Machthaber zunehmend auf den Zuspruch des ihnen zugeneigten Teils der Bevölkerung angewiesen sind und aus diesem Grund Verfolgungsmaßnahmen im Grundsatz nicht auf einem derart niedrigen Verdachtsniveau ansetzen wie vom Verwaltungsgericht angenommen.

Gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts spricht im Übrigen auch, dass laut Schätzungen der Vereinten Nationen und der Regierungen der Länder, die Flüchtlinge aufgenommen haben, jedes Jahr Hunderttausende von Flüchtlingen nach Syrien reisen; meistens um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, Dokumente einzuholen oder zu erneuern oder um Familienmitgliedern und Freunden lebenswichtige Hilfe zu geben, bevor sie wieder in benachbarte Länder einreisen (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsausschuss von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen vom 19.1.2016; SYR105361.E, S. 2 unter Verweis auf den Norwegischen Flüchtlingsrat und des Internationale Rettungskomitee). Eine solch umfangreiche Reisetätigkeit zeigt, dass die in den benachbarten Ländern lebenden syrischen Flüchtlinge trotz des (extrem) repressiven Charakters des syrischen Staates davon ausgehen, im Rahmen der auch an den übrigen Grenzübergängen zu Syrien strengen Grenzkontrollen (vgl. dazu Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S. 2 f) keiner besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, erfolglose Asylbewerber aus dem westlichen Ausland würden - im Gegensatz zu den in die Anrainerstaaten Syriens Geflüchteten - deshalb (unterschiedslos) als Oppositionelle betrachtet, weil die syrische Regierung eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land für den Ursprung des Bürgerkriegs verantwortlich mache, ist eine bloße Vermutung, die sich angesichts der hohen Zahl in das westliche Ausland geflüchteter Syrer auch nicht nachvollziehbar aus dem Charakter des syrischen Staates ableiten lässt.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn der Deutschen Botschaft Beirut einerseits keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten, ihr aber andererseits Fälle bekannt sind, bei denen Rückkehrer befragt, zeitweilig inhaftiert worden sind oder dauerhaft verschwunden sind und das jedoch überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidiger) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst steht. Ebenso ist der Hinweis der Botschaft plausibel, das entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeite (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3.2.2016).

Diese Auskunft erhält dadurch besonderes Gewicht, dass der UNHCR in seinen „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (4. aktualisierte Fassung November 2015) davon ausgeht, im Rahmen einer Einzelfallprüfung benötigten syrische Asylbewerber wahrscheinlich internationalen Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn sie einem oder mehreren der in den Erwägungen angeführten Risikoprofile zuzuordnen seien. Unter ein solches Risikoprofil sollen nach dem Inhalt der Erwägungen etwa Personen fallen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen. Der UNHCR führt dazu verschiedene Beispiele an wie etwa Wehrdienstverweigerer, Aufständische oder Aktivisten. Personen, die im westlichen Ausland einen Asylantrag gestellt haben, werden demgegenüber nicht genannt. Dabei handelt es sich ersichtlich nicht um eine Nachlässigkeit, denn der UNHCR betrachtet die von ihm erstellten Risikoprofile als Grundlage für eine „Einzelfallprüfung“. Eine solche wäre aber, wie auch die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts deutlich macht, nicht erforderlich, wenn bereits die Asylantragstellung genügte, einen Asylbewerber dem Risikoprofil „Oppositioneller“ zuzuschlagen.

c) Der Länderbericht des Auswärtigen Amts der Vereinigten Staaten für das Jahr 2014, den die kanadische Immigrations- und Flüchtlingsbehörde zitiert (s.o. Nr. 2.2.2.2 a)), rechtfertigt keine andere Bewertung. Zwar sollen danach Syrer, die im Ausland erfolglos Asyl beantragt haben, bei ihrer Rückkehr der Strafverfolgung ausgesetzt sein. Allerdings ist dem Bericht in diesem Zusammenhang auch zu entnehmen, dass die Strafverfolgung nur für solche Personen vorgesehen ist, die in einem anderen Land Zuflucht suchen, um sich der Strafe in Syrien zu entziehen. Ebenso wenig führt hier die Feststellung des amerikanischen Auswärtigen Amts weiter, das Regime nehme routinemäßig nach Jahren oder sogar Jahrzehnten zurückkehrende Dissidenten und ehemalige Staatsbürger mit unbekannter politischer Zugehörigkeit fest. Die Klägerin zählt nicht zu diesem Personenkreis; sie ist keine Dissidentin und besitzt nach wie vor die syrische Staatsbürgerschaft.

d) Der vom Verwaltungsgericht hervorgehobene Umstand, dass die syrischen Geheimdienste die im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen (angeblich) umfassend beobachten, trägt zur Beurteilung nichts Wesentliches bei. Er bestätigt den repressiven Charakter des syrischen Staates, hat aber für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung vor dem Hintergrund der übrigen Erkenntnisse kein besonderes Gewicht.

2.2.3 Es kann dahinstehen, ob eine nach syrischem Recht illegale Ausreise im Falle einer Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte auslöst. Die Klägerin hat Syrien nach ihrem Vorbringen gegenüber dem Bundesamt und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht illegal verlassen. Sie flüchtete danach zusammen mit ihrem Vater nach Deutschland. An der Grenze zum Libanon hat eine Kontrolle stattgefunden, dabei ist der Reisepass der Klägerin von beiden Seiten (syrische und libanesische) überprüft worden. Die Klägerin gab in diesem Zusammenhang zwar an, an einen syrischen Beamten ungefähr 3.000 syrische Lira gezahlt zu haben. Daraus ergibt sich aber in seiner Allgemeinheit und in der Zusammenschau mit dem übrigen Vorbringen der Klägerin zur Grenzkontrolle nicht, dass sie unter Umgehung der Ausreisekontrolle illegal ausgereist ist.

Der angebliche Verlust des Reisepasses während der Überfahrt nach Griechenland rechtfertigt nicht die Annahme, dass im Falle einer Rückkehr der Klägerin die legale Ausreise nicht nachweisbar dokumentiert ist. Die syrischen Behörden erfassen im Rahmen der Grenzkontrolle die Ausreisedaten in ihrem elektronischen Datensystem, wo sie bei der Einreise abgerufen werden können (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen vom 19.1.2016 SYR105361.E, S. 8 unter Verweis auf eine telefonische Befragung des Vorstands des „Syrischen Zentrums für Justiz und Rechenschaftspflicht“ am 14.12.2015).

2.2.4 Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich zur Überzeugung des Senats auch nicht daraus, dass der UNHCR insbesondere Frauen ohne Schutz durch Männer als Risikogruppe betrachtet (vgl. UNHCR, „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S. 26). Insoweit fehlt es an einem konkreten Anhalt dafür, dass bei einer Rückkehr nach Syrien im Rahmen der Einreisekontrolle ein erhöhtes Risiko für Verfolgungshandlungen in Anknüpfung an das Geschlecht besteht (§ 3a Abs. 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Soweit der UNHCR feststellt, die Situation von Frauen verschlechtere sich durch den fortgesetzten Konflikt dramatisch, weil Frauen aufgrund ihres Geschlechts zunehmend Opfer unterschiedlicher Gewalthandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden, bezieht sich das auf die kriegsbedingten Verhältnisse im Land (vgl. UNHCR, „Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, 4. aktualisierte Fassung November 2015, S. 14). Im Übrigen lebte die Klägerin vor ihrer Ausreise in Damaskus und hätte im Falle ihrer Rückkehr dort nach den Verhältnissen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine kriegsbedingten Gewalthandlungen zu befürchten.

2.2.5 Eine andere Gefährdungsprognose ist auch nicht mit Blick darauf veranlasst, dass den „Antworten auf Informationsanfragen“ der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde vom 19. Januar 2016 entnommen werden kann, für Personen die wegen ihrer Kleidung religiös erschienen, bestehe ein größeres Risiko, von den Grenzbeamten misshandelt zu werden (vgl. dort S. 9 unter Verweis auf die telefonische Befragung eines leitenden Gast-Forschungsbeauftragten am King´s College London am 15.12.2015 und eines Programmbeauftragten am Center for Civilians in Conflict am 11.12.2015). Allerdings ist unabhängig davon, dass die befragten sachkundigen Personen offensichtlich keine Bezugsfälle angeführt haben, schon unklar, wann eine Person wegen ihrer Kleidung religiös erscheint. Angesichts des Umstands, dass sich die Arabische Republik Syrien als laizistischer Staat versteht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 9.7.2008, S. 13), geht es insoweit letztlich darum, ob die betroffene Person im Hinblick auf ihre Kleidung von syrischen Sicherheitskräften der Opposition zugeordnet wird. Dafür besteht bei der Klägerin kein konkreter Anhalt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

5. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

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Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. Juni 2016 wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2

Der am … 1993 geborene Kläger, ein syrische Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste eigenen Angaben zufolge am 22. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.

3

Zur Begründung machte er geltend, Syrien wegen des Krieges und aus Angst vor dem Verhungern verlassen zu haben. A… in der Provinz Homs, wo er gelebt habe, sei mal vom Regime und mal von bewaffneten Milizen übernommen worden. Es sei gefährlich gewesen zwischen den Fronten. Es habe ständig die Gefahr bestanden, von einer Seite gefangen genommen zu werden. Im Jahr 2013 seien Verwandte bei einer Straßenkontrolle mitgenommen worden. Sie seien nicht wiedergekommen; wahrscheinlich seien sie getötet worden. Zudem habe er Angst gehabt, vom Militär mitgenommen und als Soldat eingesetzt zu werden. Offiziell einberufen worden sei er noch nicht. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, eingezogen oder inhaftiert zu werden, weil er vor dem Wehrdienst geflohen sei.

4

Mit Bescheid vom 12. April 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu. Im Übrigen lehnte es den Asylantrag mit der Begründung ab, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei.

5

Das Verwaltungsgericht Trier hat auf die hiergegen erhobene Klage die Beklagte mit Urteil vom 16. Juni 2016 – 1 K 1520/16.TR – unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Mit Blick auf die Erkenntnismittel, insbesondere die aktuelle Situation in Syrien, sei davon auszugehen, dass dem Kläger für den Fall der Rückkehr nach dort ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf der Grundlage der auch aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage sei beachtlich wahrscheinlich, dass im Falle der Rückkehr wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, weil davon auszugehen sei, dass einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

6

Mit Beschluss vom 15. September 2016 – 1 A 10658/16.OVG – hat der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Am 30. September 2016 hat die Beklagte die Berufung begründet.

7

Sie macht geltend, dass Flüchtlingen aus Syrien im Falle ihrer Rückkehr dorthin nicht allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung drohe.

8

Die Beklagte beantragt,

9

unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung nimmt er Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend macht er geltend, dass die von der Beklagten vertretene Auffassung, Rückkehrer nach Syrien unterlägen zwar allgemein der Gefahr der Folterung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, dem liege jedoch keine unterstellte Regimegegnerschaft zugrunde, lebensfremd sei. Verhaftungen und Folterungen dienten keinem Selbstzweck, sondern der Unterdrückung jeglicher Regimegegnerschaft. Sie richteten sich immer gegen Personen, die der Regimegegnerschaft verdächtigt würden, wofür in Syrien indessen bereits derartige Nichtigkeiten genügten, dass dies aus Sicht eines in einem rechtsstaatlichen System lebenden Betrachters als willkürlich erscheinen möge. Demgemäß genüge auch bereits ein Auslandsaufenthalt für den Verdacht oppositioneller Haltung oder Tätigkeit. Dies gelte umso mehr, da sich das syrische Regime seit Jahren im Kampf um das eigene Überleben befinde. In individueller Hinsicht wirke in seinem Falle gefahrerhöhend, dass er aus der Rebellenhochburg Homs stamme und sich im wehrfähigen Alter befinde. Hinzu komme noch, dass sein 1990 geborener Bruder – dem die Beklagte im Übrigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe – bereits eine Einberufung zum Militärdienst erhalten, aber nicht befolgt habe, was nochmals zu einer Gefahrerhöhung auch für den Kläger führe.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den Kläger (Az. 6513645-475) und dessen Bruder (Az. 6513662-475), jeweils 1 Heft, Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

14

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig und begründet.

16

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

17

1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK –, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.

18

a. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK –, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

19

Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können gemäß § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung sowie die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde.

20

b. Die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden in § 3b Abs. 1 AsylG näher umschrieben.

21

Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe.

22

Als Religion im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG definiert § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

23

Der Verfolgungsgrund der Nationalität umfasst gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG über die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen hinaus insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird.

24

Eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG).

25

Den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung definiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG als das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft; unerheblich ist, ob der Ausländer aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

26

§ 3b Abs. 2 AsylG stellt schließlich ergänzend fest, dass es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, nicht darauf ankommt, ob er die zur Verfolgung führenden Merkmale tatsächlich aufweist. Ausreichend ist bereits, dass diese ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

27

c. Was den notwendigen Zusammenhang zwischen den in §§ 3 Abs. 1 und 3 b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen angeht, stellt § 3a Abs. 3 AsylG nochmals klar, dass insoweit eine Verknüpfung bestehen muss.

28

d. § 3c AsylG legt fest, von wem Verfolgung ausgehen kann: Über den Staat (Nr. 1) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), hinaus können dies nach § 3c Nr. 3 AsylG auch nichtstaatliche Akteure sein, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

29

e. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet nach § 3e Abs. 1 AsylG dann aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

f. Ob eine Verfolgung der vorstehend näher beschriebenen Art droht, d. h. der Ausländer sich im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylGaus begründeter Furcht vor einer solchen Verfolgung außerhalb des Herkunftslandes befindet, ist anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die auf der Grundlage einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urteil vom 6. März 1990 – 9 C 14.89 –, BVerwGE 85, 12, juris, m. w. N.).

31

aa. Dabei ist es Aufgabe des Schutzsuchenden, von sich aus unter genauer Angabe von Einzelheiten den der Prognose zugrunde zu legenden, aus seiner Sicht die Verfolgungsgefahr begründenden Lebenssachverhalt zu schildern (§ 25 Abs. 1 AsylG).

32

Das Gericht muss sich sodann, um die behaupteten, möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Tatsachen seiner Entscheidung als gegeben zugrunde legen zu können, nach § 108 Abs.1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugung von deren Wahrheit – und nicht nur von deren Wahrscheinlichkeit – verschaffen. Zwar gilt hierbei der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind. Zudem ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der guten Gründe für seine Verfolgungsfurcht beschwerten Schutzsuchenden zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts legt den Tatsachengerichten insoweit nahe, den eigenen Erklärungen des Schutzsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist, und den Beweiswert seiner Aussage im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für das Asylverfahren mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Schutzsuchenden glaubt (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

33

bb. Die Prognose in Bezug auf eine bei Rückkehr in den Heimatstaat drohende Verfolgung hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – ABl. EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl. EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24 – einheitlich anhand des Maßstabs der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu erfolgen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, BVerwGE 140, 22, und vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, beide in juris, m. w. N.).

34

(1) Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris, m. w. N.) eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert.

35

(2) Von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender politischer Verfolgung muss das Gericht – wie auch bereits von der Wahrheit des der Prognose zugrunde zu legenden Lebenssachverhalts – die volle richterliche Überzeugung gewonnen haben (BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 – 9 C 109/84 –, BVerwGE 71, 180, juris, m. w. N.).

36

(3) Eine Beweiserleichterung gilt für Vorverfolgte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; etwas anderes soll nur dann gelten, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. Für denjenigen, der bereits Verfolgung erlitten hat, streitet also die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die aus der Vorverfolgung resultierende Vermutung kann allerdings widerlegt werden. Erforderlich ist hierfür, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, BVerwGE 136, 388, juris, m. w. N.).

37

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze droht dem Kläger im Falle einer – ungeachtet des ihm mit Bescheid vom 12. April 2016 zuerkannten subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) und des hieraus resultierenden Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 2 AufenthG) – hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Senats dort nicht beachtlich wahrscheinlich Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.

38

a. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergäbe, hat der Kläger weder gegenüber dem Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht.

39

b. Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

40

aa. Das Verwaltungsgericht hat eine entsprechende Gefährdung ausschließlich unter Hinweis darauf bejaht, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich die Festnahme und damit verbunden die Gefahr von Folter drohe, womit seitens der syrischen Behörden einer vermuteten Einstellung gegen das derzeitige politische System nachgegangen werde.

41

Damit folgt das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der bislang mit dieser Frage befassten Gerichte (vgl. OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, VGH BW, Beschlüsse vom 19. Juni 2013 – A 11 S 927/13 – und vom 29. Oktober 2013 – A 11 S 2046/13 –, HessVGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 – 3 A 917/13.Z.A –, sowie eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen, zuletzt etwa VG Köln, Urteil vom 25. Oktober 2016 – 20 K 2890/16.A –, VG Münster, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 8 K 2127/16.A –, VG Schleswig, Urteil vom 6. Oktober 2016 – 12 A 651/16 –, m. w. N.; a. A.: in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, zuletzt mit Beschlüssen vom 5. September 2010 – 14 A 1802/16.A – und vom 6. Oktober 2016 – 14 A 1852/16.A –, jeweils m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Juli 2016 – 5 K 5853/16.A – und vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16.A –, alle in juris, sowie BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 – 21 ZB 16.30338 u. a. –, Entscheidungsgründe noch nicht veröffentlicht).

42

Dem vermag sich der Senat indessen nicht anzuschließen.

43

Zwar trifft es zu, dass mangels Referenzfällen – wegen der eskalierenden Lage finden Abschiebungen bereits seit Jahren nicht mehr statt (vgl. dazu auch die entsprechende Empfehlung des Bundesministeriums des Innern an die Länderinnenverwaltungen vom 28. April 2011, Az. M I 3 – 125 242 SYR/O) – die Prognose, ob im Falle einer hypothetischen Abschiebung nach Syrien dort aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, notwendigerweise aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen hat.

44

Demgemäß begründen die eine entsprechende Verfolgungsgefahr bejahenden Gerichte ihre Prognosen jeweils mit einer ganzen Reihe von Einzelfaktoren. Hierzu gehören insbesondere (vgl. exemplarisch etwa OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, juris) die Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungsstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und der Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition unterstützen. Auch hiergegen ist systematisch nichts zu erinnern.

45

Der erkennende Senat gelangt allerdings im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau aller maßgeblichen Umstände zu einem abweichenden Ergebnis im Hinblick auf die allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt bestehende Verfolgungsgefahr.

46

Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist rechtlich zwischen zwei Fragestellungen zu unterscheiden, nämlich dem beachtlich wahrscheinlichen Drohen einer Verfolgungshandlung gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG als solcher und deren ebenfalls beachtlich wahrscheinlicher Verknüpfung (§ 3a Abs. 3 AsylG) mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG.

47

(1) Danach kann für die hier allein streitgegenständliche Frage der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG letztlich offen bleiben, ob dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien dort überhaupt beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a AsylG dergestalt droht, einer Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht.

48

Zweifel hieran könnten sich im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats möglicherweise aus dem Umstand ergeben, dass Ende 2015 von den rund 22 Millionen zuvor in Syrien lebenden Menschen bereits rund 4,9 Millionen, mithin knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung, aus dem Land geflohen waren (UNHCR, Global Trends – Forced Displacement in 2015,

49

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

50

Dass es sich hierbei mehrheitlich nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, muss bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch den syrischen Behörden bekannt sein. Dass dem tatsächlich so ist, wird überdies durch eine Äußerung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen bestätigt, wonach es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe

51

(http://www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html).

52

In diese Richtung deutet auch eine Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016. Danach liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse dazu vor, dass ausschließlich aufgrund des vorangegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erwarten haben. Zwar seien Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien; diese stünden allerdings überwiegend im Zusammenhang mit oppositionellen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten und Menschenrechtsverteidigern) oder im Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Wehrdienst. Dies entspreche auch den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen, mit denen das Auswärtige Amt bzw. die Botschaft Beirut zusammenarbeiteten.

53

Andererseits ergeben sich bereits aus der zitierten Äußerung des syrischen Präsidenten aber auch deutliche Hinweise darauf, dass die syrischen Sicherheitsbehörden alle Rückkehrer schon deshalb jedenfalls einer eingehenden Befragung unterziehen werden, damit sie einschätzen können, ob Verdachtsmomente für terroristische Aktivitäten – oder möglicherweise auch nur für eine regimegegnerische Haltung des Betroffenen oder für Kenntnisse über oppositionelle Aktivitäten Dritter – gegeben sind. Die mit derartigen Befragungen ausweislich zahlreicher bis zum Jahr 2011 dokumentierter Referenzfälle (vgl. beispielsweise OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 –, und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2012 – 14 A 2708/10.A –, beide in juris, jeweils m. w. N.) jedenfalls in der Vergangenheit verbunden gewesenen weiteren Risiken einer Verhaftung und/oder von Misshandlungen vom Schweregrad des § 3a AsylG können auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen massenhaften Ausreise jedenfalls nicht hinreichend verlässlich ausgeschlossen werden.

54

Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner abschließenden Klärung, weil eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben wäre.

55

(2) Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse reichen nicht aus, um seine Überzeugung von einer beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung einer möglicherweise allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt drohenden Verfolgungshandlung mit Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3a Abs. 3 AsylG zu begründen; weiterreichende taugliche Erkenntnismittel sind weder von den Beteiligten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.

56

Eine entsprechende beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den syrischen Behörden zumindestzugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dies deckt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der politisch Verfolgte weder tatsächlich noch nach der Überzeugung des verfolgenden Staates selbst Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sein müssen, sondern politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits politischer Verfolgung unterliegt (BVerfG, Beschluss vom 22. November 1996 – 2 BvR 1753/96 –, juris).

57

Dafür, dass die syrischen Sicherheitsbehörden in diesem Sinne letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien illegal verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechnen, gibt es keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse. Im Gegenteil erscheint dies lebensfremd, da angesichts von fast 5 Millionen Flüchtlingen auch dem syrischen Staat – wie bereits dargelegt – bekannt ist, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen hat (so auch in ständiger Rechtsprechung OVG NRW, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 6. Oktober 2010 – 14 A 1852/16.A – und vom 5. September 2016 – 14 A 1802/16.A – m. w. N., OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 – 3 LB 17/16 –, VG Potsdam, Urteil vom 3. Dezember 2013 – 6 K 3592/13.A –, und VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 K 9062/16-A –, alle in juris).

58

Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse (a) zur Behandlung von Personen, die bis zum Abschiebestopp im Jahre 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, (b) zur umfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, (c) zur Eskalation der innenpolitischen Situation seit März 2011 und (d) zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Beginn des Jahres 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

59

(a) (aa) Das Auswärtige Amt hat in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 27. September 2010 zur Behandlung von Rückkehrern (S. 19 f.) mitgeteilt, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt würden. Diese Befragungen könnten sich (zwar) über mehrere Stunden hinziehen, in der Regel werde dann jedoch die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet; in manchen Fällen werde der Betroffene für die folgenden Tage nochmals zum Verhör einbestellt. (Lediglich) in Einzelfällen würden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten; dies dauere in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Im Jahr 2009 seien – bei insgesamt 40 in 2009 und dem ersten Quartal 2010 von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen Rückübernahmeabkommens zurückgeführten Personen – in drei Fällen Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekanntgeworden. In einem Fall könne bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen sei. Der Betroffene sei unter dem Vorwurf verhaftet worden, in Deutschland Asyl beantragt und „im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“. Später sei der auf Kaution freigelassene und sodann ausgereiste Mann in Abwesenheit wegen „Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ zu einer Haftstrafe von 4 Monaten sowie einer Geldstrafe von 80 SYP (1,17 €) verurteilt worden. Eigenen – nicht verifizierbaren – Angaben zufolge sei der Betroffene während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt worden.

60

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Syrien bereits allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich aufgrund einer von den syrischen Behörden vermuteten regimefeindlichen Einstellung die Festnahme und Folter drohe, kann den Feststellungen des Lageberichts letztlich nichts entnommen werden.

61

Fraglich erscheint bereits, ob für die im Rahmen der Verfolgungsprognose hypothetisch zu unterstellende Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat überhaupt von einer Abschiebung auszugehen ist. In diesem Fall müsste der Betroffene ja – um überhaupt abgeschoben werden zu können – nach bestandskräftigem Abschluss des Erstverfahrens zur Ausreise verpflichtet sein. Dann aber stellte sich die Frage, ob eine durch den Umstand, dass der Schutzsuchende nicht dieser rechtlichen Verpflichtung folgend freiwillig ausreist, sondern es auf eine Abschiebung ankommen lässt, bewirkte Gefahrerhöhung nicht entsprechend den Grundsätzen für missbräuchlich geschaffene Nachfluchtgründe (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2008 – 10 C 27/07 –, BVerwGE 133, 31, juris) im Rahmen des § 3 AsylG außer Betracht zu bleiben hat. Letztlich kann dies allerdings dahinstehen, da sich aus dem o. a. Lagebericht auch für den hypothetisch unterstellten Fall einer Abschiebung nach Syrien keine zureichenden Anhaltspunkte für eine beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung Gefährdung ergeben.

62

Auf der Grundlage einer Gesamtzahl von rund 40 zurückgeführten Personen wird von insgesamt drei Inhaftierungen berichtet. Da nach dem Lagebericht derartige Inhaftierungen zum Zweck einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden erfolgen können, und in einem der drei berichteten Fälle eine Anklage und Verurteilung wegen Verbreitung falscher, das Ansehen des Staates herabsetzenden Aussagen erfolgt ist, ergibt sich hieraus letztlich bereits keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung von Personen, die derartige Äußerungen im Ausland jedenfalls nicht bekanntermaßen, insbesondere im Rahmen ihrer Asylantragstellung, getätigt haben, überhaupt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3 i. V. m. § 3a AsylG überzogen zu werden. Dies gilt umso mehr, als Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland, die – wie der Kläger – ihr Asylbegehren nicht mit einer Verfolgung durch den syrischen Staat, sondern lediglich mit dem in Syrien herrschenden Bürgerkrieg und dessen Folgen begründet haben, dies auch noch zusätzlich durch Vorlage der Anhörungsniederschrift sowie des Bescheides des Bundesamtes und ggfls. der hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile belegen können.

63

Erst recht lassen sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 keine Hinweise auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden Verfolgung aus einem der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsgründe entnehmen.

64

(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 147/12 – zugrunde gelegten Dokumentationen von amnesty international „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012

65

(https://www.amnesty.de/downloads/download-menschenrechtskrise-syrien-erfordert-abschiebungsstopp)

66

und des kurdischen Informationsdienstes KURDWATCH

67

(http://www.kurdwatch.org/?cid=1&z=en)

68

betreffend die Festnahme von Rückkehrern in insgesamt 9 Fällen im Zeitraum von Juni 2009 bis zum 13. April 2011. In jedem dieser Fälle bestehen nämlich besondere Einzelfallumstände, die als eigenständige Erklärung für die Verhaftung bei der Rückkehr nach Syrien dienen können. In einem Fall war der Betroffene bereits 2005 in Syrien in Haft gewesen. In einem anderen Fall – wohl dem, über den auch bereits das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 27. September 2010 berichtet hat – wurden dem Asylbewerber offenbar konkrete Angaben bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vorgehalten. Die weiteren Festnahmen erklären sich durch das Engagement als stellvertretender Direktor eines Vereins syrischer Kurden, der auf die Situation der Kurden in Syrien aufmerksam macht, eine den syrischen Behörden bekannt gewordene Straffälligkeit wegen Diebstahls in Deutschland, falsche Altersangaben im Pass und diverse exilpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme an Hungerstreiks und das Berichten hierüber.

69

(cc) Ganz abgesehen davon wäre aber auch selbst eine – nach der Überzeugung des Senats nicht gegebene – beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung in Bezug auf bis zum Jahre 2011 nach Syrien abgeschobene abgelehnte Asylbewerber nur ein schwaches Indiz für eine entsprechende Gefährdung bei heutiger fiktiver Rückkehr allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt.

70

Bis 2011 gibt es keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien, die im Ausland um politisches Asyl nachgesucht haben; im Gegenteil war Syrien Ende des Jahres 2011 mit 755.400 aufgenommenen Flüchtlingen hinter Pakistan und dem Iran und noch vor der Bundesrepublik Deutschland das drittstärkste Aufnahmeland weltweit (UNHCR, Global Trends 2011 – A Year of Crises,

71

http://www.unhcr.org/statistics/country/4fd6f87f9/unhcr-global-trends-2011.html).

72

Angesichts des Nichtvorliegens von Gründen für eine massenhafte Flucht aus Syrien bis dahin mag es für die syrischen Sicherheitsbehörden damals nach der Lebenserfahrung nahegelegen haben, unter denjenigen, welche gleichwohl im Ausland Asyl beantragt hatten, einen beachtlichen Prozentsatz an dem syrischen System kritisch oder sogar feindlich gegenüber stehenden Personen zu vermuten. Diese Vermutung rechtfertigt sich indessen nicht mehr, nachdem zeitlich zusammentreffend mit der ab Januar 2012 eskalierenden Gewaltanwendung in Syrien (siehe dazu näher Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17. September 2012) im Verlauf von 4 Jahren rund 5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind; vgl. UNHCR, Global Trends 2012 – Displacement, The New 21st Century Challenge, Global Trends 2013 – Wars’s Human Cost, Global Trends 2014 – World at War, und Global Trends 2015 – Forced Displacement in 2015,

73

http://www.unhcr.org/statistics/country/51bacb0f9/unhcr-global-trends-2012.html,

74

http://www.unhcr.org/statistics/country/5399a14f9/unhcr-global-trends-2013.html,

75

http://www.unhcr.org/statistics/country/556725e69/unhcr-global-trends-2014.html

76

http://www.unhcr.org/statistics/unhcrstats/576408cd7/unhcr-global-trends-2015.html).

77

Dass es sich bei den Geflohenen größtenteils nicht um Oppositionelle handelt, sondern um Bürgerkriegsflüchtlinge, ist – wie bereits eingangs dargelegt – auch den syrischen Behörden bekannt.

78

(dd) Erheblich lebensnäher als die Annahme, dass die syrischen Behörden allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt generell das Vorhandensein einer gegen das derzeitige politische System gerichteten Einstellung vermuten und aufgrund dessen gegen den Betroffenen vorgesehen, erscheint es nach alledem, dass mittels der scharfen Einreisekontrollen mit den zurückkehrenden Flüchtlingen ins Land einsickernde Terroristen und Regimegegner aus der Masse der Flüchtlinge herausgefiltert werden sollen. Möglicherweise mag es auch darum gehen, im Einzelfall vorhandene Wahrnehmungen oder Kenntnisse die Tätigkeit der Exilopposition betreffend „abzuschöpfen“, wobei jedoch auch insoweit angesichts von Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge nicht davon ausgegangen werden kann, dass die syrischen Sicherheitsbehörden bei jedem oder auch nur bei einer großen Zahl von Rückkehrern derartiges Wissen vermuten.

79

Insgesamt kann sonach nicht festgestellt werden, dass die Gefahr, bei einer fiktiven Rückkehr nach Syrien festgenommen und unter Anwendung von Folter verhört zu werden, an dem Betroffenen vom syrischen Staat zumindest im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG zugeschriebene Merkmale nach den §§ 3 Abs. 1, 3b Abs.1 AsylG anknüpfen würde. Dafür, dass der syrische Staat bei heutiger Rückkehr in unpolitischen erfolglosen Asylbewerbern mehr sehen würde, als bloß potentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene, auf die er sodann möglicherweise wahllos-routinemäßig zugreift, um unter Umständen Hinweise auf Terroristen oder Oppositionelle zu gewinnen, lässt sich jedenfalls aus den Erkenntnissen zur Behandlung von Personen, die bis 2011 nach Syrien abgeschoben worden sind, nichts herleiten.

80

(ee) Eine andere Bewertung insoweit legen schließlich auch nicht Berichte jüngeren Datums über die Behandlung von Rückkehrern aus nichteuropäischen Ländern nahe.

81

So führt das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 13. April 2016

82

(http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm)

83

unter Section 2d zum Thema „Emigration and Repatriation“ zwar aus, dass Personen, welche erfolglos in anderen Ländern um Asyl nachgesucht hätten, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt seien

84

(„On their return to the country, both persons who unsuccessfully sought asylum in other countries and those who had previous connections with the Syrian Muslim Brotherhood faced prosecution.“),

85

erläutert dies jedoch im Folgesatz dahingehend, dass das Gesetz die Verfolgung von Personen vorsehe, welche im Ausland Schutz gesucht hätten, um sich einer Strafe in Syrien zu entziehen

86

(„The law provides for the prosecution of any person who attempts to seek refuge in another country to evade penalty in Syria.“).

87

Für das Vorliegen eines derartigen Falles bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte.

88

Des Weiteren heißt es im Bericht des State Departments, dass die syrischen Behörden routinemäßig Dissidenten und ehemalige Bürger ohne bekannte politische Zugehörigkeit verhaftet hätten, welche nach Jahren oder gar Jahrzehnten selbstauferlegten Exils nach Syrien zurückgekehrt seien

89

(„The government routinely arrested dissidents and former citizens with no known political affiliation who attempted to return to the country after years or even decades of self-imposed exile.“).

90

Insoweit ist dem Bericht indessen bereits nichts dazu entnehmen, ob es sich nach der Dauer der Festnahme und den Umständen der Vernehmung um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des §§ 3 und 3a AsylG gehandelt hat. Unabhängig davon lässt sich aber auch jedenfalls in Bezug auf die Personen ohne bekannten politischen Hintergrund kein Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG feststellen, da die Festnahme dem Bericht zufolge im bereits umschriebenen Sinne wahllos-routinemäßig („routinely“) erfolgt.

91

Das Immigration and Refugee Board of Canada verweist in seinem Jahresbericht Syrien 2015 vom 19. Januar 2016 (Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion [2014-December 2015],

92

http://www.ecoi.net/local_link/320204/445626_en.html),

93

unter Ziffer 3 „Treatment of Failed Refugee Claimants“ auf einen Fernsehbericht von ABC vom 1. Oktober 2015, dem zufolge ein aus Australien zurückkehrender Asylbewerber nach eigenen Angaben 20 Tage lang festgehalten und durch Schläge misshandelt worden sei. Man habe ihm vorgehalten, aus der Provinz Daara, in der der Bürgerkrieg begonnen habe, zu stammen, und – unter Hinweis auf einen von ihm mitgeführten Geldbetrag – ein Finanzier der Revolution zu sein. Über weitergehende und bestätigende Informationen zu diesem Fall verfüge man nicht. Die dieser Berichterstattung zufolge gegen den Rückkehrer erhobenen Vorwürfe gehen indessen über den bloßen Umstand der illegalen Ausreise und erfolglosen Asylantragstellung im Ausland hinaus.

94

Im Weiteren enthält der Jahresbericht sodann zwar Einschätzungen verschiedener namentlich nicht genannter Personen, u. a. eines emeritierten Professors für Anthropologie und Vertreibung der Universität Oxford und eines „Executive Director of the Syria Justice and Accountability Center“, denen zufolge zurückkehrende erfolglose Asylbewerber mit Festnahme und Haft sowie mit Folter zu rechnen hätten, um den Grund für ihre Ausreise zu erfahren oder Informationen über andere Asylbewerber oder die Opposition erlangen. Konkrete Tatsachen, aus denen diese Einschätzungen abgeleitet werden könnten, werden indessen nicht genannt. Damit fehlte es insoweit selbst dann, wenn man diese Einschätzungen ohne nähere Überprüfung als zutreffend unterstellen wollte, jedenfalls an einem zureichenden Beleg für die Annahme, dass die drohenden Übergriffe regelmäßig durch einen den Betroffenen seitens der syrischen Behörden zumindest zugeschriebenen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG motiviert wären und nicht bloß ein wahllos-routinemäßiges „Fischen“ nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen darstellten, wofür wie bereits ausgeführt die Lebenserfahrung spricht.

95

(b) Tragfähige Anhaltspunkte für eine im Fall der Abschiebung nach Syrien dort allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandsaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Erkenntnissen zurumfassenden Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die syrischen Geheimdienste.

96

(aa) Zur Intensität und Zielrichtung der Beobachtung führt das Bundesministerium des Innern im Verfassungsschutzbericht 2015

97

(https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte/vsbericht-2015)

98

auf Seite 263 f. aus:

99

„Die syrischen Nachrichtendienste verfügen ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen. Ihr Aufgabenschwerpunkt ist die Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen sowohl islamistische und islamistisch-terroristische Gruppierungen als auch die breit gefächerte säkulare und kurdische Opposition zählen.

100

Bei anhaltenden unkontrollierten Einreisen syrischer Staatsangehöriger in die EU ist auch mit weiteren Ausforschungsaktivitäten syrischer Nachrichtendienste zu rechnen.“

101

(bb) Ausweislich des Verfassungsschutzberichts 2015 (Seite 82) des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport

102

(https://mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Sicherheit/Verfassungsschutz/Dokumente/Verfassungsschutzb_2015_komp_web_neu.pdf)

103

„forcieren“ die Geheimdienste aus den Staaten des Nahen Ostens und aus Nordafrika „ihre Aktivitäten gegen Regimegegner und Oppositionelle in der Bundesrepublik Deutschland“.

104

(cc) Das sächsische Staatsministerium des Innern stellt in seinem Verfassungsschutzbericht 2015

105

(http://www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/VSB_2015_INTERNET_05_25.pdf)

106

auf Seite 236 fest:

107

„Arabische und nordafrikanische Nachrichtendienste führen in Deutschland in erster Linie Maßnahmen gegen hier lebende Oppositionelle aus ihren Heimatländern durch. Die politischen Veränderungen der letzten Jahre im arabischen und nordafrikanischen Raum haben daran nichts geändert. Damit dürften die in Sachsen lebenden Einwanderer und Flüchtlinge aus den einschlägigen Krisenregionen nach wie vor als Ziel der jeweiligen Nachrichtendienste gelten, insbesondere, wenn sie sich oppositionell betätigt haben.

108

Insbesondere die syrischen Nachrichtendienste dürften starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und deren Rolle im syrischen Bürgerkrieg haben. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden.“

109

110

(dd) Im Verfassungsschutzbericht 2015 des hamburgischen Landesamtes für Verfassungsschutz

111

(http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/6306408/2016-06-13-bis-pm-verfassungsschutzbericht-2015/)

112

heißt es auf Seite 215:

113

„Verschiedene Nachrichtendienste des Mittleren und Nahen Ostens sowie Afrikas sind in Deutschland und zum Teil auch in Hamburg aktiv. Ein besonderes Interesse haben diese Dienste an oppositionellen Gruppierungen, die als Bedrohung für das eigene Regime angesehen werden. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bereich der Proliferation ...

114

...

115

Die Nachrichtendienste dieser und weiterer Länder versuchen zudem die jeweiligen Oppositionsgruppen zu überwachen. Dazu werden beispielsweise Hinweisgeber gewonnen oder Informanten in die Gruppen eingeschleust.“

116

(ee) Der Bericht 2015 „Verfassungsschutz in Hessen“ des dortigen Ministeriums des Innern und für Sport

117

(https://lfv.hessen.de/sites/lfv.hessen.de/files/content-downloads/LfV_Bericht-2015final_screen.pdf)

118

stellt auf Seite 162 zu Flüchtlingen aus Syrien fest:

119

„Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Nachrichtendienste dieser Länder nach wie vor existent sind. Daher gilt für die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge: Wer sich im Heimatland gegen das Regime engagierte, gerät eventuell auch in Deutschland in das Visier fremder Nachrichtendienste. Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat können ausgespäht werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert sind, Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern verbliebenen Opposition zu erhalten.“

120

(ff) Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten richten sich mithin nach übereinstimmender Einschätzung der genannten Dienste in erster Linie gegen Regimegegner und Oppositionelle bzw. Gruppierungen von solchen.

121

Von einer systematischen Beobachtung aller in Deutschland lebenden Syrer ist auch nicht nur andeutungsweise die Rede; angesichts der hohen Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren, insbesondere im Jahr 2015, erscheint eine solche auch bereits rein faktisch gar nicht möglich. Soweit eben aus diesem Umstand gefolgert wird, dass Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten und dort um internationalen Schutz nachgesucht haben, seitens der syrischen Behörden allein schon aufgrund deren lückenhafter Erkenntnislage mit hoher Wahrscheinlichkeit verdachtsunabhängig Befragungen und Inhaftierungen unterzogen würden, um die Motive der Ausreise und etwaigen Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen in Erfahrung zu bringen (VG Trier, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 1 K 5093/16.TR –, juris), vermag dies den Senat zumindest nicht von einer beachtlich wahrscheinlich drohenden Gefahr politischer Verfolgung zu überzeugen. Ob eine derartige Befragung oder Inhaftierung angesichts der zwischenzeitlichen massenhaften Flucht der syrischen Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, kann dabei dahinstehen. Wie bereits ausgeführt wäre eine entsprechende Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht aus einem der Verfolgungsgründe des § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3b AsylG gegeben, sondern mangels zureichender anderer Erkenntnisse als bloßer wahllos-routinemäßiger Zugriff aufpotentielle Gegner und bloß potentielle Informationsquellen zur Exilszene zu werten, mit dem möglicherweise einen konkreten Verdacht begründende Hinweise, aufgrund derer sodann eine „Zuschreibung“ von Merkmalen im Sinne des § 3b Abs. 2 AsylG erfolgen könnte, erst gewonnen werden sollen.

122

(c) Überzeugende Anhaltspunkte für eine erfolglosen Asylbewerbern bei ihrer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und eines längeren Auslandaufenthaltes beachtlich wahrscheinlich drohenden politische Verfolgung ergeben sich auch nicht aus der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 bis hin zum offenen Bürgerkrieg (vgl. zur Entwicklung der innenpolitischen Situation umfänglich OVG S-A, Urteil vom 18. Juli 2012 – 3 L 12 –, juris, Rn. 45 bis 76 ).

123

Aus dem Umstand, dass der syrische Staat als eine der in den Bürgerkrieg involvierten Parteien mit brutaler Härte gegen seine tatsächlichen und scheinbaren Gegner im Landesinnern vorgeht und dabei offensichtlich – etwa beim Einsatz von tausenden von Fassbomben über Oppositionsgebieten seit dem Jahr 2012 – Opfer unter der Zivilbevölkerung zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Beirut an das BAMF zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Syrien vom 3. Februar 2016), lassen sich keine zwingenden Schlüsse auf ein beachtlich wahrscheinlich drohendes politisch motiviertes Vorgehen im Sinne des § 3 AsylG gegen aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrende Bürgerkriegsflüchtlinge ziehen.

124

Gegen eine quasi routinemäßige Einstufung dieser Personengruppe als aus der Sicht des Regimes zu bekämpfende mutmaßliche Regimegegner oder Oppositionelle spricht bereits nach der Lebenserfahrung der – wie dargelegt auch den syrischen Machthabern geläufige – Gesichtspunkt, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg außer Landes geflohen sind, regelmäßig keine Bedrohung des in Syrien zeitweilig um sein politisches und physisches Überleben kämpfenden Regimes darstellen, sondern aus Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit dem Konflikt gerade aus dem Weg gegangen sind. Bereits von daher ist auch die teilweise (VG Regensburg, Urteil vom 29. Juni 2016 – RO 11 K 16.30707 –, und VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2013 – A 7 K 2987/12 –, beide in juris) vertretene Auffassung, dass der syrische Staat Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer von außen organisierten und finanzierten Verschwörung gegen das Land zurechnen werde, letztlich nicht mehr als eine bloße Mutmaßung.

125

(d) Des Weiteren ergeben sich auch aus den Erkenntnissen zum Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, insbesondere seit Anfang 2012, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen, keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme einer bei Rückkehr nach Syrien allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich drohenden politischen Verfolgung.

126

Das Auswärtige Amt beschreibt bereits in seinem Ad hoc-Bericht vom 17. Februar 2012 eine massive Unterdrückung der syrischen Oppositionsgruppen, die sich für eine Abschaffung des von Staatspräsident Assad geführten Baath-Regimes einsetzen. Seit März habe es eine präzedenzlose Verhaftungswelle gegeben, mit der das Regime gegen die Protestbewegung vorgehe. Die Risiken politischer Oppositionstätigkeit beschränkten sich nicht auf eine mögliche strafrechtliche Verfolgung. Es seien vielmehr zahlreiche Fälle von willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt.

127

Diese Umstände haben sich offensichtlich bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert.

128

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international geht auch in ihrem Bericht „It breaks the human – torture, disease and death in Syria's prisons“ vom 18. August 2016

129

(https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/),

130

Ziffer 4.2: „Profiles of people targeted“, davon aus, dass für jedermann, der als oppositionell wahrgenommen werden könnte, die Gefahr bestehe, willkürlich inhaftiert oder „verschwinden gelassen“ zu werden und in der Haft Folter, andere Misshandlung und möglicherweise auch den Tod zu erleiden. Die Gründe hierfür variierten und könnten auch friedlichen Aktivismus wie die Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger, Journalist oder sonstiger Medienschaffender, die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit humanitärer oder medizinischer Hilfe und die Organisation und Teilnahme an Pro-Reform-Demonstrationen umfassen. Zur Verhaftung könne auch bereits führen, dass ein Verwandter von den Sicherheitskräften gesucht oder man durch einen Denunzianten gemeldet werde – einschließlich von Meldungen, welche durch finanziellen Profit oder persönlichen Groll motiviert seien.

131

Indessen lässt auch der Umstand, dass die syrische Regierung im Inland tatsächliche und vermeintliche Regimegegner und Oppositionelle massiv und in menschenrechtswidriger Weise unterdrückt, keinen hinreichend tragfähigen Schluss auf eine beachtlich wahrscheinliche politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG von aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und einem längeren Auslandsaufenthalt zu.

132

Insoweit spricht nämlich – wie bereits hinsichtlich der Eskalation der innenpolitischen Situation bis hin zum Bürgerkrieg festgestellt – ebenfalls die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

133

bb. Dem Kläger droht im Falle seiner unterstellten Rückkehr nach Syrien auch nicht aus sonstigen Gründen beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

134

(1) Dies gilt zum einen in Bezug auf eine mögliche Wehrdienstentziehung, welche der 1993 geborene Kläger – ebenso wie sein Bruder – begangen haben könnte, indem er Syrien ohne die für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren erforderliche Ausreisegenehmigung (vgl. hierzu Auskunft des Deutschen Orient-Institutes an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016 – 3 LB 17/16 –) verlassen hat.

135

(a) In Syrien besteht für männliche Staatsangehörige eine Militärdienstpflicht. Die Registrierung für den Militärdienst erfolgt im Alter von 18 Jahren; die Wehrpflicht dauert bis zum Alter von 42 Jahren (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, Seite 1,

136

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf).

137

Die Möglichkeit eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerung wird nach dem Military Penal Code geahndet. Nach Artikel 68 wird mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion sieht Artikel 101 fünf Jahre Haft vor bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre; Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Artikel 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, vom 30. Juli 2014, a. a. O., Seite 3)

138

(b) Danach bestünde für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien zwar die Gefahr, wegen Wehrdienstentziehung bestraft und zwangsweise von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Dabei könnte es sich – was hier letztlich keiner abschließenden Klärung bedarf – angesichts dessen, dass der Militärdienst in der syrischen Armee möglicherweise Verbrechen oder Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 AsylG umfassen würde, auch um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG handeln.

139

Es bestehen jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die dem Kläger drohenden Maßnahmen aus einem der in § 3 AsylG genannten Gründe – konkret: wegen einer als der Wehrdienstentziehung zugrunde liegend vermuteten politischen Opposition zum Regime – ergehen würden.

140

Was die drohende Heranziehung zum Wehrdienst angeht, fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten für eine entsprechende Selektion anhand der in § 3 AsylG genannten Kriterien; vielmehr rekrutiert die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, Seite 2,

141

https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

142

Eine mögliche Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung kann zwar vom Grundsatz her auch politische Verfolgung sein, da es für den Flüchtlingsschutz nicht allein darauf ankommen kann, mit welchen Mitteln der Staat vorgeht, sondern vielmehr entscheidend ist, welches Ziel hinter seinen Maßnahmen steht (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 184, juris). Von einer derartigen politischen Motiviertheit wäre dann auszugehen, wenn dem Kläger wegen seiner Wehrdienstentziehung in Syrien beachtlich wahrscheinlich eine an seine politische Überzeugung anknüpfende härtere Bestrafung als sonst üblich – ein sogenannter Politmalus (BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 – 2 BvR 78/08 –, juris, m. w. N.) – drohen würde. Hierfür liegen indessen keine zureichenden Anhaltspunkte vor.

143

Das syrische Regime hat bereits seit Beginn des Bürgerkrieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seit Herbst 2014 kommt es angesichts einer erheblichen Dezimierung der syrischen Armee durch Desertion und Verluste in großem Umfang zur Mobilisierung von Reservisten sowie zur Verhaftung von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Wehrdienst entzogen haben (Schweizer Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.; Washington Post, Desperate for soldiers, Assad’s government imposes harsh recruitment measures, 28. Dezember 2014,

144

www.washingtonpost.com/world/middle_east/desperate-forsoldiers-assads-government-imposes-harsh-recruitment-measures/2014/12/28/62f99194-6d1d-4bd6-a862-b3ab46c6b33b_story.html.

145

vgl. auch etwa – zur Verweigerung der Entlassung in der Armee dienender Wehrpflichtiger – ntv: „Verlangen unsere Entlassung“ – In Assads Armee wächst der Unmut, vom 24. November 2015,

146

http://www.n-tv.de/politik/In-Assads-Armee-waechst-der-Unmut-article16418356.html).

147

Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In der Haft kommt es zu Folter, und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt (Schweizer Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28. März 2015, a. a. O., Seite 1 ff.).

148

Im Juli 2015 hat der syrische Staatspräsident Assad als weitere Maßnahme zur personellen Verstärkung der syrischen Armee eine Generalamnestie für Deserteure und Wehrdienstverweigerer erlassen. Ins Ausland geflohene Soldaten hatten sich dazu binnen zwei Monaten bei den Behörden zu melden, Deserteure, die sich in Syrien aufhalten, innerhalb eines Monats. Eine Frist für Wehrdienstverweigerer wurde nicht genannt (Zeit online vom 26. Juli 2015: Assad gehen die Soldaten aus,

149

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-07/syrien-baschar-al-assad-buergerkrieg-armee-unterstuetzung).

150

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände bestehen letztlich keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die sich während des Bürgerkrieges dem Wehrdienst entweder in Syrien selbst oder durch Flucht ins Ausland entzogen haben, bei ihrer Ergreifung allein aufgrund dieser Wehrdienstentziehung beachtlich wahrscheinlich eine regimegegnerische Haltung unterstellt würde und sie aus diesem Grunde eine über die gesetzlich vorgesehene Bestrafung für Wehrdienstentzug hinausgehende Verfolgung zu befürchten hätten.

151

Die üblicherweise drohende Verhaftung als solche bewegt sich im Rahmen der nach dem Military Penal Code vorgesehenen Strafandrohung.

152

Dass es in der Haft der Berichterstattung der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 zufolge auch zu Folter kommt, stellt zwar für die hiervon Betroffenen eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 3 AsylG dar. Es fehlt jedoch an zureichenden Anhaltspunkten dafür, dass diese wegen eines der in § 3 AsylG genannten Merkmale – konkret: der politischen Überzeugung des Betroffenen –erfolgt. Zwar kann es sich bereits bei der Folter als solcher um ein Indiz für den politischen Charakter der Maßnahme handeln. Allerdings bedarf es insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien, die einen Rückschluss auf die subjektive Verfolgungsmotivation gestatten. Derartige objektive Kriterien sind vor allem die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staats, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten. Maßgeblich ist stets, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugungen seiner Staatsbürger unbehelligt lässt. Die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische Verfolgung nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen Urteil vom 17. Mai 1983 – 9 C 36/83 –, BVerwGE 67, 195 m. w. N.).

153

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend nichts hinreichendes dafür ersichtlich, dass die berichtete Folter im Falle der Wehrdienstentziehung – welche für sich genommen bereits zu einer Schutzberechtigung gemäß § 4 AsylG führt – gerade aus einem der besonderen Gründe des § 3 AsylG geschähe.

154

Syrien verfügt zwar über eine formal rechtsstaatliche Verfassung, ist aber aufgrund des seit 1963 bestehenden Ausnahmezustandes in der Praxis bereits seit Jahrzehnten ein von Sicherheitsapparaten und Militär geprägtes autoritäres Regime. Die Sicherheitsdienste waren schon vor Beginn der Unruhen im Jahre 2011 und des nachfolgenden Bürgerkrieges weder parlamentarischen noch gerichtlichen Kontrollmechanismen unterworfen und verantwortlich für willkürliche Verhaftungen, Folter und Isolationshaft. Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste wenden systematisch Gewalt an. Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter und anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte bestehen nicht; Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschweren, laufen vielmehr Gefahr, dafür strafrechtlich belangt zu werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. September 2010). Angesichts der sonach in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizvollzugsorganen stellt die Anwendung von Folter als solche jedenfalls kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar.

155

Die Fälle von Exekutionen während der Haft, über die die Schweizer Flüchtlingshilfe (a. a. O.) berichtet, beziehen sich auf Deserteure. In Bezug auf diesen Personenkreis handelt es sich durchaus um einen deutlichen Anhaltspunkt für eine über die bloße Strafverfolgung hinausgehende Gerichtetheit. Für diejenigen, die sich lediglich einer Einberufung entzogen haben – wofür ja auch bereits das Gesetz eine wesentliche mildere Strafe als für Desertion vorsieht – ergibt sich insoweit hingegen ebenfalls kein gewichtiges Indiz für einen Politmalus.

156

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung spricht überdies das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee. Bei insgesamt fast 5 Millionen Flüchtlingen, die Syrien verlassen haben, dürften sich angesichts des hohen Anteils von Männern im Allgemeinen und jungen Männern im Besonderen (FAZ net, Das sind Deutschlands Flüchtlinge, vom 21. Oktober 2015

157

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/deutschlands-fluechtlinge-in-grafiken-13867210.html)

158

bereits nach der Lebenserfahrung Hunderttausende junger Männer befinden, die noch nicht einberufen worden sind. Jedenfalls hinsichtlich dieses Personenkreises dürfte es dem syrischen Staat vor allem darum gehen, die Betroffenen schnellstmöglich seiner notleidenden Armee zuzuführen. In diese Richtung deutet bereits der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 28. März 2015 (a. a. O.), wonach zwar einige der Verhafteten zu Haftstrafen verurteilt und dann eingezogen, andere indessen lediglich verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt werden. Hinzu kommt die im Juli 2015 erlassene Generalamnestie, welche über Wehrdienstverweigerer hinaus sogar auch Deserteure erfasst hat.

159

Im Übrigen ist den syrischen Machthabern, wie schon dargelegt, bekannt, dass die Flucht aus Syrien – und damit auch die Flucht vor der Einberufung durch die Armee – in aller Regel nicht durch politische Gegnerschaft zum syrischen Staat motiviert ist, sondern durch Angst vor dem Krieg.

160

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers aus einem der Gründe des § 3 AsylG ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er eigenen Angaben zufolge vor seiner Ausreise in derProvinz Homs gelebt hat.

161

Zwar erfasst der UNHCR (Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, Seite 25 f.,

162

https://www.ecoi.net/file_upload/1930_1455006006_syr-112015.pdf)

163

im Rahmen der von ihm als das Erfordernis internationalen Flüchtlingsschutzes indizierend erstellten Risikoprofile auch Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben. Hierzu führt er erläuternd aus (Seite 12 f.):

164

„Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine politische Meinung unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden, aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden, denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person gerichtet ist.“

165

Vorliegend kann indessen letztlich dahinstehen, ob die Stadt A... oder der Bauernhof der Familie des Klägers, auf den sich diese den Angaben des Klägers (vgl. Anhörungsprotokoll vom 5. April 2016, Seite 35 ff, 38 der Verwaltungsakte) zufolge zurückgezogen hat, um den Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, in einer vermeintlich regierungsfeindlichen Zone im obigen Sinne gelegen sind.

166

Selbst in diesem Falle wäre zwar unter Zugrundelegung der UNHCR-Erwägungen die Herkunft des Klägers aus einem bestimmten Gebiet in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte möglicherweise ein gewisser Anhaltspunkt für eine oppositionelle Einstellung.

167

Letztlich spricht indessen aber auch insoweit die Lebenserfahrung dafür, dass diejenigen, die vor dem Bürgerkrieg in das Ausland geflohen sind, auch in den Augen der syrischen Machthaber in aller Regel keine Bedrohung des Regimes darstellen, sondern dem Konflikt vielmehr gerade aus dem Weg gegangen sind.

168

cc. Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus einer umfassenden Gesamtwürdigung aller vorliegend möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände.

169

Auch dann, wenn man die illegale Ausreise, die Asylantragstellung, den längerfristigen Auslandsaufenthalt, die Wehrdienstentziehung des Klägers und seines Bruders sowie die regionale Herkunft des Klägers aus der Perspektive des syrischen Staates als möglichem Verfolger gleichzeitig wertend in den Blick nimmt, so erscheinen dessen Interessen letztlich allein insoweit berührt, als der Kläger zum einen selbst als Oppositioneller eine Gefahr für das Regime darstellen könnte und zum anderen durch seine Wehrdienstentziehung dazu beigetragen hat, die Schlagkraft der syrischen Armee gegen ihre übrigen Gegner zu beeinträchtigen.

170

Da indessen wie bereits dargestellt die Lebenserfahrung auch aus Sicht der syrischen Behörden dafür spricht, dass der Kläger kein dem Regime möglicherweise gefährlicher Oppositioneller ist, sondern dem Konflikt durch seine Ausreise gerade hat aus dem Wege gehen wollen, fehlt es insoweit bei umfassender Abwägung an ausreichenden Anhaltspunkten jedenfalls für eine Überzeugungsbildung durch den Senat dahingehend, dass dem Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Diese Einschätzung vermögen auch nicht die dem Kläger möglicherweise wegen Wehrdienstentziehung drohenden Sanktionen zu ändern. Das Sanktionsinteresse des syrischen Regimes dürfte zumindest gegenüber denjenigen, die nicht aus der Armee desertiert sind, sondern sich lediglich dem Wehrdienst entzogen haben, hinter dem Interesse an der dringend benötigten Verstärkung der Armee durch Rekrutierung neuer Soldaten zurückbleiben. Insoweit könnte dem Kläger im Falle seiner fiktiven Rückkehr nach Syrien zwar möglicherweise eine strafrechtliche Sanktion und wohl auch beachtlich wahrscheinlich eine Einberufung drohen; in Bezug auf eine politisch motivierte weitergehende Verfolgung fehlt es jedoch ebenfalls an Anhaltspunkten, welche die Prognose einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit tragen könnten.

171

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr.10 ZPO.

172

Gründe, aus denen gemäß § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen wäre, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob abgelehnten Asylbewerbern im Falle einer Rückkehr nach Syrien dort bereits allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich Verfolgung wegen einer vermuteten Einstellung gegen das dort herrschende Regime droht, handelt es sich – anders als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14) zugrunde liegenden Fall – um eine Tatsachenfrage, wohingegen die Revision die Überprüfung eines Urteils ausschließlich in rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat (§ 137 Abs. 1 und 2 VwGO).

Tatbestand

1

Der 1979 in A./Syrien geborene Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, muslimischen Glaubens und kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Schilderungen reiste er am 30. November 2010 aus der Türkei kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.

2

Am 14. Januar 2011 wurde der Kläger vom Bundesamt zu seinem Asylbegehren angehört. Zur Begründung gab er an: Er sei ungefähr von 2001 bis 2007 inhaftiert gewesen. Aufgrund einer Bürgschaft sei er freigelassen worden. Er sei Sympathisant der Kurdischen Volksunion gewesen. Im Rahmen der Vorbereitung des Newroz-Festes am 21. März 2010 habe man sich versammelt. Daraus sei eine Demonstration entstanden. Irgendwann habe man begonnen, Leute zu verhaften. Er sei geflüchtet und habe sich bei seinem Cousin versteckt. Er habe dann erfahren, dass sein Bruder verhaftet worden sei. Es sei ihm klar geworden, dass dies erfolgt sei, weil man in Wirklichkeit seiner habhaft werden wollte. Er habe sich sechs Monate bei seinem Cousin versteckt und dann seine Ausreise organisieren lassen.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 23. März 2011 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats nach Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen, anderenfalls würde er nach Syrien abgeschoben. Der Kläger könnte auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger könnte kein Asyl beanspruchen, weil davon auszugehen sei, dass er auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat eingereist sei. Der Kläger hätte ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Auch die illegale Ausreise bzw. die Asylantragstellung im Ausland führe nicht zu einer politischen Verfolgung. Mangels einer politischen Verfolgung könne er daher nicht die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen. Auch Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

4

Am 5. April 2011 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben. Zur Begründung berief er sich auf die aktuelle politische Situation in Syrien. Ferner sei bei ihm im Jahr 2011 eine kryptogene Epilepsie und der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung festgestellt worden.

5

Der Kläger hat beantragt,

6

unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 2011 festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

9

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 23. März 2011 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Kläger vorliegen.

10

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, dass das Verwaltungsgericht für seine tragende Argumentation hinsichtlich der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft keine Referenzfälle benannt habe. Sie hat sich im Verlauf des Berufungsverfahrens verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf den Kläger vorliegt.

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 23. April 2012 abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

17

Maßgeblich für die Beurteilung, ob dem Kläger der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, sind § 3 Abs. 1 und 4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011, BGBl. I S. 2258) sowie § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.06.2012, BGBl. I S. 1224).

18

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

19

Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 derRichtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend QRL) des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 304 S. 12) ergänzend anzuwenden. Wie nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist auch unionsrechtlich eine Verfolgungshandlung für die Flüchtlingsanerkennung nur dann von Bedeutung, wenn sie an einen der in Art. 10 QRL genannten Verfolgungsgründe anknüpft (Art. 9 Abs. 3 QRL). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 QRL genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (Art. 10 Abs. 1 lit. e QRL). Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe reicht es aus, wenn diese Merkmale dem Antragsteller von seinem Verfolger lediglich zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 2 QRL). Die Qualifikationsrichtlinie hat sich insofern an dem aus dem angloamerikanischen Rechtsraum bekannten Auslegungsprinzip der „imputed political opinion“ orientiert, wonach es ausreicht, dass ein Verfolger seine Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richtet, weil er davon ausgeht, dass dieser eine abweichende politische Überzeugung vertritt (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 15 Rdnr. 26; Nachweise aus der Rechtsprechung bei UNHCR, „Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, 2001, Fußnote 54 zu Rdnr. 25). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht des Art. 16a GG kann eine politische Verfolgung dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische - Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten, so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische Überzeugung des Betroffenen gerichtet (BVerfG, Beschl. v. 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 -, juris).

20

Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 QRL Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschriebenen Weise betroffen ist (lit. b).

21

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 QRL. Art. 4 Abs. 4 QRL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht. Die Qualifikationsrichtlinie modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 QRL erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EuGH, Urteil v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Urt. v. 28.02.2008 - Nr. 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330); dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O).Art. 4 Abs. 4 QRL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010, a. a. O.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a. a. O.).

22

Nach der Überzeugung des Senates ist der Kläger nicht im oben dargestellten Sinne vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321.85 -, NVwZ 1987, 701). Daher hat sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend.

23

Der Kläger hat keine Vorverfolgung glaubhaft gemacht, da er unter Berücksichtigung und Würdigung seines gesamten Vorbringens bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt und dem erkennenden Senat keinen zusammenhängenden, in sich schlüssigen, im Wesentlichen widerspruchsfrei geschilderten Sachverhalt vorgetragen hat. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als wesentliches fluchtauslösendes Motiv die Verhaftung seines Bruders geschildert, aus der er den Schluss gezogen haben will, dass der syrische Staat auch seiner Person habhaft werden wolle. Diesen Umstand hat der Kläger bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu den Gründen seiner Ausreise nicht mehr erwähnt. Vielmehr hat er nunmehr bei seiner Anhörung vor dem Senat als maßgeblich ausgeführt, dass er aufgrund des Umstandes, dass er bei der anlässlich des Newroz-Festes durchgeführten Versammlung fotografiert worden sei, sich zur Ausreise entschlossen habe. Die Leute, die dort festgenommen worden seien, seien auch nach Jahren nicht mehr zurückgekehrt. Er habe befürchtet, dass ihm Gleiches widerfahre. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hatte er eine mögliche Gefährdung wegen der Fertigung von Bildaufnahmen der Demonstration nicht erwähnt.

24

Unabhängig von einer Vorverfolgung muss aufgrund der aktuellen Situation in Syrien jedoch davon ausgegangen werden, dass der Kläger aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im vorgenannten Sinne bedroht ist. Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und seinem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen, von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.

25

Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).

26

Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, NVwZ 2009, 730).

27

Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen, nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.

28

Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten) festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.

29

Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der „versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.

30

Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten (KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010 wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde als Asylberechtigter anerkannt.

31

Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim Hussein dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd al-Karim Hussein ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte Hussein war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.

32

Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb, wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am 24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan, sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm, ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung vom 7. September 2010).

33

Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH, Meldung vom 21. November 2010).

34

Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4. Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen. Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung vom 17.12.2010)

35

Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13. Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH, Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).

36

Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).

37

Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen vom 14.04.2011 und 28.04.2011).

38

Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden. Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin, die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar 2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4 f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar 2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012: „Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom 09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom 11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar 2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.

39

Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt (vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).

40

In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland - dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen Familienangehörige in Syrien richten.

41

So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden, welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.

42

Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel, Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein Lebenszeichen von Aladdin erhalten.

43

Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73 Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen. Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür, dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.

44

Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.

45

Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, „Syrien“, Januar 2012).

46

Am 17. März 2011 kam es erstmals zu schweren Zusammenstößen in der südsyrischen Stadt Daraa. Die Sicherheitskräfte gingen z. T. gewaltsam (mit scharfer Munition und Tränengas) gegen die Demonstrierenden vor und töteten dabei in Daraa mehrere Demonstranten. Die Demonstranten hatten u. a. ein Ende des Ausnahmezustandes, mehr Freiheiten, die Entlassung politischer Gefangener und eine Bekämpfung der Korruption gefordert. Tausende demonstrierten auch an den Folgetagen. Die Unruhen verbreiteten sich, auch aufgrund der gewaltsamen Reaktion des Regimes auf die Demonstrationen, in der Folgezeit landesweit (u. a. in Damaskus, Homs, Aleppo, Deir al-Zor, Banjas und anderen Städten), wobei die Stadt Daraa zunächst zum Brennpunkt der Unruhen wurde. Die Regierung reagierte auf die Demonstrationen auf der einen Seite mit brutaler Gewalt, versuchte auf der anderen Seite aber auch konziliante Töne anzuschlagen. Am 20. März 2011 wurden z. B. 15 inhaftierte Kinder freigelassen. Präsident Assad entließ auch den Gouverneur der Provinz Daraa wegen „krasser Fehler beim Umgang mit Protesten in der Region“. In der Folgezeit breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus (im Süden, in Damaskus, in der Hafenstadt Latakia, Tafas und in Homs), wobei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam, bei denen es Tote und Verletzte gab. Die Protestbewegung, die sich auch mit Hilfe des Internetnetzwerkes Facebook organisierte, forderte u. a. demokratische Reformen, Aufhebung des Ausnahmezustandes, Achtung der Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Zahlreiche Verhaftungen wurden durchgeführt. Als Reaktion auf die landesweiten Unruhen wurden z. T. Reformen versprochen und das Kabinett des Ministerpräsidenten Naji Otri trat am 29. März 2011 zurück. Am 3. April 2011 beauftragte Präsident Assad den bisherigen Agrarminister, Adel Safar, mit der Bildung einer neuen Regierung. Um den Kurden in der gespannten Situation entgegen zu kommen, entschied Präsident Assad am 7. April 2011 mit Dekret 49/2011, dass die im Ausländerregister der Provinz Hassake eingetragenen Ausländer (ajanib) die Staatsbürgerschaft Syriens erhalten. Am 19. April 2011 beschloss die syrische Regierung die Aufhebung der seit 1963 geltenden Notstandsgesetze. Auch das Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und ein Gesetz beschlossen, das friedliche Demonstrationen erlaubt.

47

Trotz dieser Zugeständnisse gingen die Demonstrationen jedoch weiter und weiteten sich u. a. auch auf die Provinz Idlib und auf den kurdisch geprägten Nordosten aus. Den Druck auf die Opposition in Syrien lockerte die Führung in Damaskus nicht. Auch das gewaltsame Vorgehen des Regimes und seine Repressionsmaßnahmen hielten an. Im April 2011 verschärfte die syrische Regierung mit einem großen Militäreinsatz erneut ihr Vorgehen gegen Regimegegner.

48

Armeeeinheiten stürmten am 25. April 2011 Daraa, wobei Artillerie und Scharfschützen beteiligt waren. Elektrizität und alle Kommunikationsmöglichkeiten in der Stadt wurden unterbrochen, die Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass Heckenschützen das Feuer auf jeden eröffneten, der versuchte sein Haus zu verlassen. Auch im Mai 2011 gingen die Proteste weiter, obwohl die größeren Städte und Protesthochburgen Banjas, Daraa und Homs abgeriegelt, Moscheen besetzt und zentrale Plätze abgesperrt worden waren. Die Armee weitete ihre Operationen entlang der Küstenlinie aus, Truppen zogen sich außer in den bereits genannten Städten z. B. auch in Hama oder in kleineren Dörfern zusammen. Kontrollstellen wurden eingerichtet, Strom, Wasser und Telefonleitungen wurden immer wieder abgeschaltet. Auch Mobiltelefone, Festnetz und Internet wurden sporadisch blockiert. Nachdem zunächst hauptsächlich am Freitagabend protestiert worden war, wurden die Demonstrationen auch auf andere Tage nach Sonnenuntergang verlegt. Mitte Mai 2011 kreisten schwer bewaffnete Sicherheitskräfte die Kleinstadt Tell Kalakh in der Nähe der libanesischen Grenze ein. Aus Angst versuchten viele Menschen in Richtung Libanon zu fliehen, darunter Familien, wobei sie von syrischen Kräften beschossen und zum Teil tödlich getroffen wurden. Ende Mai 2011 trat nach einem Erlass Assads eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen in Kraft, darunter auch für Angehörige der Muslimbruderschaft. Auch im Juni 2011 hielten die Unruhen und ihre gewaltsame Bekämpfung an. Während der ersten drei Monate der Proteste sollen mehr als 1.300 Personen getötet und ca. 10.000 - 12.000 verhaftet worden sein.

49

Mitte Juni 2011 führte die syrische Armee Razzien in den grenznahen Dörfern durch und begann mit der Abriegelung von grenznahen Gebieten, um das Absetzen weiterer Flüchtlinge in die Türkei zu verhindern.

50

In seiner dritten Rede an die Nation während der Krise schlug Präsident Assad am 20. Juni 2011 einen „nationalen Dialog“ vor und versprach Änderungen der Verfassung, ein neues Wahl- und Mehrparteiengesetz sowie Schritte gegen die Korruption. Die Aktivisten lehnten einen Dialog „mit Mördern“ ab, die Unruhen in Homs, Hama und Latakia, aber auch in den Vororten von Damaskus gingen weiter. An der Universität in Aleppo wurden mehr als 200 Studenten festgenommen. Angehörige des militärischen Geheimdienstes kontrollierten die Straßen. Der syrische Präsident setzte im Juni 2011 auch eine Generalamnestie in Kraft, die für alle vor dem 20. Juni begangenen Straftaten gelten sollte, so die amtliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Streitkräfte des syrischen Regimes rückten am 23. Juni 2011 in Khirbet al-Jouz ein und weiter in Richtung der syrischen Grenzdörfer vor. Soldaten und Angehörige der Schabihha-Miliz sollen mit Namenslisten durch das Dorf gegangen und Häuser von Anti-Regime-Aktivisten zerstört haben. Als Anführer der Schabihha-Milizen gelten die Cousins des Präsidenten Assad, Fawaz und Munhir Assad; aus diesem Grund gehörten sie zu den ersten Regimeangehörigen, die von der Europäischen Union im Frühjahr 2011 mit Sanktionen belegt wurden. Die Miliz wird meist im „Windschatten“ der Streitkräfte aktiv; wenn ein Ort durch das Militär unterworfen wurde, plündert und mordet die Schabihha-Miliz im Anschluss daran. Sie richtet auch die Soldaten hin, die sich weigerten, auf die eigenen Bürger zu schießen. Sie rekrutieren sich aus Angehörigen der alawitischen Glaubensgemeinschaft.

51

Am 30. Juni /1. Juli 2011 wurden erstmals aus Aleppo größere Proteste gemeldet, an denen über 1.000 Demonstranten teilgenommen haben sollen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Am 01. Juli 2011 sollen sich in Hama bis zu 300.000 oder sogar 500.000 Demonstranten getroffen haben. Die Sicherheitskräfte griffen zunächst nicht an, sondern beschränkten sich darauf, Checkpoints zu errichten und die Zugänge zur Stadt zu kontrollieren. Am 04. Juli 2011 kamen 30 Busse mit regimetreuen Milizionären, die 250 Menschen verhaftet und drei erschossen haben sollen; Panzer bildeten einen Belagerungsring um die Stadt. Präsident Assad erließ weitere personelle Maßnahmen, so entließ er am 2. Juli 2011 den Gouverneur der Provinz Hama, nachdem bereits die Gouverneure in den Provinzen Daraa und Homs hatten gehen müssen. Am 08. Juli 2011 demonstrierten in mehreren Städten Syriens (u.a. in Hama und Damaskus) erneut Hunderttausende, wobei mindestens 15 Personen erschossen worden sein sollen, rund 200 Menschen sollen an dem Wochenende verhaftet worden sein.

52

Am 22. Juli 2011 und dem nachfolgenden Wochenende setzten sich die Demonstrationen fort; in Damaskus, Homs und Hama gingen Hunderttausende auf die Straße und wurden von den Truppen bekämpft. In Damaskus soll die Armee in einigen Stadtteilen Straßensperren errichtet haben, Hunderte sollen festgenommen worden sein. In Hama sollen 650.000 Menschen demonstriert haben, in Deir al-Zor ca. eine halbe Million, auch in Latakia, Homs, Daraa, Vororten von Damaskus und in zahlreichen kurdischen Orten sollen große Proteste stattgefunden haben. In Homs sollen vom 18. Juli bis 23. Juli 2011 durch Beschuss von Wohnvierteln und Scharfschützen auf den Dächern mindestens 50 Personen getötet worden sein. Auch in den Kurdengebieten soll es Auseinandersetzungen gegeben haben. Präsident Assad kündigte ein Mehrparteiensystem an, die Parteiprogramme dürften jedoch keine Sonderstellung einzelner Religionsgruppen oder Ethnien beinhalten.

53

Nachdem die Stadt fast einen Monat belagert worden war, begannen am Morgen des 31. Juli 2011 syrische Truppen mit einer Militäroffensive gegen die Stadt Hama. Spezialisten kappten zunächst die Strom- und Wasserversorgung, danach sollen Panzer in Wohngebieten und Scharfschützen auf Dächern nach Augenzeugenberichten auf alles gefeuert haben, was sich bewegte. Auch in anderen Landesteilen kam es zu Angriffen mit Panzern, u. a. in Harak, in der südlichen Provinz Daraa, in Deir al-Zor und einem Vorort von Damaskus, landesweit soll es mindestens 140 Tote gegeben haben. Der syrische Präsident Assad verteidigte das Vorgehen als Reaktion auf eine Verschwörung mit dem Ziel der Zerschlagung Syriens.

54

Die syrische Regierung erließ laut Meldung vom 25. Juli 2011 ein neues Parteiengesetz, das die freie Gründung von politischen Parteien gestattet, wenn sie sich nicht auf konfessioneller, ethnischer, clanmäßiger, regionaler oder berufsständischer Grundlage befinden. Neue Parteien, die mindestens 1.000 Mitglieder haben müssen, müssen die geltende Verfassung (und damit die „führende Rolle“ der Baath-Partei) respektieren und die Gründung muss von einem Komitee des Justizministeriums genehmigt werden. Auch Wahlgesetze wurden im August 2011 in Kraft gesetzt. Die Opposition lehnte die Gesetze jedoch ab und forderte weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und echte politische Reformen in Syrien. Seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 01. August 2011 verstärkte der syrische Präsident die Offensive gegen Regimegegner, wobei es täglich zu weiteren Demonstrationen kam, in deren Verlauf es jeweils zu zahlreichen Todesopfern kam. Am 14. August 2011 griffen syrische Sicherheitskräfte von Kanonenbooten aus mehrere Bezirke der Stadt Latakia an, gleichzeitig stürmten Bodentruppen einige Viertel der Stadt. Mindestens 26 Zivilisten sollen dabei nach Angaben der Syrischen Nationalen Organisation für Menschenrechte getötet worden sein, darunter eine Zweijährige. Angegriffen wurde auch ein Viertel mit einem palästinensischen Flüchtlingslager, aus dem Tausende flohen. Am 20. August 2011 rückte die syrische Armee erneut in Homs ein, obwohl der syrische Präsident dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gegenüber am 18. August 2011 versichert hatte, die Militäroffensive sei beendet. Am 21. August 2011 lehnte Präsident Assad Rücktrittsforderungen ab und warnte vor einer ausländischen Intervention. Er kündigte eine Verfassungsreform und Neuwahlen im Februar 2012 an.

55

Nach UN-Informationen sollen seit Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime im März bis Anfang September 2011 2.600 Menschen getötet worden sein, die meisten von ihnen friedliche Demonstranten. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen außerdem mehr als 70.000 Menschen festgenommen worden sein, von denen zum damaligen Zeitpunkt noch 15.000 in Haft gewesen seien.

56

Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Oppositionspolitikers Mishaal Tammo am 7. Oktober 2011 nahmen an seinem Trauerzug am 08. Oktober 2011 in Qamishli ca. 50.000 Personen teil, so viele wie nie zuvor in den kurdischen Regionen in Syrien. Syrische Sicherheitskräfte sollen in die Menge gefeuert haben, mindestens zwei Personen sollen getötet worden sein. Für die Ermordung Tammos wurde von Beobachtern das syrische Regime verantwortlich gemacht. Aufgrund der Ermordung Tammos wurden am Wochenende (08.10./09.10.2011) syrische Botschaften im Ausland angegriffen, u.a. in London, Berlin und Wien, wobei erheblicher Sachschaden entstand. Auch die syrische UNO-Mission in Genf wurde am 08. Oktober 2011 von kurdischen Syrern attackiert, es kam zu fünf Festnahmen. In Berlin stürmten rund 30 Demonstranten die Botschaft, in Wien wurden elf Personen festgenommen. Auch das Gebäude des syrischen Honorarkonsulats in Hamburg wurde in der Nacht zum 09. Oktober 2011 von 30 Regimegegnern gestürmt.

57

Am 27. Oktober 2011 begann die syrische Armee damit, an der Grenze zum Libanon in der Provinz Homs und in mindestens einem weiteren Landesteil Minen zu verlegen. Die syrischen Behörden gaben an, den Waffenschmuggel aus dem Libanon damit eindämmen zu wollen, während es auch als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die syrische Regierung verhindern wollte, dass der Libanon ein Rückzugsgebiet für die syrische Opposition wird. Obwohl die syrische Regierung dem Friedensplan der Arabischen Liga, der u. a. den Rückzug des Militärs aus den syrischen Städten und die Freilassung aller politischen Gefangenen vorsieht, am 2. November 2011 zugestimmt hatte, wurde von den syrischen Truppen weiterhin mit Gewalt gegen Aktivisten vorgegangen. Soldaten feuerten auf Gläubige, die zu Beginn des Opferfestes die Moscheen verließen, um gegen das syrische Regime zu protestieren. Besonders betroffen war der Norden des Landes.

58

Nach der Zustimmung Syriens zum Friedensplan der Arabischen Liga am 2. November 2011 verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Demonstranten. Im Anschluss sollen innerhalb von zwei Wochen mehr als 250 Menschen getötet worden sein, allein in Homs über 104. Es wurde befürchtet, dass der November 2011 zum „blutigsten Monat“ seit Beginn der Proteste im März werden könnte. Die Anzahl der bei den Unruhen Getöteten soll Anfang November nach Schätzungen der Vereinten Nationen bei mehr als 3.500 Personen gelegen haben. Am 2. Dezember 2011 untersagte die syrische Regierung den Bürgern die Nutzung von iPhone-Mobiltelefonen, um zu verhindern, dass Videos ins Internet gestellt werden.

59

Ein Aufruf zum Generalstreik am 11. Dezember 2011, mit dem die Opposition in Syrien den Druck auf das Regime verstärken wollte, soll in vielen Städten befolgt worden sein, u. a. blieben in den Provinzen Daraa und Idlib und in den Städten Homs und Harasta viele Geschäfte geschlossen. Es soll Gefechte in Idlib und Daraa gegeben haben. Die Opposition forderte auch zu einem Boykott der für den 12. Dezember 2011 geplanten Kommunalwahlen auf. Am 12. Dezember 2011 gab die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Pillay an, dass durch das gewaltsame Vorgehen der syrischen Regierung die Zahl der ums Leben gekommenen Personen auf mehr als 5.000, darunter mindestens 300 Kinder, angewachsen sei.

60

Bei zwei Selbstmordanschlägen in der Hauptstadt Damaskus wurden am 23.Dezember 2011 nach offiziellen Angaben 44 Menschen getötet und 166 verletzt. Die Sicherheitskräfte begannen mit einer groß angelegten Suche nach den Tätern. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Die Regierung erklärte, dass es sich bei den Unruhen im Land nicht um einen Volksaufstand, sondern um das Werk von Terroristen handele.

61

Die Arabische Liga entsandte eine erste offizielle Beobachtermission mit zunächst mehr als 50 Beobachtern am 26. Dezember 2011 nach Syrien.

62

In einer Rede am 10. Januar 2012 stellte der syrische Präsident Assad erneut Reformen in Aussicht, u. a. kündigte er für März ein Referendum über eine neue Verfassung an, und führte die Proteste im Land auf eine „internationale Verschwörung“ und auf ausländische Einmischung zurück. Er kritisierte auch die Arabische Liga und die Golfstaaten. Nach dem öffentlichen Auftritt Assads nahmen die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Regimegegnern zu. Am 15. Januar 2012 erließ Präsident Assad eine Generalamnestie für die seit Beginn der Protestwelle begangenen Straftaten, von der friedliche Demonstranten, inhaftierte Besitzer nicht registrierter Waffen, diejenigen, die ihre Waffen bis Ende Januar abgeben, und Deserteure betroffen sein sollen, die sich bis Ende Januar selbst stellen.

63

Ende Januar 2012 unterbrach die Arabische Liga nach etwas über einem Monat ihre Beobachtermission in Syrien, deren erklärtes Ziel die Beendigung der Gewalt im Land war. Mitglieder der Mission gaben unterschiedliche Einschätzungen der Lage in Syrien ab, einige beendeten ihre Teilnahme sogar vorzeitig (Zeit Online vom 30.01.2012).

64

Ein weiterer Versuch, im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt in Syrien zu verabschieden, scheiterte bei der Abstimmung am 4. Februar 2012 am Veto Russlands und Chinas. Der Resolutionsentwurf war zuvor schon abgeschwächt worden, um ein Veto zu verhindern. Westliche Staaten und der oppositionelle Syrische Nationalrat verurteilten das Verhalten der beiden Vetomächte scharf (Zeit Online vom 04.02.2012).

65

Der 4. Februar 2012 wurde zudem zu einem der bisher blutigsten Tage in Syrien, als die syrische Armee die Stadt Homs bombardierte. Nach verschiedenen Angaben von Aktivisten wurden dabei 55 – 200 Menschen getötet. Seit dem 4. Februar 2012 befand sich die Stadt unter kontinuierlicher Bombardierung (Zeit Online vom 08.02.2012).

66

Nach der ersten Beobachtermission der Arabischen Liga trat deren Leiter General al-Dabi am 12. Februar 2012 zurück. In seinen Berichten über die Arbeit der Beobachter in Syrien hatte er die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden gelobt und darauf verwiesen, dass bewaffnete Extremisten und Söldner gegen die syrischen Militärs vorgingen (Zeit Online vom 12.02.2012).

67

Am 15. Februar 2012 kündigte die syrische Regierung ein Verfassungsreferendum für den 26. Februar 2012 an. Die neue Verfassung solle die Gründung von Parteien vereinfachen. Gleichzeitig bombardierte die Regierung nach Angaben von Oppositionellen die Stadt Homs. In Damaskus kam es am 18. Februar 2012 zu einer großen Demonstration, die sich aus einem Begräbnis von Toten des Vortages entwickelte. Es handelte sich um eine der größten Demonstrationen in Damaskus seit Beginn des Aufstandes. Auch diese Demonstration wurde durch Sicherheitskräfte beschossen (Zeit Online vom 19.02.2012).

68

Am 24. Februar 2012 wurde bekanntgegeben, dass der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga zum Sondergesandten für Syrien ernannt wurde, der zwischen den Oppositionellen und der Regierung vermitteln soll. Am selben Tag erhielten Nothelfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds erstmals Zugang nach Homs, um Verletzte sowie Frauen und Kinder zu versorgen bzw. zu evakuieren. Die Rettungseinsätze wurden am 26. Februar 2012 - nach erfolglosen Verhandlungen über einen sicheren Korridor zur Evakuierung von Verletzten aus Homs - wieder eingestellt (Zeit Online vom 29.02.2012).

69

Das nur 10 Tage zuvor angekündigte Referendum über eine neue Verfassung fand am 26. Februar 2012 statt. Die Opposition hatte zuvor zum Boykott des Referendums aufgerufen (Zeit Online vom 27.02.2012).

70

Erstmals wurden auch Flüchtlinge auf türkischen Boden nahe der Grenze von syrischen Soldaten getötet (Zeit Online vom 09.04.2012). Am 21. April 2012 sprach sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2043 einstimmig dafür aus, die Zahl der Beobachter von 30 auf 300 zu erhöhen. Diese sollten jedoch erst nach Syrien reisen, wenn UN-Generalsekretär Ban Ki Moon die Waffenruhe als hinreichend stabil bewertet. Bei den Beobachtern im Rahmen der United Nations Supervision Mission in Syria (UNSMIS) handelt es sich durchweg um unbewaffnete Soldaten, die den Waffenstillstand zwischen den Truppen Assads und den Oppositionellen überwachen sollen. Zuvor hatten in der ersten Feuerpause seit mehreren Wochen internationale Beobachter die Stadt Homs besucht (Zeit Online vom 21.04.2012).

71

Ungeachtet der Entsendung der UN-Beobachter kam es zu Bombenanschlägen in Aleppo und Damaskus. Bei einer Doppelexplosion in der Hauptstadt Damaskus starben am 10. Mai 2012 70 Menschen. Es war der schwerste Anschlag seit dem Ausbruch der Proteste im März 2011 (Zeit Online vom 10.05.2012).

72

Nachdem es am 25. Mai 2012 zunächst zu Schusswechseln zwischen Regierungstruppen und Aufständischen gekommen war, beschossen die Truppen des Regimes die Siedlung Taldo bei Hula in der Provinz Homs mit Artillerie. UN-Beobachter bestätigten den Tod von 116 Menschen, darunter mindestens 32 Kinder, sowie die Zahl von etwa 300 Verletzten. Syriens Regierung wies Beschuldigungen zurück, dass das Massaker von der Armee verübt worden sei. Das syrische Außenministerium gab an, „Hunderte von Kämpfern“ hätten angegriffen und dabei „schwere Waffen wie Granatwerfer, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen verwendet, die seit Neuestem in der Konfrontation mit den staatlichen Sicherheitskräften eingesetzt“ würden (Zeit Online vom 26.05. und 28.05.2012).

73

Am 29. Mai 2012 wiesen mehrere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten den jeweils ranghöchsten syrischen Diplomaten aus Protest gegen das Massaker in Hula aus (Zeit Online vom 29.05.2012).

74

Am 3. Juni 2012 sprach Assad erstmals nach dem Massaker von Hula vor dem syrischen Parlament. Er sagte Syrien befinde sich in einem echten Krieg und er würde die „Schlacht gegen Terroristen“ fortsetzen. Als Reaktion auf die Ausweisung syrischer Diplomaten aus zahlreichen Staaten Ende Mai wurden zahlreiche westliche Diplomaten am 5. Juni 2012 des Landes verwiesen (Zeit Online vom 03.06 und 05.06.2012).

75

Am 7. Juni 2012 berichteten Oppositionsgruppen über ein Massaker im Dorf Al-Kobir welches sich in der Provinz Hama befindet. UN-Beobachter, die sich auf dem Weg nach Al-Kobir befanden, wurde die Weiterfahrt seitens der Regierungstruppen untersagt. Berichten zufolge gerieten sie unter Beschuss (Zeit Online vom 07.06.2012). Aufgrund der anhaltenden Gewalt wurde die UN-Beobachtermission am 16. Juni 2012 ausgesetzt (Zeit Online vom 16.06.2012).

76

Anfang Juli 2012 hat der syrische Präsident neue sog. Anti-Terror-Gesetze erlassen. Gründer oder Führer einer terroristischen Vereinigung müssen demnach mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit rechnen. Die Strafe könne aber noch härter ausfallen, sollte es das Ziel sein, die Regierung oder die Staatsform zu ändern, hieß es. Mitgliedern einer Terrorgruppe drohen bis zu sieben Jahre Haft. Werden bei den begangenen Taten Menschen verletzt oder getötet, kann zudem die Todesstrafe verhängt werden. Die Unterstützung von Terrorgruppen mit Geld, Waffen oder Kommunikationsmitteln kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden (Zeit Online vom 02.07.2012).

77

Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL ausgesetzt ist.

78

So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h. Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt (insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen, werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012 an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen. Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.

79

Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so, dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus, brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein, welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).

80

Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights (Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann, dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).

81

Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011 erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits „verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S. 45).

82

In dem im Juli 2012 erschienenen Bericht von Human Rights Watch „Torture Archipelago“ wird anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen ausgeführt, dass Ziel der Folter in den z. T. provisorischen Hafteinrichtungen der staatlichen Stellen nicht die Gewinnung von Informationen, sondern die Einschüchterung und Bestrafung von als illoyal gegenüber der syrischen Regierung angesehenen Personen ist. Auch in diesem Bericht werden im Grunde belanglose Handlungen und Äußerungen von Inhaftierten geschildert, welche jeweils Foltermaßnahmen nach sich gezogen haben. So wird der Fall eines in Idlib Verhafteten geschildert, welcher in einem Verhör die bei den Demonstrationen Getöteten als „Märtyrer“ bezeichnet hatte und daraufhin Elektroschocks erhielt. Diese Maßnahme wurde erst eingestellt, nachdem er erklärt hatte, dass er die Getöteten nicht mehr als Märtyrer, sondern nur noch als tote Personen bezeichnen werde.

83

Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.

84

Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 28. April 2011 an die Länderinnenverwaltungen geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht.

85

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

86

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 VwGO) sind nicht gegeben.


(1) Der Ehegatte oder der Lebenspartner eines Asylberechtigten wird auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn

1.
die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2.
die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Asylberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3.
der Ehegatte oder der Lebenspartner vor der Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und
4.
die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
Für die Anerkennung als Asylberechtigter nach Satz 1 ist es unbeachtlich, wenn die Ehe nach deutschem Recht wegen Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung unwirksam oder aufgehoben worden ist; dies gilt nicht zugunsten des im Zeitpunkt der Eheschließung volljährigen Ehegatten.

(2) Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.

(3) Die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU werden auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn

1.
die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2.
die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3.
sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben,
4.
die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und
5.
sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.
Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 entsprechend.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht für Familienangehörige im Sinne dieser Absätze, die die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder des § 3 Absatz 2 erfüllen oder bei denen das Bundesamt nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen hat. Die Absätze 2 und 3 gelten nicht für Kinder eines Ausländers, der selbst nach Absatz 2 oder Absatz 3 als Asylberechtigter anerkannt worden ist.

(5) Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. Der subsidiäre Schutz als Familienangehöriger wird nicht gewährt, wenn ein Ausschlussgrund nach § 4 Absatz 2 vorliegt.

(6) Die Absätze 1 bis 5 sind nicht anzuwenden, wenn dem Ausländer durch den Familienangehörigen im Sinne dieser Absätze eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht oder er bereits einer solchen Verfolgung ausgesetzt war oder einen solchen ernsthaften Schaden erlitten hat.

Das Gericht kann durch Beschluß mehrere bei ihm anhängige Verfahren über den gleichen Gegenstand zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbinden und wieder trennen. Es kann anordnen, daß mehrere in einem Verfahren erhobene Ansprüche in getrennten Verfahren verhandelt und entschieden werden.

(1) Der Ehegatte oder der Lebenspartner eines Asylberechtigten wird auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn

1.
die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2.
die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Asylberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3.
der Ehegatte oder der Lebenspartner vor der Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und
4.
die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
Für die Anerkennung als Asylberechtigter nach Satz 1 ist es unbeachtlich, wenn die Ehe nach deutschem Recht wegen Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Eheschließung unwirksam oder aufgehoben worden ist; dies gilt nicht zugunsten des im Zeitpunkt der Eheschließung volljährigen Ehegatten.

(2) Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.

(3) Die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU werden auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn

1.
die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2.
die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3.
sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben,
4.
die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und
5.
sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.
Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 entsprechend.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht für Familienangehörige im Sinne dieser Absätze, die die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder des § 3 Absatz 2 erfüllen oder bei denen das Bundesamt nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen hat. Die Absätze 2 und 3 gelten nicht für Kinder eines Ausländers, der selbst nach Absatz 2 oder Absatz 3 als Asylberechtigter anerkannt worden ist.

(5) Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. Der subsidiäre Schutz als Familienangehöriger wird nicht gewährt, wenn ein Ausschlussgrund nach § 4 Absatz 2 vorliegt.

(6) Die Absätze 1 bis 5 sind nicht anzuwenden, wenn dem Ausländer durch den Familienangehörigen im Sinne dieser Absätze eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht oder er bereits einer solchen Verfolgung ausgesetzt war oder einen solchen ernsthaften Schaden erlitten hat.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Besteht der unterliegende Teil aus mehreren Personen, so haften sie für die Kostenerstattung nach Kopfteilen.

(2) Bei einer erheblichen Verschiedenheit der Beteiligung am Rechtsstreit kann nach dem Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.

(3) Hat ein Streitgenosse ein besonderes Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend gemacht, so haften die übrigen Streitgenossen nicht für die dadurch veranlassten Kosten.

(4) Werden mehrere Beklagte als Gesamtschuldner verurteilt, so haften sie auch für die Kostenerstattung, unbeschadet der Vorschrift des Absatzes 3, als Gesamtschuldner. Die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, nach denen sich diese Haftung auf die im Absatz 3 bezeichneten Kosten erstreckt, bleiben unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.