Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Juni 2018 - M 17 K 17.35372

bei uns veröffentlicht am11.06.2018

Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger, durch Tazkira ausgewiesener afghanischer Staatsbürger und pashtunischer Volkszugehörigkeit, reiste am … Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 1. Juli 2016 einen Asylantrag.

Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … November 2016 trug der Kläger im Wesentlichen vor, im Iran geboren und aufgewachsen zu sein. Dort sei er seit dem 15. oder 16. Lebensjahr homosexuell gewesen und habe deshalb Probleme mit dem Vater gehabt. Kleidung und Freundeskreis des Klägers habe diesem nicht gefallen. Er habe dem Kläger gesagt, er solle entweder „richtig“ sein oder sich zum Mädchen umoperieren lassen. Der Vater habe in einer Moschee gearbeitet, der Kläger sei jedoch nie in die Moschee gegangen. Er habe im Iran zunächst keinen Freund gehabt, bis er seinen engen Freund … kennengelernt habe, der 26 Jahre alt gewesen sei und eine eigene Wohnung gehabt habe. In dieser Wohnung hätten … und der Kläger viel Zeit von nachts bis morgens verbracht und auch viele Nächte von Donnerstag auf Freitag, da sie freitags nie hätten arbeiten müssen. Sie hätten sich nie in der Öffentlichkeit an den Händen gehalten. Im Iran stünde auf Homosexualität die Todesstrafe. … habe nicht mit dem Kläger zusammen ausreisen, sondern im Iran bleiben wollen. Der Kläger gab weiter an, dass er jetzt nicht mehr homosexuell sei, da er die „Nase voll“ habe. Er sei belästigt worden und habe hier keinen Partner gefunden. Bei einem Ausflug nach München habe er einen Verwandten mütterlicherseits getroffen, der bereits anerkannter Flüchtling sei und in … lebe. Dieser sei Christ. Der Kläger habe ihm gesagt, dass er ein guter, sauberer Mensch werden wolle. Homosexualität sei eine Sünde, er wolle das nicht mehr machen und habe es ja nun bisher auch ohne Homosexualität geschafft. Er wolle Christ sein, er wolle weg kommen von der Homosexualität. Er ginge regelmäßig seit vier oder fünf Monaten sonntags in die Kirche nahe seiner Arbeitsstelle, das habe Bruder … erlaubt. Seitdem habe er keine homosexuellen Neigungen mehr. Im Iran hingegen habe er niemals daran gedacht, seine Homosexualität aufzugeben. Sein Herz habe das Christentum akzeptiert. Am Islam habe er nie Interesse gehabt, auch nicht als Kind, als ihn sein Vater aufgefordert habe, zu beten. Er sei auch nie mit seiner Mutter, die eine religiöse Schiitin sei, in die Moschee gegangen. Er habe sich für den christlichen Glauben entschieden, lese derzeit die Bibel und würde im Jahr 2017 getauft werden. Er wolle deutsch sprechen und Pastor werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wisse er nicht, wohin er gehen solle, er kenne niemanden und spreche nicht gut Dari und gar kein Pashtu. Sein Problem dort würde nicht mehr in der Homosexualität, sondern im Christsein bestehen.

Mit Bescheid vom 17. März 2017, zugestellt am 18. März 2017 (Bl. 110 BA), lehnte das Bundesamt die Asylanerkennung (Nr. 2) ab, erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) zu und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Hinsichtlich der Begründung wird auf den Inhalt des Bescheides verwiesen.

Hiergegen erhob die Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 21. März 2018, dem Verwaltungsgerichts München am selben Tag zugegangen, Klage und beantragte,

den Bescheid des Bundesamtes vom 17. März 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte übersandte die Behördenakte und stellte keinen Antrag.

Mit Schreiben vom 20. April 2017 trug die Klägerbevollmächtigte zur Klagebegründung im Wesentlichen vor, dass der Kläger keinen einzigen Tag seines Lebens in Afghanistan verbracht habe. Er sei mit den afghanischen Traditionen und Gebräuchen in keiner Weise vertraut. Außerdem habe er weder nahe noch entferntere Familienangehörigen in Afghanistan vorzuweisen. Ein familiär-soziales Netzwerk sei jedoch essenziell, um das lebensnotwendige Existenzminimum sichern zu können. Der Kläger sei zudem homosexuell. Aufgrund seiner sexuellen Orientierung habe er sich gezwungen gesehen, den Iran zu verlassen. Rechte von Homosexuellen seien in Afghanistan nicht gewährleistet. Gleichgeschlechtliche und transsexuelle Handlungen seien durch Bestimmungen des afghanischen Rechts und Auslegungen der Scharia unter Strafe, bis hin zur Todesstrafe, gestellt. Zudem habe sich im Laufe des Jahres 2016 der innerstaatliche bewaffnete Konflikt in Afghanistan weiter ausgebreitet und sei durch eine Fragmentierung und Stärkung der aufständischen Kräfte gekennzeichnet. Die Sehnsucht des Klägers nach einem konstanten Lebensstil sei dadurch verdeutlicht worden, dass er alles in seiner Macht stehende für seine Integration in die deutsche Gesellschaft, insbesondere durch die Erlernung der deutschen Sprache, unternehme.

Mit Schriftsatz vom 21. Juni 2017 übersandte die Klägerbevollmächtigte eine Taufbescheinigung vom 19. Juni 2017. Darin bestätigt Pfarrer … … vom evangelisch-lutherischen Pfarramt … …, dass der Kläger einen von ihm in 10 Einheiten verantworteten Taufunterricht ab dem … Juni 2017 absolviere und nach vollständigem Besuch des Taufunterrichts sowie einem regelmäßigen Gottesdienstbesuch in der … getauft werde.

Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 28. März 2018 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Die Klägerbevollmächtigte legte mit Schriftsatz vom … April 2018 eine Taufurkunde vor, wonach der Kläger am … August 2017 getauft wurde.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten, insbesondere auf den Sachvortrag des Klägers, die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Gründe

1. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

2. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes, noch auf Feststellung von Abschiebungsverboten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das 30-monatige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nicht zu beanstanden.

Zur Begründung wird auf die zutreffende Begründung in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Ergänzend ist folgendes auszuführen:

2.1. Die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung nach § 3 AsylG liegen nicht vor.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft (ebenso wie bei der des subsidiären Schutzes, s.u.) in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, wie er vormals auch in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG enthalten war und nunmehr in Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU in der Umschreibung „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – juris). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris; BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris).

Es ist dabei Sache des jeweiligen Schutzsuchenden darzulegen, dass in seinem Falle die tatsächlichen Grundlagen für eine Schutzgewährung, insbesondere also ein Verfolgungsschicksal und eine (noch) anhaltende Gefährdungssituation gegeben sind. Eine Glaubhaftmachung derjenigen Umstände, die den eigenen Lebensbereich des Asylbewerbers betreffen, erfordert insoweit einen substantiierten, im Wesentlichen widerspruchsfreien und nicht wechselnden Tatsachenvortrag, der geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, und der auch mit den objektiven Umständen in Einklang zu bringen ist. Der Asylsuchende hat seine guten Gründe für eine ihm drohende Verfolgung unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig zu schildern (BVerwG, B.v. 10.5.1994 – 9 C 434.93 – NVwZ 1994, 1123 f., B.v. 26.10.1989 – 9 B 405.89 – InfAuslR 1990, 38 ff.; OVG NW, B.v. 22.6.1982 – 18 A 10375/81).

Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. Vorgeschädigten wird in Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sowohl für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz als auch für die Gewährung subsidiären Schutzes) eine tatsächliche (aber im Einzelfall widerlegbare) Vermutung normiert, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, sofern ein innerer Zusammenhang zwischen der erlittenen Verfolgung bzw. dem erlittenen Schaden und der befürchteten Verfolgung bzw. dem befürchteten Schaden besteht. Dadurch wird der Vorverfolgte / Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden (BVerwG, U.v. 07.09.2010 – 10 C 11.09 – juris; BVerwG, U.v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – juris).

Dem Vorbringen des Klägers kann weder mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit entnommen werden, dass er zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren in Afghanistan aus asylrelevanten Gründen verfolgt worden ist, noch dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von diesen verfolgt werden würde.

2.1.1. Die Gewährung von Asyl oder Flüchtlingsschutz setzt aber eine drohende oder erlittene Verfolgung im Herkunftsland voraus. Sein Schutzersuchen ist alleine danach zu beurteilen, ob einem Ausländer in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, eine Verfolgung droht. Hingegen kommt es nicht darauf an, ob er in einem Drittland, in dem er seinen gewöhnlichen bzw. letzten Aufenthalt hatte, eine Verfolgung befürchten muss. Regelmäßig ist auch unerheblich, ob er dort bereits einmal einer Verfolgung ausgesetzt gewesen ist (BVerwG, U.v. 18.10.1983 – 9 C 158/80 – BVerwGE 68, 106-109 – juris). Eine konkrete Verfolgungshandlung, die sich in Afghanistan ihm gegenüber zugetragen habe, erfolgte nicht, da der Kläger im Iran geboren und aufgewachsen ist. Nach seinen eigenen Angaben habe er Afghanistan nie gesehen. Angesichts dieser Tatsache kann eine erlittene staatlich oder nichtstaatlich zu verantwortende Verfolgung in Afghanistan (Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU) vom Kläger nicht geltend gemacht werden.

2.1.2. Soweit der Kläger sich darauf beruft, dass ihm in Afghanistan wegen seiner homosexuellen Neigung Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG drohe, kann er damit ebenfalls nicht durchdringen. Dem Kläger ist es nicht gelungen, dem Gericht seine angebliche homosexuelle Neigung schlüssig und nachvollziehbar darzulegen. Zwar dürfen die Anforderungen an eine nachvollziehbare Schilderung der eigenen sexuellen Neigung nicht überspannt werden. Insbesondere das Alter und die Herkunft des Klägers, der in ländlichem Umfeld in einem islamisch geprägten Land aufgewachsen ist, sind zu berücksichtigen. Seine Angaben zu seiner angeblichen Homosexualität sind jedoch derart detailarm und widersprüchlich, dass sie auch unter Berücksichtigung dieser Umstände nicht geeignet sind, ein auch nur ansatzweise nachvollziehbares Bild seiner sexuellen Orientierung zu vermitteln. So blieb der Kläger die Schilderung eines zusammenhängenden Lebenssachverhalts schuldig, die eine Homosexualität des Klägers nachvollziehbar und plausibel darlegen würden.

Der Kläger distanzierte sich zudem in seiner Anhörung vor dem Bundesamt deutlich von seiner bisherigen, angeblich nur im Iran bestandenen Homosexualität. Er gab damals an, Homosexualität als unsauber und als Sünde anzusehen und in Deutschland keine homosexuellen Neigungen mehr zu empfinden. Weder im Iran noch in Afghanistan werde der Kläger das Problem der Homosexualität haben, sondern des Christseins. Aus welchen Gründen ihm nun doch in Afghanistan eine Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität drohen könnte, konnte der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht überzeugend darlegen. So gab er an, dass er derzeit auch sehr viel Zeit zu Hause verbringe und sich mit allerlei Dingen beschäftige, so dass er für eine homosexuelle Beziehung noch „keine wirkliche Zeit“ hätte.

Aber insbesondere inhaltlich ist der klägerische Vortrag wesentlich durch unauflösbare Widersprüche geprägt. Während der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt noch angab, mit 15 bzw. 16 Jahren seine homosexuelle Neigung bemerkt zu haben, erklärte er in der mündlichen Verhandlung, dass er 19 Jahre alt gewesen sei, als ihm seine Homosexualität bewusst geworden und ihm anders gekleidete Jungen in der Schule aufgefallen seien. Einerseits sei sein Freund … 26 Jahre alt gewesen (Niederschrift der Anhörung vor dem Bundesamt, … *), andererseits gab er in der mündlichen Verhandlung an, dass sein Freund 22 Jahre alt gewesen sei. Weiter gab er in der mündlichen Verhandlung an, dass er seine erste Beziehung, die sieben Monate gedauert habe, im Alter von 19-20 Jahren mit … gehabt habe. Als er drei Monate mit seinem Freund zusammen gewesen sei, hätte sein Vater die beiden während des Geschlechtsverkehrs entdeckt und sei mit dem Messer auf sie losgegangen. Wenige Tage später habe er sich deshalb entschlossen, mit seinem Freund in die Türkei zu gehen. Der Kläger sei auf dem Landweg und sein Freund auf dem Luftweg in die Türkei gereist. Dort hätten sie gemeinsam über vier Monate lang gelebt. Danach sei sein Freund wieder in den Iran zurückgekehrt, da er sich in der Türkei nicht wohlgefühlt, sondern gelangweilt habe. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger hingegen noch an, dass sein Freund im Iran geblieben sei. Er habe seinem Freund angeboten, mit dem Kläger zusammen den Iran zu verlassen. Sein Freund habe dies aber nicht gewollt, sondern habe (im Iran) bleiben wollen (Niederschrift, S. 4).

Zudem widersprechen sich die zeitlichen Angaben des im Jahr 1992 geborenen Klägers erheblich. Sollte er im Alter von 19-20 Jahren mit seinem Freund eine Beziehung geführt haben, hätten sich die Ereignisse, darunter auch seine Ausreise aus Afghanistan, in den Jahren 2011 bzw. 2012 zutragen müssen. Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens am 1. Juli 2016 teilte der Kläger jedoch noch mit, ca. im Oktober 2015 sein Heimatland verlassen zu haben.

Gänzlich unverständlich ist auch die klägerische Angabe, dass er nicht wisse, wie sein Freund … mit Nachnamen heiße.

Nicht nachvollziehbar ist zudem, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt, insbesondere auf die Frage, ob sein Vater von seinen homosexuellen Neigungen gewusst habe, es unterließ zu schildern, dass ihn sein Vater mit seinem Freund während des Geschlechtsverkehrs entdeckt habe und mit dem Messer auf sie losgegangen sei. Vielmehr gab er damals noch an, dass der Vater aufgrund der Kleidung und des Umgangs des Klägers gewusst habe, dass er homosexuelle Neigungen habe, ohne das doch prägende Ereignis der Entdeckung und des Messerangriffs zu erwähnen, das den Kläger wenige Tage später zur Ausreise aus dem Iran veranlasst haben soll.

In der mündlichen Verhandlung war der Kläger zudem nicht in der Lage Treffpunkte oder Lokale in seinem Wohnort oder in der nächst größeren Stadt Ingolstadt zu nennen, an denen sich Homosexuelle überwiegend treffen. Auch soziale Netzwerke und das Internet nutze er für solche Zwecke nicht, obwohl er ein Smartphone besitze. Auch homosexuelle Verbände, Organisationen oder Ansprechpartner konnte der Kläger auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung nicht benennen. Lediglich pauschal erklärte der Kläger, dass er auf der Straße in seinem Wohnort ein paar Homosexuelle getroffen und ihnen seine Telefonnummer gegeben habe. Auf dem weg zum Sozialamt habe er diese an ihrer Kleidung und an ihrer Schminke erkannt. Diese vagen und oberflächlichen Schilderungen überzeugen nicht. Vielmehr erscheinen sie konstruiert und auf typischen Klischeevorstellungen des Klägers zu beruhen.

Schließlich erscheint auch der Umstand, dass der Kläger hinsichtlich seiner Homosexualität im Iran keine Zweifel, Gewissenskonflikten oder der Furcht vor negativen Konsequenzen berichtet, nur schwer nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass der Vater des Klägers in der Moschee gearbeitet hat und der Kläger selbst in einem vom Islam geprägten Land aufgewachsen ist, in dem Homosexualität sowohl gesellschaftlich geächtet wird als auch nach den religiösen und staatlichen Gesetzen unter Strafe steht.

Angesichts all dieser Ungereimtheiten vermögen auch die Aussagen des Klägers zu der in Deutschland angeblich weiter bestehenden, aber nicht ausgelebten homosexuellen Neigung das Gericht hiervon nicht zu überzeugen.

2.1.3. Aufgrund der vom Kläger geltend gemachten Konversion zum christlichen Glauben droht ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls keine Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG.

Eine Verfolgung i.S.d. Art. 9 Abs. 1 a) Qualifikationsrichtlinie (QRL), der durch § 3a Abs. 1 AsylG in deutsches Recht umgesetzt wurde, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - BayVBl. 2013, 234, juris Rn. 57 ff.) sowie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 21 ff.; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 41 ff.; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 23 ff.) auch in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG a.a.O. Rn. 21). Zur Qualifizierung eines Eingriffs in das Recht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta als „erheblich“ kommt es nicht auf die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG sowie des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 maßgebliche Unterscheidung an, ob in den Kernbereich der Religionsfreiheit, das „religiöse Existenzminimum“ (forum internum) eingegriffen wird oder ob die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit (forum externum) betroffen ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.1.2004 – 1 C 9/03 – BVerwGE 120, 16/20 f., juris Rn. 12 ff. m.w.N.). Vielmehr kann ein gravierender Eingriff in die Freiheit, den Glauben im privaten Bereich zu praktizieren, ebenso zur Annahme einer Verfolgung führen wie ein Eingriff in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (EuGH a.a.O. Rn. 62 f.; BVerwG a.a.O. Rn. 24 ff.; VGH BW a.a.O. Rn. 43; OVG NRW a.a.O. Rn. 29 ff.). Für die Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigungen ist daher abzustellen auf die Art der Repressionen und deren Folgen für den Betroffenen (EuGH a.a.O. Rn. 65 ff.), mithin auf die Schwere der Maßnahmen und Sanktionen, die dem Ausländer drohen (BVerwG a.a.O. Rn. 28 ff.; VGH BW a.a.O.; OVG NRW a.a.O.; vgl. zu alledem VG Würzburg, U.v. 30.9.2016 – W 1 K 16.31087 – juris).

Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) QRL zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U.v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28 ff.).

Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere – aber nicht nur – dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, weil ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, keine erhebliche Verfolgungsgefahr begründet (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28 m.w.N.).

Als relevanter subjektiver Gesichtspunkt ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (EuGH, U.v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 29; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 48; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 35). Denn der Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Dabei kommt es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, B.v. 9.12.2010 - 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; VGH BW a.a.O.). Maßgeblich ist dabei, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 29). Dieser Maßstab setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG a.a.O. Rn. 30). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Demgegenüber reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben auszuüben oder hierauf zu verzichten (BVerwG a.a.O.; VGH BW a.a.O. Rn. 49).

Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 30; B.v. 9.12.2010 - 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; OVG NRW, B.v. 11.10.2013 – 13 A 2041/13.A – juris Rn. 7; U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 13). Dabei ist das Gericht nicht an kirchliche Bescheinigungen und Einschätzungen gebunden (BayVGH, 9.4.2015 – 14 ZB 14.30444 – juris Rn. 5; OVG Lüneburg, B.v. 16.9.2014 – 13 LA 93/14 – juris Rn. 6). Da es sich um eine innere Tatsache handelt, lässt sich die religiöse Identität nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen aufgrund einer ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung feststellen (BVerwG v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 31; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris 50).

Gemessen an diesen Grundsätzen liegt im Falle des Klägers zwar die erforderliche objektive, jedoch nicht die subjektive Schwere der ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner Religionsfreiheit vor. Ihm droht deshalb keine aufgrund eines anzuerkennenden subjektiven Nachfluchtgrundes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1 und 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

Nach Überzeugung des Gerichts ist es nicht unverzichtbarer Bestandteil der religiösen Identität des Klägers, dass er seinen Glauben gemeinsam mit anderen ausüben, insbesondere an Gottesdiensten teilnehmen und sich mit der Bibel und den christlichen Glaubensinhalten beschäftigen kann.

Der formale Glaubenswechsel des Klägers ist durch den bereits vollzogenen Akt der Taufe am … August 2017 belegt. Zuvor besuchte der Kläger seit dem … Juni 2017 einen Taufunterricht der … … Darüber hinaus ist jedoch für die Annahme einer Verfolgungsgefahr und damit für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich, dass der Glaubenswechsel, insbesondere wenn er erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsland durchgeführt wurde, nicht rein aus asyltaktischen Gründen erfolgt, sondern auf einem ernsthaften, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht und nunmehr die religiöse Identität des Betroffenen prägt (BayVGH, B.v. 20.4.2015 – 14 ZB 13.30257 – juris Rn. 4; B.v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.30444 – juris Rn. 7; HessVGH, U.v. 26.7.2007 – 8 UE 3140/05.A – juris Rn. 20 ff.; B.v. 26.6.2007 – 8 UZ 1463/06.A – juris Rn. 12 ff.; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 37 ff.). Auf eine solche echte Glaubensüberzeugung kommt es nur dann nicht an, wenn im Herkunftsland bereits die Tatsache des formalen Glaubenswechsels genügt, um eine Verfolgungsgefahr zu begründen, selbst wenn der Betroffene seinen Glauben verheimlichen oder gar verleugnen würde (HessVGH a.a.O.; OVG NRW a.a.O.). Letzteres ist in Afghanistan nach der Erkenntnislage und der Rechtsprechung (vgl. z.B. HessVGH a.a.O.; OVG NRW a.a.O.), der sich das erkennende Gericht anschließt, jedoch nicht der Fall.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Hintergründe und Motive seines Glaubenswechsels nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können. Das Gericht hat hierbei nicht den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sich aus voller innerer Überzeugung dem Christentum zugewandt hat.

Der Kläger hat keinen gewissensgeleiteten, durch religiöse Werte und Normen hervorgerufenen Akt der inneren Umkehr und einen Wendepunkt in seinem Leben glaubhaft geschildert. Der Kläger hat nicht hinreichend deutlich gemacht, dass es sich bei seiner Hinwendung zum Christentum um eine Gewissensentscheidung handelt, die von einer echten Glaubensüberzeugung und damit auch nicht von asyltaktischen Erwägungen geleitet ist. Auf Nachfrage gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, dass ihm ein Freund in der Türkei angeboten habe, mit ihm in die Kirche zu gehen, als der Kläger wegen der Trennung mit seinem Freund sehr verzweifelt gewesen sei. Dabei habe der Kläger ein Interesse für den christlichen Glauben entwickelt. Die afghanischen und iranischen Kirchenbesucher seien sehr nette Leute gewesen. Dies sei der Grund gewesen, weshalb er sich entschlossen habe, den christlichen Glauben anzunehmen. Er sei von dort an jeden Sonntag in die Kirche gegangen und habe eifrig die Gottesdienste besucht. Auf Nachfrage des Gerichts, ob es weitere Gründe für seine Konversion gegeben habe, als die Freundlichkeit der Kirchenbesucher, erklärte der Kläger, dass es die Liebe und das Verhältnis der Christen untereinander sei und er sich in der Kirche geliebt fühle. Immer wenn er Probleme habe oder etwas benötige, könne er sich an die Kirche wenden. Mit diesen rudimentären Ausführungen über die allgemeine Freundlichkeit der Kirchenbesucher oder die pauschalen Bezugnahme auf Liebe und das Verhältnis der Christen untereinander, vermag es der Kläger nicht einen durch religiöse Werte und Normen hervorgerufenen Akt der inneren Umkehr und einen Wendepunkt in seinem Leben glaubhaft darzulegen. Hinzu kommt, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt im November 2016 noch angab, (erst) seit vier bis fünf Monaten, als er bereits in Deutschland lebte, in die Kirche zu gehen und seine angeblichen ersten Kontakte zu christlichen Kirchen in der Türkei völlig unerwähnt ließ.

Der Kläger hat zudem nicht glaubhaft machen können, mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens vertraut zu sein und den christlichen Glauben als Glaubensüberzeugung zu leben. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt war der Kläger bereits nicht in der Lage die wichtigsten beiden Feste der Christen zu benennen, obwohl er bereits in der Türkei jeden Sonntag in die Kirche gegangen sein will. In der mündlichen Verhandlung konnte er ebenfalls wesentliche Glaubensinhalt des Christentums nicht wiedergeben (im Einzelnen Sitzungsprotokoll, S. 7 ff.). Die 10 Gebote könne er nicht sagen, habe diese aber im Herzen. Er lese zwar die Bibel, wisse aber keine Details. Den Namen des Vaters von Jesus kenne er nicht. Seinen Taufspruch könne er nicht aufsagen, da der Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten worden sei. Aus demselben Grund könne der den Inhalt des Glaubensbekenntnisses nicht wiedergeben. Er fühle sich im Gottesdienst aber sehr wohl und angezogen von Dingen, die ihm Ruhe vermitteln würden. Der Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Kirche sei ihm nicht bekannt. Er sei „durch Zufall“ auf die … Kirche gestoßen.

Das Gericht hat keinen Zweifel, dass der Kläger Gottesdienste besucht und diese auf ihn beruhigende Wirkung hat. Fraglos investiert der Kläger dafür einen nicht unerheblichen Zeitaufwand und Anstrengungen. Der Kläger konnte jedoch nicht überzeugend darlegen, dass der Gottesdienstbesuch – in Deutschland – für den Kläger persönlich auch ein unverzichtbares äußeres Glaubensbekenntnis darstellt – jenseits der kommunikativen Ebene – und worin sich dieses manifestieren würde. Welche äußere Glaubensbetätigung für den Kläger unverzichtbar wäre auch im Herkunftsland Afghanistan, wurde vom Kläger nicht benannt.

Der Kläger hat damit nicht glaubhaft gemacht, auch in Afghanistan unter Inkaufnahme von Risiken als sich betätigender Christ leben zu wollen. Es steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger sich zur Wahrung seiner religiösen Identität auch in Afghanistan zu seinem christlichen Glauben bekennen würde.

2.2. Der Kläger hat zudem keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Dass dem Kläger in Afghanistan die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, ist nicht ersichtlich. Ferner hat der Kläger auch nicht vorgetragen, dass er mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten muss, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan von staatlichen bzw. nichtstaatlichen Stellen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht (s.o. unter 2.1.).

Aber auch eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG kann nicht bejaht werden. Das Bestehen individueller, gefahrerhöhender Umstände, die eine Gefährdung im o.g. Sinne dennoch begründen könnten, ergibt sich für den Kläger nach dessen Vorbringen nicht in einem rechtlich relevanten Maße.

Abzustellen ist vorliegend auf die Provinz … Denn die Provinz Kunduz, aus der der Vater des Klägers stammt, kommt als „Herkunftsregion“, in die die Rückkehr typischerweise erfolgt, nicht in Betracht. Schon vor der Geburt des Klägers hat sich dessen Familie zum Verlassen des damals noch sowjetisch-kommunistisch geprägten Landes entschlossen. Durch diese Ablösung bereits durch die Eltern des Klägers hat die Provinz Kunduz auch für den Kläger selbst die Bedeutung einer Herkunftsregion verloren (vgl. VGH BW, U.v. 5.12.2017 – A 11 S 1144/17 – juris Rn. 218 ff.).

In der Zentralregion Afghanistans, zu der auch … gehört und wohin wohl eine Rückführung des im Iran geborenen und aufgewachsenen Klägers stattfinden würde, wurden laut UNAMA (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017 vom Februar 2018, https://unama.unmissions.org/protection-of-civilians-reports, S. 7, S. 67) im Jahr 2017 2.240 Zivilpersonen getötet oder verletzt (2016: 2.348). Im Verhältnis zur Einwohnerzahl (ca. 6,5 Millionen; vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 32) ergibt sich ein Risiko von 1:2902 (bei Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer von 1:967), verletzt und getötet zu werden (vgl. auch VGH BW, U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – UA S. 45 ff.– juris, wonach in … bei realistischer Betrachtung einer höheren Bevölkerungszahl die nach dem BVerwG als bei weitem nicht ausreichend erachtet Schwelle schon quantitativ nicht erreicht werde und auch in qualitativer Hinsicht zu bedenken sei, dass in … die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser sei als in anderen Regionen Afghanistans).

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (B.v. 20.2.2018 – 13a ZB 17.31970; B.v. 14.8.2017 – 13a ZB 17.30807; B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – jeweils juris; B.v. 21.8.2017 – 13a ZB 17.30529 – juris Rn. 13; B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254) geht weiterhin davon aus, dass in keiner Region Afghanistans die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen und dass auch die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 3.2.2017 – 13a ZB 16.31045 – juris – zur Nordostregion; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris – zur Zentralregion unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris – und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167).

Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar entschieden, dass es neben der quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung bedarf. Ist allerdings die Höhe des quantitativ festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens – wie hier – weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, vermöge sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken. Zudem sei die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 23; 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den aktuellen Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern vom Dezember 2016. Die Bewertung beruht auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den dargelegten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung decken (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris Rn. 6 f.; B.v. 4.4.2017 – 13a ZB 17.30231 – juris Rn. 12; B.v. 28.3.2017 – 13a ZB 17.30212 – juris Rn. 5; B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 11; B.v. 20.1.2017 – 13a ZB 16.30996 – juris Rn. 9; VG Augsburg, U.v.19.12.2016 – Au 5 K 16. 31939 – juris Rn. 42).

Auch aus der Stellungnahme von Amnesty International vom 8. Januar 2018, ergeben sich keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Gericht zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären (vgl. VGH BW, U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris; U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris).

Der jüngste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 31. Mai 2018 (S. 18 f.) nimmt Bezug auf die UNAMA-Angaben. UNAMA nehme aber ausschließlich Fälle in die Statistik auf, über die von mindestens drei voneinander unabhängigen Quellen berichtet worden sei. Für Vorfälle in für die Berichterstattung wenig zugänglichen Gebieten sei daher von einer nicht mit eingerechnet Dunkelziffer auszugehen. 2017 habe es in Afghanistan nach UNAMA-Angaben 10.453 zivile Opfer (-9% im Vergleich zu 2016), davon 7.015 (-11% im Vergleich zu 2016) Verletzte und 3.438 Tote (-2% im Vergleich zu 2016) bei einer konservativ geschätzten Einwohnerzahl Afghanistans von etwa 27 Millionen (andere Schätzungen gehen von 32 Millionen Einwohnern aus) gegeben. Der Rückgang der Opferzahlen werde darauf zurückgeführt, dass 2017 weniger Zivilisten von Kampfhandlungen am Boden betroffen gewesen seien. Allerdings sei die Zahl von zivilen Opfern bei komplexen Angriffen und Anschlägen um 17% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Im 1. Quartal 2018 habe es 2.258 zivile Opfer (763 Tote, 1.495 Verletzte) gegeben. Dies entspreche den Opferzahlen im gleichen Zeitraum 2017. Wie dargestellt liegt damit aber die Anschlagswahrscheinlichkeit für die Zentralregion Afghanistans selbst unter Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer im Jahr 2017 bei deutlich unter 1:800 und damit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, entfernt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/13 – juris; VGH BW, U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris).

Dass die Opferzahlen – bei anderer Zählweise – auch höher liegen können, wie teils eingewandt wird (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82 mit Fn. 2), ändert an dieser Bewertung nichts, denn die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar, da sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen (VG Bayreuth, U.v. 26.7.2017 – B 6 K 17.30520 – juris 49). Dass die Methodik der UNAMA überholt wäre, die Informationen an offen erkennbaren inhaltlichen Defiziten litten, insbesondere an entscheidungserheblichen unzutreffenden Tatsachenannahmen, unlösbaren Widersprüchen, sich aus den Stellungnahmen ergebenden Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit oder eines speziellen, hier nicht vorhandenen Fachwissens bedürften (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2015 – 7 C 15.13 – NVwZ 2016, 308/312 Rn. 47 m.w.N.), ist weder ersichtlich noch substantiiert gerügt. Im Gegenteil liegen für Afghanistan mangels Einwohnermeldewesens auch für die Bevölkerungszahlen nur Schätzungen vor (dies räumt auch Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/74 ein), so dass jede Datenerhebung schon deswegen an tatsächliche Grenzen stößt. Dass und weshalb andere Auskunftsquellen methodisch belastbarere Primärdaten hätten, ist nicht ersichtlich, so dass die Daten von UNAMA weiterhin zu Grunde gelegt werden.

Nach alledem ist es angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände in …, wohin eine Rückführung voraussichtlich erfolgen würde, nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden (vgl. auch BayVGH, B.v. 17.08.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris Rn. 10; OVG NW, B.v. 8.6.2016 – 13 A 1222/16.A – juris Rn. 10; NdsOVG, B.v. 27.4.2016 – 9 LA 46/16; B.v. 13.4.2015 – 9 LA 58/13).

2.3. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor.

Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.).

2.3.1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tat-sächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.

Für einen leistungsfähigen, gesunden, jungen, afghanischen Mann sowie einem verheiratetem Ehepaar ohne Unterhaltsverpflichtung bestehen im Allgemeinen – wenn nicht besondere, individuell erschwerende Umstände hinzukommen – in Afghanistan, insbesondere auch in …, trotz der schlechten humanitären Bedingungen und Sicherheitslage keine Gefahrenlage, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und infolgedessen zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt. Dies gilt auch, wenn keine familiären oder sozialen Unterstützungsnetzwerke vorhanden sind (BayVGH, B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31652 – juris; VGH BW, U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris; VGH BW, U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris; VG München, U.v. 9.3.2017 – M 17 K 16.35022; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 55 ff.; vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn.12). Besondere, individuell erschwerende Umstände, die zu einem Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen würden, liegen beim Kläger nicht vor. Ausgehend von den derzeit in Afghanistan sowie insbesondere in der Stadt … als Endbzw. Ankunftsort einer Abschiebung vorherrschenden Lage ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung spräche, nicht festzustellen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der prekären Sicherheitslage, des fehlenden familiären und sozialen Netzwerkes des Klägers in Afghanistan, der angespannten Arbeitsmarktsituation und der besonderen Herausforderungen, denen sich Rückkehrer aus Europa in Afghanistan ausgesetzt sehen (VGH BW, U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris; U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris; zur Situation von Rückkehrern, die lange im benachbarten Ausland gelebt haben vgl. VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 424 ff.; VGH BW, U.v. 5.12.2017 – A 11 S 1144/17 – juris).

An dieser Einschätzung vermag auch der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 31. Mai 2018 (insbesondere S. 25 ff.) nichts zu ändern. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes (Lagebericht, IV.1.1.), dass die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung darstelle. Für Rückkehrer gelte dies in besonderem Maße. Viele von ihnen seien auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Laut UNOCHA benötigten 9,3 Millionen Menschen, d.h. ein Drittel der afghanischen Bevölkerung, humanitäre Hilfe. Bedarf bestehe besonders an Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Die hohe Arbeitslosigkeit werde verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Das World Food Programme reagiere das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – sei extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt. Für 2018 werde eine Dürre mit erheblichen Auswirkungen auf die Landwirtschaft und Versorgung der Bevölkerung vorhergesagt. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten hätten dazu geführt, dass dort ca. 1 Million oder fast 1/3 aller Kinder als akut unterernährt gelten würden. Die afghanische Regierung habe 2017 mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Eine Sonderkommission arbeite an einem neuen, transparenten Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer. Daneben gebe es für Rückkehrer jedoch auch die Übernahme von Reisekosten, Wiedereingliederungshilfen und Unterstützungsmaßnahmen (vgl. Lagebericht, S. 26). Rückkehrer aus dem Iran seien in der Regel als solche erkennbar (Lagebericht, S. 28 ff.). Offensichtlich seien sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen seien, die erkennbar Farsi oder Dari mit iranischem Akzent sprechen. Zudem könnten fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nehme auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese könnten die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt werde. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, sei es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt sei. Dies könne die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hänge maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (Lagebericht, S. 29). Nach den Erkenntnissen von EASO (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan – Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in … City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67f.) würden nur etwa 15% der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze werde über Freunde oder Verwandte erlangt.

Gleichwohl geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter weiter davon aus, dass auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in … die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist. Auf die umfangreichen Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 194 ff.; U.v. 09.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris), der sich der Einzelrichter anschließt, wird Bezug genommen.

Der Kläger verfügt über eine solide Schulausbildung (6 Jahre) sowie Berufserfahrung und konnte seinen Lebensunterhalt im Iran selbst finanzieren. Er arbeitete im Iran meistens in Restaurants, seine wirtschaftlichen Verhältnisse waren eigenen Angaben zufolge gut. Die Reise habe er von seinen Ersparnissen bezahlt, einen Teil der Kosten habe seine Mutter getragen. Das Erwirtschaften eines – wenn auch womöglich sehr geringen – Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein.

Dem steht auch der langjährige Aufenthalt des Klägers im Iran nicht entgegen. Trotz bestehender Unterschiede zwischen den Verhältnissen im Iran und in Afghanistan ist nicht ersichtlich, dass es einem im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen grundsätzlich nicht oder sehr viel schwerer als anderen Rückkehrern ohne Netzwerke möglich wäre, in Afghanistan sein Überleben zu sichern. Auch wenn sich das Leben vom zwar auch islamisch geprägten Kulturkreis des Iran in vielerlei Hinsicht unterscheidet (insbesondere in der Sicherheitslage, aber auch was die aus afghanischer Sicht freizügigere Lebensweise im Iran betrifft) und Rückkehrer aus dem Iran einer gewissen Diskriminierung ausgesetzt sind, ist insbesondere auch den genannten Erkenntnismitteln trotz der hohen Zahl von 620.000 Rückkehrern aus Pakistan und dem Iran allein im Jahr 2016 nicht zu entnehmen, dass „faktischen Iranern“ in Afghanistan die Sicherung des Existenzminimums typischerweise unmöglich wäre. Jedenfalls in den größeren Städten wie …, Masar-e Sharif oder Herat ist – wenn nicht individuelle, erschwerende Umstände hinzukommen – davon auszugehen, dass ein leistungsfähiger erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen seine Existenz auch dann sichern kann, wenn er mit auf Grund eines langjährigen Aufenthalts im benachbarten Ausland nicht mit den besonderen Verhältnissen Afghanistans vertraut ist (vgl. VGH BW, Urt. v. 5.12.2017, a. a. O., juris, Rn. 525; BayVGH, B.v. 12.4.2017 – 13a ZB 17.30320; B.v. 21.3.2017 – 13a ZB 17.40155 – juris).

Schließlich ergibt sich auch nichts anderes aus dem Umstand, dass der Kläger lediglich Farsi spricht. Denn zwischen Farsi und der Landessprache Dari bestehen nur marginale Unterschiede, sodass eine Kommunikation im Heimatland unproblematisch möglich ist (vgl. VG München, U.v. 13.7.2017 – M 17 K 17.34249; VG Lüneburg, U.v. 13.6.2017 – 3 A 136/16 – juris, Rn. 60 m. w. N.; vgl. www.derstandard.at; www.afghan-aid.de/dari.htm: keine verschiedenen Sprachen; VG Augsburg, U.v. 23.1.2017 – Au 5 K 16.32008 – juris Rn. 25; VG Schleswig-Holstein, U.v. 26.8.2016 – 5 A 360/15 – juris Rn. 14; VG Würzburg, B.v. 30.5.2016 – W 1 S 16.30617 – juris Rn. 30). Hinzu kommt, dass der Kläger auch während des Asylverfahrens mehrfach durch Unterschrift bestätigte, sich mit dem Sprachmittler auf Dari verständigen zu können (vgl. BA Bl. 2, 13, 18, 30, 45, 46). Ferner ist auf der vom Kläger vorgelegten Tazkira als Muttersprache „Pashto“ eingetragen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass sich der Kläger in Afghanistan in einer der Landessprachen verständigen kann.

2.3.2. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegen nicht vor.

Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – juris Rn. 15).

Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30929 – juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 – 13a ZB 16.30684 – juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 60). Gerade Rückkehrer aus dem Westen sind dabei in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch die Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in Nachbarländer Afghanistans geflohen sind, wesentlich höher (BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 21). Zwar berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden. Andererseits können Rückkehrer – anders als die übrige Bevölkerung – von Unterstützungsmaßnahmen profitieren (dazu ausführlich VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 411 ff.).

Im Hinblick auf eine mögliche Eigenexistenzsicherung hat der Kläger die hierfür erforderliche Leistungsfähigkeit eines im Wesentlichen gesunden jungen Mannes. Die Chancen des Klägers im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen sind zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt als nicht aussichtslos im Vergleich bei der derzeitigen afghanischen Konkurrenzsituation einzuschätzen. Dafür spricht, dass der Kläger in der Vergangenheit bereits im Iran Geld verdient hat und den Lebensunterhalt für sich sowie seine Ausreisekosten erwirtschaften konnte (s.o.).

Nach alledem ist vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsjobs in …, wohin eine Abschiebung erfolgen würde (vgl. zum Abschiebeweg Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 26), ein Einkommen zu erzielen, dass ein Leben über dem Existenzminimums ermöglicht und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.

3. Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.

4. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des Bescheids vom 17. März 2017 keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal die Klägerseite diesbezüglich keine substantiierten Einwendungen vorgebracht und insbesondere kein fehlerhaftes Ermessen gerügt hat.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Juni 2018 - M 17 K 17.35372

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Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Juni 2018 - M 17 K 17.35372 zitiert 21 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 4 Subsidiärer Schutz


(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der To

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot


(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3 Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 77 Entscheidung des Gerichts


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 114


Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens übersch

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16a


(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 59 Androhung der Abschiebung


(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfal

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 34 Abschiebungsandrohung


(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn 1. der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,2. dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wir

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3d Akteure, die Schutz bieten können


(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden 1. vom Staat oder2. von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,sofern sie willens und in d

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 77 Schriftform; Ausnahme von Formerfordernissen


(1) Die folgenden Verwaltungsakte bedürfen der Schriftform und sind mit Ausnahme der Nummer 5 mit einer Begründung zu versehen: 1. der Verwaltungsakt, a) durch den ein Passersatz, ein Ausweisersatz oder ein Aufenthaltstitel versagt, räumlich oder zei

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Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Juni 2018 - M 17 K 17.35372 zitiert oder wird zitiert von 29 Urteil(en).

Verwaltungsgericht München Urteil, 11. Juni 2018 - M 17 K 17.35372 zitiert 29 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Verwaltungsgericht Würzburg Beschluss, 30. Mai 2016 - W 1 S 16.30617

bei uns veröffentlicht am 30.05.2016

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I. Der am ... in Shush im Iran geborene Antragstelle

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 20. Apr. 2015 - 14 ZB 13.30257

bei uns veröffentlicht am 20.04.2015

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. Gründe

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 22. Dez. 2016 - 13a ZB 16.30684

bei uns veröffentlicht am 22.12.2016

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtsk

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 03. Feb. 2017 - 13a ZB 16.31045

bei uns veröffentlicht am 03.02.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil de

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 25. Jan. 2017 - 13a ZB 16.30374

bei uns veröffentlicht am 25.01.2017

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhobe

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 11. Dez. 2017 - 13a ZB 17.31374

bei uns veröffentlicht am 11.12.2017

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht

Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 23. Jan. 2017 - Au 5 K 16.32008

bei uns veröffentlicht am 23.01.2017

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 17. Jan. 2017 - 13a ZB 16.30929

bei uns veröffentlicht am 17.01.2017

Tenor Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. Gründe Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für einen noch zu stellenden Antra

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 23. Jan. 2017 - 13a ZB 17.30044

bei uns veröffentlicht am 23.01.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Ber

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 20. Jan. 2017 - 13a ZB 16.30996

bei uns veröffentlicht am 20.01.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufu

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 09. Apr. 2015 - 14 ZB 14.30444

bei uns veröffentlicht am 09.04.2015

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gründe Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend g

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Urteil, 12. Feb. 2015 - 13a B 14.30309

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Tenor I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 wird die Klage abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. III. Das Urteil ist im

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 14. Aug. 2017 - 13a ZB 17.30807

bei uns veröffentlicht am 14.08.2017

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Aug. 2017 - 13a ZB 17.30529

bei uns veröffentlicht am 21.08.2017

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht

Verwaltungsgericht Bayreuth Urteil, 26. Juli 2017 - B 6 K 17.30520

bei uns veröffentlicht am 26.07.2017

Tenor 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. 3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Tatbestand Der nach eigenen Angaben am &

Verwaltungsgericht Würzburg Urteil, 30. Sept. 2016 - W 1 K 16.31087

bei uns veröffentlicht am 30.09.2016

Tenor I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2013 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflich

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 04. Jan. 2018 - 13a ZB 17.31652

bei uns veröffentlicht am 04.01.2018

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen d

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 20. Feb. 2018 - 13a ZB 17.31970

bei uns veröffentlicht am 20.02.2018

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 17. Aug. 2016 - 13a ZB 16.30090

bei uns veröffentlicht am 17.08.2016

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Ur

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 04. Apr. 2017 - 13a ZB 17.30231

bei uns veröffentlicht am 04.04.2017

Tenor I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhobe

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 06. Apr. 2017 - 13a ZB 17.30254

bei uns veröffentlicht am 06.04.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen d

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 11. Apr. 2017 - 13a ZB 17.30294

bei uns veröffentlicht am 11.04.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 28. März 2017 - 13a ZB 17.30212

bei uns veröffentlicht am 28.03.2017

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ge

Verwaltungsgericht München Urteil, 09. März 2017 - M 17 K 16.35022

bei uns veröffentlicht am 09.03.2017

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Tatbestand Der Kläger ist Staatsangehöriger Afghani

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 11. Apr. 2018 - A 11 S 924/17

bei uns veröffentlicht am 11.04.2018

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. T

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 17. Jan. 2018 - A 11 S 241/17

bei uns veröffentlicht am 17.01.2018

Tenor Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand

Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 26. Aug. 2016 - 5 A 360/15

bei uns veröffentlicht am 26.08.2016

Tenor Im Umfang der Klagerücknahme wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der K

Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 08. Juni 2016 - 13 A 1222/16.A

bei uns veröffentlicht am 08.06.2016

Tenor Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 21. April 2016 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden. 1 De

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 12. Juni 2013 - A 11 S 757/13

bei uns veröffentlicht am 12.06.2013

Tenor Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - wird zurückgewiesen.Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbe

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Die folgenden Verwaltungsakte bedürfen der Schriftform und sind mit Ausnahme der Nummer 5 mit einer Begründung zu versehen:

1.
der Verwaltungsakt,
a)
durch den ein Passersatz, ein Ausweisersatz oder ein Aufenthaltstitel versagt, räumlich oder zeitlich beschränkt oder mit Bedingungen und Auflagen versehen wird oder
b)
mit dem die Änderung oder Aufhebung einer Nebenbestimmung zum Aufenthaltstitel versagt wird, sowie
2.
die Ausweisung,
3.
die Abschiebungsanordnung nach § 58a Absatz 1 Satz 1,
4.
die Androhung der Abschiebung,
5.
die Aussetzung der Abschiebung,
6.
Beschränkungen des Aufenthalts nach § 12 Absatz 4,
7.
die Anordnungen nach den §§ 47 und 56,
8.
die Rücknahme und der Widerruf von Verwaltungsakten nach diesem Gesetz sowie
9.
die Entscheidung über die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11.
Einem Verwaltungsakt, mit dem ein Aufenthaltstitel versagt oder mit dem ein Aufenthaltstitel zum Erlöschen gebracht wird, sowie der Entscheidung über einen Antrag auf Befristung nach § 11 Absatz 1 Satz 3 ist eine Erklärung beizufügen. Mit dieser Erklärung wird der Ausländer über den Rechtsbehelf, der gegen den Verwaltungsakt gegeben ist, und über die Stelle, bei der dieser Rechtsbehelf einzulegen ist, sowie über die einzuhaltende Frist belehrt; in anderen Fällen ist die vorgenannte Erklärung der Androhung der Abschiebung beizufügen.

(1a) Im Zusammenhang mit der Erteilung einer ICT-Karte oder einer Mobiler-ICT-Karte sind zusätzlich der aufnehmenden Niederlassung oder dem aufnehmenden Unternehmen schriftlich mitzuteilen

1.
die Versagung der Verlängerung einer ICT-Karte oder einer Mobiler-ICT-Karte,
2.
die Rücknahme oder der Widerruf einer ICT-Karte oder einer Mobiler-ICT-Karte,
3.
die Versagung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck des Familiennachzugs zu einem Inhaber einer ICT-Karte oder einer Mobiler-ICT-Karte oder
4.
die Rücknahme oder der Widerruf eines Aufenthaltstitels zum Zweck des Familiennachzugs zu einem Inhaber einer ICT-Karte oder einer Mobiler-ICT-Karte.
In der Mitteilung nach Satz 1 Nummer 1 und 2 sind auch die Gründe für die Entscheidung anzugeben.

(2) Die Versagung und die Beschränkung eines Visums und eines Passersatzes vor der Einreise bedürfen keiner Begründung und Rechtsbehelfsbelehrung; die Versagung an der Grenze bedarf auch nicht der Schriftform. Formerfordernisse für die Versagung von Schengen-Visa richten sich nach der Verordnung (EG) Nr. 810/2009.

(3) Dem Ausländer ist auf Antrag eine Übersetzung der Entscheidungsformel des Verwaltungsaktes, mit dem der Aufenthaltstitel versagt oder mit dem der Aufenthaltstitel zum Erlöschen gebracht oder mit dem eine Befristungsentscheidung nach § 11 getroffen wird, und der Rechtsbehelfsbelehrung kostenfrei in einer Sprache zur Verfügung zu stellen, die der Ausländer versteht oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass er sie versteht. Besteht die Ausreisepflicht aus einem anderen Grund, ist Satz 1 auf die Androhung der Abschiebung sowie auf die Rechtsbehelfsbelehrung, die dieser nach Absatz 1 Satz 3 beizufügen ist, entsprechend anzuwenden. Die Übersetzung kann in mündlicher oder in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt werden. Eine Übersetzung muss dem Ausländer dann nicht vorgelegt werden, wenn er unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist ist oder auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist. In den Fällen des Satzes 4 erhält der Ausländer ein Standardformular mit Erläuterungen, die in mindestens fünf der am häufigsten verwendeten oder verstandenen Sprachen bereitgehalten werden. Die Sätze 1 bis 3 sind nicht anzuwenden, wenn der Ausländer noch nicht eingereist oder bereits ausgereist ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will, oder
2.
von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.
Unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen kann darüber hinaus auch von einer Abschiebungsandrohung abgesehen werden, wenn
1.
der Aufenthaltstitel nach § 51 Absatz 1 Nummer 3 bis 5 erloschen ist oder
2.
der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der 1979 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an; er stammt aus einem Dorf im pakistanischen Teil des Punjab.
Zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit hat er Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat Frankfurt vom 02.10.2000, 28.10.2010 sowie vom 06.12.2011 vorgelegt.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 23.07.2000 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24.07.2000 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 04.08.2000 brachte er im Wesentlichen vor, er gehöre von Geburt an der Religionsgemeinschaft der Ahmadis an und habe deshalb Verfolgungsmaßnahmen erlitten. So sei er beim Besuch der Moschee geschlagen worden. Gleiches sei ihm beim Tragen von religiösen Abzeichen widerfahren. Eines Nachts im Mai des Jahres 2000 sei er beim Bewachen von Getreide durch Diebe zusammengeschlagen worden. Am nächsten Tag habe sein Vater zusammen mit Freunden die Diebe zur Rede gestellt, worüber diese sehr erbost gewesen seien und gedroht hätten, ihn zu töten. Die Familie habe deshalb beschlossen, dass er sein Heimatland verlassen solle.
Mit Bescheid vom 15.09.2000 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart, die mit Urteil vom 22.05.2001 (A 8 K 12809/00) abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an einem glaubhaften individuellen Verfolgungsschicksal des Klägers. Im Übrigen könne bei der gegenwärtigen Erkenntnislage eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan nicht angenommen werden. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 09.10.2001 (A 6 S 688/01) rechtskräftig.
In den Jahren 2001 bis 2005 stellte der Kläger insgesamt fünf erfolglose Folgeanträge.
Am 08.12.2008 stellte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten einen weiteren Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten nachträglich verändert. Nunmehr sei von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Kläger werde von diesen Einschränkungen vor allem der öffentlichen Religionsausübungsmöglichkeiten in Pakistan persönlich betroffen, da er eine religiös geprägte Persönlichkeit sei. So bete der Kläger regelmäßig und besuche die Moschee; er sehe es als seine religiöse Pflicht an, sich zu seinem Glauben zu bekennen und für diesen bei Andersgläubigen aktiv zu werben. Auch bekleide er Ämter innerhalb der religiösen Gemeinde. Im Übrigen habe sich die Verfolgungssituation der Ahmadis in Pakistan erheblich verschärft. Er habe erstmalig Anfang November 2008 von zwei Glaubensgenossen erfahren, dass diese aufgrund von Europarecht durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe als Flüchtlinge anerkannt worden seien; er habe sich deshalb am 01.12.2008 an seinen nunmehrigen Prozessbevollmächtigten gewandt.
Mit Bescheid vom 30.03.2010 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Ziffer 1) und auf Abänderung des Bescheids vom 15.09.2000 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (Ziffer 2) ab.
Am 31.03.2010 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung nahm er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug. Ergänzend trug er zur aktuellen Lage der Ahmadis in Pakistan vor. Im Übrigen führte er aus, er selbst sei eine religiös geprägte Persönlichkeit und seinem Glauben eng verbunden. Er bete regelmäßig, besuche die Moschee und nehme an den Gemeindeveranstaltungen teil. Insbesondere habe er auch eine Aufgabe innerhalb der Gemeinde, er sei als sog. „Ziafat“ tätig und als solcher für die Organisation der Essenszubereitung bei Gemeindeveranstaltungen zuständig.
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Mit Urteil vom 09.07.2010 - A 4 K 1179/10 - verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart die Beklagte, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und hob die Ziffern 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes vom 30.03.2010 auf, soweit sie dem entgegenstehen. Zur Begründung wies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 20.11.2007   - A 10 S 70/06 - und vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07) hin. Der Kläger sei von den Restriktionen, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den genannten Urteilen für die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis in Pakistan zu verzeichnen seien, selbst betroffen. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dieser Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sei. Das Gericht habe in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger eng mit seinem Glauben verbunden sei, diesen in der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt habe und dies auch gegenwärtig in einer Weise tue, dass er im Fall einer Rückkehr von der vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschriebenen Situation selbst betroffen werde. So habe der Kläger nachvollziehbar geschildert, dass und wie er seinen Glauben hier in Deutschland lebe; er sei aktives Mitglied seiner jetzigen religiösen Gemeinde. Über die geschilderte gemeindeinterne Betätigung hinaus habe der Kläger dargelegt, auch an öffentlichkeitswirksamen überörtlichen Veranstaltungen der Ahmadis teilgenommen zu haben. Nach der Überzeugung des Gerichts sei es ihm ein inneres Bedürfnis, mit anderen über seinen Glauben zu sprechen und für diesen aktiv zu werben.
11 
Am 02.08.2010 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung.
12 
Mit Beschluss vom 10.01.2011 wurde die Berufung ohne Beschränkung zugelassen.
13 
Am 01.02.2011 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines förmlichen Antrags und führte dabei im Wesentlichen aus: Es bestünden bereits erhebliche Zweifel, ob die formellen Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bestehe auch in der Sache kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht folge in fehlerhafter Weise der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 20.05.2008 vertretenen Auffassung, dass sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie wesentlich erweitert habe. An dieser vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (10 C 51.07) nicht uneingeschränkt festgehalten werden. In rechtsfehlerhafter Weise habe das Verwaltungsgericht auch die Ziffer 2 des Bescheids vom 30.03.2010 aufgehoben, mit der das Bundesamt die Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom 15.09.2000 bezüglich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG abgelehnt habe. Die knappe und nicht näher nachvollziehbare Begründung des Urteils deute darauf hin, dass das Verwaltungsgericht den Regelungsgehalt des § 31 Abs. 3 AsylVfG verkenne. Die Voraussetzungen für derartige Abschiebungsverbote lägen im Übrigen nicht vor.
14 
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2011 informatorisch angehört; insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
15 
Durch Urteil vom 13.12.2011 (A 10 S 69/11) wurde die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wurde: „Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen. Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.03.2010 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.“ Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen vor. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 am 28.08.2007 sei eine relevante Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.12.2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289; Urteil des Senats vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris). Auch sei die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG mit der Antragstellung am 05.12.2008 gewahrt worden.
16 
Das Gericht gehe im Anschluss an seine Urteile vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) sowie vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert habe.
17 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, gehe die Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 lit. b) QRL nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinaus, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt worden sei, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede stehe (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehöre somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung seien nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst würden schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen. Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setze darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt werde, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmache (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL). Erst an dieser Stelle erweise sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden könne, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitze.
18 
Auf der Grundlage der Feststellungen in den Urteilen vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) und vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) und deren Fortschreibung bis zur mündlichen Verhandlung drohe einem bekennenden Ahmadi, der zu seinem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehe und seinen Glauben in Pakistan öffentlich betätigen wolle, eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts und damit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL.
19 
Das Gericht habe, insbesondere auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden sei und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Nach dem in der informatorischen Befragung gewonnen Gesamteindruck halte das Gericht die Angaben des Klägers zu seiner Glaubensausübung in Pakistan für uneingeschränkt glaubhaft. Im übrigen habe der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung überzeugend ausgeführt, ein religiös geprägtes Leben in Pakistan geführt zu haben, auch wenn er keine herausgehobene Funktion oder ein Amt in seiner Gemeinde bekleidet habe. Er habe jedoch glaubhaft dargelegt, so oft als möglich, mindestens jedoch dreimal am Tag, das Gebet in der Moschee der Ahmadis verrichtet zu haben. Dies spreche im vorliegenden Fall bereits deshalb für einen engen Glaubensbezug, weil das Aufsuchen der Moschee aufgrund der Berufstätigkeit des Klägers in der Landwirtschaft und der Entfernung der Felder zu der Moschee mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger glaubhaft geschildert, bei Bedarf in seiner religiösen Gemeinde untergeordnete Tätigkeiten, etwa Reinigungsdienste, ausgeübt zu haben. Auch wenn es sich dabei wohl nicht um eine religiöse Betätigung gehandelt haben dürfte, die über die übliche Glaubensausübung in Pakistan hinausgehe, spreche sie doch für eine enge und verpflichtende Verbundenheit zu dem Glauben der Ahmadiyyas. Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angehe, seien diese nach dem gewonnenen Eindruck glaubhaft. Das Gericht glaube dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2000 jeweils in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis betätige, regelmäßig zum Gebet in die Moschee gehe und verschiedene untergeordnete Tätigkeiten ausübe. So habe der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft geschildert, wie er sich unmittelbar nach seiner Einreise zu der Ahmadi-Gemeinde nach XXX begeben und sich dort in vielfältiger Weise sozial und kulturell engagiert habe. Insbesondere habe der Kläger in der Gemeinde XXX nicht nur die in der Heimat bereits geleisteten Hilfsdienste fortgesetzt, sondern sich nunmehr auch öffentlichkeitswirksam religiös betätigt. So habe er sich bereits in XXX monatlich an einem Bücherstand vor dem Bahnhof beteiligt und Andersgläubige in missionarischer Absicht angesprochen. Gerade diese missionarischen Aktivitäten stellten ein wesentliches, wenn auch nicht zwingend erforderliches Indiz für die Annahme einer verpflichtenden Verbundenheit mit dem Glauben der Ahmadis dar. Nach seinem Umzug nach XXX habe der Kläger vor allem auch diese missionarischen Aktivitäten fortgesetzt und intensiviert. Der Senat glaube dem Kläger, im Jahre 2010 einen Landsmann zum ahmadischen Glauben bekehrt zu haben. In diesem Zusammenhang habe der Kläger weiterhin glaubhaft ausgeführt, ihm wohlgesonnene Landsleute regelmäßig zum Besuch seiner eigenen Moschee in missionarischer Absicht eingeladen zu haben. Dies zeige, dass es dem Kläger in Übereinstimmung mit den Glaubensgrundsätzen der Ahmadis ein inneres Anliegen sei, eigene Landsleute von seinem Glauben zu überzeugen. Darüber hinaus nehme der Kläger regelmäßig an überregionalen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft teil. Auch habe er nachvollziehbar geschildert, in seiner Familie ein streng glaubensgebundenes Leben zu führen und sich insbesondere für die religiöse Erziehung seiner kleinen Tochter einzusetzen. Diesem Eindruck stehe auch nicht entgegen, dass der Kläger lediglich über ein eingeschränktes theologisches Wissen verfüge. Nach der Überzeugung des Gerichts handele es sich bei dem Kläger um einen „einfachen“ Ahmadi, der seinem Glauben jedoch verpflichtend verbunden sei und diesen insbesondere auch öffentlichkeitswirksam, vor allem durch Entfaltung missionarischer Aktivitäten, leben wolle. Damit gehöre der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stünden und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen seien.
20 
Da dem Kläger nach dem oben Gesagten die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen sei, bedürfe es keiner Entscheidung über die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Ziffer 2 des versagenden Bescheides des Bundesamtes vom 30.03.2010 aufgehoben; insoweit sei der Tenor wie erfolgt neu zu fassen.
21 
Das Urteil wurde der Beklagten am 17.01.2012 zugestellt.
22 
Am 16.02.2012 legte die Beklagte die zugelassene Revision ein und begründete diese am 16.03.2012.
23 
Mit Beschluss vom 12.05.2012 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 aus. Nachdem der Europäische Gerichtshof die Vorlagefragen durch Urteil vom 05.09.2012 (C-71/11 u.a.) beantwortet hatte, wurde das Verfahren fortgesetzt.
24 
Durch Urteil vom 20.02.2013 (10 C 23.12) hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil vom 13.12.2011 auf und wies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Nicht mit Bundesrecht vereinbar sei die vom Berufungsgericht gestellte Verfolgungsprognose. Der Verwaltungsgerichtshof habe das Ergebnis, dass die beschriebenen Verfolgungsgefahren für bekennende Ahmadis bestünden, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten, nicht auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose entwickelt. Nicht zu beanstanden sei der Ausgangspunkt, dass sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung berufen könne. Das Urteil lasse jedoch nicht erkennen, aufgrund welcher Tatsachen und nach welchem Prognosemaßstab es dann die hinreichende Verfolgungsbetroffenheit für bekennende Ahmadis bejahe, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten. Hänge die Verfolgungsgefahr von einem willensgesteuerten Verhalten ab - hier: der Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit -, sei für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben genau in dieser Weise praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Das sei in dem angefochtenen Urteil nicht erfolgt. Das Berufungsgericht habe weder - wie geboten - die Zahl der ihren Glauben entgegen den genannten Verboten öffentlich praktizierenden Ahmadis jedenfalls annäherungsweise bestimmt noch festgestellt, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe träfen. Nur wenn eine wertende Betrachtung ergebe, dass für die Gruppe der ihren Glauben öffentlich praktizierenden Ahmadis in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko bestehe, könne daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die vom Berufungsgericht als verfolgungsbetroffen gewertete Gesamtgruppe der Ahmadis, zu deren religiösem Selbstverständnis die Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit gehöre, einem beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sei.
25 
Der Kläger und die Beklagte haben sich durch Schriftsätze jeweils vom 08.05.2013 sowie vom 29.05.2013 zum Revisionsurteil sowie zu der vom Senat aufgeworfenen Frage nach weiteren Ermittlungsansätzen für die Erstellung der Verfolgungsprognose geäußert. Hierauf wird im Einzelnen verwiesen.
26 
Auf Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ Frankfurt unter dem 06.06.2013 eine Stellungnahme vorgelegt u.a. zu Einzelheiten des Berichts- und Dokumentationssystem zu Übergriffen gegen Ahmadis in Pakistan, das der von der Londoner Organisation betriebenen Website „thepersecution.org“ zugrunde liegt.
27 
Die Beklagte beantragt,
28 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - zu ändern, soweit die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgesprochen sowie die Ziffer 1 des Bescheids vom 30. März 2010 aufgehoben wurde, soweit er dem entgegensteht, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
29 
Der Kläger beantragt,
30 
die Berufung zurückzuweisen.
31 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung erneut informatorisch angehört; wegen der dabei gemachten Angaben wird auf die Anlage zur Niederschrift verwiesen.
32 
Auf die den Beteiligten mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste wird verwiesen.
33 
Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts (7 Bd), die Ausländerakten (3 Bd), die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart sowie die Akten des 10. Senats hinsichtlich des streitgegenständlichen Folgeverfahrens vor.

Entscheidungsgründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
117 
Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
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Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

Gründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
117 
Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.

(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.

(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.

(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

Tenor

I.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2013 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

II.

Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

Der Kläger wurde eigenen Angaben zufolge am ... in der Stadt Mashad im Iran geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Glaubenszugehörigkeit und der Volkszugehörigkeit der Hazara. Der Kläger gibt an, am 11. Mai 2011 in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Landweg eingereist zu sein, wo er am 31. Mai 2011 einen Asylantrag stellte.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe in Mashad die afghanische Schule bis zur 8. Klasse besucht. Seine Eltern, drei Brüder und zwei Schwestern lebten noch in dieser Stadt. Auch habe er eine Tante und mehrere Onkel im Iran. Die beiden letzten Jahre vor seiner Ausreise habe er alleine in Teheran gelebt und dort gearbeitet. Beruflich habe er das gemacht, was sich gerade angeboten habe. Seine Eltern stammten aus dem afghanischen Dorf Lale Sare Jangal. Er habe in Afghanistan keine Verwandten mehr. Zu seinen Fluchtgründen gab der Kläger an, dass die Lage im Iran für Afghanen schlimm gewesen sei. Seinen Wunsch, einen guten Job zu bekommen, habe ihm die iranische Regierung genommen. Um seine Ruhe zu haben, habe er ständig Schmiergeld zahlen müssen. Auch sei er mehrmals festgenommen worden. Er habe einmal eine Woche lang in einem Abschiebelager verbracht. Im Jahre 2006 sei ein Onkel getötet worden. Der Bruder der Frau des getöteten Onkels habe ihnen dann Probleme bereitet. Er habe die Familie bezichtigt, seine Schwester in Verruf gebracht zu haben. Dies habe dazu geführt, dass seine Familie beschlossen habe, den Iran zu verlassen. Zu Afghanistan habe er keinerlei Bezug. Die Hazara seien dort gefährdet; sie würden von den Taliban getötet.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 25. März 2013 lehnte das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter ab (Ziffer 1 des Bescheids), stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen (Ziffer 2) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3) und forderte den Kläger zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (Ziffer 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Kläger von Seiten des afghanischen Staates oder nichtstaatlicher Dritter in Afghanistan keine Verfolgung zu befürchten habe. Auch für das Vorliegen eines subsidiären Schutzes ließen sich dem Vorbringen des Antragstellers keine Anhaltspunkte entnehmen. Dem Kläger drohe in Kabul auch keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Individuelle gefahrerhöhende Umstände habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Abschiebungsverbote lägen bei dem Kläger ebenfalls nicht vor; insbesondere gerate dieser bei seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht in eine extreme Gefahrenlage. Dies ergebe sich aus einer Gesamtschau der dortigen Verhältnisse. Darüber hinaus habe der Kläger angegeben, dass er im Iran zahlreiche Familienangehörige habe. Er gehöre auch nicht einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe an. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Gründe des Bescheids im Übrigen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Gegen den am 28. März 2013 zur Post gegebenen Bescheid ließ der Kläger durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 12. April 2013, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg am gleichen Tag, Klage erheben und beantragen:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2013 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Des Weiteren wurde beantragt, dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Mit Schriftsatz vom 6. November 2015 ließ der Kläger zur Begründung seiner Klage vortragen, dass er sich zwischenzeitlich dem christlichen Glauben zugewandt habe und Mitglied der Gemeinde Bauhaus e.V. sei. Die Hinwendung zum christlichen Glauben habe der Kläger durch den Empfang der Taufe am 11. Mai 2015 endgültig vollzogen. Der Kläger lebe seinen Glauben durch den regelmäßigen Besuch der Gottesdienste in seiner Gemeinde und beteilige sich aktiv im Gemeindeleben. Aus diesem Grunde drohten dem Kläger in Afghanistan Verfolgungshandlungen i. S. d. § 3a AsylG, wenn er dort seinen Glauben praktiziere bzw. schon dann, wenn sein Glaubenswechsel bekannt würde. Ihm sei daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, zumindest sei ihm aber der subsidiäre Schutzstatus aufgrund der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung zuzuerkennen bzw. ein Abschiebungsverbot zu gewähren, da er um Verfolgungshandlungen zu entgehen, gezwungen wäre, sich jeglicher religiösen Betätigung zu enthalten, was eine Verletzung des Art. 9 EMRK i. V. m. § 60 Abs. 5 AufenthG zur Folge hätte.

Mit Schriftsatz vom 18. April 2013 beantragte die Beklagte,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 21. Juli 2016 hat die Kammer nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Es wurden verschiedene Erkenntnismittel zu Afghanistan, Stand April 2016, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, auf die Bezug genommen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 30. September 2016 Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 25. März 2013 ist daher, soweit er Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter abgelehnt wurde (Ziffer 1), ist der Bescheid hingegen unanfechtbar geworden und daher nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention - GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der ab 6. August 2016 geltenden, durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939 ff.) geschaffenen Fassung anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG - wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG - die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) - Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.

Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Aufgrund seiner Konversion zum christlichen Glauben droht ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG. Für den Kläger besteht auch keine Möglichkeit des internen Schutzes i. S. d. § 3e AsylG.

Eine Verfolgung i. S. d. Art. 9 Abs. 1 a) Qualifikationsrichtlinie (QRL), der durch § 3a Abs. 1 AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wurde, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U. v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - BayVBl. 2013, 234, juris Rn. 57 ff.) sowie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 21 ff.; VGH BW, U. v. 12.6.2013 - A 11 S 757/13 - juris Rn. 41 ff.; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 23 ff.) auch in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG a. a. O. Rn. 21). Zur Qualifizierung eines Eingriffs in das Recht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta als „erheblich“ kommt es nicht auf die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG sowie des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 maßgebliche Unterscheidung an, ob in den Kernbereich der Religionsfreiheit, das „religiöse Existenzminimum“ (forum internum) eingegriffen wird oder ob die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit (forum externum) betroffen ist (vgl. BVerwG, U. v. 20.1.2004 - 1 C 9/03 - BVerwGE 120, 16/20 f., juris Rn. 12 ff. m. w. N.). Vielmehr kann ein gravierender Eingriff in die Freiheit, den Glauben im privaten Bereich zu praktizieren, ebenso zur Annahme einer Verfolgung führen wie ein Eingriff in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (EuGH a. a. O. Rn. 62 f.; BVerwG a. a. O. Rn. 24 ff.; VGH BW a. a. O. Rn. 43; OVG NRW a. a. O. Rn. 29 ff.). Für die Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigungen ist daher abzustellen auf die Art der Repressionen und deren Folgen für den Betroffenen (EuGH a. a. O. Rn. 65 ff.), mithin auf die Schwere der Maßnahmen und Sanktionen, die dem Ausländer drohen (BVerwG a. a. O. Rn. 28 ff.; VGH BW a. a. O.; OVG NRW a. a. O.). Dieser Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl. VG Würzburg, U. v. 26.4.2016 - W 1 K 16.30268 - juris; U. v. 19.12.2014 - W 1 K 12.30183 - juris Rn. 23; U. v. 25.2.2014 - W 1 K 13.30164 - juris Rn. 23; U. v. 7.2.2014 - W 1 K 13.30044 und W 1 K 1W 1 K 13.30045, juris Rn. 19; U. v. 27.8.2013 - W 1 K 12.30200 - juris Rn. 19).

Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) QRL zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U. v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - juris Rn. 70; BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28 ff.).

Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere - aber nicht nur - dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, weil ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, keine erhebliche Verfolgungsgefahr begründet (BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28 m. w. N.).

Als relevanter subjektiver Gesichtspunkt ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (EuGH, U. v. 5.9.2012 - Y und Z, C-71/11 und C-99/11 - juris Rn. 70; BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 29; VGH BW, U. v. 12.6.2013 - A 11 S 757/13 - juris Rn. 48; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 35). Denn der Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Dabei kommt es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, B. v. 9.12.2010 - 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; VGH BW a. a. O.). Maßgeblich ist dabei, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U. v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 29). Dieser Maßstab setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG a. a. O. Rn. 30). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Demgegenüber reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben auszuüben oder hierauf zu verzichten (BVerwG a. a. O.; VGH BW a. a. O. Rn. 49).

Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 30; B. v. 9.12.2010 - 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; OVG NRW, B. v. 11.10.2013 - 13 A 2041/13.A - juris Rn. 7; U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 13). Dabei ist das Gericht nicht an kirchliche Bescheinigungen und Einschätzungen gebunden (BayVGH, 9.4.2015 - 14 ZB 14.30444 - juris Rn. 5; OVG Lüneburg, B. v. 16.9.2014 - 13 LA 93/14 - juris Rn. 6). Da es sich um eine innere Tatsache handelt, lässt sich die religiöse Identität nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen aufgrund einer ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung feststellen (BVerwG v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 31; VGH BW, U. v. 12.6.2013 - A 11 S 757/13 - juris 50).

Gemessen an diesen Grundsätzen liegen im Falle des Klägers die erforderliche objektive (1.) und subjektive (2.) Schwere der ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner Religionsfreiheit vor. Ihm droht deshalb aufgrund eines anzuerkennenden subjektiven Nachfluchtgrundes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung i. S. d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1 und 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

1. Nach der Überzeugung des Gerichtes sind zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems in Afghanistan gezwungen, ihren Glauben entweder ganz zu verleugnen oder ihn zumindest auch im privaten Umfeld zu verheimlichen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. Dauerhafter staatlicher Schutz vor derartigen Übergriffen ist derzeit - auch nur in bestimmten Landesteilen - nicht erreichbar (OVG NRW, U. v. 19.6.2008 - 20 A 3886/05.A - juris Rn. 25 ff.; VG Würzburg, U. v. 27.8.2013 - W 1 K 12.30200 - juris Rn. 25; U. v. 24.9.2012 - W 2 K 11.30303 - UA S. 11 ff.; U. v. 16.2.2012 - W 2 K 11.30264 - UA S. 8 ff.; VG Augsburg, U. v. 8.4.2013 - Au 6 K 13.30004 - juris Rn. 24 ff.; U. v. 9.6.2010 - Au 6 K 10.30098 - juris Rn. 39 ff.; VG Saarland, U. v. 21.3.2012 - 5 K 1037/10 - juris Rn. 33 ff.). Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan erklärt den Islam zur Staatsreligion Afghanistans. Zwar wird den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gewährleistet die Verfassung grundsätzlich das Recht auf freie Religionsausübung. Dieses Grundrecht umfasst jedoch nicht die Freiheit, vom Islam zu einer anderen Religion zu konvertieren, und schützt somit nicht die freie Religionswahl (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: März 2013, S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg v. 22.12.2004 Az.: 508-516.80/43288; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, September 2012, S. 18). Vielmehr kommt im Fall des Wechsels vom Islam zu einer anderen Religion Scharia-Recht zur Anwendung. Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (sog. Apostasie). Die Todesstrafe wegen Konversion wurde allerdings nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes bisher nie vollstreckt (Lagebericht a. a. O. S. 11). Konvertiten drohen jedoch Gefahren oft auch aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, da der Abfall vom Islam in der streng muslimisch geprägten Gesellschaft als Schande für die Familienehre angesehen wird (Lagebericht a. a. O.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, zusammenfassende Übersetzung vom 24.3.2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; Internationale Gesellschaft für Menschenrechte - IGFM, Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan - Stellungnahme v. 27.2.2008, S. 1, 8 ff.; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten v. 13.5.2004 an das VG Braunschweig, S. 1 ff.). Nach den in Afghanistan vorherrschenden (sunnitischen und schiitischen) Rechtsschulen muss ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden. Der Betroffene hat dann drei Tage Bedenkzeit. Widerruft er bis dahin seinen Glaubenswechsel nicht, so ist sein Leben nach islamischer Rechtsauffassung verwirkt (IGFM, Stellungnahme vom 27.2.2008, S. 8; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6). Aus diesen Gründen sind in Afghanistan zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen. Es ist ihnen nicht möglich, an Gottesdiensten teilzunehmen, die ohnehin nur in privaten Häusern abgehalten werden könnten, und sie können ihren Glauben nicht einmal im familiären bzw. nachbarschaftlichen Umfeld ausüben (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 2 f.). Es wäre Christen auch nicht möglich, sich der Teilnahme an muslimischen Riten wie dem fünf Mal täglichen Gebet, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten zu entziehen (Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 6 f.). Im Februar 2014 wurde durch die Taliban ein Anschlag auf ein „Guesthouse“ verübt, in welchem auch christliche Gottesdienste stattfanden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17/18). Damit sind zum Christentum konvertierte Moslems in Afghanistan für den Fall, dass sie ihren Glauben nicht ablegen bzw. nicht verleugnen wollen, der Gefahr erheblicher Repressalien auch im privaten Umfeld bis hin zu Ehrenmorden ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; IGFM a. a. O., S. 1, 5, 8 f.; Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 1 f., 3 ff.). Anderweitige Erkenntnisse ergeben sich auch nicht aus dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, S. 11, 12).

2. Im Falle des Klägers liegt auch die erforderliche subjektive Schwere der Verletzung der Religionsfreiheit vor, weil es nach Überzeugung des Gerichts ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität ist, seinen Glauben nicht zu verheimlichen, sondern ihn gemeinsam mit anderen auszuüben, insbesondere an Gottesdiensten teilzunehmen, sich mit der Bibel und den christlichen Glaubensinhalten zu beschäftigen und den Glauben an andere weiterzugeben.

Der formale Glaubenswechsel des Klägers ist durch den bereits vollzogenen Akt der Taufe am 11. Mai 2015 belegt. Darüber hinaus ist jedoch für die Annahme einer Verfolgungsgefahr und damit für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich, dass der Glaubenswechsel, insbesondere wenn er erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsland durchgeführt wurde, nicht rein aus asyltaktischen Gründen erfolgt, sondern auf einem ernsthaften, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht und nunmehr die religiöse Identität des Betroffenen prägt (BayVGH, B. v. 20.4.2015 - 14 ZB 13.30257 - juris Rn. 4; B. v. 9.4.2015 - 14 ZB 14.30444 - juris Rn. 7; HessVGH, U. v. 26.7.2007 - 8 UE 3140/05.A - juris Rn. 20 ff.; B. v. 26.6.2007 - 8 UZ 1463/06.A - juris Rn. 12 ff.; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A - juris Rn. 37 ff.). Auf eine solche echte Glaubensüberzeugung kommt es nur dann nicht an, wenn im Herkunftsland bereits die Tatsache des formalen Glaubenswechsels genügt, um eine Verfolgungsgefahr zu begründen, selbst wenn der Betroffene seinen Glauben verheimlichen oder gar verleugnen würde (HessVGH a. a. O.; OVG NRW a. a. O.). Letzteres ist in Afghanistan nach der Erkenntnislage und der Rechtsprechung (vgl. z. B. HessVGH a. a. O.; OVG NRW a. a. O.), der sich das erkennende Gericht anschließt, jedoch nicht der Fall.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Hintergründe und Motive seines Glaubenswechsels zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können. Das Gericht hat hierbei den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sich aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis zum islamischen Glauben gelöst und dem Christentum zugewandt hat. So hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, wie er im Iran, obwohl seine Mitmenschen - wie er selbst - islamischen Glaubens gewesen seien, von der einheimischen Bevölkerung unterdrückt worden sei, weil er der Volksgruppe der Hazara zugehört und aus Afghanistan stammt. In Deutschland sei er dann vor etwa eineinhalb Jahren über einen iranischen Freund sowie seine seinerzeitige Deutschlehrerin das erste Mal mit der christlichen Gemeinde ... in Berührung gekommen. Der Kläger hat sodann überzeugend weiter ausgeführt, dass jeder Mensch eine Beruhigung brauche; er selbst benötige diese Ruhe insbesondere wegen seiner schwierigen Situation in Deutschland und weil man im Iran versucht habe, ihn zu töten. Er habe nach dem Besuch der Gottesdienste gespürt, dass er stets ruhiger gewesen sei; er habe sich immer gut gefühlt, so dass aufgrund dessen mit der Zeit der Glaube für ihn immer interessanter geworden sei. Die positive Wirkung der Gemeinschaft im Glauben auf seine eigene Person und die Erfahrung, dass die Menschen in der Kirche stets sehr nett zu ihm gewesen seien, hätten schließlich dazu geführt, dass auch er „so ein Mensch habe werden wollen“, weshalb er sich zur Taufe entschlossen habe.

Der Kläger hat zudem überzeugend darlegen können, dass er sich aus tiefer innerer Überzeugung dem Christentum zugewendet hat. Er hat in diesem Zusammenhang erläutert, dass er vom Christentum das erhalte, was er vom Islam nicht bekommen habe. Zentral sei für ihn in diesem Zusammenhang die Nächstenliebe im christlichen Glauben, die es im Islam so nicht gebe. Dies deckt sich auch mit der von ihm beschriebenen lebensgeschichtlichen Erfahrung, wonach er im Iran von gläubigen Menschen des Islam rein aufgrund äußerer Merkmale unterdrückt worden sei. Ein zweiter herausragender Aspekt für die Hinwendung zum christlichen Glauben sei für ihn der Friede; Frieden und Liebe seien die zentralen Aspekte in der Bibel, wohingegen der Koran grausam sei und man im Islam alles machen dürfe. Er sehe im Christentum zudem den einzig richtigen Weg, sich Gott zu nähern. Wichtig sei ihm hierbei vor allem, dass es sich beim christlichen Glauben um eine Religion handele, in der jeder sein Recht bekomme. Damit hat der Kläger einen gewissensgeleiteten, durch religiöse Werte und Normen hervorgerufenen Akt der inneren Umkehr und einen Wendepunkt in seinem Leben glaubhaft geschildert und hiermit hinreichend deutlich gemacht, dass es sich bei seiner Hinwendung zum Christentum um eine Gewissensentscheidung handelt, die von einer echten Glaubensüberzeugung und nicht von asyltaktischen Erwägungen geleitet ist. Der Kläger machte auf das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen sehr ruhigen und in sich gekehrten Eindruck; seine Antworten auf die Fragen des Gerichts waren jedoch stets spontan und ohne Zögern. An keiner Stelle drängte sich dem Gericht der Eindruck auf, dass der Kläger in seinen Aussagen inhaltlich übertrieben, sondern stets in jeder Hinsicht authentisch von tatsächlichen eigenen Überzeugungen und Erlebnissen berichtet hat. Der Kläger erscheint dem Gericht daher auch persönlich glaubwürdig.

Der Kläger hat darüber hinaus auch glaubhaft machen können, mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens vertraut zu sein, indem er etwa auf Frage des Gerichts eine Reihe von christlichen Feiertagen aufzählen und deren Bedeutung erläutern konnte. Auch die Bedeutung der 10 Gebote konnte der Kläger darlegen sowie den Inhalt einzelner dieser Gebote benennen. Auch dies spricht nach Überzeugung des Gerichts für die Glaubhaftigkeit der Konversion.

Der Kläger konnte auch darlegen, dass er seinen neuen Glauben in Deutschland praktiziert und dies auch in Afghanistan tun wollen würde. Er hat diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erläutert, dass er jede Woche am Gottesdienst der Gemeinde .... teilnehme und dort zudem über die Bibel und das Christentum unterrichtet werde. Er habe sich explizit dieser Gemeinde angeschlossen, da der Glaube dort auch in persischer Sprache unterrichtet werde, was ihm besonders wichtig gewesen sei. Auch hierdurch wird die Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsels zur Überzeugung des Gerichts nochmals bekräftigt. Überdies übernehme er in der Gemeinde auch ehrenamtliche Tätigkeiten und helfe neuen Flüchtlingen, die in die Gemeinde kämen. All diese Betätigungen werden auch durch eine Bescheinigung der Gemeinde Bauhaus e.V. vom 11. Juli 2015 bestätigt. Der Kläger hat klar und deutlich erklärt, dass er auch in Afghanistan auf jedem Fall Christ bleiben und seinen neuen Glauben dort öffentlich verbreiten wolle. Eine Rückkehr zum Islam und ein Leben nach den islamischen Glaubensriten könne er sich nicht mehr vorstellen. Er sei nun zum christlichen Glauben gekommen und wolle auch weiterhin danach leben. Mit diesen genannten Verhaltensweisen und Überzeugungen würde der Kläger in der ausschließlich muslimisch geprägten Gesellschaft Afghanistans unweigerlich auffallen und landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sein. Damit hat er glaubhaft gemacht, auch in Afghanistan unter Inkaufnahme von Risiken als Christ leben zu wollen. Es steht somit fest, dass der Kläger sich zur Wahrung seiner religiösen Identität auch in Afghanistan zu seinem Glauben bekennen würde. Es wäre ihm deshalb im Herkunftsland nicht möglich, seine Religion entsprechend seinem religiösen Selbstverständnis auszuüben, ohne der Gefahr einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure i. S. des § 3c Nr. 1, 3 AsylG ausgesetzt zu sein.

Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die oben (unter 1.) geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in der Stadt Kabul. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten seien. Selbst dort würde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen und selbst im privaten, familiären Umfeld bedroht sein (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 13.5.2012 im Verfahren W 2 K 11.30269). Schutz vor Übergriffen ist jedoch in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; Schweizerische Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 19; IGFM, a. a. O., S. 1). In der Rechtsprechung wird diese Einschätzung teilweise geteilt (z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 19.6.2008 - 20 A 3886705.A - InfAuslR 2008, 411, juris Rn. 33 ff., dort auch explizit zu Kabul; VG Würzburg, U. v. 19.5.2015 - W 1 K 14.30534 - juris Rn. 36 m. w. N.; VG Augsburg, U. v. 8.4.2013 - AU 6 K 13.30004 - juris Rn. 27 ff.; U. v. 18.1.2011 - AU 6 K 10.30647 - juris Rn. 46; eine Fluchtalternative in Kabul bejahend VG Augsburg, U. v. 22.6.2012 - AU 6 K 11.30345 - juris Rn. 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 12.4.2013 - 13 A 2819/11.A - juris Rn. 26). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, in Bezug auf Konvertiten offen gelassen (vgl. BayVGH, B. v. 16.5.2013 - 13a ZB 12.30297 - juris Rn. 3 f.); in der genannten Entscheidung war dies nicht entscheidungserheblich. Das erkennende Gericht schließt sich im vorliegenden Verfahren aufgrund der Ausführungen in den zitierten Erkenntnismitteln der Auffassung an, wonach eine innerstaatliche Fluchtalternative für glaubhaft vom Islam abgefallene ehemalige Moslems in Afghanistan ausscheidet, wenn sie nicht bereit sind, entgegen ihrer inneren Überzeugung an religiösen Riten und Feierlichkeiten teilzunehmen (vgl. VG Würzburg, U. v. 26.4.2016 - W 1 K 16.30268 - juris; U. v. 19.5.2015 - W 1 K 14.30534 - juris; U. v. 19.12.2014 - W 1 K 12.30183 - juris). Ein derartiges Verhalten wäre dem Kläger nicht zumutbar, da es, wie in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, seine religiöse Identität verletzen würde.

Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der 1979 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an; er stammt aus einem Dorf im pakistanischen Teil des Punjab.
Zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit hat er Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat Frankfurt vom 02.10.2000, 28.10.2010 sowie vom 06.12.2011 vorgelegt.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 23.07.2000 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24.07.2000 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 04.08.2000 brachte er im Wesentlichen vor, er gehöre von Geburt an der Religionsgemeinschaft der Ahmadis an und habe deshalb Verfolgungsmaßnahmen erlitten. So sei er beim Besuch der Moschee geschlagen worden. Gleiches sei ihm beim Tragen von religiösen Abzeichen widerfahren. Eines Nachts im Mai des Jahres 2000 sei er beim Bewachen von Getreide durch Diebe zusammengeschlagen worden. Am nächsten Tag habe sein Vater zusammen mit Freunden die Diebe zur Rede gestellt, worüber diese sehr erbost gewesen seien und gedroht hätten, ihn zu töten. Die Familie habe deshalb beschlossen, dass er sein Heimatland verlassen solle.
Mit Bescheid vom 15.09.2000 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart, die mit Urteil vom 22.05.2001 (A 8 K 12809/00) abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an einem glaubhaften individuellen Verfolgungsschicksal des Klägers. Im Übrigen könne bei der gegenwärtigen Erkenntnislage eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan nicht angenommen werden. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 09.10.2001 (A 6 S 688/01) rechtskräftig.
In den Jahren 2001 bis 2005 stellte der Kläger insgesamt fünf erfolglose Folgeanträge.
Am 08.12.2008 stellte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten einen weiteren Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten nachträglich verändert. Nunmehr sei von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Kläger werde von diesen Einschränkungen vor allem der öffentlichen Religionsausübungsmöglichkeiten in Pakistan persönlich betroffen, da er eine religiös geprägte Persönlichkeit sei. So bete der Kläger regelmäßig und besuche die Moschee; er sehe es als seine religiöse Pflicht an, sich zu seinem Glauben zu bekennen und für diesen bei Andersgläubigen aktiv zu werben. Auch bekleide er Ämter innerhalb der religiösen Gemeinde. Im Übrigen habe sich die Verfolgungssituation der Ahmadis in Pakistan erheblich verschärft. Er habe erstmalig Anfang November 2008 von zwei Glaubensgenossen erfahren, dass diese aufgrund von Europarecht durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe als Flüchtlinge anerkannt worden seien; er habe sich deshalb am 01.12.2008 an seinen nunmehrigen Prozessbevollmächtigten gewandt.
Mit Bescheid vom 30.03.2010 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Ziffer 1) und auf Abänderung des Bescheids vom 15.09.2000 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (Ziffer 2) ab.
Am 31.03.2010 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung nahm er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug. Ergänzend trug er zur aktuellen Lage der Ahmadis in Pakistan vor. Im Übrigen führte er aus, er selbst sei eine religiös geprägte Persönlichkeit und seinem Glauben eng verbunden. Er bete regelmäßig, besuche die Moschee und nehme an den Gemeindeveranstaltungen teil. Insbesondere habe er auch eine Aufgabe innerhalb der Gemeinde, er sei als sog. „Ziafat“ tätig und als solcher für die Organisation der Essenszubereitung bei Gemeindeveranstaltungen zuständig.
10 
Mit Urteil vom 09.07.2010 - A 4 K 1179/10 - verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart die Beklagte, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und hob die Ziffern 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes vom 30.03.2010 auf, soweit sie dem entgegenstehen. Zur Begründung wies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 20.11.2007   - A 10 S 70/06 - und vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07) hin. Der Kläger sei von den Restriktionen, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den genannten Urteilen für die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis in Pakistan zu verzeichnen seien, selbst betroffen. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dieser Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sei. Das Gericht habe in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger eng mit seinem Glauben verbunden sei, diesen in der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt habe und dies auch gegenwärtig in einer Weise tue, dass er im Fall einer Rückkehr von der vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschriebenen Situation selbst betroffen werde. So habe der Kläger nachvollziehbar geschildert, dass und wie er seinen Glauben hier in Deutschland lebe; er sei aktives Mitglied seiner jetzigen religiösen Gemeinde. Über die geschilderte gemeindeinterne Betätigung hinaus habe der Kläger dargelegt, auch an öffentlichkeitswirksamen überörtlichen Veranstaltungen der Ahmadis teilgenommen zu haben. Nach der Überzeugung des Gerichts sei es ihm ein inneres Bedürfnis, mit anderen über seinen Glauben zu sprechen und für diesen aktiv zu werben.
11 
Am 02.08.2010 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung.
12 
Mit Beschluss vom 10.01.2011 wurde die Berufung ohne Beschränkung zugelassen.
13 
Am 01.02.2011 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines förmlichen Antrags und führte dabei im Wesentlichen aus: Es bestünden bereits erhebliche Zweifel, ob die formellen Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bestehe auch in der Sache kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht folge in fehlerhafter Weise der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 20.05.2008 vertretenen Auffassung, dass sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie wesentlich erweitert habe. An dieser vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (10 C 51.07) nicht uneingeschränkt festgehalten werden. In rechtsfehlerhafter Weise habe das Verwaltungsgericht auch die Ziffer 2 des Bescheids vom 30.03.2010 aufgehoben, mit der das Bundesamt die Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom 15.09.2000 bezüglich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG abgelehnt habe. Die knappe und nicht näher nachvollziehbare Begründung des Urteils deute darauf hin, dass das Verwaltungsgericht den Regelungsgehalt des § 31 Abs. 3 AsylVfG verkenne. Die Voraussetzungen für derartige Abschiebungsverbote lägen im Übrigen nicht vor.
14 
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2011 informatorisch angehört; insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
15 
Durch Urteil vom 13.12.2011 (A 10 S 69/11) wurde die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wurde: „Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen. Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.03.2010 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.“ Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen vor. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 am 28.08.2007 sei eine relevante Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.12.2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289; Urteil des Senats vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris). Auch sei die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG mit der Antragstellung am 05.12.2008 gewahrt worden.
16 
Das Gericht gehe im Anschluss an seine Urteile vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) sowie vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert habe.
17 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, gehe die Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 lit. b) QRL nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinaus, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt worden sei, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede stehe (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehöre somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung seien nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst würden schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen. Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setze darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt werde, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmache (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL). Erst an dieser Stelle erweise sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden könne, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitze.
18 
Auf der Grundlage der Feststellungen in den Urteilen vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) und vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) und deren Fortschreibung bis zur mündlichen Verhandlung drohe einem bekennenden Ahmadi, der zu seinem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehe und seinen Glauben in Pakistan öffentlich betätigen wolle, eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts und damit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL.
19 
Das Gericht habe, insbesondere auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden sei und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Nach dem in der informatorischen Befragung gewonnen Gesamteindruck halte das Gericht die Angaben des Klägers zu seiner Glaubensausübung in Pakistan für uneingeschränkt glaubhaft. Im übrigen habe der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung überzeugend ausgeführt, ein religiös geprägtes Leben in Pakistan geführt zu haben, auch wenn er keine herausgehobene Funktion oder ein Amt in seiner Gemeinde bekleidet habe. Er habe jedoch glaubhaft dargelegt, so oft als möglich, mindestens jedoch dreimal am Tag, das Gebet in der Moschee der Ahmadis verrichtet zu haben. Dies spreche im vorliegenden Fall bereits deshalb für einen engen Glaubensbezug, weil das Aufsuchen der Moschee aufgrund der Berufstätigkeit des Klägers in der Landwirtschaft und der Entfernung der Felder zu der Moschee mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger glaubhaft geschildert, bei Bedarf in seiner religiösen Gemeinde untergeordnete Tätigkeiten, etwa Reinigungsdienste, ausgeübt zu haben. Auch wenn es sich dabei wohl nicht um eine religiöse Betätigung gehandelt haben dürfte, die über die übliche Glaubensausübung in Pakistan hinausgehe, spreche sie doch für eine enge und verpflichtende Verbundenheit zu dem Glauben der Ahmadiyyas. Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angehe, seien diese nach dem gewonnenen Eindruck glaubhaft. Das Gericht glaube dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2000 jeweils in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis betätige, regelmäßig zum Gebet in die Moschee gehe und verschiedene untergeordnete Tätigkeiten ausübe. So habe der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft geschildert, wie er sich unmittelbar nach seiner Einreise zu der Ahmadi-Gemeinde nach XXX begeben und sich dort in vielfältiger Weise sozial und kulturell engagiert habe. Insbesondere habe der Kläger in der Gemeinde XXX nicht nur die in der Heimat bereits geleisteten Hilfsdienste fortgesetzt, sondern sich nunmehr auch öffentlichkeitswirksam religiös betätigt. So habe er sich bereits in XXX monatlich an einem Bücherstand vor dem Bahnhof beteiligt und Andersgläubige in missionarischer Absicht angesprochen. Gerade diese missionarischen Aktivitäten stellten ein wesentliches, wenn auch nicht zwingend erforderliches Indiz für die Annahme einer verpflichtenden Verbundenheit mit dem Glauben der Ahmadis dar. Nach seinem Umzug nach XXX habe der Kläger vor allem auch diese missionarischen Aktivitäten fortgesetzt und intensiviert. Der Senat glaube dem Kläger, im Jahre 2010 einen Landsmann zum ahmadischen Glauben bekehrt zu haben. In diesem Zusammenhang habe der Kläger weiterhin glaubhaft ausgeführt, ihm wohlgesonnene Landsleute regelmäßig zum Besuch seiner eigenen Moschee in missionarischer Absicht eingeladen zu haben. Dies zeige, dass es dem Kläger in Übereinstimmung mit den Glaubensgrundsätzen der Ahmadis ein inneres Anliegen sei, eigene Landsleute von seinem Glauben zu überzeugen. Darüber hinaus nehme der Kläger regelmäßig an überregionalen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft teil. Auch habe er nachvollziehbar geschildert, in seiner Familie ein streng glaubensgebundenes Leben zu führen und sich insbesondere für die religiöse Erziehung seiner kleinen Tochter einzusetzen. Diesem Eindruck stehe auch nicht entgegen, dass der Kläger lediglich über ein eingeschränktes theologisches Wissen verfüge. Nach der Überzeugung des Gerichts handele es sich bei dem Kläger um einen „einfachen“ Ahmadi, der seinem Glauben jedoch verpflichtend verbunden sei und diesen insbesondere auch öffentlichkeitswirksam, vor allem durch Entfaltung missionarischer Aktivitäten, leben wolle. Damit gehöre der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stünden und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen seien.
20 
Da dem Kläger nach dem oben Gesagten die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen sei, bedürfe es keiner Entscheidung über die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Ziffer 2 des versagenden Bescheides des Bundesamtes vom 30.03.2010 aufgehoben; insoweit sei der Tenor wie erfolgt neu zu fassen.
21 
Das Urteil wurde der Beklagten am 17.01.2012 zugestellt.
22 
Am 16.02.2012 legte die Beklagte die zugelassene Revision ein und begründete diese am 16.03.2012.
23 
Mit Beschluss vom 12.05.2012 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 aus. Nachdem der Europäische Gerichtshof die Vorlagefragen durch Urteil vom 05.09.2012 (C-71/11 u.a.) beantwortet hatte, wurde das Verfahren fortgesetzt.
24 
Durch Urteil vom 20.02.2013 (10 C 23.12) hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil vom 13.12.2011 auf und wies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Nicht mit Bundesrecht vereinbar sei die vom Berufungsgericht gestellte Verfolgungsprognose. Der Verwaltungsgerichtshof habe das Ergebnis, dass die beschriebenen Verfolgungsgefahren für bekennende Ahmadis bestünden, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten, nicht auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose entwickelt. Nicht zu beanstanden sei der Ausgangspunkt, dass sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung berufen könne. Das Urteil lasse jedoch nicht erkennen, aufgrund welcher Tatsachen und nach welchem Prognosemaßstab es dann die hinreichende Verfolgungsbetroffenheit für bekennende Ahmadis bejahe, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten. Hänge die Verfolgungsgefahr von einem willensgesteuerten Verhalten ab - hier: der Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit -, sei für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben genau in dieser Weise praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Das sei in dem angefochtenen Urteil nicht erfolgt. Das Berufungsgericht habe weder - wie geboten - die Zahl der ihren Glauben entgegen den genannten Verboten öffentlich praktizierenden Ahmadis jedenfalls annäherungsweise bestimmt noch festgestellt, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe träfen. Nur wenn eine wertende Betrachtung ergebe, dass für die Gruppe der ihren Glauben öffentlich praktizierenden Ahmadis in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko bestehe, könne daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die vom Berufungsgericht als verfolgungsbetroffen gewertete Gesamtgruppe der Ahmadis, zu deren religiösem Selbstverständnis die Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit gehöre, einem beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sei.
25 
Der Kläger und die Beklagte haben sich durch Schriftsätze jeweils vom 08.05.2013 sowie vom 29.05.2013 zum Revisionsurteil sowie zu der vom Senat aufgeworfenen Frage nach weiteren Ermittlungsansätzen für die Erstellung der Verfolgungsprognose geäußert. Hierauf wird im Einzelnen verwiesen.
26 
Auf Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ Frankfurt unter dem 06.06.2013 eine Stellungnahme vorgelegt u.a. zu Einzelheiten des Berichts- und Dokumentationssystem zu Übergriffen gegen Ahmadis in Pakistan, das der von der Londoner Organisation betriebenen Website „thepersecution.org“ zugrunde liegt.
27 
Die Beklagte beantragt,
28 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - zu ändern, soweit die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgesprochen sowie die Ziffer 1 des Bescheids vom 30. März 2010 aufgehoben wurde, soweit er dem entgegensteht, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
29 
Der Kläger beantragt,
30 
die Berufung zurückzuweisen.
31 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung erneut informatorisch angehört; wegen der dabei gemachten Angaben wird auf die Anlage zur Niederschrift verwiesen.
32 
Auf die den Beteiligten mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste wird verwiesen.
33 
Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts (7 Bd), die Ausländerakten (3 Bd), die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart sowie die Akten des 10. Senats hinsichtlich des streitgegenständlichen Folgeverfahrens vor.

Entscheidungsgründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
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Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

Gründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
117 
Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) und des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO) sind nicht in der gebotenen Weise (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG) dargelegt bzw. liegen jedenfalls nicht vor.

1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wurde bereits nicht in der gebotenen Weise dargelegt und liegt im Übrigen auch nicht vor.

Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer (1.) eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, (2.) ausführen, weshalb diese Rechtsfrage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, (3.) erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist und (4.) darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt; Darlegungen zu offensichtlichen Punkten sind dabei entbehrlich (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72 m. w. N.). Hiervon ausgehend haben die Kläger schon keine den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügende Rechtsfrage formuliert.

Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt aber auch nicht vor. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder - bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen - durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt, aber klärungsbedürftig und über den zu entscheidenden Fall hinaus bedeutsam ist (st. Rspr., z. B. BayVGH, B. v. 25.2.2013 - 14 ZB 13.30023 - juris Rn. 2 m. w. N.; Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 36 ff. m. w. N.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass ein in Deutschland zum Christentum übergetretener Asylbewerber, der sich darauf beruft, wegen der Betätigung seines christlichen Glaubens in seinem Heimatland von Verfolgung bedroht zu sein, die innere Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen muss (vgl. BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 30). Der formale, kirchenrechtlich wirksam vollzogene Übertritt zum Christentum in Gestalt der Taufe reicht für die Gewinnung dieser Überzeugung jedenfalls im Regelfall nicht aus (BayVGH, B. v. 12.1.2012 - 14 ZB 11.30346 - juris Rn. 4). Welcher Beweiswert der Taufbestätigung einer Religionsgemeinschaft für die Frage der Ernsthaftigkeit eines Glaubenswechsels zukommt ist ebenso wenig klärungsbedürftig wie die Frage, ob die Überprüfung der Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts die nach innerkirchlichem Recht zuständige Stelle vorzunehmen hat und staatliche Behörden und Gerichte daran staatskirchenrechtlich gebunden sind. Es ist in der Rechtsprechung geklärt, dass es für die Frage, ob ein ernsthafter Glaubenswechsel vorliegt, entscheidend auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung und die Glaubwürdigkeit der Person des Asylbewerbers ankommt, die das Gericht selbst im Rahmen einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu überprüfen und tatrichterlich zu würdigen hat (BVerwG, U. v. 9.12.2010 - 10 C 13.09 - juris Rn. 19; BayVGH, B. v. 8.8.2013 - 14 ZB 13.30199 - juris Rn. 8 m. w. N.). Dies ist ureigene Aufgabe des Gerichts. An die Ausstellung eines Taufscheins sowie an die Einschätzung der Glaubensüberzeugung eines Konvertiten durch eine Kirchengemeinde bzw. einen Pastor ist das Gericht nicht gebunden (vgl. BayVGH a. a. O.). Da die Klärung, ob ein Glaubenswechsel vorliegt, jeweils nur anhand der individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Sachverhalts erfolgen kann, kommt diesen Fragen regelmäßig auch keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (BayVGH a. a. O.; vgl. auch OVG NW, B. v. 24.5.2013 - 5 A 062/12.A - juris Rn. 10).

2. Soweit die Kläger zudem rügen, das Urteil sei i. S. v. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 (wohl Nr. 6 gemeint) VwGO nicht mit Gründen versehen, da sich das Verwaltungsgericht in der Urteilsbegründung nicht mit der Grundgesetzproblematik des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften auseinandergesetzt habe und daher dem Urteil jedwede Begründung für die Verneinung der Nachfluchtgründe fehle, können sie ebenfalls nicht durchdringen.

Ein Verfahrensmangel nach § 138 Nr. 6 VwGO (Fehlen von Entscheidungsgründen) scheidet bei einer - wie hier - auf den allein entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin zu 1 eingehenden und die maßgeblichen Gründe erläuternden Begründung des Urteils aus. Ein solcher Verfahrensmangel wäre nur gegeben, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind oder die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind (vgl. BayVGH, B. v. 23.6.2014 - 14 ZB 14.30157 - juris Rn. 3 m. w. N.). Das Verwaltungsgericht hat vorliegend auf den Seiten 25 bis 27 seines Urteils begründet, warum es aufgrund des - allein maßgeblichen - Vortrags der Klägerin zu 1 die notwendige Überzeugungsgewissheit nicht gewinnen konnte, dass die behauptete Hinwendung zum christlichen Glauben auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung, d. h. auf einem ernstgemeinten religiösen Einstellungswandel mit identitätsprägender fester Überzeugung beruht. Die Kläger legen nichts dafür dar, inwieweit dies nicht in verständlicher Form geschehen sein sollte. Mit dem in diesem Zusammenhang allein erfolgten Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist nicht dargetan, warum die Bewertungen des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar sein sollten.

Kosten: § 154 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger erstrebt im Wege des Asylfolgeverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der 1979 geborene Kläger ist pakistanischer Staatsangehöriger und gehört der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya an; er stammt aus einem Dorf im pakistanischen Teil des Punjab.
Zum Nachweis seiner Glaubenszugehörigkeit hat er Bescheinigungen der Ahmadiyya Muslim Jamaat Frankfurt vom 02.10.2000, 28.10.2010 sowie vom 06.12.2011 vorgelegt.
Nach seinen eigenen Angaben reiste er am 23.07.2000 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24.07.2000 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung im Asylerstverfahren durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 04.08.2000 brachte er im Wesentlichen vor, er gehöre von Geburt an der Religionsgemeinschaft der Ahmadis an und habe deshalb Verfolgungsmaßnahmen erlitten. So sei er beim Besuch der Moschee geschlagen worden. Gleiches sei ihm beim Tragen von religiösen Abzeichen widerfahren. Eines Nachts im Mai des Jahres 2000 sei er beim Bewachen von Getreide durch Diebe zusammengeschlagen worden. Am nächsten Tag habe sein Vater zusammen mit Freunden die Diebe zur Rede gestellt, worüber diese sehr erbost gewesen seien und gedroht hätten, ihn zu töten. Die Familie habe deshalb beschlossen, dass er sein Heimatland verlassen solle.
Mit Bescheid vom 15.09.2000 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zugleich wurde dem Kläger die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Der Kläger erhob hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart, die mit Urteil vom 22.05.2001 (A 8 K 12809/00) abgewiesen wurde. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es fehle an einem glaubhaften individuellen Verfolgungsschicksal des Klägers. Im Übrigen könne bei der gegenwärtigen Erkenntnislage eine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan nicht angenommen werden. Das Urteil wurde durch Nichtzulassung der Berufung mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 09.10.2001 (A 6 S 688/01) rechtskräftig.
In den Jahren 2001 bis 2005 stellte der Kläger insgesamt fünf erfolglose Folgeanträge.
Am 08.12.2008 stellte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten einen weiteren Asylfolgeantrag und trug zur Begründung vor: Durch die Richtlinie 2004/83/EG habe sich die Rechtslage zu seinen Gunsten nachträglich verändert. Nunmehr sei von einer Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan auszugehen. Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/83/EG - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - präzisiere den Verfolgungsgrund der Religion dahingehend, dass nunmehr auch Glaubensausübungen im öffentlichen Bereich mit umfasst seien. Damit sei unter anderem auch das aktive Missionieren vom Schutzbereich umfasst. Die bisherige Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum könne vor dem veränderten europarechtlichen Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Kläger werde von diesen Einschränkungen vor allem der öffentlichen Religionsausübungsmöglichkeiten in Pakistan persönlich betroffen, da er eine religiös geprägte Persönlichkeit sei. So bete der Kläger regelmäßig und besuche die Moschee; er sehe es als seine religiöse Pflicht an, sich zu seinem Glauben zu bekennen und für diesen bei Andersgläubigen aktiv zu werben. Auch bekleide er Ämter innerhalb der religiösen Gemeinde. Im Übrigen habe sich die Verfolgungssituation der Ahmadis in Pakistan erheblich verschärft. Er habe erstmalig Anfang November 2008 von zwei Glaubensgenossen erfahren, dass diese aufgrund von Europarecht durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe als Flüchtlinge anerkannt worden seien; er habe sich deshalb am 01.12.2008 an seinen nunmehrigen Prozessbevollmächtigten gewandt.
Mit Bescheid vom 30.03.2010 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Ziffer 1) und auf Abänderung des Bescheids vom 15.09.2000 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (Ziffer 2) ab.
Am 31.03.2010 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung nahm er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug. Ergänzend trug er zur aktuellen Lage der Ahmadis in Pakistan vor. Im Übrigen führte er aus, er selbst sei eine religiös geprägte Persönlichkeit und seinem Glauben eng verbunden. Er bete regelmäßig, besuche die Moschee und nehme an den Gemeindeveranstaltungen teil. Insbesondere habe er auch eine Aufgabe innerhalb der Gemeinde, er sei als sog. „Ziafat“ tätig und als solcher für die Organisation der Essenszubereitung bei Gemeindeveranstaltungen zuständig.
10 
Mit Urteil vom 09.07.2010 - A 4 K 1179/10 - verpflichtete das Verwaltungsgericht Stuttgart die Beklagte, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und hob die Ziffern 1 und 2 des Bescheids des Bundesamtes vom 30.03.2010 auf, soweit sie dem entgegenstehen. Zur Begründung wies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 20.11.2007   - A 10 S 70/06 - und vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07) hin. Der Kläger sei von den Restriktionen, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den genannten Urteilen für die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis in Pakistan zu verzeichnen seien, selbst betroffen. Aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dieser Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft sei. Das Gericht habe in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger eng mit seinem Glauben verbunden sei, diesen in der Vergangenheit regelmäßig ausgeübt habe und dies auch gegenwärtig in einer Weise tue, dass er im Fall einer Rückkehr von der vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschriebenen Situation selbst betroffen werde. So habe der Kläger nachvollziehbar geschildert, dass und wie er seinen Glauben hier in Deutschland lebe; er sei aktives Mitglied seiner jetzigen religiösen Gemeinde. Über die geschilderte gemeindeinterne Betätigung hinaus habe der Kläger dargelegt, auch an öffentlichkeitswirksamen überörtlichen Veranstaltungen der Ahmadis teilgenommen zu haben. Nach der Überzeugung des Gerichts sei es ihm ein inneres Bedürfnis, mit anderen über seinen Glauben zu sprechen und für diesen aktiv zu werben.
11 
Am 02.08.2010 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung.
12 
Mit Beschluss vom 10.01.2011 wurde die Berufung ohne Beschränkung zugelassen.
13 
Am 01.02.2011 begründete die Beklagte die Berufung unter Stellung eines förmlichen Antrags und führte dabei im Wesentlichen aus: Es bestünden bereits erhebliche Zweifel, ob die formellen Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bestehe auch in der Sache kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Das Verwaltungsgericht folge in fehlerhafter Weise der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 20.05.2008 vertretenen Auffassung, dass sich der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie wesentlich erweitert habe. An dieser vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Senats könne im Hinblick auf eine neuere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 05.03.2009 (10 C 51.07) nicht uneingeschränkt festgehalten werden. In rechtsfehlerhafter Weise habe das Verwaltungsgericht auch die Ziffer 2 des Bescheids vom 30.03.2010 aufgehoben, mit der das Bundesamt die Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom 15.09.2000 bezüglich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG abgelehnt habe. Die knappe und nicht näher nachvollziehbare Begründung des Urteils deute darauf hin, dass das Verwaltungsgericht den Regelungsgehalt des § 31 Abs. 3 AsylVfG verkenne. Die Voraussetzungen für derartige Abschiebungsverbote lägen im Übrigen nicht vor.
14 
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 13.12.2011 informatorisch angehört; insoweit wird auf die Niederschrift verwiesen.
15 
Durch Urteil vom 13.12.2011 (A 10 S 69/11) wurde die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wurde: „Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen. Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.03.2010 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.“ Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen vor. Mit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.08.2007 am 28.08.2007 sei eine relevante Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. VwVfG eingetreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.12.2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289; Urteil des Senats vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris). Auch sei die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG mit der Antragstellung am 05.12.2008 gewahrt worden.
16 
Das Gericht gehe im Anschluss an seine Urteile vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) sowie vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) davon aus, dass sich die maßgebliche Rechtslage bei Anwendung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie sowohl hinsichtlich des hier in Rede stehenden Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit als auch des Prognosemaßstabs für die festzustellende Verfolgungswahrscheinlichkeit geändert habe.
17 
Wie im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, gehe die Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 lit. b) QRL nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinaus, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt worden sei, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede stehe (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehöre somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung seien nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst würden schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen. Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setze darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt werde, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmache (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL). Erst an dieser Stelle erweise sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden könne, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitze.
18 
Auf der Grundlage der Feststellungen in den Urteilen vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07) und vom 27.09.2010 (A 10 S 689/08) und deren Fortschreibung bis zur mündlichen Verhandlung drohe einem bekennenden Ahmadi, der zu seinem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehe und seinen Glauben in Pakistan öffentlich betätigen wolle, eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts und damit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL.
19 
Das Gericht habe, insbesondere auch aufgrund der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten informatorischen Anhörung des Klägers, die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden sei und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziere, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Nach dem in der informatorischen Befragung gewonnen Gesamteindruck halte das Gericht die Angaben des Klägers zu seiner Glaubensausübung in Pakistan für uneingeschränkt glaubhaft. Im übrigen habe der Kläger im Rahmen der informatorischen Befragung überzeugend ausgeführt, ein religiös geprägtes Leben in Pakistan geführt zu haben, auch wenn er keine herausgehobene Funktion oder ein Amt in seiner Gemeinde bekleidet habe. Er habe jedoch glaubhaft dargelegt, so oft als möglich, mindestens jedoch dreimal am Tag, das Gebet in der Moschee der Ahmadis verrichtet zu haben. Dies spreche im vorliegenden Fall bereits deshalb für einen engen Glaubensbezug, weil das Aufsuchen der Moschee aufgrund der Berufstätigkeit des Klägers in der Landwirtschaft und der Entfernung der Felder zu der Moschee mit einem erheblichen Aufwand verbunden gewesen sei. Darüber hinaus habe der Kläger glaubhaft geschildert, bei Bedarf in seiner religiösen Gemeinde untergeordnete Tätigkeiten, etwa Reinigungsdienste, ausgeübt zu haben. Auch wenn es sich dabei wohl nicht um eine religiöse Betätigung gehandelt haben dürfte, die über die übliche Glaubensausübung in Pakistan hinausgehe, spreche sie doch für eine enge und verpflichtende Verbundenheit zu dem Glauben der Ahmadiyyas. Was die Angaben des Klägers zu seiner Religionsausübung im Bundesgebiet angehe, seien diese nach dem gewonnenen Eindruck glaubhaft. Das Gericht glaube dem Kläger uneingeschränkt, dass er sich seit seiner Einreise im Jahre 2000 jeweils in der zuständigen Gemeinde der Ahmadis betätige, regelmäßig zum Gebet in die Moschee gehe und verschiedene untergeordnete Tätigkeiten ausübe. So habe der Kläger etwa überzeugend und glaubhaft geschildert, wie er sich unmittelbar nach seiner Einreise zu der Ahmadi-Gemeinde nach XXX begeben und sich dort in vielfältiger Weise sozial und kulturell engagiert habe. Insbesondere habe der Kläger in der Gemeinde XXX nicht nur die in der Heimat bereits geleisteten Hilfsdienste fortgesetzt, sondern sich nunmehr auch öffentlichkeitswirksam religiös betätigt. So habe er sich bereits in XXX monatlich an einem Bücherstand vor dem Bahnhof beteiligt und Andersgläubige in missionarischer Absicht angesprochen. Gerade diese missionarischen Aktivitäten stellten ein wesentliches, wenn auch nicht zwingend erforderliches Indiz für die Annahme einer verpflichtenden Verbundenheit mit dem Glauben der Ahmadis dar. Nach seinem Umzug nach XXX habe der Kläger vor allem auch diese missionarischen Aktivitäten fortgesetzt und intensiviert. Der Senat glaube dem Kläger, im Jahre 2010 einen Landsmann zum ahmadischen Glauben bekehrt zu haben. In diesem Zusammenhang habe der Kläger weiterhin glaubhaft ausgeführt, ihm wohlgesonnene Landsleute regelmäßig zum Besuch seiner eigenen Moschee in missionarischer Absicht eingeladen zu haben. Dies zeige, dass es dem Kläger in Übereinstimmung mit den Glaubensgrundsätzen der Ahmadis ein inneres Anliegen sei, eigene Landsleute von seinem Glauben zu überzeugen. Darüber hinaus nehme der Kläger regelmäßig an überregionalen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft teil. Auch habe er nachvollziehbar geschildert, in seiner Familie ein streng glaubensgebundenes Leben zu führen und sich insbesondere für die religiöse Erziehung seiner kleinen Tochter einzusetzen. Diesem Eindruck stehe auch nicht entgegen, dass der Kläger lediglich über ein eingeschränktes theologisches Wissen verfüge. Nach der Überzeugung des Gerichts handele es sich bei dem Kläger um einen „einfachen“ Ahmadi, der seinem Glauben jedoch verpflichtend verbunden sei und diesen insbesondere auch öffentlichkeitswirksam, vor allem durch Entfaltung missionarischer Aktivitäten, leben wolle. Damit gehöre der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stünden und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen seien.
20 
Da dem Kläger nach dem oben Gesagten die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen sei, bedürfe es keiner Entscheidung über die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Ziffer 2 des versagenden Bescheides des Bundesamtes vom 30.03.2010 aufgehoben; insoweit sei der Tenor wie erfolgt neu zu fassen.
21 
Das Urteil wurde der Beklagten am 17.01.2012 zugestellt.
22 
Am 16.02.2012 legte die Beklagte die zugelassene Revision ein und begründete diese am 16.03.2012.
23 
Mit Beschluss vom 12.05.2012 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.12.2010 aus. Nachdem der Europäische Gerichtshof die Vorlagefragen durch Urteil vom 05.09.2012 (C-71/11 u.a.) beantwortet hatte, wurde das Verfahren fortgesetzt.
24 
Durch Urteil vom 20.02.2013 (10 C 23.12) hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil vom 13.12.2011 auf und wies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurück. Nicht mit Bundesrecht vereinbar sei die vom Berufungsgericht gestellte Verfolgungsprognose. Der Verwaltungsgerichtshof habe das Ergebnis, dass die beschriebenen Verfolgungsgefahren für bekennende Ahmadis bestünden, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten, nicht auf der Grundlage einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose entwickelt. Nicht zu beanstanden sei der Ausgangspunkt, dass sich der Kläger nicht mit Erfolg auf eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer augenblicklich bestehenden Gruppenverfolgung berufen könne. Das Urteil lasse jedoch nicht erkennen, aufgrund welcher Tatsachen und nach welchem Prognosemaßstab es dann die hinreichende Verfolgungsbetroffenheit für bekennende Ahmadis bejahe, die ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollten. Hänge die Verfolgungsgefahr von einem willensgesteuerten Verhalten ab - hier: der Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit -, sei für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben genau in dieser Weise praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Das sei in dem angefochtenen Urteil nicht erfolgt. Das Berufungsgericht habe weder - wie geboten - die Zahl der ihren Glauben entgegen den genannten Verboten öffentlich praktizierenden Ahmadis jedenfalls annäherungsweise bestimmt noch festgestellt, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe träfen. Nur wenn eine wertende Betrachtung ergebe, dass für die Gruppe der ihren Glauben öffentlich praktizierenden Ahmadis in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko bestehe, könne daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die vom Berufungsgericht als verfolgungsbetroffen gewertete Gesamtgruppe der Ahmadis, zu deren religiösem Selbstverständnis die Praktizierung des Glaubens in der Öffentlichkeit gehöre, einem beachtlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt sei.
25 
Der Kläger und die Beklagte haben sich durch Schriftsätze jeweils vom 08.05.2013 sowie vom 29.05.2013 zum Revisionsurteil sowie zu der vom Senat aufgeworfenen Frage nach weiteren Ermittlungsansätzen für die Erstellung der Verfolgungsprognose geäußert. Hierauf wird im Einzelnen verwiesen.
26 
Auf Anregung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ Frankfurt unter dem 06.06.2013 eine Stellungnahme vorgelegt u.a. zu Einzelheiten des Berichts- und Dokumentationssystem zu Übergriffen gegen Ahmadis in Pakistan, das der von der Londoner Organisation betriebenen Website „thepersecution.org“ zugrunde liegt.
27 
Die Beklagte beantragt,
28 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. Juli 2010 - A 4 K 1179/10 - zu ändern, soweit die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgesprochen sowie die Ziffer 1 des Bescheids vom 30. März 2010 aufgehoben wurde, soweit er dem entgegensteht, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
29 
Der Kläger beantragt,
30 
die Berufung zurückzuweisen.
31 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung erneut informatorisch angehört; wegen der dabei gemachten Angaben wird auf die Anlage zur Niederschrift verwiesen.
32 
Auf die den Beteiligten mit der Ladung übersandte Erkenntnisquellenliste wird verwiesen.
33 
Dem Senat liegen die Asylverfahrensakten des Bundesamts (7 Bd), die Ausländerakten (3 Bd), die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart sowie die Akten des 10. Senats hinsichtlich des streitgegenständlichen Folgeverfahrens vor.

Entscheidungsgründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
117 
Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

Gründe

 
34 
I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die ergänzende Aufhebung der dem entgegenstehenden Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 30.03.2010. Denn im Berufungsurteil vom 13.12.2011 wurde, wenn auch nicht ausdrücklich im Tenor, die Klage hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids abgewiesen (vgl. insbesondere auch UA S. 35 unten). Da die Beklagte auch nur in diesem Umfang durch das Urteil beschwert war, muss davon ausgegangen werden, dass sie nur insoweit die zugelassene Revision eingelegt hat, mit der Folge, dass auch die Aufhebung des Urteils vom 13.12.2011 durch das Bundesverwaltungsgericht nur diesen Teil betreffen kann. Die Beteiligten sehen dies nicht anders.
35 
II. Dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 VwVfG vorliegen, wurde im Urteil vom 13.12.2011 im Einzelnen dargelegt. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
36 
III. Grundlage für das Begehren des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
37 
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 20.02.2013, mit dem der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde, in maßstäblicher Hinsicht folgendes ausgeführt:
38 
„2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU (zuvor: Richtlinie 2004/83/EG) - im Folgenden: Richtlinie - geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen .
39 
Nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie ergänzend anzuwenden. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie und den Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestehen.
40 
2.2 Das Berufungsgericht hat die vom Kläger als Mitglied der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft (Ahmadi) geltend gemachte Verfolgungsgefahr zutreffend als Furcht vor einem Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung gewertet (UA S. 13). Denn Ahmadis droht in Pakistan die Gefahr einer Inhaftierung und Bestrafung nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht schon wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft als solcher. Die Verwirklichung der Gefahr hängt vielmehr von dem willensgesteuerten Verhalten des einzelnen Glaubensangehörigen ab: der Ausübung seiner Religion mit Wirkung in die Öffentlichkeit. In solchen Fällen besteht der unmittelbar drohende Eingriff in einer Verletzung der Freiheit, die eigene Religion entsprechend den geltenden Glaubensregeln und dem religiösen Selbstverständnis des Gläubigen zu praktizieren, weil der Glaubensangehörige seine Entscheidung für oder gegen die öffentliche Religionsausübung nur unter dem Druck der ihm drohenden Verfolgungsgefahr treffen kann. Er liegt hingegen nicht in der Verletzung der erst im Fall der Praktizierung bedrohten Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, persönliche Freiheit). Etwas anderes gilt dann, wenn der Betroffene seinen Glauben im Herkunftsland bereits praktiziert hat und ihm schon deshalb - unabhängig von einer willensgesteuerten Entscheidung über sein Verhalten in der Zukunft - unmittelbar die Gefahr z.B. einer Inhaftierung und Bestrafung droht. Eine derartige Vorverfolgung hat das Berufungsgericht hier jedoch nicht festgestellt .
41 
2.3 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Senats durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden können .
42 
2.3.1 Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61) .
43 
2.3.2 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 <19 ff.>) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts) .
44 
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Der Gerichtshof verwendet in der verbindlichen deutschen Sprachfassung des Urteils (vgl. Art. 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 25. September 2012, ABI L 265/1 vom 29. September 2012) zwar nur den Begriff „verfolgt", ohne dies ausdrücklich auf eine strafrechtliche Verfolgung zu beziehen. Es wäre jedoch zirkulär, den Begriff der „asylerheblichen Verfolgung" durch „Verfolgung" zu definieren. Dafür spricht zudem ein Vergleich der deutschen mit der französischen, englischen und italienischen Fassung des Urteils. In allen drei zum Vergleich herangezogenen Sprachfassungen ist von strafrechtlicher Verfolgung die Rede. Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten .
45 
2.3.3 Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an .
46 
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit" (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung" (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Senats auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 <437>). Diese Erstreckung auch auf einen erzwungenen Verzicht entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 - MN and others [2012] UKUT 00389(IAC) Rn. 79) betreffend die religiöse Verfolgung von Ahmadis in Pakistan und dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung wegen Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ v. Secretary of State for the Home Department [2010] UKSC 31 Rn. 82). Der Senat folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung (vgl. Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. <23>) nicht mehr fest .
47 
2.3.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 82) .
48 
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71). Dabei bestätigt der EuGH die Auffassung des Senats, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist .
49 
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste (vgl. zu den strengeren Maßstäben der Rechtsprechung zur Gewissensnot von Kriegsdienstverweigerern: Urteil vom 1. Februar 1982 - BVerwG 6 C 126.80 - BVerwGE 64, 369 <371> m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (so schon Beschluss vom 9. Dezember 2010 a.a.O. Rn. 43) .
50 
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Bei Ahmadis aus Pakistan ist zunächst festzustellen, ob und seit wann sie der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Hierbei dürfte sich die Einholung einer Auskunft der Zentrale der Glaubensgemeinschaft in Deutschland anbieten, die ihrerseits auf die Erkenntnisse des Welt-Headquarters in London - insbesondere zur religiösen Betätigung des Betroffenen in Pakistan - zurückgreifen kann (so auch das britische Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14. November 2012 a.a.O. Leitsatz 5). Nähere Feststellungen über die religiöse Betätigung eines Ausländers vor seiner Ausreise verringern auch das Risiko einer objektiv unzutreffenden Zuordnung zu einer Glaubensgemeinschaft (s.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2012, S. 14). Zusätzlich kommt die Befragung eines Vertreters der lokalen deutschen Ahmadi-Gemeinde in Betracht, der der Asylbewerber angehört. Schließlich erscheint im gerichtlichen Verfahren eine ausführliche Anhörung des Betroffenen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in aller Regel unverzichtbar. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in Pakistan nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte. Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in Pakistan der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen .
51 
2.3.5 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2011/95/EU: Art. 2 Buchst. d) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. Urteile vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.> und vom 1. Juni 2011 a.a.O. Rn. 24). Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob der Kläger berechtigterweise befürchten muss, dass ihm aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in Pakistan, die zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schweren Rechtsgutverletzung droht, insbesondere die Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.4) .
52 
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht für pakistanische Staatsangehörige in ihrem Heimatland allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft noch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr (UA S. 32). Eine solche droht nur „bekennenden Ahmadis", die „ihren Glauben im Heimatland auch öffentlich ausüben wollen" (UA S. 33). Das Berufungsgericht hält zur Feststellung der Verfolgungswahrscheinlichkeit die für eine Gruppenverfolgung geltenden Maßstäbe insoweit mit Recht nicht für vollumfänglich übertragbar, als eine Vergleichsbetrachtung der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte zur Gesamtzahl aller Ahmadis in Pakistan (etwa 4 Millionen) oder der bekennenden Ahmadis (500 000 bis 600 000) die unter Umständen hohe Zahl der Glaubensangehörigen unberücksichtigt ließe, die aus Furcht vor Verfolgung auf ein öffentliches Praktizieren ihrer Religion verzichten. Hängt die Verfolgungsgefahr aber von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen - der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit - ab, ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Dabei ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass die Ausübung religiöser Riten in einer Gebetsstätte der Ahmadis bereits als öffentliche Betätigung gewertet und strafrechtlich sanktioniert wird. Die Zahl der ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizierenden Ahmadis ist - bei allen damit verbundenen, auch dem Senat bekannten Schwierigkeiten - jedenfalls annäherungsweise zu bestimmen. In einem weiteren Schritt ist sodann festzustellen, wie viele Verfolgungsakte die Angehörigen dieser Gruppe treffen. Dabei ist insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert und bestraft wird, der entgegen den Vorschriften des Pakistan Penal Code bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutzt, seinen Glauben öffentlich bekennt oder für ihn wirbt. Bei der Relationsbetrachtung, die die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung setzt, ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Besteht aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist .
53 
2.4 Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Antragsteller ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5. September 2012 a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ergibt. Buchstabe a erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach Buchstabe b kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Buchstabe a. Die Maßnahmen im Sinne von Buchstabe b können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen .
54 
In Buchstabe a beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition"). Während die „Art" der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung" eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30). Der Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen kann. Der Qualifizierung als „ein" Verbot steht nicht entgegen, dass dieses in mehreren Strafvorschriften des Pakistan Penal Code mit unterschiedlichen Straftatbeständen normiert ist. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art" sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot .
55 
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Buchstabe a mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative des Buchstabe b in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht .
56 
Daher sind bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie zunächst alle in Betracht kommenden Eingriffshandlungen in den Blick zu nehmen, und zwar Menschenrechtsverletzungen wie sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen. In dieser Prüfungsphase dürfen Handlungen, wie sie beispielhaft in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie genannt werden, nicht vorschnell deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (ähnlich Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz - Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, Kapitel 4 § 13 Rn. 18). Zunächst ist aber zu prüfen, ob die Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorliegt. Ist das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Summe der nach Buchstabe b zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung beim Betroffenen führt wie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie. Ohne eine fallbezogene Konkretisierung des Maßstabs für eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie kann die bewertende Beurteilung nach Buchstabe b, ob der einzelne Asylbewerber unterschiedlichen Maßnahmen in einer so gravierenden Kumulation ausgesetzt ist, dass seine Betroffenheit mit der in Buchstabe a vergleichbar ist, nicht gelingen. Stellt das Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der „Betroffenheit in ähnlicher Weise" keine Vergleichsbetrachtung mit den von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen an, liegt darin ein Verstoß gegen Bundesrecht“ .
57 
IV. Ausgehend hiervon besteht zwar kein Grund zu der Annahme, dass bereits aufgrund der bloßen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya unterschiedslos die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter dem Aspekt einer Gruppenverfolgung vorliegen. Etwas anderes ergibt sich jedoch für die bekennenden Ahmadis, die es nach ihrem Glaubensverständnis für sich als identitätsbestimmend ansehen, ihren Glauben – auch werbend – in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. hierzu im Folgenden und auch noch unten 2 e); vgl. schon VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.05.2008 - A 11 S 3032/07 - juris; vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris).
58 
1. a) Zum Hintergrund der heutigen Situation der Ahmadis in Pakistan hatte der HessVGH bereits im Urteil vom 31.08.1999 (10 UE 864/98.A - juris) u.a. das Folgende ausgeführt, von dem auch der Senat ausgeht:
59 
„Die Ahmadiyya-Gemeinschaft wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad (1835 - 1908) in der Stadt Qadian (im heutigen indischen Bundesstaat Punjab) gegründet und versteht sich als eine innerislamische Erneuerungsbewegung. Ihr Gründer behauptete von sich, göttliche Offenbarungen empfangen zu haben, nach denen er der den Muslimen verheißene Messias und Mahdi, der herabgestiegene Krishna, der wiedergekehrte Jesus und der wiedererschienene Mohammed sei. An der Frage seiner Propheteneigenschaft spaltete sich die Bewegung im Jahre 1914. Die Minderheitengruppe der Lahoris (Ahmadiyya-Anjuman Lahore), die ihren Hauptsitz nach Lahore/Pakistan verlegte und die Rechtmäßigkeit der Kalifen als Nachfolger des Religionsgründers nicht mehr anerkannte, sieht in Ahmad lediglich einen Reformer im Sinne eines "wieder neubelebten" Mohammed, während die Hauptgruppe der Quadianis (Ahmadiyya Muslim Jamaat) ihn als einen neuen Propheten nach Mohammed verehrt, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht ermächtigt sei, ein neues Glaubensgesetz zu verkünden, denn Mohammed sei der letzte "gesetzgebende" Prophet gewesen. Die Bewegung betrachtet sich als die einzig wahre Verkörperung des Islam, den ihr Gründer wiederbelebt und neu offenbart habe. Während die orthodoxen Muslime aus der Sicht der Ahmadis zur Glaubens- und Welterneuerung hingeführt werden müssen, sind die Ahmadis aus der Sicht der orthodoxen Muslime Apostaten, die nach der Ideologie des Islam ihr Leben verwirkt haben.
60 
Im Zuge der Teilung des indischen Subkontinents und der Gründung eines islamischen Staates Pakistan am 13. August 1947 siedelten viele Ahmadis dorthin über, vor allem in den pakistanischen Teil des Punjab. Mitglieder der Hauptgruppe des Qadianis erwarben dort Land und gründeten die Stadt Rabwah im Punjab, die sich zum Zentrum der Bewegung entwickelte. Mehr als 95 % der Bevölkerung gehören der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an und die Stadt ist der Hauptsitz der Gemeinschaft (Ahmadiyya Verfolgungsbulletin Mai 1996, S. 28). Heute heißt die Stadt nach einem Beschluss des Parlaments von Punjab gegen den Willen der Bevölkerung Tschinab Nagar (Ahmadiyya Rundschreiben vom 30.04.1999).
61 
Die Angaben über die Zahl der Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in Pakistan lebenden Mitglieder der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gehen weit auseinander und reichen etwa von 103.000 bis 4 Millionen (vgl. Gutachten Dr. Wohlgemuth an Hamb. OVG vom 22.02.1988, S. 454 f.), wobei die Minderheitengruppe der Lahoris mit ca. 5.000 Mitgliedern (AA an Hess. VGH vom 20.07.1994) hier unberücksichtigt bleiben kann. Nach Angaben der Ahmadiyya Muslim Jamaat selbst lag deren Mitgliederzahl im Jahr 1994 bei etwa 2 bis 3 Millionen (vgl. AA an Hess. VGH vom 20.07.1994, S. 1); weltweit sollen es 12 Millionen Mitglieder in über 140 Staaten sein (Ahmadiyya Mitteilung vom 04.09.1996), nach Stanek etwa 1 bis 3 Millionen (Referat vom 15.12.1997, S. 4). Nach Schätzung des der Ahmadiyya-Bewegung zugehörigen Gutachters Prof. Chaudhry lag die Zahl der Ahmadis in Pakistan in diesem Zeitraum dagegen nur bei ein bis zwei Millionen (vgl. Gutachten an Hess. VGH vom 22.05.1994, S. 6). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ahmadis möglicherweise stärker noch als andere muslimische Glaubensgemeinschaften in Pakistan dazu neigen, ihre Anhängerschaft verdoppelt und verdreifacht anzugeben, und dass ihre Stärke deshalb und aufgrund ihrer früher regen Missionstätigkeit überschätzt worden sein kann (vgl. Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, 1991, S. 295 f.). Die bisweilen genannte Mitgliederzahl von 4 Millionen (vgl. Ahmadiyya an Bundesamt vom 14.07.1991) dürfte deshalb zu hoch (vgl. Gutachten Dr. Conrad an Hess. VGH vom 31.10.1994, S. 4) und eine Schätzung auf 1 bis 2 Millionen - auch für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin - eher realistisch sein (vgl. Ende/Steinbach, S. 295 für 1983; Dr. Khalid vor dem Bay. VGH am 22.01.1985, S. 7).
62 
Auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats sind verlässliche Zahlen über die Entwicklung der Zahl der Ahmadis in Pakistan aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht feststellbar; die Ergebnisse der letzten Volkszählung in Pakistan im März 1998 (UNHCR Report vom 01.05.1998, S. 8) sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Dass die bereits dem Urteil des erkennenden Senats vom 5. Dezember 1994 (10 UE 77/94) zugrunde gelegte Mitgliederzahl von ca. 1 bis 2 Millionen aber auch heute noch zutreffen dürfte, lässt sich trotz des allgemeinen Bevölkerungswachstums Pakistans von jährlich 2,9 % bei rund 133 Millionen Einwohnern (Fischer Weltalmanach 1999, "Pakistan") oder 136 Millionen (Statistisches Jahrbuch 1995 für das Ausland, S. 210; Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999, "Pakistan") oder 126 Millionen Einwohnern (Encyclopaedia Universalis, Chiffres du Monde 1998, "Pakistan") damit erklären, dass die Ahmadiyya-Bewegung seit 1974 und insbesondere seit 1984 so gut wie keine Missionserfolge in Pakistan mehr verzeichnen konnte und durch die gegen sie gerichteten Repressalien Hunderttausende ihrer Mitglieder durch Austritt und Auswanderung verloren haben dürfte (vgl. bereits Gutachten Dr. Ahmed an VG Ansbach vom 05.06.1978, S. 23) Dem steht eine Gesamtbevölkerung Pakistans gegenüber, die zu etwa 75 bis 77 % aus sunnitischen und zu 15 bis 20 % aus schiitischen Muslimen besteht und in unterschiedlichste Glaubensrichtungen zerfällt (vgl. Ende/Steinbach, S. 281; AA an VG Schleswig vom 26.08.1993).“
63 
b) Auch die aktuell verfügbaren Zahlen zur Größe der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya sind nach wie vor nicht eindeutig und weitgehend ungesichert, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die Ahmadis bedingt durch die noch darzustellenden Verbote, sich als Moslems zu bekennen und zu bezeichnen, seit 1974 in großem Umfang die Teilnahme an Volkszählungen verweigern bzw. diese boykottieren (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.02.2008, Ziff. 19.41 und vom 07.12.2012, Ziff. 19.98, das von 291.000 bis 600.000 bekennenden Ahmadis ausgeht). Das Auswärtige Amt teilt im jüngsten Lagebericht (vom 02.11.2012, S. 13) wiederum nur mit, dass nach eigenen Angaben die Ahmadis etwa vier Millionen Mitglieder zählen sollen, wobei allerdings allenfalls 500.000 bis 600.000 bekennende Mitglieder seien. Der vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 im Verfahren A 12 K 2890/12 vernommene Raja Muhammad Yousaf Khan, der Mitarbeiter des „Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V., Frankfurt“ ist, hat ausgesagt, dass der „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ von etwa 400.000 bekennenden Ahmadis in Pakistan ausgeht, die er als solche Personen beschreibt, die regelmäßig Kontakt zu den lokalen Gemeinden haben, wobei sich aus der Niederschrift keine genauer nachvollziehbaren Hinweise ablesen lassen, wie diese Zahl ermittelt bzw. hergeleitet wurde. Der Umstand, dass in den anlässlich der jüngst abgehaltenen Wahl erstellten Wählerverzeichnissen (sog. „Nada-Dateien“) nur rund 200.000 wahlberechtigte Ahmadis geführt werden, stellt die Zahl von 400.000 nicht grundsätzlich infrage, weil Ahmadis seit Jahren schon die Wahlen selbst boykottieren (vgl. unten Ziffer 2 a). Der Senat kann nicht davon ausgehen, dass alle etwa 400.000 „bekennenden Ahmadis“ auch solche sind, für die das Leben ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und ggf. das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar sind (vgl. zur Eingrenzung der Gruppe noch unten 2 e), was allerdings nach der – auch offiziellen – Lehre der Ahmadiyya-Bewegung von zentraler Bedeutung ist (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16). Denn der bloße regelmäßige Kontakt zur lokalen Gemeinde ist hierfür sicher unzureichend, zumal, wie noch auszuführen sein wird, das gemeinsame Gebet jedenfalls in kleineren Gebetshäusern in der Regel faktisch möglich ist, selbst wenn es auch hier vermutlich immer wieder Übergriffe und Einschränkungen bzw. staatliche Verfolgungsmaßnahmen gibt. Nach dem International Religious Freedom Report Pakistan des United States Department of State für das Jahr 2011 (S. 2) waren allerdings überhaupt keine verlässlichen Daten über die Anzahl der Ahmadis, die sich aktiv an religiösen Ritualen oder Gottesdiensten beteiligen, verfügbar oder von den amerikanischen Stellen zu ermitteln, was dann gleichermaßen für diejenigen gelten muss, die aktiv den Glauben vertretend und praktizierend in der Öffentlichkeit auftreten. Vergleichbares gilt im Übrigen – angesichts der Größe des Landes für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar – für die Ermittlung verlässlicher Daten zur Frage der Häufigkeit von Übergriffen auf Ahmadis in Pakistan von Seiten privater Akteure (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2011 Ziff. 19.162). Zwar werden von den im Inland- und Ausland ansässigen Organisationen der Ahmadiyya-Gemeinschaft regelmäßig (monatliche und jährliche) Zusammenstellungen über – v.a. von nicht staatlichen Akteuren ausgehende – Übergriffe auf Ahmadis herausgegeben und ins Internet gestellt (www.thepersecution.org/), es ist aber auch nach dem Vortrag der Beteiligten für den Senat kein Anhaltspunkt dafür erkennbar, dass diese auf einem lückenlosen und landesweit vernetzten Berichtssystem beruhen und daher auch nur annäherungsweise vollständig sein könnten, was die Stellungnahme des „Ahmadiyya Muslim Jammaat“ vom 06.06.2013 bestätigt. Abgesehen davon ist auch nicht gesichert, dass die Betroffenen ausschließlich oder jedenfalls überwiegend solche Ahmadis sind, die ihrem Glauben in einer Weise innerlich verpflichtet sind, dass sie diesen bekennend und ggf. werbend bzw. sogar missionierend in die Öffentlichkeit tragen bzw. tragen wollen. Eine Durchsicht der Zusammenstellung für Januar bis Dezember 2011 ergab, dass eindeutige Aussagen nur für einen Teil der beschriebenen Vorfälle gemacht werden können.
64 
Der Senat sieht vor diesem Hintergrund keinen erfolgsversprechenden Ermittlungsansatz, um die so beschriebene Teilmenge (Ahmadis, für die das öffentlich Bekennen und ggf. Werben für den Glauben identitätsbestimmend ist) aus der Teilmenge der „bekennenden Ahmadis“ der Größe nach präziser festzustellen, zumal dann in diesem Zusammenhang landesweit auch sehr subjektiven Voraussetzungen und Merkmalen, d.h. inneren Tatsachen nachgegangen werden müsste. Es ist namentlich nicht erkennbar, dass in Pakistan die Zahl dieser Personen überhaupt statistisch erfasst wird, bzw. dass es eine Stelle geben könnte, die über solches Zahlenmaterial verfügt. Die Ausführungen von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart machen hinreichend deutlich, dass nicht einmal die offiziellen Vertreter der Ahmadis in Westeuropa in diesem Zusammenhang über belastbare Zahlen hinsichtlich dieser Personengruppe verfügen, was nach dessen Ausführungen letztlich darin begründet ist, dass aus Furcht vor Verfolgung heute praktisch kein Ahmadi mehr in der Öffentlichkeit seinen Glauben lebt und für diesen wirbt. Dabei hatte Herr Khan nicht ausgeschlossen, dass auf individueller Ebene in einem privaten Gespräch noch für den Glauben geworben würde, wie oft dies heute noch geschehe, lasse sich – zu Recht – nicht seriös beziffern, da es niemanden gebe, der hierüber Aufzeichnungen mache, die Fälle auswerte und dann zähle. Auch das vom Upper Tribunal - Immigration and Asylum Chamber in seinem Urteil „MN and others“ (Pakistan CG <2012> UKUT 00389) vom 14.11.2012 verwertete Zahlenmaterial führt hier letztlich nicht weiter, weil dieses sich nicht direkt auf die Zahl des hier festzustellenden Personenkreises und dessen Größe bezieht. Das Bundesamt wie auch der Kläger haben keine Wege aufgezeigt, wie verlässliches und nicht nur spekulatives Zahlenmaterial zu erlangen sein könnte. Der Senat sieht sich – ungeachtet der völkerrechtlichen Hindernisse – auch im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht gehalten, ein Institut mit einer repräsentativen Untersuchung in Pakistan oder einer erstmals dort durchzuführenden statischen Erhebung zu betrauen, abgesehen davon, dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür hat, dass eine verlässliche Untersuchung in Pakistan überhaupt in angemessener Zeit geleistet werden kann. Umso weniger lassen sich verlässliche Zahlen darüber ermitteln, wie viele Ahmadis aus der Teilmenge der Ahmadis, für die das öffentliche Bekennen oder sogar Werben identitätsbestimmend ist, trotz aller Verbote, Strafverfolgungsmaßnahmen und gewichtigen Übergriffe privater Akteure gleichwohl ihren Glauben öffentlich leben und für ihn öffentlich eintreten oder gar werben (vgl. zur der vom Bundesverwaltungsgericht in Rdn. 33 geforderten Relationsbetrachtung im Einzelnen noch unten 2c).
65 
2. Die Lage der Ahmadis in Pakistan wird maßgeblich durch die folgenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen bestimmt:
66 
a) Der Islam wurde in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erklärt. Die Freiheit der Religionsausübung ist zwar von Verfassung wegen garantiert (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 2 f.). Durch eine Verfassungsänderung von 1974 wurden die Ahmadis allerdings ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit qualifiziert und geführt. Nach der Verfassung ist hiernach kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Prophetenamtes Mohammeds glaubt bzw. wer auch andere Propheten als Mohammed anerkennt.
67 
Dieses hat unmittelbare Konsequenzen für den Bereich des Wahlrechts insofern, als Ahmadis nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche Personen auf diesen Listen wählen können. Um hingegen ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren bzw. wählen zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetenamtes Mohammeds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden seitdem die Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert (vgl. (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4; U.S. State Department, Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 38; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.104 ff.; Rashid, Pakistan’s failed Commitment: How Pakistan’s institutionalised Persecution of the Ahmadiyya Muslim Community violates the international Convenant on civil and political Rights, S. 25). In den Pässen werden die Ahmadis ausdrücklich (wieder) als “non-muslim” geführt (vgl. AA, Lagebericht vom 02.11.2012, S. 13).
68 
b) Seit 1984 bzw. 1986 gelten namentlich drei Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuches, die sich speziell mit den Ahmadis befassen und die gewissermaßen der Absicherung und Unterfütterung ihrer verfassungsrechtlichen Behandlung dienen.
69 
Sec. 298 B lautet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143):
70 
„(1) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung
71 
a) eine Person, ausgenommen einen Kalifen oder Begleiter des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ameerui Mumineen’, ‚Khalifar-ul-Mimineem’, ’Shaabi’ oder ‚Razi-Allah-Anho’ bezeichnet oder anredet;
72 
b) eine Person, ausgenommen eine Ehefrau des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ummul-Mumineen’ bezeichnet oder anredet;
73 
c) eine Person, ausgenommen ein Mitglied der Familie des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) als ‚Ahle-bait’ bezeichnet oder anredet;
74 
d) sein Gotteshaus als ‚Masjid’ bezeichnet, es so nennt oder benennt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und mit Geldstrafe bestraft.
75 
(2) Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung die Art oder Form des von seiner Glaubensgemeinschaft befolgten Gebetsrufs als ‚Azan’ bezeichnet oder den ‚Azan’ so rezitiert wie die Muslime es tun, wird mit Freiheitsstrafe der beiden Arten und mit Geldstrafe bestraft.“
76 
Sec. 298 C lautet:
77 
„Wer als Angehöriger der Qadani-Gruppe oder der Lahorj-Gruppe (die sich ‚Ahmadis’ oder anders nennen) durch Worte, seien sie gesprochen oder geschrieben, oder durch sichtbare Darstellung mittelbar oder unmittelbar den Anspruch erhebt, Muslim zu sein, oder seinen Glauben als Islam bezeichnet oder ihn so nennt oder seinen Glauben predigt oder propagiert oder andere auffordert, seinen Glauben anzunehmen, oder wer in irgendeiner anderen Weise die religiösen Gefühle der Muslime verletzt, wird mit Freiheitsstrafe einer der beiden Arten bis zu drei Jahren und Geldstrafe bestraft.“
78 
Sec. 295 C schließlich hat folgenden Wortlaut:
79 
„Wer in Worten, schriftlich oder mündlich oder durch sichtbare Übung, oder durch Beschuldigungen, Andeutungen oder Beleidigungen jeder Art, unmittelbar oder mittelbar den geheiligten Namen des heiligen Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) verunglimpft, wird mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft.“
80 
Der Vollständigkeit halber sollen in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden (vgl. auch Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.32):
81 
- Sec. 298 A (Gebrauch abschätziger bzw. herabsetzender Bemerkungen in Bezug auf heilige Personen; Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, Geldstrafe oder beides);
82 
- Sec. 295 (Beleidigung oder Schändung von Orten der Verehrung mit dem Zweck bzw. Ziel, eine Religion jeder Art herabzusetzen, Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahre, Geldstrafe oder beides);
83 
- Sec. 295 A (Vorsätzliche und böswillige Handlungen mit dem Zweck die religiösen Gefühle jeden Standes zu verletzen durch Beleidigung der Religion oder des Glaubens, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, Geldstrafe oder beides) und
84 
- Sec. 295 B (Beleidigung bzw. Verächtlichmachung des Heiligen Korans, lebenslange Freiheitsstrafe).
85 
Alle genannten Vorschriften, die nach ihrem eindeutigen Wortlaut im Übrigen nicht nur die öffentliche Sphäre der Religionsausübung betreffen (in diesem Sinne auch schon ausführlich HessVGH, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris, Rdn. 92 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - juris; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1992 - 2 BvR 1263/92 - juris, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 - NVwZ 1994, 500; vom 25.01.1995 - 9 C 279.94 - NVwZ 1996, 82, insbesondere dort auch noch zur mittlerweile irrelevanten Abgrenzung zwischen forum internum und zur Glaubensbetätigung mit Öffentlichkeitsbezug), stellen in weiten Teilen diskriminierende, nicht mit Art. 18 Abs. 3 IPbpR (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRCh) zu vereinbarende Strafbestimmungen dar, die zugleich die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. c) RL 2004/83/EG (identisch mit RL 2011/95/EU) erfüllen (vgl. auch etwa EGMR, Urteil vom 24.02.1998 - 140/1996/759/958-960, Larissis - http://www.echr.coe.int/echr/), wonach ein Verbot des Missionierens, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind, eine unzulässige Beschränkung der Religionsfreiheit darstellt). Soweit man einzelne Bestimmungen im Ansatz noch als zulässige Begrenzung der Religionsfreiheit ansehen wollte (etwa Sec. 298 C letzte Variante), fehlt allerdings schon jede tatbestandliche Eingrenzung, vielmehr wird mit ihrer begrifflichen Weite ein Einfallstor für Willkür eröffnet (vgl. hierzu noch unten d). Es handelt sich nicht um staatliche Maßnahmen, die der Durchsetzung des öffentlichen Friedens und der verschiedenen, in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise aggressiv-intoleranten Glaubensrichtungen dienen, und weshalb zu diesem Zweck etwa einer religiösen Minderheit mit Rücksicht auf eine religiöse Mehrheit untersagt wird, gewisse Bezeichnungen, Merkmale, Symbole oder Bekenntnisformen in der Öffentlichkeit zu verwenden, obschon sie nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit identitätsbestimmend sind (so noch BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 im Kontext des Asylgrundrechts), weshalb auch offen bleiben kann, ob unter dem Regime der Qualifikationsrichtlinie eine derart weitgehende Beschränkung der Religionsfreiheit für die Betroffenen, wie sie das Bundesverfassungsgericht für das Asylgrundrecht noch für richtig gehalten hat, hinzunehmen und unionsrechtskonform wäre. Dies gilt nicht nur mit Rücksicht auf die fehlende Beschränkung auf die öffentliche Sphäre, sondern auch deshalb, weil hier der pakistanische Staat, auch wenn er stark durch Glaubensüberzeugungen der Mehrheitsbevölkerung geprägt sein mag, nicht die Rolle eines um Neutralität bemühten vermittelnden Staatswesens einnimmt. Vielmehr werden einseitig die Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Haftung genommen und in ihren Freiheitsrechten und in ihrer religiösen Selbstbestimmung beeinträchtigt, obwohl von einem aggressiven Auftreten gegenüber anderen Religionen, namentlich auch anderen Strömungen des Islam nichts bekannt geworden ist und den inneren Frieden störende Handlungen gerade nicht von ihnen ausgehen (vgl. hierzu auch Rashid, Pakistan’s Failed Commitment, S. 32), sondern weitgehend allein von zunehmend aggressiv agierenden orthodoxen Teilen der Mehrheitsbevölkerung sowie mittlerweile auch direkt und unmittelbar von staatlichen Behörden (vgl. hierzu schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 14 ff.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan vom 10.09.2007, S. 6 und 10 und nunmehr Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.12, 19.27, 19.44, 19.121, 19.127 und 19.145). Von einer legitimen Begrenzung der religiösen Betätigung von Ahmadis kann auch deshalb keine Rede sein, weil der pakistanische Staat keine effektiven legislativen und exekutiven Maßnahmen ergreift, um dem aggressiven Wirken entgegenzutreten und den Minderheiten – als Kehrseite möglicher ihnen auferlegter maßvoller Beschränkungen – einen wirklich geschützten Freiraum für ihr Wirken bereitstellt (vgl. zur Weite der Vorschriften und ihrer grenzenlosen Auslegung bzw. Anwendung unten d).
86 
c) Seit Einführung der spezifisch auf die Ahmadis zugeschnittenen Blasphemiebestimmung nach Sec. 295 C, die neben weiteren ähnlichen Bestimmungen steht, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, wurden nach dem Bericht „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (Annex II), den auch das Upper Tribunal in seinem Urteil vom 14.11.2012 als relevant angesehen hat (dort Rdn. 30, Fn. 6), im Zeitraum April 1984 bis 31.12.2011 offiziell insgesamt 3.820 „Police Cases“ gegen Ahmadis registriert, davon 299 wegen „Blasphemie“, zuzüglich über 60.000 Verfahren (wegen Sec. 298 C) gegen den sich am 28. Mai 2008 ausdrücklich aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Begründung des Khalifentums öffentlich zu den Ahmadis bekennenden Teil der Bevölkerung von Rabwah (jetzt Chenab Nagar oder Tschinab Nagar; vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.59; ai, Jahresbericht 2006), die 2009 noch anhängig gewesen waren (Home Office Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.136; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorités religieuses, 31.08.2009, S. 9), mittlerweile aber eingestellt wurden (vgl. Khan an das VG Stuttgart vom 09.05.2013). Bereits im Jahre 1989 waren schon einmal Verfahren gegen alle Ahmadis von Rabwah wegen des Vorwurfs nach Sec. 298 C eingeleitet worden, die im Jahre 2006 noch anhängig waren (vgl. hierzu Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 10 f. und 35), aber vermutlich auch eingestellt wurden; diese nach dem genannten Bericht nicht genauer bezifferten Verfahren müssen daher im Grundsatz noch bei der Zahl von Ermittlungsverfahren berücksichtigt werden. Auch wenn diese augenscheinlich nicht konsequent oder nur gegenüber Einzelnen betrieben werden, so ist doch aus der Tatsache, dass sie erst nach einigen Jahre förmlich eingestellt und immerhin im Abstand von 10 Jahren zweimal eingeleitet wurden, nur der Schluss zu ziehen, dass sie instrumentalisiert wurden, um die Betroffenen massiv einzuschüchtern. Aus diesem Grund können diese Verfahren bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Allerdings dürfen sie nicht mathematisch exakt in eine quantitative Bewertung eingerechnet werden, weil es in der Regel jedenfalls zu keinen Anklagen gekommen ist und andernfalls ein unzutreffendes Bild von der Wirklichkeit ergäbe.
87 
Das Home Office (Ziff. 19.49) spricht für den Zeitraum 1986 bis 2006 allein von 695 Verfahren spezifisch wegen Blasphemie (sec. 295 C), in denen es auch zu Anklagen gekommen ist, darunter 239 Ahmadis; insgesamt wurden im Zeitraum 1984 bis 2004 über 5.000 Anklagen gegen Ahmadis mit einem religiösen Hintergrund erhoben. Im Juni 2011 waren mindestens 14 Verfahren gegen Ahmadis anhängig gewesen, in denen (nicht rechtskräftig) die Todesstrafe verhängt worden war (Ziff. 19.39). Nach vermutlich anderen Quellen sind von 1984 bzw. 1987 bis 2011 1.117 Personen wegen Blasphemie angeklagt worden (Ziff. 19.50). Allerdings ist es bislang zu keinen Todesurteilen gekommen, die auch in letzter Instanz bestätigt worden wären (Ziff. 19.134 ff.). Weitere aussagekräftige Informationen über die Zahl rechtskräftiger Verurteilungen liegen dem Senat nicht vor. Die Beklagte hat solche auch nicht mitgeteilt bzw. aufgezeigt, wie noch verlässliche Informationen zu erlangen sein könnten.
88 
Bei Rashid (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 und 28 f.) finden sich folgende Zahlen: Seit 1984 wurden 764 Ahmadis angeklagt, weil sie die Kalima gezeigt bzw. gelesen hatten, 38 wurden wegen der Verwendung des Gebetsrufs angeklagt; 434 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich als Muslim bezeichnet hatten, 161 Ahmadis wurden angeklagt, weil sie sich islamischer Terminologie in der Öffentlichkeit bedient hatten; 93 Anklagen bezogen sich auf das Verrichten von Gebeten in der Öffentlichkeit und 719 Anklagen wurden wegen öffentlichen Predigens und Werbens für den Glauben erhoben. Auch bei Rashid werden die Verfahren gegen 60.000 Ahmadis aus Rabwah erwähnt. Insbesondere erwähnt Rashid, dass allein im Jahre 2009 mindestens 74 Ahmadis eines Deliktes nach Sec. 295 C Penal Code beschuldigt worden seien.
89 
Mit Blick auf die grundsätzlich vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Relationsbetrachtung (Rdn. 33) ist in diesem Zusammenhang allerdings zu bemerken, dass nicht alle vorgenannten Verfahren notwendigerweise und uneingeschränkt Glaubensbetätigungen betreffen müssen, die gerade in der Öffentlichkeit stattfinden. Diese Annahme liegt deshalb nahe, weil etwa falsche Verdächtigungen und Anschuldigungen (vgl. hierzu auch unten d) auch andere Hintergründe und Vorwürfe zum Inhalt haben können. Diese Zahlen sind daher von ihrer Struktur wenig geeignet, als Grundlage der Relationsbetrachtung zu dienen. Der Senat sieht aber auch hier keinen konkreten erfolgversprechenden Ermittlungsansatz, wie der Anteil verlässlich festzustellen sein sollte, der spezifisch Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit betrifft, und zum anderen, um wie viele Personen es sich dabei gehandelt haben könnte, für die ein öffentlichkeitswirksames Agieren zum identitätsbestimmenden und unverzichtbaren Merkmal des eigenen Glaubensverständnisses zählt.
90 
d) Faire Gerichtsverfahren sind, v.a. in erster Instanz, oftmals nicht garantiert, weil den Gerichtsorganen die erforderliche Neutralität fehlt, wobei dies nicht zuletzt auch darauf beruht, dass sie häufig durch örtliche Machthaber oder islamistische Extremisten unter Druck gesetzt werden oder aber in hohem Maße korrupt sind (vgl. AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 14; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.59 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 15 ff., und 2012, S. 17 ff.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2). In der Regel werden die eines Verstoßes gegen die Blasphemiebestimmungen Beschuldigten bis zum Abschluss des Verfahrens nicht gegen Kaution freigelassen (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.53; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing The International Protection Needs of Members of Religious Minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 6). Dieser Umstand ist vor allem auch deshalb so gravierend, weil Folter auf Polizeistationen und in Haft an der Tagesordnung ist (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 23; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2011, S. 6; Asia Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 21 ff.). Die Haftbedingungen werden als teilweise sogar lebensbedrohend bezeichnet (vgl. SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 4 f.; United States Departement of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2012, S. 9). Anwälte von Betroffenen werden gleichfalls häufig von privater Seite eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Die Bestimmung der Sec. 295 C wird nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Pakistan auch keineswegs restriktiv verstanden und ausgelegt. Nach dem Urteil des Lahore High Court vom 17.09.1991 (bestätigt durch Urteil des Supreme Court vom 03.07.1993), mit dem ein Verbot der 100-Jahr-Feiern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft gebilligt wurde, stellt das Rezitieren der Glaubensformel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet“ durch einen Ahmadi nicht nur ein strafbares „Sich-Ausgeben“ als Muslim im Sinne von Sec. 298 C dar, sondern eine Lästerung des Namens des Propheten im Sinne von Sec. 295 C (vgl. hierzu im Einzelnen schon HessVGH, U. v. 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - juris - Tz. 46 und 69). Generell werden alle genannten Vorschriften wegen ihrer begrifflichen Unbestimmtheit bzw. der schwammigen Formulierungen weit und zulasten der Ahmadis ausgelegt und angewendet. Sie sind daher ein (offenes) Einfallstor für blanke Willkür. So kommt es etwa zu Anklagen gegen Eltern, wenn sie ihre Kinder Mohammed nennen (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.103; vgl. auch Ziffer 19.139).
91 
Die Strafvorschriften werden dabei nicht selten auch gezielt genutzt, um – auch aus eigensüchtigen Motiven – Ahmadis mit falschen Anschuldigungen unter Druck zu setzen und zu terrorisieren (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.57 f.; SFH, Pakistan: Justizsystem und Haftbedingungen, vom 05.05.2010, S. 2; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 15). Die Anzeigeerstatter laufen dabei keine Gefahr, wegen falscher Anschuldigung verfolgt zu werden. Eine Anzeige kann zudem erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien haben. So wurden zwischen 1986 bis 2010 34 Personen, die nach den Blasphemiegesetzen angeklagt worden waren, von privaten Akteuren umgebracht; im Jahre 2010 wurden allein vier Personen (zwei Christen und zwei Muslime) getötet (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47); auch die Familien werden in Drohungen und Einschüchterungen einbezogen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.47 und 19.52; AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12). In diesem Zusammenhang ist etwa die radikal-islamische Gruppierung „Khatm-e-Nabuwwat“ („Siegel der Prophetenschaft“) zu erwähnen, die u.a. mit diesen Mitteln gezielt und völlig ungestraft gegen Ahmadis vorgeht (vgl. auch AA, Lagebericht 02.11.2012, S. 14; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 13 ff.; vgl. zu der Organisation noch im Folgenden unter Ziff. 2.g). Zwar hat die Gruppierung in der Vergangenheit etwa gegenüber der „Parliamentary Human Rights Group“ (vgl. S. 8 f.) den Versuch unternommen, ihr Verhältnis zu den Ahmadis und ihre Vorgehensweise diesen gegenüber als wesentlich offener und zurückhaltender darzustellen. Bereits zum damaligen Zeitpunkt hatte dem aber etwa der Präsident von amnesty international Pakistan deutlich widersprochen (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8). Durch die neueren Entwicklungen sind diese Aussagen der Gruppierung ohnehin eindeutig überholt bzw. widerlegt (vgl. unten Ziffer 2 g; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013).
92 
Die Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen die Blasphemiebestimmungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinziehen und zu keinem Ende gebracht werden, was einschneidende Folgen für die Betroffenen hat, selbst wenn sie sich in Freiheit befinden. Denn sie müssen sich in der Regel alle 15 bis 30 Tage bei der ermittelnden Polizeistation, die sich oftmals nicht an ihrem Wohnort befindet, melden, auch wenn das Verfahren gar nicht konkret gefördert wird (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 12 f.).
93 
Demgegenüber werden Strafbestimmungen, die den Schutz der religiösen Gefühle aller Religionen, somit auch der Minderheitsreligionen, gewährleisten sollen (vgl. Sec. 295 und 295 A), in der Rechtswirklichkeit nicht oder selten angewandt, wenn religiöse Gefühle der Ahmadis und anderer religiöser Minderheiten durch Angehörige der Mehrheitsreligion verletzt worden sind (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 3; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.33).
94 
Der Versuch einer Reform der Blasphemiegesetze ist vollständig gescheitert, insbesondere im Kontext der Ermordung des Gouverneurs von Punjab und des Minsters für Minderheiten im Jahre 2011 (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.76; UNHCHR, Guidelines, S.11 f.; Human Rights Commission of Pakistan, State of Human Rights in 2011, March 2012, S. 82 und 89 f.; vgl. auch Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 29 f., mit Hinweisen auf öffentliche Äußerungen des pakistanischen Ministers Babar Awan sowie des Premierministers Gilani aus Anlass der Verurteilung der christlichen Frau Asia Bibi). Eine Änderung zum Positiven ist auch mit Rücksicht auf das Ergebnis der Präsidentenwahlen im Mai diesen Jahres, die der Vorsitzende der Muslimliga Nawaz Sharif gewonnen hat, nicht zu erwarten.
95 
Eine im Jahre 2004 eingeführte Reformmaßnahme, wonach nur höhere Offiziere die Ermittlungen führen dürfen, hat nach übereinstimmender Einschätzung keine Verbesserungen gebracht (AA, Lagebericht vom 02.12.2012, S. 12; UNHCR, Guidelines, S. 15).
96 
In den verwerteten Dokumenten wird auch von einem völligen Scheitern und Versagen der Strafjustiz und der Strafverfolgungsorgane gesprochen (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.42 f.; UNHCR, Guidelines, S. 6; Parlamentary Human Rights Group (PHRG), Report of PHRG Fact Finding Mission To Pakistan, 24.09.2010, S. 9 f.).
97 
Zwar wurde im September 2008 eine Kommission für Angelegenheiten der Minderheiten installiert (vgl. UNHCR, „Guidelines“, S. 4). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass diese irgendwelche substantiellen Verbesserungen gebracht hat (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.29; vgl. hierzu auch Upper Tribunal Urteil vom 14.11.2012, S. 15; vgl. auch U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, S. 121 f., wonach zwar von einigen positiven Schritten in jüngster Zeit berichtet wird, die die pakistanische Regierung an höchster Stelle unternommen haben soll, von wirkungsvollen Ergebnissen, insbesondere für das tägliche Leben landesweit, spricht der Report jedoch nicht; es liegt dem Senat auch keine andere Quelle vor, die diesbezüglich verwertbare Informationen enthielte).
98 
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser rechtliche Rahmen und seine faktische Umsetzung in der Metropole der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft Rabwah keine Gültigkeit haben sollte, was exemplarisch durch die in den Jahren 1998 und 2008 gegen alle Einwohner eingeleiteten Verfahren deutlich wird (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff.19.132 ff.). Abgesehen davon ist nichts dafür ersichtlich, dass alle im Geltungsbereich der Qualifikationsrichtlinie schutzsuchenden gläubigen Ahmadis dort einen zumutbaren internen Schutz im Sinne von Art. 8 QRL finden könnte, zumal auch dort keine Sicherheit vor Übergriffen durch radikale Muslime bestehen dürfte (vgl. hierzu im Einzelnen unten Ziff. 3.b).
99 
e) Den Ahmadis ist es seit 1983 oder 1984 untersagt, öffentliche Versammlungen bzw. religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 4, und von 2011, S. 14; U.S. State Department: Human Rights Report Pakistan for 2012, S. 30; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.143; Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 32). Das gilt insbesondere für die nach ihrem gelebten Glaubensverständnis essentielle jährliche Versammlung („Jalsa Salana“), die letztmals 1983 stattfinden konnte und an der damals 200.000 Gläubige teilnahmen (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jalsa_Salana).
100 
Allerdings wird es Ahmadis nicht von vornherein unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln, selbst wenn dies sicherlich oftmals der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben wird (vgl. schon AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 16; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan von 2011, S. 4), jedenfalls wird dies im Grundsatz faktisch hingenommen (vgl. auch Upper Tribunal, Urteil vom 14.11.2012, S. 18). Möglich ist dieses aber nur noch in kleineren Gebetshäusern, die einen eingeschränkten Bezug zur Öffentlichkeit haben (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Angeben von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, wonach an Stelle der früheren, 18.000 bis 19.000 Gläubige fassenden Moschee in Rabwah mittlerweile viele kleine Gebetshäuser entstanden sind; vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Gefahrlos ist dieses aber auch nicht. Denn die gemeinsame Ausübung des Glaubens wird immer wieder dadurch behindert bzw. unmöglich gemacht, dass Gebetshäuser aus willkürlichen Gründen geschlossen werden bzw. deren Errichtung verhindert wird oder solche auch von staatlichen Organen zerstört werden (vgl. etwa Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.132, 19.141 ff., 154; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 4 und 13 ff.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3), während gleichzeitig orthodoxe Sunniten ungehindert an der gleichen Stelle ohne jede Genehmigung eine Moschee errichten können; Gebetshäuser oder Versammlungsstätten werden immer wieder von Extremisten überfallen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan,10.09.2007, S. 5, 7 und 10 f.). Gleichwohl geht der Senat in Ermangelung gegenteiliger aussagekräftiger Informationen davon aus, dass Angehörige der Ahmadiyya, die nur derartige Glaubensbetätigungen an den Tag legen und für sich als verbindlich betrachten, damit noch kein „real risk“ eingehen, (von wem auch immer) verfolgt zu werden. Die vom Kläger benannten Fälle, in denen in diesem Jahr auch Verfahren wegen einer Versammlung in (kleineren) Gebetshäusern eingeleitet wurden, stellen diese Annahme nicht grundsätzlich infrage. Anhaltspunkte für die gegenteilige Annahme lassen sich insbesondere auch nicht der Aussage von Herrn Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013 entnehmen (vgl. auch die Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Insbesondere ergibt sich aus der Aussage nicht, dass auch diese Personen ihre Aktivitäten vollständig eingestellt haben und etwa die Ahmadi-Gemeinden in Pakistan gewissermaßen nur noch auf dem Papier existieren würden. Im Gegenteil: Allen verwerteten Erkenntnismitteln wie auch den Angaben von Herrn Khan liegt nach Überzeugung des Senats – wenn auch mehr oder weniger unausgesprochen – zugrunde, dass es noch ein, wenn auch eingeschränktes, lokales Gemeindeleben gibt. Treffen in großem Stil zu in erheblichem Maße identitätsstiftenden gemeinsamen Gebeten in ihren großen Moscheen, die die Ahmadis jedoch nicht so nennen dürfen, finden hingegen nicht mehr statt (vgl. die Aussage von Khan vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart am 13.03.2013). Allerdings ist der Umstand, dass heute auch das gemeinsame Gebet abseits der großen Öffentlichkeit immer wieder behindert und gestört wird bzw. Auslöser für Strafverfahren und Übergriffe privater Akteure sein kann, für die gerichtlicherseits vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 34 ff.) gleichwohl nicht irrelevant, da sie die Lage auch der bekennenden, ihren Glauben in die Öffentlichkeit tragenden Ahmadis mit prägen.
101 
Im Gegensatz zu anderen Minderheitsreligionen ist den Ahmadis jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt in die eigene Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt und wird auch regelmäßig strafrechtlich verfolgt (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 7). In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass sich die Ahmadis als „predigende Religion” verstehen, zu deren sittlichen Verpflichtung es rechnet, den Glauben zu verbreiten und zu verkünden (vgl. Report of the Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 16).
102 
Den Ahmadis ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt nach Mekka verboten, wenn sie dabei als Ahmadis auftreten bzw. sich zu erkennen geben (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan for 2011, S. 14).
103 
Literatur und andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalten von Ahmadis im weitesten Sinn werden regelmäßig beschlagnahmt und verboten; allerdings finden Publikationen in internen Kreisen durchaus noch Verbreitung (U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 3 und 4 und von 2011, S. 7 und 13 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 30 ff.; vgl. zur Zeitung „Alfzal“ auch Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 37, mit einer Kopie der Verbotsverfügung des Innenministers von Pakistan vom 08.05.2006 und S. 49 f.).
104 
Die Ahmadyyia Gemeinde ist die einzige Gruppe, der ihre im Jahre 1972 verstaatlichten Bildungseinrichtungen (seit 1996) nicht zurückgegeben wurden (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 13 f.)
105 
f) Nur der Vollständigkeit halber soll zur Abrundung des Gesamteindrucks noch auf folgenden Umstand hingewiesen werden: Die frühere (überdurchschnittliche) Repräsentanz von Ahmadis im öffentlichen Dienst sinkt seit Jahren bedingt durch eine zunehmende Diskriminierung bei Einstellungen und Beförderungen ständig (vgl. AA, Lagebericht vom 18.05.2007, S. 17; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148 f. und 19.164; U.S. Department of State, Pakistan, International Religious Freedom Report for 2011, S. 5 und 15 f.; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 10; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 3 f.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6). Desgleichen wird von weit verbreiteten Diskriminierungen beim Zugang zum öffentlichen Bildungswesen und in demselben berichtet (Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 119; Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.65, vom 07.12.2012, Ziff. 19.123, 19.142, 19.148, 19.149, 19.164; Immigration and Refugee Board of Canada, S. 3).
106 
g) Ahmadis sind seit Jahren und in besonders auffälligem Maße Opfer religiös motivierter Gewalttaten, die aus der Mitte der Mehrheitsbevölkerung von religiösen Extremisten begangen werden, ohne dass die Polizeiorgane hiergegen effektiven Schutz gewähren würden; in nicht wenigen Fällen haben auch Angehörige der Polizei unmittelbar derartige Aktionen mit unterstützt, zumindest aber diesen bewusst untätig zugesehen und sie geschehen lassen (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, 11.03.2008, S. 17 f.; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 10.09.2007, S. 6 f. und 10 f.; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, 119; Human Rights Commission of Pakistan, 01.02.2006, S. 124 mit Beispielen; OSAR – SFH, Pakistan: Situation des minorité religieuses, 31.08.2009, S. 9 f.; Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 2 und 4). Dabei wurden in jüngster Vergangenheit auch gezielt Häuser und Geschäfte von Ahmadis niedergebrannt (Immigration and Refugee Board of Canada vom 11.01.2013, S. 4). Dies gilt selbst für ihre „Metropole“ Rabwah. Diese bereits für frühere Zeiträume beschriebene Situation hat sich mittlerweile erheblich verschärft. Es wird übereinstimmend ein vorherrschendes Klima von privaten Akteuren verursachter Gewalt beschrieben, wobei die Gewaltakte bzw. die Aufrufe hierzu regelmäßig sowohl in ordnungsrechtlicher wie erst recht in strafrechtlicher Hinsicht für die Urheber folgenlos bleiben. Es werden regelmäßig regelrechte Hasskampagnen, insbesondere auch Versammlungen und Kundgebungen durchgeführt, auf denen gegen die Ahmadis gehetzt wird und die Besucher aufgewiegelt werden (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.127 f., und sehr ausführlich und anschaulich „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“, S. 2 ff.). Die Wirkungsmächtigkeit der Aktivitäten der maßgeblichen Organisationen sowie einer Vielzahl radikaler Mullahs beruht zu einem guten Teil auf dem Umstand, dass weite Teile der Bevölkerung ungebildet, wenn nicht gar des Schreibens und Lesens nicht mächtig und daher leicht beeinflussbar sind und vor allem das glauben, was sie in den Moscheen hören (Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6).
107 
Effektiver Schutz ist regelmäßig nicht zu erlangen (vgl. etwa UNHCR, Guidelines, S. 22; Parliamantary Human Rights Group (PHRG), Fact Finding Mission To Pakistan, S. 3; vgl. beispielhaft zur offensichtlich fehlenden Bereitschaft, den erforderlichen Schutz zu gewähren Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 19, 24 f. und 33 f.). Besonders tut sich in diesem Zusammenhang die Organisation „Khatm-e-Nabuwwat“ hervor (vgl. ausführlich hierzu Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.112 bis 19.119; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 8 f.), aber auch die Taliban werden als Urheber benannt (vgl. Rahsid, Pakistan’s failed Commitment, S. 31 ff.). Exemplarisch ist ein Vorfall vom 28.05.2010 anzuführen, bei dem Extremisten der „Khatm-e-Nabuwwat“ anlässlich des Freitagsgebets in Lahore gut koordinierte Angreifer vor zwei Ahmadi-Moscheen „Kill-all“-Rufe skandieren und schließlich die Moscheen stürmen ließen; am Ende wurden 85 Ahmadis getötet und 150 weitere verletzt (Ziff. 19.125; vgl. zum Angriff auf eine Moschee in Rawalpindi am 02.02.2012, Ziff. 19.154). Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass die Organisation mit einem Schwerpunkt auch in Rabwah tätig wird (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.114 f.).
108 
Insgesamt vermittelt die Zusammenstellung des Home Office (Ziff. 19.112 bis 19.147) ein gutes und informatives, aber auch äußerst bedrückendes Bild. Seit 1974 wurden fast 300 Ahmadis allein wegen ihres Glaubens von nicht staatlichen Akteuren getötet. Im Jahre 2010 waren es allein 99. Wie schon erwähnt (vgl. oben IV 1), sind aber verlässliche und aussagekräftige Zahlen nicht zu ermitteln (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.162). Im Hinblick auf die anzustellende Relationsbetrachtung (vgl. hierzu unten Ziffer 3 a) ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Zusammenhang mit der Benennung der Zahlen nicht zum Ausdruck gebracht wird, wie hoch der Anteil der Betroffenen ist, der die Glaubensbestätigung in der Öffentlichkeit als einen identitätsbestimmenden Teil ihres Glaubens betrachtet. Eine Durchsicht der Zusammenstellung „Persecution of Ahmadis in Pakistan during the Year 2011“ (S. 23 ff.) zeigt dies nur zu deutlich; teilweise lässt sich nicht bestimmen, ob der oder die Betreffende dieses Merkmal erfüllt oder nicht. Über das Ausmaß (nur) schwerer nicht tödlich endender Eingriffe in die körperliche Integrität liegen überhaupt keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. auch Stellungnahme des Ahmadiyya Muslim Jamaat vom 06.06.2013). Diese Eingriffe und ihr Ausmaß sind aber für die Beurteilung bzw. Qualifizierung des Bedrohungspotentials gleichfalls von erheblicher Relevanz, da sie – neben den staatlichen Verboten und strafrechtlichen Sanktionen - ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung sein können, ob jemand seinen Glauben aktiv in die Öffentlichkeit trägt oder dieses unterlässt.
109 
Nicht speziell in Bezug auf Ahmadis berichtet Rashid zu Todesfällen aufgrund religiös motivierter Gewalt: 2007 seien es über 1.500 gewesen, im Jahre 2008 2.155, im Jahre 2009 über 2.300. Im Jahre 2010 sei die Zahl zwar auf 1.796 zurückgegangen, um dann aber im Jahre 2011 wiederum auf mindestens 2.545 Fälle zu steigen (vgl. Pakistan’s failed Commitment, S. 24 f., dort auch zu Zahlen von Todesopfern unter den Minderheiten der Christen und Hindus; vgl. auch Asian Human Rights Commission, The State of Human Rights in Pakistan in 2012, S. 8, wonach in den letzten drei Jahren über 800 Shia Muslime (Schiiten) durch religiöse Gewalt getötet worden seien, ohne dass staatliche Organe irgendwelche glaubwürdigen Gegenmaßnahmen ergriffen hätten; vgl. hierzu auch U.S. Department of State, International Religious Freedom Report Pakistan, 2012, S. 124). Die sanktionslosen Gewaltexzesse gehen sogar so weit, dass etwa im Juni 2006 ein ganzer von Ahmadis bewohnter Teil eines Dorfes (Jhando Sahi) niedergemacht und zerstört wurde, ohne dass dieses Konsequenzen nach sich gezogen hätte (vgl. Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 18 und 45 ff.). Andere Quellen sprechen davon, dass nachweisbar 210 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet worden seien; zudem weiß man hiernach von 254 entsprechenden Mordversuchen zu berichten (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.131). In diesen Zahlen dürften die Opfer des Anschlags vom 28.05.2010 in Lahore (siehe oben) allerdings noch nicht enthalten sein.
110 
Dieses Bild der Schutzlosigkeit der Ahmadis wird ergänzt durch die seit 2011 zunehmenden Berichte von Schändungen von Ahmadi-Gräbern im gesamten Punjab (vgl. Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012, Ziff. 19.156). Zudem schwenken in jüngerer Zeit die Medien, nicht nur das staatliche Fernsehen, sondern auch die traditionell eigentlich eher liberale englischsprachige Presse auf die Anti-Ahmadi-Rhetorik ein. Dies hat zur Folge, dass sich die Auffassung, Ahmadis folgten einer Irrlehre und seien keine Muslime bzw. Apostaten, in der Mehrheitsbevölkerung allgemein durchzusetzen und zum Allgemeingut zu werden beginnt, was zu einer weiteren Verschärfung der allgegenwärtigen Diskriminierungen der Ahmadis führt (Ziff. 19.150). Die Parliamentary Human Rights Group prognostiziert, dass Pakistan – nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf seinen Umgang mit den Ahmadis - dabei sei, zu einem „failed state“ zu verkommen (vgl. S. 3). Nach Überzeugung des Senats sind die Ahmadis mittlerweile in eine Situation geraten, in der sie mit guten Gründen im traditionellen mittelalterlichen Sinn als „vogelfrei“ bezeichnet werden können. Dies gilt im Ausgangspunkt für alle „bekennenden“ Ahmadis, auch wenn sie ihren Glauben nicht bekennend und für ihn werbend bewusst in die Öffentlichkeit tragen (wollen). Für den Senat bestehen aber, wie bereits eingangs ausgeführt, keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass für jeden Angehörigen dieser Gruppe bereits ein „reales Risiko“ besteht.
111 
Typisch für das Klima der Gewalt ist etwa eine Äußerung des früheren Ministers für Religionsangelegenheiten Amir Liaquat Hussain, die dieser ungestraft im Jahre 2008 in einer beliebten Fernsehshow gemacht hatte, wonach es sowohl notwendig sei, aber auch dem Islam entspreche, alle Ahmadis zu töten (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 23). Im Dezember 2010 konnte ein einflussreicher Kleriker, Yousef Qureshi, 6.000 US Dollar für die Ermordung der Christin Asia Bibi ausloben, ohne dass dieses irgendwelche Konsequenzen für ihn hatte. Nach der Ermordung des Gouverneurs der Provinz Punjab, der sich für eine Reform der Blasphemiegesetze stark gemacht hatte, am 03.01.2011, wurde dessen Tod richtiggehend gefeiert. Dabei konnten ungestraft 500 Kleriker öffentlich verkünden, dass dessen Tod ein Sieg für das gesamte Land sei (vgl. Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 30).
112 
Von der Parlamantary Human Rights Group wird – gut nachvollziehbar – bereits bezogen auf das Jahr 2006 die Lage so eingeschätzt, dass der gesamte Prozess der Regierung nicht mehr umkehrbar entglitten ist und sie gewissermaßen die Geister, die sie rief, nicht mehr in los wird (vgl. Januar 2007, S. 8).
113 
3. a) Die so beschriebene Situation der Ahmadis in Pakistan, die von der „Fédération Internationale des Droits Humaines“ (FIDH) schon im Jahre 2005 und somit vor der mittlerweile stattgefundenen und weiter stattfindenden Verschärfung der Lage in der Weise zusammenfassend charakterisiert worden war, dass „die Ahmadis wohl die einzige der am meisten betroffenen Gruppen sei, bei der die Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit nahezu umfassend sei“ (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.56), stellte und stellt nunmehr umso mehr für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen identitätsbestimmender Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und ihn in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL dar. Der Präsident von amnesty international Pakistan wurde dahingehend zitiert, die Ahmadis seien die am meisten unterdrückte Gruppe in Pakistan, was er nicht zuletzt darauf zurückführe, dass es niemanden gebe, der sich für diese wirkungsvoll einsetze und den erforderlichen Druck ausübe (zitiert nach Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.63 a. E.; vgl. aber zur gleichfalls prekären, durch Marginalisierung und Armut geprägten und sich zunehmend verschlechternden Lage der Christen U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2012, 121 ff., 125 f.; UNHCR, Guidelines, S. 25 ff.)
114 
Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Lage der Ahmadis durch den Senat ist dabei das gegen sie gerichtete verfassungsunmittelbare Verbot, sich als Muslime zu begreifen bzw. zu verstehen und dieses Verständnis in vielfältiger Weise insoweit auch in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. b) QRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle oben beschriebenen weiteren Verbote, insbesondere soweit sie auch strafbewehrt sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. c) QRL), ab. Dieses Verbot und seine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn namentlich jegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedliches Missionieren nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind. Diese Verbote sind auch eine wesentliche ideologische Absicherung und Grundlage für das zunehmend aggressiv werdende Handeln privater Akteure gegenüber Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Ahmadis. Die Blasphemiegesetze werden von Human Rights Watch Asia als ein wesentlicher Nährboden für die zunehmende extremistische und religiös begründete Gewalt beschrieben und bewertet (so Rashid, Pakistan’s failed Commitment, S. 16 f.; vgl. auch ders. S. 9 mit dem Hinweis, dass eine weitere Ursache der Gewalt jedenfalls gegenüber den Ahmadis darin zu erblicken sei, dass es diese konsequent und einschränkungslos ablehnen, den Islam mit Gewalt zu verbreiten; vgl. auch Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 6 und 9 die zusätzlich darauf hinweist, dass in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung die Ansicht weit verbreitet ist, die Ahmadiyya Bewegung sei ein Produkt der britischen Kolonisatoren, um die Muslime zu spalten). Die Kehrseite von alledem ist dann, dass auch der solchermaßen erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 QRL darstellt und die selbst auf Eingriffshandlungen zurückzuführen ist, die ihrer Art und Wiederholung nach keine gleichartigen Eingriffshandlungen ausmachen (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12, Rdn. 37). Denn bezogen auf das jeweilige betroffene Subjekt ist gewissermaßen in erster Linie das Ergebnis bzw. der Erfolg relevant, nämlich den Glauben nicht mehr öffentlichkeitswirksam in zumutbarer Weise auszuüben oder ausüben zu können. Eine Unterscheidung zwischen einem durch staatliche Maßnahmen induzierten Verzicht (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. a) QRL) und einem solchen, der auf das Handeln nicht staatlicher Akteure zurückgeht ist (vgl. dann Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL), ist dabei nicht möglich und wäre völlig lebensfremd. Sie würde namentlich an der Realität in Pakistan vorbeigehen. Die Beweggründe für einen bekennenden Ahmadi, entgegen seinem verpflichtenden Glaubensverständnis den Glauben gleichwohl nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, können und werden notwendigerweise nicht eindimensional sein.
115 
Bei diesem Ausgangspunkt kann für die bei einem – wie hier – unverfolgt ausgereisten Ahmadi, der glaubhaft erklärt hat, er werde im Falle der Rückkehr aus Furcht seinen Glauben nicht öffentlich bekennen bzw. für ihn werben, anzustellende Verfolgungsprognose nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob die bislang bzw. gegenwärtig festgestellten Verurteilungen bzw. Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt der Verfolgungsdichte die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gruppenverfolgung bezogen auf den hier zu betrachtenden Personenkreis rechtfertigen würden. Geht man von deutlich mehr als 60.000 eingeleiteten Strafverfahren (zuzüglich der im Jahre 1989 gegen die Bewohner Rabwahs eingeleiteten Verfahren, deren Zahl nicht bekannt ist) in einem Zeitraum von knapp dreißig Jahren aus, so darf allerdings nicht unterstellt werden, dass jedes dieser Verfahren schon mit einem relevanten Verfolgungseingriff verbunden war (vgl. hierzu auch oben 2 c). Daher erscheint auf den ersten Blick dann eine darunter liegende Zahl eher zu gering und nicht geeignet zu sein, eine ausreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Hiermit kann es aber nicht sein Bewenden haben. Hinzugezählt werden müssen, wie bereits erwähnt, nämlich die vielfältigen und unzweifelhaft zahlreichen, strafrechtlich bzw. ordnungsrechtlich nicht geahndeten Verfolgungsakte privater Akteure, die das tägliche Leben eines gläubigen und in der Öffentlichkeit bekennenden Ahmadi unmittelbar in sicherheitsrelevanter Weise berühren, wenn nicht gar prägen und in dieses eingreifen, wobei allerdings, wie bereits ausgeführt, die Eingriffe seriös und belastbar nicht quantifiziert werden können. Entgegen dem in Rdn. 33 des Revisionsurteils vermittelten Eindruck kann bei der Relationsbeurteilung auch nicht allein darauf abgestellt werden, in wie viel Fällen Strafverfahren eingeleitet und durchgeführt wurden bzw. werden. Denn das erzwungene Schweigen der hier interessierenden Personengruppe, das den relevanten Verfolgungseingriff darstellen kann, beruht, wie bereits ausgeführt, auch, wenn nicht gar überwiegend, auf den gewalttätigen, Leib und Leben gefährdenden bzw. sogar verletzenden Handlungen privater Akteure, die ungehindert und ungestraft vorgehen können und die damit nach Art. 6 lit. c) QRL flüchtlingsrechtlich relevant sind. Wollte man diesen Faktor unberücksichtigt lassen, würde ein völlig falsches Bild von der Situation der Ahmadis und deren Motivationslage gewonnen. Der Senat sieht sich nicht durch § 144 Abs. 6 VwGO gehindert, im Kontext der Relationsbetrachtung eine (unerlässliche) Ergänzung um diesen Gesichtspunkt vorzunehmen, weil er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Ausführungen unter Rdn. 25 des Revisionsurteils - nicht zu erkennen vermag, dass die Vorgaben des Revisionsurteils an dieser Stelle abschließenden Charakter haben. Wenn das Bundesverwaltungsgericht dort davon spricht, dass die vom Europäischen Gerichtshof angesprochene Verfolgung eine strafrechtlich relevante sein müsse, so wird diese Interpretation zwar vom Kläger infrage gestellt, gleichwohl sprechen aus der Sicht des Senats die besseren Gründe für die Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar führt dieses dann dazu, dass die Verfolgungshandlungen der strafrechtlichen Verfolgung wie auch der Bestrafung nur solche sein können, die von staatlichen Akteuren ausgehen. Dieses gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die ohne weiteres auch nicht staatlichen Akteuren zugeordnet werden kann. Leibes- und lebensbedrohende Übergriffe privater Akteure auf einen Andersgläubigen sind aber zwanglos als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu begreifen.
116 
Aus allen vorliegenden Informationen kann nach Überzeugung des Senats auch der hinreichend verlässliche Schluss gezogen werden, dass für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko besteht, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen (würden). Denn bei dieser wertenden Betrachtung ist auch das erhebliche Risiko für Leib und Leben - insbesondere einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure - zu berücksichtigen, sodass an den Nachweis der Verfolgungswahrscheinlichkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es entspricht der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auch schon dann vorliegen kann, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für die Realisierung eines Verfolgungseingriffs besteht. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise eher nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er sein Heimatstaat verlassen soll oder in dieses zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber - wie im Falle der Ahmadi in Pakistan - jahrelange Haft, Folter oder gar Todesstrafe oder Tod oder schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit seitens Dritter riskiert (BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162; vgl. nunmehr auch Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - Rdn. 32). Handelt es sich demnach um einen aktiv bekennenden Ahmadi, für den die öffentliche Glaubensbetätigung zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, muss landesweit von einem realen Verfolgungsrisiko ausgegangen werden.
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Selbst wenn man realistischer Weise nicht der Einschätzung des vom Verwaltungsgericht Stuttgart am 12.03.2013 vernommenen Herr Khan folgt, dass es etwa 400.000 bekennende Ahmadis in Pakistan gebe und im Wesentlichen alle aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen auf eine öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigung verzichten und nicht etwa teilweise auch aus Opportunität, weil sie letztlich doch nicht so eng dem Glauben verbunden sind bzw. weil für sie der spezifische Öffentlichkeitsbezug nicht Teil ihres bestimmenden religiösen Selbstverständnisses ist, so kann doch nicht von der Hand gewiesen werden, dass es angesichts der angedrohten erheblichen, ja drakonischen Strafen sowie der zahlreichen nicht enden wollenden ungehinderten, lebens- und leibesbedrohenden Übergriffe extremistischer Gruppen für viele gläubige Ahmadis der gesunde Menschenverstand nahelegen, wenn nicht gar gebieten wird, öffentlichkeitswirksame Glaubensbetätigungen zu unterlassen bzw. äußerst zu beschränken, insbesondere jedes öffentliche werbende Verbreiten des eigenen Glaubens. Da die öffentliche Glaubensbetätigung für viele Ahmadis (nach ihrem Selbstverständnis gerade auch als Teil der Gemeinschaft der Muslime) als unverzichtbarer Teil des Menschenrechts auf freie Religionsausübung verstanden werden muss, kann auch nicht eingewandt werden, das gegenwärtige festzustellende weitgehende Schweigen in der Öffentlichkeit sei nur Ausdruck eines latenten flüchtlingsrechtlich irrelevanten und daher hinzunehmenden Anpassungsdrucks. Diese seit nunmehr weit über nahezu 30 Jahre währenden rechtlichen und sozialen Gesamtumstände und -bedingungen der Glaubenspraxis werden auch einen nicht unwesentlichen Faktor für die festgestellte Stagnation der gesamten Ahmadiyya-Bewegung ausmachen. Eine verlässliche Zahl derer, die aus Furcht vor staatlichen und/oder privaten Eingriffen auf eine Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit verzichten, ist in diesem Zusammenhang naturgemäß nicht zu ermitteln, da hierüber keine Aufzeichnungen gemacht und Statistiken geführt werden und es sich regelmäßig auch um innere Meinungsbildungsprozesse handeln wird.
118 
Allerdings sieht sich der Senat nicht in der Lage, eine besondere und zusätzliche Relationsbetrachtung (vgl. Rdn. 33 des Revisionsurteils), die der Absicherung der Einschätzung und zur Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, in quantitativer Hinsicht vollständig anzustellen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich der in diesem Zusammenhang einzusetzende Faktor der Zahl derjenigen Ahmadi, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, nicht annähernd zuverlässig ermitteln, woran die Relationsbetrachtung bereits scheitern muss, wobei ergänzend anzumerken ist, dass nach den einleuchtenden Ausführungen von Herrn Khan gegenüber dem VG Stuttgart alles dafür spricht, dass es eine relevante Anzahl überhaupt nicht mehr gibt. Diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten dürfen allerdings nicht zwangsläufig zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, gebietet es im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes der unionsrechtliche Grundsatz des „effet utile“, damit sein Bewenden haben zu lassen.
119 
Der Senat verwertet allerdings die von Herrn Khan beim Verwaltungsgericht Stuttgart gemachten Angaben, wonach grundsätzlich jeder Ahmadi, der heute auf öffentlichen Plätzen für seinen Glauben werben würde, damit zu rechnen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar erhebliche Nachteile zu erleiden (wie Gewaltanwendung staatlicher Organe oder privater Akteure, Strafverfahren und strafrechtliche Sanktionen), weshalb derartiges faktisch kaum mehr stattfindet. Da diese Einschätzung nach den oben gemachten Feststellungen ohne weiteres plausibel ist, sieht der Senat keinen Anlass an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln, auch wenn Herr Khan, der als Flüchtling anerkannt ist, sicherlich insoweit gewissermaßen „Partei“ ist, als er selber Ahmadi und unmittelbar den Institutionen der Glaubensgemeinschaft der Ahmadis in Deutschland verbunden ist. Nimmt man noch den von Herrn Khan geschilderten Gesichtspunkt hinzu, dass heute praktisch kein Ahmadi mehr in den großen Moscheen bzw. Gebetshäusern erscheint, um in Gemeinschaft mit anderen am öffentlichen Gebet teilzunehmen, sei es aus Furcht vor staatlichen Eingriffen, sei es (noch wahrscheinlicher) vor privaten Akteuren, so muss nach Überzeugung des Senats von einer (ausreichend) hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, dass ein Ahmadi, der sich nicht um Verbote etc. kümmert und gleichwohl in der Öffentlichkeit agiert, Opfer erheblicher Ein- und Übergriffe werden wird, und deshalb der Verzicht auf ein öffentlichkeitswirksames Glaubensbekenntnis in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Verboten und dem Verhalten privater feindlicher Akteure steht und maßgeblich hierauf beruht.
120 
Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt dann in jedem Fall eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL vor.
121 
b) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und ggfs. auch zu werben oder zu missionieren, steht kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe betrifft, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen. Gerade der Umstand, dass 1989 und 2008 Strafverfahren gegen alle Ahmadis in Rabwah eingeleitet worden waren, belegt dieses eindringlich. Was die Aktionen privater Akteure betrifft, geht die Einschätzung der Parliamentary Human Rights Group - PHRG - (Report of the PHRG Fact Finding Mission to Pakistan vom 24.10.2010, S. 2) und der von ihr angehörten Gewährspersonen dahin, dass eine ausreichende Sicherheit auch nicht in Rabwah besteht. Der Präsident von amnesty international von Pakistan wird dahin gehend zitiert, dass Ahmadis nirgends sicher seien, auch nicht in Rabwah, denn die Polizei würde auch den erforderlichen Schutz dort nicht gewähren, was er plausibel damit erklärt, dass die bereits erwähnte Gruppierung Khatm-e Nabuwwat einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Rabwah hat, wenn er auch nicht gänzlich in Abrede stellt, dass das Sicherheitsniveau dort etwas höher sei, besser wäre hier allerdings davon zu sprechen, dass das Unsicherheitsniveau etwas niedriger ist (vgl. zu alledem Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan, 07.02.2008, Ziff. 19.145 ff.; Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 20 ff. mit vielen Einzelaspekten). Die Situation wird – in erster Linie in Bezug auf nicht staatliche Akteure – auch so beschrieben, dass die Bedrohung von Ort zu Ort unterschiedlich ist und von Jahr zu Jahr wechselt (Home Office, Country of Origin Information Report Pakistan vom 07.12.2012 Ziff. 19.151). Ganz abgesehen davon ist für den Senat nicht ersichtlich, dass alle landesweit lebenden Ahmadis in Rabwah eine den Anforderungen des Art. 8 QRL genügende wirtschaftliche Existenz finden könnten (vgl. UNHCR, Guidelines, S. 43, und ausführlich zur wirtschaftlichen Situation in Rabwah Parliamentary Human Rights Group vom Januar 2007, S. 7 und 24 ff.).
122 
4. Gläubige Ahmadis hingegen, die nicht zu der oben beschriebenen Gruppe rechnen, weil für sie der Aspekt des aktiven Bekenntnisses in der Öffentlichkeit keine besondere Bedeutung hat, können hiernach nur dann von einem Verfolgungseingriff aufgrund einer kumulativen Betrachtungsweise nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) QRL betroffen sein, wenn nach den Verhältnissen in Pakistan diese Betroffenheit sich generell aufgrund sonstiger Diskriminierungen als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Von einer generellen Betroffenheit aller Mitglieder der Teilmenge der gläubigen, ihren Glauben auch (ohne direkten Öffentlichkeitsbezug) praktizierenden Ahmadi kann, was die die oben angesprochenen Diskriminierungen im Bildungswesen und beruflicher Art betrifft, noch nicht gesprochen werden. Hier kann sich allein im Einzelfall aus einer Gesamtschau eine ausreichende Schwere der Verletzung ergeben. Allerdings besteht eine generelle Betroffenheit insoweit, als sie sich nicht einmal als Moslems bezeichnen dürfen und die Finalität des Propheten Mohamed anerkennen müssen, was dann mittelbar eine gleichberechtigte Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten, wie dem Wahlrecht unmöglich macht. Da jedoch die eigentlich Glaubensbetätigung auch außerhalb des eigentlichen „forum internum“ – vorbehaltlich weiterer künftiger Verschärfungen insbesondere von Seiten privater Akteure – noch möglich ist, ohne dass dieses mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen führt, liegt nach Auffassung des Senats, obwohl diese Betätigungen keineswegs risikofrei sind, noch keine auf diese bezogene schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach der vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung verbindlich entwickelten Auslegung des Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
123 
Etwas anderes gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein solcher Ahmadi unmittelbar und konkret von einem staatlichen Verfolgungsakt betroffen ist, der an seine religiöse Überzeugung anknüpft (vgl. Art. 10 Abs. 2 QRL), der mit einem Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit (im engeren Sinn) verbunden ist; ebenso dann, wenn ein derartiger Eingriff von nicht staatlichen Akteuren ausgeht und die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 QRL nicht vorliegen, wovon aber nach vom Senat getroffenen Feststellungen (vgl. oben 2 g) auszugehen ist.
124 
V. Der Senat ist gleichfalls überzeugt, dass der Kläger seinem Glauben eng verbunden ist und diesen in der Vergangenheit sowie gegenwärtig in einer Weise praktiziert, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Pakistan auch unmittelbar von der vorbeschriebenen Situation und insbesondere den Einschränkungen für die öffentliche Ausübung seines Glaubens betroffen wäre. Er kann zunächst auf die Ausführungen im Urteil vom 13.12.2011 verweisen. An dieser Einschätzung ist auch nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung festzuhalten. Er hat – wenn auch mit einfachen Worten – dem Senat die Überzeugung vermittelt, dass das öffentliche und auch werbende Bekenntnis für seinen Glauben für ihn selbst von großer Bedeutung ist, er tatsächlich danach lebt und es ihn erheblich belasten würde, wenn er dieses aus Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen unterlassen müsste.
125 
Damit gehört der Kläger zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen und die von den oben geschilderten Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung in Pakistan individuell betroffen sind.
126 
VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
127 
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) liegt nicht vor.

Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder - bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen - durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt, aber klärungsbedürftig und über den zu entscheidenden Fall hinaus bedeutsam ist (st. Rspr., z. B. BayVGH, B. v. 25.2.2013 - 14 ZB 13.30023 - juris Rn. 2 m. w. N.; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36 ff. m. w. N.). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob „die Freiheit, die Religion zu wechseln, bereits dann beeinträchtigt wird und somit ein flüchtlingsrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit i. S. des § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 9 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/83/EG vorliegt, wenn der Betroffene durch die Rückkehr in den Heimatstaat gezwungen sein wird, den eingeschlagenen Weg der Glaubensüberzeugung und des Religionswechsels zum Christentum wieder umzukehren, da ihm ansonsten flüchtlingsrelevante Verfolgung droht“, bedarf keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren.

Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, wann ein asylrechtsrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG (jetzt: § 3 AsylVfG i. d. F. vom 2.9.2008, zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern vom 23.12.20142014, BGBl I S. 2439) i. V. m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG vorliegt (BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 26 ff.). Weiter geklärt ist, dass ein in Deutschland zum Christentum übergetretener Asylbewerber sich erst dann darauf berufen kann, wegen der Betätigung seines christlichen Glaubens in seinem Heimatland von Verfolgung bedroht zu sein, wenn er die innere Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen hat (vgl. BVerwG, U. v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 30). Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung sowie einem ernst gemeinten, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht, und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt (vgl. OVG NW, B. v. 11.11.2013 - 13 A 2252/13.A - juris Rn. 5 m. w. N.). Damit ist geklärt, dass ein asylrechtsrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit nicht vorliegen kann, wenn sich der Asylbewerber lediglich auf einem „eingeschlagenen Weg der Glaubensüberzeugung“ befindet, eine Konversion im Sinne dieser Rechtsprechung jedoch noch nicht vollzogen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

2. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil ihr Antrag auf Zulassung der Berufung aus den unter Nr. 1 genannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Satz 1, § 115 ZPO).

Einer Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens bedarf es nicht, weil Gerichtskosten nicht erhoben werden und eine Kostenerstattung nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO ausgeschlossen ist.

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) und des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO) sind nicht in der gebotenen Weise (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG) dargelegt bzw. liegen jedenfalls nicht vor.

1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wurde bereits nicht in der gebotenen Weise dargelegt und liegt im Übrigen auch nicht vor.

Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer (1.) eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, (2.) ausführen, weshalb diese Rechtsfrage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, (3.) erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist und (4.) darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt; Darlegungen zu offensichtlichen Punkten sind dabei entbehrlich (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72 m. w. N.). Hiervon ausgehend haben die Kläger schon keine den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügende Rechtsfrage formuliert.

Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt aber auch nicht vor. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder - bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen - durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt, aber klärungsbedürftig und über den zu entscheidenden Fall hinaus bedeutsam ist (st. Rspr., z. B. BayVGH, B. v. 25.2.2013 - 14 ZB 13.30023 - juris Rn. 2 m. w. N.; Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 36 ff. m. w. N.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass ein in Deutschland zum Christentum übergetretener Asylbewerber, der sich darauf beruft, wegen der Betätigung seines christlichen Glaubens in seinem Heimatland von Verfolgung bedroht zu sein, die innere Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen muss (vgl. BVerwG, U. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 30). Der formale, kirchenrechtlich wirksam vollzogene Übertritt zum Christentum in Gestalt der Taufe reicht für die Gewinnung dieser Überzeugung jedenfalls im Regelfall nicht aus (BayVGH, B. v. 12.1.2012 - 14 ZB 11.30346 - juris Rn. 4). Welcher Beweiswert der Taufbestätigung einer Religionsgemeinschaft für die Frage der Ernsthaftigkeit eines Glaubenswechsels zukommt ist ebenso wenig klärungsbedürftig wie die Frage, ob die Überprüfung der Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts die nach innerkirchlichem Recht zuständige Stelle vorzunehmen hat und staatliche Behörden und Gerichte daran staatskirchenrechtlich gebunden sind. Es ist in der Rechtsprechung geklärt, dass es für die Frage, ob ein ernsthafter Glaubenswechsel vorliegt, entscheidend auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung und die Glaubwürdigkeit der Person des Asylbewerbers ankommt, die das Gericht selbst im Rahmen einer persönlichen Anhörung des Asylbewerbers zu überprüfen und tatrichterlich zu würdigen hat (BVerwG, U. v. 9.12.2010 - 10 C 13.09 - juris Rn. 19; BayVGH, B. v. 8.8.2013 - 14 ZB 13.30199 - juris Rn. 8 m. w. N.). Dies ist ureigene Aufgabe des Gerichts. An die Ausstellung eines Taufscheins sowie an die Einschätzung der Glaubensüberzeugung eines Konvertiten durch eine Kirchengemeinde bzw. einen Pastor ist das Gericht nicht gebunden (vgl. BayVGH a. a. O.). Da die Klärung, ob ein Glaubenswechsel vorliegt, jeweils nur anhand der individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Sachverhalts erfolgen kann, kommt diesen Fragen regelmäßig auch keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu (BayVGH a. a. O.; vgl. auch OVG NW, B. v. 24.5.2013 - 5 A 062/12.A - juris Rn. 10).

2. Soweit die Kläger zudem rügen, das Urteil sei i. S. v. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 (wohl Nr. 6 gemeint) VwGO nicht mit Gründen versehen, da sich das Verwaltungsgericht in der Urteilsbegründung nicht mit der Grundgesetzproblematik des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften auseinandergesetzt habe und daher dem Urteil jedwede Begründung für die Verneinung der Nachfluchtgründe fehle, können sie ebenfalls nicht durchdringen.

Ein Verfahrensmangel nach § 138 Nr. 6 VwGO (Fehlen von Entscheidungsgründen) scheidet bei einer - wie hier - auf den allein entscheidungserheblichen Vortrag der Klägerin zu 1 eingehenden und die maßgeblichen Gründe erläuternden Begründung des Urteils aus. Ein solcher Verfahrensmangel wäre nur gegeben, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind oder die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind (vgl. BayVGH, B. v. 23.6.2014 - 14 ZB 14.30157 - juris Rn. 3 m. w. N.). Das Verwaltungsgericht hat vorliegend auf den Seiten 25 bis 27 seines Urteils begründet, warum es aufgrund des - allein maßgeblichen - Vortrags der Klägerin zu 1 die notwendige Überzeugungsgewissheit nicht gewinnen konnte, dass die behauptete Hinwendung zum christlichen Glauben auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung, d. h. auf einem ernstgemeinten religiösen Einstellungswandel mit identitätsprägender fester Überzeugung beruht. Die Kläger legen nichts dafür dar, inwieweit dies nicht in verständlicher Form geschehen sein sollte. Mit dem in diesem Zusammenhang allein erfolgten Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist nicht dargetan, warum die Bewertungen des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar sein sollten.

Kosten: § 154 Abs. 2 VwGO.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 16. November 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob der Zustand, den heranwachsende Rückkehrer nach Afghanistan, denen seitens des Jugendamts Hilfe für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII gewährt wurde, derzeit in Afghanistan vorfinden, deren Rechte nach Art. 3 EMRK verletzt und diesen daher Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzuerkennen sind.“ Dies treffe insbesondere auf heranwachsende Asylbewerber zu, die über lange Zeit mit ihrer Familie im Iran gelebt hätten und keinerlei soziale wie familiäre Anknüpfungspunkte an Afghanistan hätten. Aus den bisherigen Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofs ergebe sich nicht, ob dessen Beurteilung sich gleichermaßen auf hilfsbedürftige Heranwachsende und Volljährige beziehe. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei äußerst angespannt. Bei Minderjährigen seien vielfach Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG ausgesprochen worden. Dies müsse auch für hilfsbedürftige Heranwachsende gelten. Das Verwaltungsgericht habe den aktuellen Bericht des UNHCR an das Bundesinnenministerium vom Dezember 2016 nicht beachtet. Danach sei im Laufe des Jahres eine Verschärfung des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eingetreten. Materialien des UNHCR käme ein hervorgehobener Stellenwert zu.

Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes verneint (UA S. 6 ff.). Ob ein bewaffneter Konflikt vorliege, könne dahinstehen, weil sich keine hinreichende Verdichtung zu einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben ergebe. Auch bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Anhaltspunkte, dass der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit gravierender eingeschränkt sei oder sein Entwicklungsstand nicht altersentsprechend wäre, lägen nicht vor. Die in Aussicht gestellte Fortführung von Jugendhilfeleistungen würde diese Einschätzung nicht erschüttern. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor (UA S. 16 ff.).

Das entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Dieser geht weiterhin davon aus, dass für keine Region Afghanistans die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen. Auch führt die Lage in Afghanistan nicht dazu, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (für die Zentralregion mit Kabul: BayVGH, B.v. 8.11.2017 – 13a ZB 17.30615 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167). Geklärt ist zudem in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 8.11.2017 – 13a ZB 17.30615 – juris; B.v. 19.6.2017 –13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 –13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; U.v. 30.1.2014 – 13a B 13.30279 – juris). Auf ein familiäres Netzwerk kommt es nicht an.

Soweit der Kläger darauf verweist, etwas anderes müsse gelten, wenn „Hilfe für junge Volljährige“ nach § 41 SGB VIII gewährt werde, lässt sich dies nicht allgemein klären. Zutreffend ist, dass die genannte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (nur) einen gesunden volljährigen afghanischen Staatsangehörigen betrifft. Ist dies nicht der Fall, bedarf es einer Einzelfallprüfung, inwieweit der Betreffende zur Sicherung seines Lebensunterhalts in der Lage ist. Damit entzieht sich die aufgeworfene Frage einer grundsätzlichen Klärung. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht in einer Gesamtschau auch unter Würdigung einer in Aussicht gestellten Fortführung von Jugendhilfeleistungen die Voraussetzungen für die Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers als günstig beurteilt (UA S. 8 f.). Der besondere Schutz für Kinder im Ausländer- und Asylrecht (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30011 – NVwZ-RR 2017, 986) kommt Volljährigen nicht zu.

Auch die weiteren klägerischen Ausführungen insbesondere zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan (nach UNAMA) liegt die Gefahrendichte im Jahr 2016 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800. Selbst dieses Risiko wäre weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, B.v. 17.11.2011 a.a.O. Rn. 23). Die Zahlen für 2017 bewegen sich – soweit bekannt – in etwa in der gleichen Größenordnung.

Soweit der UNHCR im Dezember 2016 (Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern) unter Bezugnahme auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 und in weiteren Publikationen auf die Verschlechterung der Sicherheitslage hinweist, folgt hieraus nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016, S. 10).

Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten. Aus den sonstigen Ausführungen und Hinweisen auf Stellungnahmen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 6. April 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3 AsylG nicht vorliegen.

Der auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretene Kläger rügt zunächst einen Verfahrensmangel nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO. Die Übersetzung des Dolmetschers in die deutsche Sprache gegenüber dem Gericht sei lücken- und fehlerhaft gewesen.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Es soll sichergestellt sein, dass das Gericht die Ausführungen der Beteiligten würdigt (BayVerfGH, E.v. 13.3.1981 – Vf. 93-VI-78 – BayVBl 1981, 529).

Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen unrichtiger oder unvollständiger Übersetzung durch einen Dolmetscher kann der Kläger im Zulassungsverfahren nicht mehr geltend machen, weil er die angeblichen Übersetzungsmängel nicht schon in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gerügt hat. Ein Prozessbeteiligter kann seinen Zulassungsantrag nur dann auf die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stützen, wenn er zuvor die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerfG, B.v. 10.2.1987 – 2 BvR 314/86 – BVerfGE 74, 220/225 = NJW 1987, 1191). Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurde das Diktat abschnittsweise rückübersetzt und der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter haben gegenüber dem Verwaltungsgericht weder gerügt, dass es bei der Übersetzung durch den Dolmetscher zu Verständigungsproblemen gekommen sei, noch haben sie einen Unterbrechungs- oder Vertagungsantrag mit der Begründung gestellt, dass der Kläger einen anderen Dolmetscher wünsche. Falls der Kläger sein rechtliches Gehör wegen einer falschen Übersetzung gefährdet gesehen hätte, hätte er die Möglichkeit gehabt, hierauf hinzuweisen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist derjenige in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, der sich das ihm zustehende Gehör nicht verschafft hat, obwohl ihm dies möglich und zuzumuten war (BVerwG, B.v. 8.11.1994 – 7 PKH 9.94 – NJW 1995, 474).

Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig,

„1. ob homosexuelle Männer in Afghanistan einer besonderen Verfolgung unterliegen,

2. ob im Hinblick auf die in Afghanistan stattfindenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen und der sich stetig, seit Anfang 2017 noch einmal nachhaltig sich verschlechternden Sicherheitslage von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen ist und

3. ob der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen im Dezember 2016 festgestellt hat, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen ist und ob eine Konkretisierung sicherer Gebiete aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht möglich ist und

4. ob bei Annahme eines solchen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts davon ausgegangen werden kann und muss, dass dieser Konflikt gekennzeichnet ist von willkürlicher Gewalt, welche ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson in der Region, und grundsätzlich auch unabhängig von der individuellen Herkunftsregion, einer ernsthaften auch individuellen Bedrohung von Leib und Leben ausgesetzt ist, sowie

5. ob die durch das Erstgericht angenommene Verweisung des Klägers auf innerstaatliche Fluchtalternativen letztlich die Anforderungen der ‚Zumutbarkeit‘ für den Kläger nach Art. 8 der maßgeblichen Durchführungsrichtlinie erfüllt und schließlich,

6. ob die vom Kläger vorgetragene Gruppenverfolgung des klägerischen Volksstamms der Hazara in Afghanistan mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann und

7. ob aufgrund der aktuellen Erkenntnisse (Fall: Franco A.) im Zusammenhang mit den Anhörungen des BAMF die behördlichen Anhörungen zulässige Grundlage für Fragen der Glaubwürdigkeit des jeweiligen Antragstellers sein können“.

Dass er homosexuell sei, habe er bisher nicht offenbart, weil sowohl bei der Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung am Verwaltungsgericht Frauen tätig gewesen seien. Eine Fluchtalternative in Kabul sei ihm nicht zumutbar, zumal eine Rückkehr zu seiner Familie aufgrund seiner religiösen Einstellung als auch seiner sexuellen Neigung unmöglich sei. Aus Presseberichten ergebe sich, dass die Sicherheitslage neu zu bewerten sei, vor allem auch nach dem Anschlag im Diplomatenviertel von Kabul am 31. Mai 2017. Aufgrund der geänderten Verhältnisse hätten bereits einige Bundesländer, insbesondere Schleswig-Holstein, einen Abschiebestopp erlassen. Das Auswärtige Amt halte einen Aufenthalt in Afghanistan selbst für gefährlich. Angehörige der Hazara stellten ungefähr 10% der Bevölkerung dar. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Hamburg trägt der Kläger weiter vor, er sei völlig auf sich allein gestellt. Die behördliche Anhörung sei aufgrund erheblichster Qualitätsdefizite als untaugliches Beweismittel zurückzuweisen, wie sich aus dem Magazin „Der Spiegel“ ergebe. Der Vorhalt im Urteil zu gesteigertem Vorbringen sei unzulässig, weil etwaige Widersprüche aufgeklärt werden könnten, wie der Kläger an einzelnen Punkten darlegt. Er sei außerdem bei der Anhörung nach einem Weinkrampf nicht mehr aufnahmefähig gewesen.

Die Frage Nr. 1, ob homosexuelle Männer in Afghanistan einer besonderen Verfolgung unterlägen, hat sich für das Verwaltungsgericht nicht gestellt. Wie der Kläger selbst im Zulassungsantrag ausführt, hat er die Homosexualität bis jetzt aus nicht überwindbaren Schamgefühlen verschwiegen. Damit kann sie jedenfalls nicht (rückwirkend) für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bedeutung erlangen. Im Übrigen ergibt sich die Antwort auf die aufgeworfene Frage sowohl aus den vom Kläger selbst zitierten Quellen als auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016, S. 16), wonach die homosexuelle Orientierung von der breiten Gesellschaft abgelehnt und von gewalttätigen Übergriffen auf homosexuelle Männer berichtet werde. Sexualpraktiken, die mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht würden, seien mit Strafe sanktioniert und die afghanische Verfassung kenne kein Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die sexuelle Orientierung.

Auf die Klärung der Fragen Nr. 2 und 3 nach dem Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts kommt es ebenfalls nicht entscheidungserheblich an, denn das Verwaltungsgericht hat diese Frage dahinstehen lassen. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (Frage Nr. 4) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für keine der Regionen Afghanistans angenommen und die Lage in Afghanistan nicht derart eingeschätzt, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG anzunehmen wäre (für die in der Zentralregion gelegene Stadt Kabul, auf die das Verwaltungsgericht als möglichen Zielort der Abschiebung abgestellt hat: BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris – unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris – und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167). Im Übrigen wird – wie der Kläger vorträgt – in den Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016, die sich auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 beziehen, die Auffassung vertreten, dass die Situation in Afghanistan volatil und deshalb eine Unterscheidung in sichere und unsichere Gebiete nicht möglich sei. Einer weiteren Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf es deshalb nicht. Soweit sich der Kläger auf eine Gefährdung wegen der Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara (Frage Nr. 6) beruft, gilt nichts anders. Der Verwaltungsgerichtshof ist mit rechtskräftigem Urteil vom 3. Juli 2012 (Az. 13a B 11.30064 – juris) nach Würdigung und Bewertung der im Einzelnen genannten Erkenntnismittel im Wege einer Gesamtschau zur Überzeugung gelangt, dass diese Volksgruppe in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung unterliegt, derzeit und in überschaubarer Zukunft aber weder einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung noch einer erheblichen Gefahrendichte im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F. (nunmehr § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt ist. Mit Beschlüssen vom 28. Februar 2014 (Az. 13a ZB 13.30390 – juris) und vom 1. Dezember 2015 (Az. 13a ZB 15.30224 – juris) hat dies der Verwaltungsgerichtshof nochmals bestätigt (vgl. auch B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris).

Die klägerischen Ausführungen insbesondere zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan (nach UNAMA) liegt die Gefahrendichte im Jahr 2016 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800. Selbst dieses Risiko wäre weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, B.v. 17.11.2011, a.a.O. Rn. 23).

Aus den sonstigen Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Insbesondere geben auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu Afghanistan keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B.v. 27.6.2013 – 10 B 11.13 – juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B.v. 14.10.2015 – 2 BvR 1626/13). Der Erlass eines Abschiebestopps durch einige Bundesländer, insbesondere Schleswig-Holstein, beruht auf politischen Erwägungen. Auch zur Lage der Hazara nennt der Kläger keine neueren Erkenntnisse, sondern stellt nur deren Bevölkerungsanteil in einigen Provinzen dar. Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amts (II.1.3.) ergeben sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung. Vielmehr ist danach von einer grundsätzlichen Verbesserung der Lage der Hazara auszugehen, wenngleich sie in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert seien. Unklar sei, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist.

Ob die Verweisung des Klägers auf innerstaatliche Fluchtalternativen die Anforderungen der Zumutbarkeit für ihn (Frage Nr. 5) erfüllt, bezieht sich auf die individuellen Verhältnisse des Klägers. Es lässt sich nicht allgemein klären, sondern hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, ob Kabul als Schutzalternative im Sinn von § 3e Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Richtlinie 2011/95/EU in Betracht kommt.

Die Frage Nr. 7, ob die behördlichen Anhörungen Grundlage für Fragen der Glaubwürdigkeit sein können, entzieht sich ebenfalls einer allgemeinen Klärung. Im Übrigen nennt der Kläger weder im Zulassungsantrag einen Grund, weshalb die Anhörung in seinem Fall fehlerhaft sein sollte, noch hat er in der mündlichen Verhandlung auf etwaige falsch aufgenommene Angaben hingewiesen. Soweit er sich darauf bezieht, dass das Verwaltungsgericht auf ein gegenüber dem Bundesamt deutlich gesteigertes Vorbringen abstellt (UA S. 6), wurde er in der mündlichen Verhandlung ausweislich der Niederschrift explizit gefragt, weshalb er beim Bundesamt abweichende Angaben gemacht habe. Hiermit setzt sich das Verwaltungsgericht auch auseinander. Die Stellungnahme des Klägers hierzu im Zulassungsantrag betrifft die rechtliche Beurteilung des von ihm vorgetragenen Sachverhalts. Das vermag auch keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör zu begründen. Aus einer von der Ansicht eines Beteiligten abweichenden Beweiswürdigung des Gerichts kann nicht auf einen Gehörsverstoß geschlossen werden (BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 23. August 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, ob „aufgrund der … aktuellsten Erkenntnisse die Sicherheitslage in Afghanistan eine kritische Gefahrendichte erreicht hat, die zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG rechtfertigt.“ Verschiedene Organisationen wie Amnesty International, UNHCR, Schweizerische Flüchtlingshilfe und andere seien zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan extrem verschlechtert habe. Der bisherige quantitative Ansatz der Rechtsprechung berücksichtige nicht die anhaltende Dynamik. Nach aktuellen Medienberichten befänden sich nach Afghanistan abgeschobene Asylbewerber in Lebensgefahr.

Das Verwaltungsgericht hat die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes verneint (UA S. 25 ff.). Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinn des § 4 AsylG. Im Übrigen könne der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative in Kabul verwiesen werden. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor (UA S. 27 ff.).

Das entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Dieser geht weiterhin davon aus, dass für die in der Zentralregion gelegene Stadt Kabul (und auch für ganz Afghanistan) die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vorliegen. Auch ist die Lage in Afghanistan nicht so, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 21.8.2017 – 13a ZB 17.30529 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 –13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 – 13a B 13.30279 – juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheits- und Versorgungslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan (nach UNAMA) liegt die Gefahrendichte im Jahr 2016 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800. Selbst dieses Risiko wäre weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, B.v. 17.11.2011 a.a.O. Rn. 23). Die bisher bekannt gewordenen Zahlen für 2017 bewegen sich in etwa in der gleichen Größenordnung.

Soweit der UNHCR im Dezember 2016 („Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern“) unter Bezugnahme auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 auf die Verschlechterung der Sicherheitslage hinweist, folgt hieraus nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016, S. 10). Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten.

Auch der weiter geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO ist nicht verletzt. Der Kläger rügt insoweit, das Verwaltungsgericht habe seine im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Beweisanträge zu Unrecht abgewiesen bzw. darüber nicht entschieden. Der Beweisantrag, dass ihm aufgrund seiner Desertion eine Gefängnisstrafe drohe, sei abgelehnt worden, weil die vorliegenden Erkenntnismittel ausreichen würden. Der Beweisantrag, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan gestiegen sei, sei nicht verbeschieden worden.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305/310). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wonach vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, kann allerdings nur dann festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte von ihnen entgegengenommenes Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen, damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Beweisanträge müssen in der mündlichen Verhandlung gestellt und in das Sitzungsprotokoll aufgenommen worden sein. Wenn ein Beweisantrag nicht unbedingt, sondern vorsorglich gestellt ist, muss über ihn nicht durch Beschluss gemäß § 86 Abs. 2 VwGO in der mündlichen Verhandlung, aber in den Urteilsgründen entschieden werden (BVerfG, B.v. 20.2.1992 – 2 BvR 633/91 – NVwZ 1992, 659 = BayVBl 1992, 751; BVerwG, U.v. 26.6.1968 – V C 111.67 – BVerwGE 30, 57). Liegen zu einer erheblichen Tatsache (hier: Handlungen gegen eine bestimmte Volksgruppe) bereits amtliche Auskünfte oder gutachtliche Stellungnahmen vor, kann das Gericht von einer erneuten Begutachtung absehen, wenn die bisherigen Erkenntnismittel auch für die Würdigung der neu behaupteten Tatsache ausreichen. Bei einem in der Klagebegründung allein schriftsätzlich gestellten Beweisantrag handelt es sich lediglich um die Ankündigung eines Beweisantrags, die, wenn sie in der mündlichen Verhandlung nicht wahrgemacht wird, als bloße Anregung zu verstehen ist, in der gewünschten Weise im Rahmen der gerichtlichen Pflicht zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO zu ermitteln (BVerwG, B.v. 4.3.2014 – 3 B 60.13 – juris; B.v. 20.8.2010 – 8 B 27.10 – juris). Aus einer von der Ansicht eines Beteiligten abweichenden Beweiswürdigung des Gerichts kann nicht auf einen Gehörsverstoß geschlossen werden (BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt keinen Anspruch auf ein bestimmtes Beweismittel (BVerfG, B.v. 7.4.1998 – 2 BvR 1827/97 – NJW 1998, 1938).

Gemessen daran liegt keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor. Ausweislich der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 4. September 2017 wurde hinsichtlich der Desertion hilfsweise ein Beweisantrag gestellt. Diesen hat das Verwaltungsgericht ausführlich in den Entscheidungsgründen seines Urteils behandelt (UA S. 12 ff.), zunächst dem klägerischen Vortrag bereits als nicht glaubhaft erachtet und ergänzend auf die vorliegenden Erkenntnismittel verwiesen. Warum nicht diese ausreichen sollten, wird im Zulassungsantrag nicht dargelegt. Weitere „Beweisanträge“ etwa auch zur Arbeitslosigkeit wurden ausschließlich in der Klagebegründung vom 7. August 2017 genannt. Diese Beweisanregungen sind im Wesentlichen allgemein gehalten und werden vom Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Prüfung hinsichtlich des Vorliegens von subsidiären oder nationalen Schutz behandelt.

Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört, seinen Vortrag gewürdigt und im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen es zur Auffassung gelangt ist, dass ihm weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiärer oder nationaler Schutz zuzuerkennen wäre. In Wahrheit wendet sich der Kläger mit seiner Rüge gegen die Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht. Mit der Kritik an der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung im Einzelfall kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör aber nicht begründet werden (BVerwG, B.v. 30.7.2014 – 5 B 25.14 – juris). Soweit der Kläger vorträgt, das Verwaltungsgericht hätte weitere Aufklärungsmaßnahmen treffen müssen, begründet dies ebenfalls keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO berührt den Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 1 GG nicht; denn der Grundsatz des rechtlichen Gehörs stellt nur sicher, dass das Gericht die Ausführungen der Beteiligten würdigt. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den am Prozess Beteiligten jedoch keinen Anspruch darauf, dass das Gericht Tatsachen erst beschafft oder von sich aus Beweis erhebt (BVerfG, B.v. 2.12.1969 – 2 BvR 320/69 – BVerfGE 27, 248/251; BayVerfGH, E.v. 13.3.1981 – Vf. 93-VI-78 – VerfGH 34, 47 = BayVBl 1981, 529).

Soweit der Kläger den Zulassungsantrag darauf stützt (und diesbezüglich begründet), dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zumindest in analoger Anwendung bestünden, scheidet die Berufungszulassung von vornherein aus. Im Asylverfahren gilt die Sonderregelung des § 78 AsylVfG, so dass die Berufung nur aus den in § 78 Abs. 3 AsylVfG abschließend aufgeführten Gründen zugelassen werden kann (VGH BW, B.v. 8.4.1997 – A 16 S 1048/97 – AuAS 1997, 237 = NVwZ 1997 Beil. 12, 90; Hofmann Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 78 AsylG Rn. 15). Fachgesetzliche Sonderregelungen sind zulässig. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 78 AsylG Rn. 10). Damit kommt auch keine analoge Anwendung in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 17. März 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig,

– „ob § 12 AsylG in Form der zum 24.10.2015 in Kraft getretenen Änderung, dass nunmehr zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nach dem Asylgesetz nur noch volljährige Ausländer berechtigt sind, auch auf Fälle anzuwenden ist, bei denen der betroffene Ausländer als Minderjähriger im Rahmen des behördlichen Verfahrens auf Grundlage der vor dem 24.10.2015 geltenden Fassung des § 12 AsylG als verfahrenshandlungsfähig behandelt worden sind und ohne Vormund Asylanträge gestellt und Verfahrenshandlungen, wie zum Beispiel Anhörungen ohne Vormund erfolgt sind“,

– „ob Verfahrensfehler im Rahmen des Vorverfahrens in Folge mangelnder Handlungsfähigkeit aufgrund Minderjährigkeit durch eine Klageerhebung bei Volljährigkeit nachträglich konkludent genehmigt wird“ und

– „ob aufgrund der genannten aktuellsten Erkenntnisse die Sicherheitslage in Afghanistan eine kritische Gefahrendichte erreicht hat, die zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG rechtfertigt“.

Er habe am 28. Juli 2015 als Minderjähriger ohne Vormund einen Asylantrag gestellt und sei am 6. August 2015 durch das Bundesamt angehört worden. Nach der seit dem 24. Oktober 2015 geltenden und gemäß § 77 Abs. 1 AsylG anzuwendenden Rechtslage seien diese Verfahrenshandlungen unwirksam und auch keine wirksame Anhörung des Klägers erfolgt, sodass die Beklagte hieraus keine Rechtswirkungen herleiten dürfe. Eine Übergangsregelung habe der Gesetzgeber nicht getroffen. Der angefochtene Bescheid sei damit rechtswidrig. Die Annahme einer nachträglichen konkludenten Heilung unwirksamer Verfahrenshandlungen durch Klageerhebung würde dem Minderjährigenschutz widersprechen. Zur Sache führt der Kläger aus, die bekanntlich angespannte Sicherheitslage müsse neu bewertet werden. Amnesty International komme zu dem Ergebnis, dass sich die Sicherheitslage extrem verschlechtert habe. UNHCR halte im Lagebericht vom Februar 2017 nicht mehr daran fest, dass es für alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter eine Schutzalternative geben könnte. Das Auswärtige Amt bezeichne die afghanische Regierung in einer internen Lagebewertung vom Februar 2017 als fragil. Der bisherige quantitative Ansatz der Rechtsprechung des Senats berücksichtige nicht die anhaltende Dynamik.

Die vom Kläger zur Minderjährigkeit aufgeworfenen Fragen bedürfen keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Zum einen ist der Kläger nunmehr volljährig. Zum anderen liegt ein Verfahrensfehler, wie ihn der Kläger annimmt, nicht vor. Gemäß § 12 Abs. 1 AsylVfG a.F. war ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nach diesem Gesetz. Damit konnte der am 1. Januar 1998 geborene Kläger am 28. Juli 2015 wirksam einen Asylantrag stellen und auch weitere Verfahrenshandlungen vornehmen. Die spätere Gesetzesänderung, nach der die Verfahrenshandlungsfähigkeit erst mit der Volljährigkeit vorliegt, vermag hieran nichts mehr zu ändern. Einer bereits wirksamen Verfahrenshandlung wird dadurch nicht nachträglich der Boden entzogen und sie deshalb quasi rückwirkend unwirksam. Damit bedurfte es auch keiner gesetzlichen Übergangsregelung, auf die der Kläger verweist.

Soweit der Kläger auf § 77 Abs. 1 AsylG Bezug nimmt, ergibt sich ebenfalls nichts anderes. Diese Regelung betrifft allein die Frage, welche Sach- und Rechtslage für die gerichtliche Entscheidung maßgeblich ist. Das bestimmt sich im allgemeinen Verwaltungsprozess regelmäßig nicht nach dem Prozessrecht, sondern nach dem zugrundeliegenden materiellen Recht. Bei seiner Entscheidung hat das Gericht also zu prüfen, welche Vorgaben sich aus dem anzuwendenden materiellen Recht für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ergeben (siehe auch Seeger in BeckOK AuslR, Stand 1.5.2017, § 77 AsylG Rn. 1 mit Verweis auf Sodan/Ziekow/Wolff, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 113 Rn. 94).

Damit stellt sich auch die weiter vom Kläger sinngemäß aufgeworfene Frage, ob durch eine Klageerhebung bei Volljährigkeit eine nachträgliche konkludente Genehmigung erfolgen kann, nicht. Die Verfahrenshandlungen des Klägers waren wirksam, sodass es keiner Genehmigung bedarf. Im Übrigen kann – wie auch vom Verwaltungsgericht angenommen – ein vormals Handlungsunfähiger, wenn er handlungsfähig wird, bisherige Verfahrenshandlungen selbst genehmigen. Das ergibt sich aus § 108 Abs. 3 BGB.

In der Sache hat das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und damit einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes verneint (UA S. 23). Derzeit sei nicht davon auszugehen, dass bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts praktisch jede Zivilperson schon allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Herkunftsprovinz des Klägers, Balkh in der Nordregion, oder auch in der Zentralregion mit Kabul, das als Ort des internen Schutzes nach § 3e AsylG in Betracht komme, einer ernsthaften Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt wäre. Dabei hat das Verwaltungsgericht insbesondere auf die Opferzahlen abgestellt. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG lägen nicht vor.

Das klägerische Vorbringen ist bereits widersprüchlich. Es stellt einerseits auf die Gefahrendichte und damit auf die Frage ab, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen. Andererseits wird auf § 60 Abs. 5 AufenthG verwiesen. Letztendlich kann die Zielrichtung des klägerischen Antrags offenbleiben, weil in keinem Fall eine grundsätzliche Bedeutung gegeben ist. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht weiterhin davon aus, dass weder in der Zentralregion noch in der Nordostregion die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen und dass auch die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 3.2.2017 – 13a ZB 16.31045 – juris – zur Nordostregion; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris – zur Zentralregion unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris – und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 –13a B 13.30279 – juris).

Die klägerischen Ausführungen insbesondere zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan (nach UNAMA) liegt die Gefahrendichte im Jahr 2016 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800. Selbst dieses Risiko wäre weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, B.v. 17.11.2011 a.a.O. Rn. 23). Auch die bisher bekannt gewordenen Zahlen für 2017 liegen in etwa in dieser Größenordnung. Anderes wird auch vom Kläger nicht genannt. Insbesondere stellt er die vom Verwaltungsgericht dargestellten Opferzahlen nicht in Frage.

Soweit der UNHCR im Dezember 2016 („Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern Dezember 2016“ unter Bezugnahme auf die UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016) auf die Verschlechterung der Sicherheitslage hinweist, folgt hieraus nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem ebenso wie diejenige in der vom Kläger vorgelegten Position von Amnesty International zu Abschiebungen nach Afghanistan vom 22. Februar 2017 auf den jeweils selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach Auffassung des UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016, S. 10). Der Hinweis des Klägers im Zulassungsantrag auf einen Lagebericht des UNHCR vom Februar 2017, in dem diese Auffassung aufgegeben worden sein soll, kann bereits deswegen nicht zutreffen, da eine Stellungnahme des UNHCR zu Afghanistan vom Februar 2017 nicht vorliegt. Aus den sonstigen Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Insbesondere gibt auch die vom Kläger genannte Einschätzung der Lage durch das Auswärtige Amt als „fragil“ keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 10. Januar 2017 ist unbegründet.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig,

„ob Rückkehrer nach Afghanistan allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein und

inwieweit für Rückkehrer nach Afghanistan aufgrund der allgemeinen Not- und Gefahrenlage Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG bestehen.“

Die bisher getroffene Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, auf die sich das Verwaltungsgericht beziehe, sei nicht mehr zutreffend. Das ergebe sich aus Berichten von UNAMA, UNHCR, Pro Asyl, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, des Generalinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR), der British & Irish Agencies Afghanistan Group, des Institute for War and Peace Reporting, des Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, der Afghanistan Analysts Network vom 22. Dezember 2016, des UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs vom 31. Dezember 2016 sowie aus mehreren Presseberichten. Die aufgeführten Berichte zeigten, dass die Not- und Gefahrenlage für Zivilpersonen in Afghanistan ein Ausmaß erreicht habe, aufgrund dessen eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konflikts anzunehmen bzw. die Voraussetzungen des nationalen Abschiebungsschutzes als erfüllt anzusehen seien.

Durch die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass Angehörige der Zivilbevölkerung bei einer Rückkehr in die Südostregion (mit der Provinz Khost) im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr durch militante Gewalt ausgesetzt sind (B.v. 20.8.2015 - 13a ZB 15.30062 - juris; U.v. 4.6.2013 - 13a B 12.30063 - juris). Der Verwaltungsgerichtshof ist im Urteil vom 4. Juni 2013 (a.a.O. Rn. 16) zu der Erkenntnis gelangt, dass das Risiko für Angehörige der Zivilbevölkerung, in der Südostregion Schaden an Leib oder Leben durch militante Gewalt zu erleiden, im Jahr 2012 unter 1:1.000 pro Person und Jahr lag (ebenso für 2013: B.v. 11.3.2014 - 13a ZB 13.30246). Die Höhe des hier festgestellten Risikos ist weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454). Auch geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris - unter Hinweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167, das wiederum verweist auf EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris; BayVGH, U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von (entsprechend den klägerischen Angaben) hochgerechnet ca. 11.500 Opfern in Afghanistan ergibt sich für das Jahr 2016 eine Gefahrendichte, die weit unter der vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Wahrscheinlichkeit von 0,12% oder 1:800 liegt.

Aus dem Annual Report 2016 von UNAMA vom 6. Februar 2017 und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Schutzsuchender vom 19. April 2016, wonach sich die Sicherheitslage nochmals deutlich verschlechtert habe, ergibt sich nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016 S. 10). Aus den weiteren Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes. Die Überlegungen der Innenminister der Länder zu einem Abschiebestopp basieren auf politischen Erwägungen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem im Zulassungsantrag angeführten Afghanistan-Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30. September 2016 und dem Bericht von Pro Asyl vom August 2016 sowie den genannten Presseberichten. Im Übrigen wird in diesen Quellen ebenfalls nur die Sicherheitslage nach eigenen Maßstäben bewertet. Andere Ausgangsdaten, die darauf hindeuten, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären, sind dort ebenfalls nicht genannt. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes.

Soweit der Kläger eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, ist sein Antrag ebenfalls unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO nicht vorliegen.

Der Kläger trägt hierzu vor, das Gericht habe ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag gestellt, mit denen er nicht zu rechnen brauchte. Zum einen habe er in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass bereits nach dem ersten Drohbrief ein Anschlag der Taliban zu erwarten sei. Die Annahme des Gerichts, es sei nicht ersichtlich, dass die Taliban gegen ihn etwas unternehmen würden, sei deshalb überraschend. Zum anderen habe er ausführlich dargelegt, dass ihn seine Familie aus Angst vor Racheaktionen nicht aufnehmen wolle. Dass das Gericht zu der Annahme gelangt sei, daran habe sich jetzt etwas geändert, sei ebenfalls nicht vorhersehbar gewesen. Hätte das Gericht zu erkennen gegeben, dass trotz seines umfangreichen Vortrags Zweifel bestünden, hätte er darauf reagieren können.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 -1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht in seiner Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt abstellt, der weder im Verwaltungsverfahren noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erörtert wurde, auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen als fernliegend anzusehen war und damit dem Rechtsstreit eine unerwartete Wendung gab (BVerwG, B.v. 27.7.2015 - 9 B 33.15 - NJW 2015, 3386; BVerwG, B.v. 19.7.2010 - 6 B 20.10 -NVwZ 2011, 372).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht überraschend. Die vom Kläger angesprochenen Punkte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Sowohl zu dem Drohbrief als auch zu seinen familiären Verhältnissen, insbesondere zu seinem Onkel in Khost, wurde der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausführlich befragt. Dass das Verwaltungsgericht aus dessen Vorbringen von der Auffassung des Klägers abweichende Schlüsse zieht und es insbesondere als nicht glaubhaft einstuft, führt nicht zu einer Überraschungsentscheidung. Für das Tatsachengericht besteht keine generelle Pflicht, den Beteiligten vorab mitzuteilen, wie es den Tatsachenvortrag bewertet, da die Beweiswürdigung der Schlussberatung des Gerichts vorbehalten bleibt und sich deshalb einer Voraberörterung mit den Beteiligten entzieht (BVerwG, B.v. 19.7.2010 a.a.O.). Ob die Familie den Kläger aus Angst vor Racheaktionen nicht aufnehmen wolle, war im Übrigen für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. In Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hat es vielmehr darauf abgestellt, dass es dem Kläger zuzumuten sei, in Kabul selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen (UA S. 7). Lediglich ergänzend hat es darauf hingewiesen, dass er auch beim Onkel in Khost eine Anlaufstelle habe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 25. Oktober 2016 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger trägt vor, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung, da die Situation und politische Lage im heutigen Afghanistan aufgrund der aktuellen Vorkommnisse der letzten Monate neu zu bewerten sei. Bezug nehmend auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum subsidiären Schutz nach § 4 AsylG rügt der Kläger, dass dessen Einschätzung auf Erkenntnissen basiere, die als nicht mehr aktuell anzusehen seien. Die Sicherheitslage habe sich in allen Landesteilen in der zweiten Jahreshälfte 2016 erheblich verschlechtert. Das ergebe sich aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, dem Afghanistan-Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Die aktuelle Sicherheitslage, 30.9.2016), dem Bericht von Pro Asyl vom 16. November 2016 zur 205. Sitzung der Innenministerkonferenz sowie aus Presseberichten.

Die somit sinngemäß aufgeworfene Frage, ob praktisch jede Zivilperson in Kunduz einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei, hat das Verwaltungsgericht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel verneint (UA S. 11 ff.). Die Gefahrendichte in der Provinz Kunduz sei nicht so hoch, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, seien nicht ersichtlich. Mit dem Hinweis des Klägers auf die Verschlechterung der Sicherheitslage und den Anstieg von zivilen Opfern hat sich das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil auseinandergesetzt (UA S. 12). Hierbei hat es sich auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sowie insbesondere auf die aktuellen Berichte von UNAMA (Midyear Report 2016 und Annual Report 2015) gestützt und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass das Risiko, durch Anschläge Schaden zu erleiden, in der Nordostregion, welche auch die Heimatprovinz des Klägers Kunduz umfasst, zwar angestiegen sei, aber mit 0,03% weit unter einem Promille liege. Das gelte auch dann, wenn berücksichtigt werde, dass sich die Opferzahl für das Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr verdoppelt habe.

Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Er wendet vielmehr nur pauschal ein, die vom Verwaltungsgericht herangezogene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs und die Erkenntnismittel seien überholt. Aus welchem Grund die Auskunftslage keine Geltung mehr beanspruchen sollte, bleibt offen. Diese allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Soweit sich der Kläger auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, wonach sich die Sicherheitslage verschlechtert habe, bezieht, ergibt sich nichts anderes. Ungeachtet dessen, dass die im April 2016 erschienenen Richtlinien keine Aussage zur Situation im zweiten Halbjahr 2016 liefern können, werden dort zum einen nur vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Zum anderen beruht die dortige Bewertung auf den von UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung (s. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360) decken. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem im Zulassungsantrag angeführten Afghanistan-Update der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30. September 2016 und dem Bericht von Pro Asyl vom 16. November 2016 sowie den genannten Presseberichten. Insbesondere ist für den Kläger, der aus Kunduz stammt, die Situation in der Zentralregion und Kabul nicht maßgebend. Ferner befassen sich die Berichte zum Teil mit einer etwas anders gelagerten Problematik, so zum Beispiel bei Pro Asyl mit den beginnenden Abschiebungen und der Situation für Rückkehrer. Im Übrigen wird in den genannten Quellen ebenfalls nur die Sicherheitslage nach eigenen Maßstäben bewertet. Andere Ausgangsdaten, die darauf hindeuten, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären, sind dort ebenfalls nicht genannt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23. Januar 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, ob ihm „aufgrund der stark verschlechterten Sicherheitslage und den stark gestiegenen Opferzahlen seit 2016 nun ein ernsthafter Schaden infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht“, und ob für ihn „eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bzw. die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Rückkehr nach Afghanistan besteht, weil sich die Sicherheits- und Existenzsicherungssituation auch aufgrund der gestiegenen Anzahl von Binnenvertriebenen und Rückkehrern und der wirtschaftlichen Situation in Afghanistan seit 2016 grundlegend und massiv verschlechtert hat“. Das Verwaltungsgericht habe die neueren Berichte hierzu nicht gewürdigt. Nach den „Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren“ vom Dezember 2016 habe sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert. UNAMA (Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report, Februar 2017) beziffere den Anstieg ziviler Opfer in Afghanistan auf 11.408, was einer Zunahme von 3% entspreche. Von den Zivilopfern durch Suizid- und komplexe Angriffe entfielen allein auf Kabul 77%. Zudem sei bei interner Flucht und Vertreibung ein Rekordniveau erreicht (UNHCR a.a.O.). Hinzu komme die sehr große Anzahl von Rückkehrern aus Iran und Pakistan. Dies führe zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten. Das Wirtschaftswachstum in Afghanistan liege nach den Prognosen der Weltbank nur im 1-Prozent-Bereich.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts. Zwar sei von einem landesweiten bewaffneten Konflikt auszugehen, trotz der Zunahme der Gewalt könne aber weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geschlossen werden (UA S. 7 f.). Es hat dabei insbesondere auf die Opferzahlen Bezug genommen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hat das Verwaltungsgericht ebenfalls verneint (UA S. 10 f.). Für den Kläger ergebe sich keine extreme allgemeine Gefahrenlage.

Dies entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F., der Vorgängerregelung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, für die in der Zentralregion gelegene Stadt Kabul die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verneint hat (BayVGH, B.v. 4.4.2017 - 13a ZB 17.30231; B.v. 17.8.2016 - 13a ZB 16.30090 - juris; B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Hierauf hat das Verwaltungsgericht abgestellt. Auch geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris - unter Hinweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167, das wiederum verweist auf EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris; BayVGH, U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von (entsprechend den klägerischen Angaben) hochgerechnet ca. 11.500 Opfern in Afghanistan ergibt sich für das Jahr 2016 eine Gefahrendichte, die weit unter der vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Wahrscheinlichkeit von 0,12% oder 1:800 liegt.

Aus den Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016, die sich auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 beziehen, wonach sich die Sicherheitslage nochmals deutlich verschlechtert habe, ergibt sich nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016 S. 10). Aus den weiteren Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 wird die Klage abgewiesen.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

III.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 31. Dezember 1993 in Herat geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und Hazara. Er reiste auf dem Landweg vom Iran über die Türkei, Griechenland, Italien und Österreich am 25. März 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. April 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 11. Juli 2012 gab der Kläger an, er spreche Dari, außerdem Farsi und ein wenig Englisch. Seit seinem zweiten Lebensjahr habe er mit seiner Familie im Iran gelebt. Die Familie stamme aus der Provinz Herat, Gebiet Guzara. Seine Eltern hätten sich zwar über Afghanistan unterhalten, aber er habe mit ihnen nicht darüber gesprochen. Sie seien wegen der schlechten Sicherheitslage, insbesondere für Hazara, geflohen. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Er habe im Iran, in Bodjnord, fünf Jahre die Schule besucht und anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Er habe immer drei bis vier Monate in Teheran gearbeitet und sei dann wieder zur Familie zurückgekehrt. Wann er aus dem Iran ausgereist sei, wisse er nicht. Er sei seit über zweieinhalb Jahren unterwegs. Eineinhalb Jahre sei er in der Türkei gewesen, neun bis zehn Monate in Griechenland. Die Fahrt habe er mit seinem Verdienst in Teheran finanziert. In Griechenland habe er nicht gearbeitet, in der Türkei als Spüler in Restaurants. Den Iran habe er verlassen, weil die Afghanen dort unterdrückt würden. Die Familie habe auch keine offiziellen Dokumente und sei nicht einmal sozialversichert. Er habe eine Schwester mit elfeinhalb Jahren und einen Bruder mit ca. zehn Jahren.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 wurde der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt (1.), festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (2.) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. (3.) nicht vorliegen und dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (4.). Zur Begründung ist ausgeführt, wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara liege keine Verfolgung vor. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Herat bestehe nicht. Auch die Voraussetzungen von nationalen Abschiebungsverboten lägen nicht vor, insbesondere bestehe keine extreme Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Da der Kläger nach seinen Angaben bereits nach Beendigung der Schule in Restaurants gearbeitet und Motorräder repariert habe, könne er auch ohne den Rückhalt seiner Familie das erforderliche Einkommen erzielen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage an das Verwaltungsgericht München verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. In der mündlichen Verhandlung am 25. März 2014 erklärte der Kläger, Bodjnord sei etwa 17 bis 18 Stunden mit dem Bus von Teheran entfernt, wo er gearbeitet habe. In Deutschland habe er keine Schule besucht und keine Berufsausbildung gemacht. Derzeit arbeite er in einem Restaurant. Mit Urteil vom 25. März 2014 wurde der Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 antragsgemäß in Nr. 3 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt. Zudem wurde er in Nr. 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Die allgemeine Gefahr in Afghanistan habe sich in der Person des Klägers trotz seiner Volljährigkeit ausnahmsweise zu einer extremen Gefahr verdichtet. Aufgrund der besonderen Umstände kommt das Verwaltungsgericht zum Schluss, dass der Kläger, der bereits im Alter von zwei Jahren sein Herkunftsland dauerhaft mit seiner Familie verlassen habe, mit den Verhältnissen in Afghanistan nicht vertraut sei und zudem über keine Berufsausbildung verfüge, nicht dazu in der Lage wäre, die hohen Anforderungen so bewältigen zu können, dass er sich ohne die Hilfe eines aufnahmebereiten Familienverbands wenigstens ein Existenzminimum erwirtschaften könnte. Allein aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit sei davon auszugehen, dass ihm die aktuellen Lebensumstände in Afghanistan fremd seien. Er sei mit den Gepflogenheiten der afghanischen Gesellschaft nicht vertraut, zumal dort während seiner Abwesenheit entscheidende Umbrüche und Veränderungen stattgefunden hätten. Erschwerend wirke sich die fehlende Berufsausbildung aus.

Auf Antrag der Beklagten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 25. August 2014 die Berufung zugelassen wegen Divergenz zur Rechtsprechung des Senats zur extremen Gefahrenlage in den Fällen, in denen der betreffende Ausländer Afghanistan bereits im Kleinkindalter verlassen hat (BayVGH, U. v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris). Unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag und die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs führt die Beklagte aus, dass bei alleinstehenden, arbeitsfähigen und gesunden männlichen afghanischen Rückkehrern in aller Regel kein Abschiebungsschutz in Betracht käme, zumal Mittel der Rückkehrförderung in Anspruch genommen werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger geht davon aus, dass er gemessen an seiner persönlichen Situation ausnahmsweise alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Er beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG) nicht verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein national begründetes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, weshalb alle entsprechenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind (BVerwG, U. v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Allerdings sind weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 noch diejenigen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig (EMRK) ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG(U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen („zielstaatsbezogene“ Abschiebungshindernisse). Dabei sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können jedoch nur in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 unter Verweis auf EGMR, U. v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U. v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U. v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Besondere Umstände, die vorliegend eine andere Beurteilung gebieten würden, hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch nicht erkennbar.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird.

Auf eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat sich der Kläger, der sich nach seinen Angaben ab seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat, nicht berufen. Vielmehr trägt er vor, dass seine Eltern Afghanistan wegen der damaligen schlechten Sicherheitslage - eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG - verlassen hätten. Diese kann auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BVerwG, U. v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 - BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr hat durch die Verwaltungsvorschriften zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) mit Rundschreiben vom 3. März 2014, Az. IA2-2081.13-15 bezüglich der Rückführungen nach Afghanistan verfügt, dass nach wie vor alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind, vorrangig zurückzuführen sind (s. BayVVAuslR Nr. C.3.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG; vgl. nur BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; 137, 226). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B. v. 23.8.2006 - 1 B 60.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).

Im Hinblick auf die unzureichende Versorgungslage hat sich die allgemeine Gefahr in Afghanistan für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten wäre. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich aus den Erkenntnismitteln nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären (seit U. v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris; zuletzt U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris). Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Der Senat hat sich dabei im Urteil vom 30. Januar 2014 (a. a. O.) u. a. auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: 4. Juni 2013) gestützt sowie auf die Stellungnahmen von Dr. Danesch vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, von Dr. Karin Lutze (stellvertretende Geschäftsführerin der AGEF - Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit i.L.) vom 8. Juni 2011 an das OVG Rheinland-Pfalz (zum dortigen Verfahren 6 A 11048/10.OVG) und von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 1. Juni 2012. Nach den dortigen Erkenntnissen geht der Senat davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts bestehen und jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nichts anderes. Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014 (Stand: Februar 2014, S. 19 ff. - Lagebericht 2014) stellt zum einen fest, dass sich Afghanistans Bewertung im Human Development Index kontinuierlich verbessert habe. Auch wenn Afghanistan weiterhin einen sehr niedrigen Rang belege und der Entwicklungsbedarf noch beträchtlich sei, habe es sich einerseits in fast allen Bereichen positiv entwickelt. Die afghanische Wirtschaft wachse, wenn auch nach einer starken Dekade vergleichsweise schwach. Andererseits würden Investitionen aufgrund der politischen Unsicherheit weitgehend zurückgehalten. Allerdings könne nach dem Wahljahr 2014 mit einer Normalisierung des durch die starke Präsenz internationaler Truppen aufgeblähten Preis- und Lohnniveaus zu rechnen sein. Eine weitere Abwertung der afghanischen Währung könnte zu einer gestärkten regionalen Wettbewerbsfähigkeit afghanischer Produkte führen. Negativ würde sich jedoch zum anderen eine zunehmende Unsicherheit und Destabilisierung des Landes auswirken. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei auch bei einer stabilen Entwicklung der Wirtschaft eine zentrale Herausforderung. Für größere Impulse mangle es bisher an Infrastruktur und förderlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer umfassenden politischen Strategie. Da die Schaffung von Perspektiven auch zu Sicherheit und Stabilität beitrage, sei die Unterstützung der Privatwirtschaft einer der Schlüsselbereiche der bilateralen Zusammenarbeit. Im Übrigen greift der Lagebericht 2014 mit Ausnahme der medizinischen Versorgung keine Einzelaspekte auf, sondern stellt nur die generelle Situation für Rückkehrer und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dar. Es wird darauf verwiesen, dass es an grundlegender Infrastruktur fehle und die Grundversorgung - wie schon bisher - für große Teile der Bevölkerung eine große Herausforderung sei. Die medizinische Versorgung habe sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, falle allerdings im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Nach wie vor seien die Verfügbarkeit von Medikamenten und die Ausstattung von Kliniken landesweit unzureichend.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 18 ff. - SFH) führt aus, dass 36% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Besonders die ländliche Bevölkerung sei den starken klimatischen Schwankungen hilflos ausgeliefert. Die Zahl der Arbeitslosen werde weiter ansteigen. 73,6% aller Arbeitstätigen gehörten zu den working poor, die pro Tag zwei US$ oder weniger verdienten. Die Analphabetenrate sei weiterhin hoch und die Anzahl der gut qualifizierten Fachkräfte sehr tief.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 9 [UNHCR-Richtlinien] und Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan - Erkenntnisse u. a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013 vom August 2014 [UNHCR-2014]) geht davon aus, dass es für eine Neuansiedlung grundsätzlich bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm bedarf. Die einzige Ausnahme seien alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf, die unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben könnten, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung böten, und die unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle ständen.

Zusammenfassend lassen sich damit aus diesen Berichten keine für die Beurteilung der Gefahrenlage relevanten Änderungen entnehmen. Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen sind insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind, wesentlich höher. Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Nach der Beurteilung des Auswärtigen Amts in der Auskunft vom 2. Juli 2013 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (um Verfahren 8 A 2344/11.A) dürfte es unwahrscheinlich sein, dass besonders in der Hauptstadt Kabul Personen verhungern oder verdursten. Im Urteil vom 4. September 2014 (8 A 2434/11.A - juris) teilt der Hessische Verwaltungsgerichtshof die vorliegende Einschätzung (ebenso OVG NW, U. v. 27.1.2015 - 13 A 1201/12.A - juris). Demgegenüber stellt der Kläger lediglich die Vermutung auf, dass sich die Situation für Rückkehrer verschlechtert habe. Konkrete Anzeichen, die auf eine Verschlechterung hinweisen würden, benennt er nicht. Er beschränkt sich vielmehr auf Annahmen, ohne dass sich diese auf signifikante Veränderungen stützen würden.

Bei dieser Ausgangslage bedurfte es auch nicht der Einholung einer neuen Auskunft.

Die vorhandenen Auskünfte ergeben einen ausreichenden Einblick in die tatsächliche Lage in Afghanistan. Im Hinblick auf den teilweisen Abzug der internationalen Truppen ergibt sich nichts anderes. Anhaltspunkte, dass sich bei der Versorgungs- und Sicherheitslage im jetzt maßgeblichen Zeitpunkt erhebliche Veränderungen ergeben hätten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Ob in Zukunft Verschlechterungen eintreten werden, lässt sich derzeit nicht beurteilen.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Kläger als Angehöriger der Minderheit der Hazara keine Chance hätte, sich als Tagelöhner oder Gelegenheitsarbeiter zu verdingen. Die vorliegenden Gutachten und Berichte enthalten keine entsprechenden Hinweise. Der Umstand, dass der Kläger seit seinem zweiten Lebensjahr mit seiner Familie im Iran gelebt hat, steht der Annahme, er könne sich in Kabul auf sich allein gestellt notfalls „durchschlagen“, ebenfalls nicht entgegen. Hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof bereits im Urteil vom 24. Oktober 2013 (13a B 13.30031 - juris) ausgeführt, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Heimatland scheitere. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht. Ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ mag die Sicherung des Lebensunterhalts vereinfachen. Anhaltspunkte, dass dies erforderlich sein könnte, sind jedoch nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor. Der Kläger ist im Iran, einer islamisch geprägten Umgebung, aufgewachsen und spricht Farsi sowie die hiermit sehr eng verwandte Landessprache Afghanistans Dari. Zudem hebt er sich bereits dadurch von der Masse der Arbeit suchenden Analphabeten ab, dass er im Iran fünf Jahre lang die Schule besucht hat. In Teheran hat er anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Damit konnte er nicht nur seinen Lebensunterhalt erwirtschaften, sondern auch die Ausreise sowie seinen neun- bis zehnmonatigen Aufenthalt in Griechenland, wo er nach seinen Angaben nicht gearbeitet hat, finanzieren. Während seines eineinhalb jährigen Aufenthalts in der Türkei hat er - ohne Kenntnis der Landessprache - als Spüler in Restaurants gearbeitet. Ebenso ist er derzeit in Deutschland in einem Gasthof als Küchenhilfe beschäftigt. In der mündlichen Verhandlung hat er zudem relativ gut Deutsch gesprochen. Mit diesen Erfahrungen und Kenntnissen ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa in Kabul, wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Das entspricht auch der Auffassung des UNHCR, wonach bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Betracht komme (UNHCR-2014).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23. Januar 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, ob ihm „aufgrund der stark verschlechterten Sicherheitslage und den stark gestiegenen Opferzahlen seit 2016 nun ein ernsthafter Schaden infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht“, und ob für ihn „eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bzw. die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Rückkehr nach Afghanistan besteht, weil sich die Sicherheits- und Existenzsicherungssituation auch aufgrund der gestiegenen Anzahl von Binnenvertriebenen und Rückkehrern und der wirtschaftlichen Situation in Afghanistan seit 2016 grundlegend und massiv verschlechtert hat“. Das Verwaltungsgericht habe die neueren Berichte hierzu nicht gewürdigt. Nach den „Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren“ vom Dezember 2016 habe sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert. UNAMA (Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report, Februar 2017) beziffere den Anstieg ziviler Opfer in Afghanistan auf 11.408, was einer Zunahme von 3% entspreche. Von den Zivilopfern durch Suizid- und komplexe Angriffe entfielen allein auf Kabul 77%. Zudem sei bei interner Flucht und Vertreibung ein Rekordniveau erreicht (UNHCR a.a.O.). Hinzu komme die sehr große Anzahl von Rückkehrern aus Iran und Pakistan. Dies führe zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten. Das Wirtschaftswachstum in Afghanistan liege nach den Prognosen der Weltbank nur im 1-Prozent-Bereich.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts. Zwar sei von einem landesweiten bewaffneten Konflikt auszugehen, trotz der Zunahme der Gewalt könne aber weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geschlossen werden (UA S. 7 f.). Es hat dabei insbesondere auf die Opferzahlen Bezug genommen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hat das Verwaltungsgericht ebenfalls verneint (UA S. 10 f.). Für den Kläger ergebe sich keine extreme allgemeine Gefahrenlage.

Dies entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F., der Vorgängerregelung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, für die in der Zentralregion gelegene Stadt Kabul die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verneint hat (BayVGH, B.v. 4.4.2017 - 13a ZB 17.30231; B.v. 17.8.2016 - 13a ZB 16.30090 - juris; B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Hierauf hat das Verwaltungsgericht abgestellt. Auch geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris - unter Hinweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167, das wiederum verweist auf EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris; BayVGH, U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von (entsprechend den klägerischen Angaben) hochgerechnet ca. 11.500 Opfern in Afghanistan ergibt sich für das Jahr 2016 eine Gefahrendichte, die weit unter der vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Wahrscheinlichkeit von 0,12% oder 1:800 liegt.

Aus den Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016, die sich auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 beziehen, wonach sich die Sicherheitslage nochmals deutlich verschlechtert habe, ergibt sich nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016 S. 10). Aus den weiteren Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 10. Januar 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, ob

1. „für Angehörige der Zivilbevölkerung durch ihre Anwesenheit in Afghanistan aufgrund des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 4 I Satz 2 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 15 c RL 2004/83/EG“ besteht,

2. „dieser Personenkreis internen Schutz im Sinne von § 3 e AsylG in anderen Landesteilen, insbesondere den afghanischen Großstädten“ finden kann,

3. „aufgrund der Situation in Afghanistan für Angehörige der Zivilbevölkerung von einem nationalen Abschiebeverbot im Sinne von § 60 V/VII Satz 1 AufenthG auszugehen“ ist.

Der UNHCR habe in seiner Stellungnahme vom Dezember 2016 („Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren Dezember 2016“) darauf hingewiesen, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum sei ein Anstieg an Opfern um 4% zu verzeichnen (gemäß dem dort zitierten Bericht von UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Mid-Year Report, Juli 2016). Auch sei eine Unterscheidung zwischen sicheren und unsicheren Gebieten aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage nicht möglich. Daher erwäge auch der Innenminister von Schleswig-Holstein einen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss vom 14. Dezember 2016 (Az.: 1 BvR 2557/16) die Frage, ob angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan Abschiebungen derzeit verfassungsrechtlich vertretbar seien, ausdrücklich offen gelassen. Insgesamt sei jedenfalls eine neue Risikobewertung durch den Senat geboten.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts. Zwar sei von einem landesweiten bewaffneten Konflikt auszugehen, trotz der Zunahme der Gewalt könne aber weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geschlossen werden (UA S. 5 f.). Es hat dabei insbesondere auf die Opferzahlen Bezug genommen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hat das Verwaltungsgericht ebenfalls verneint (UA S. 6 f.). Für den Kläger ergebe sich keine extreme allgemeine Gefahrenlage.

Dies entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F., der Vorgängerregelung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, für die in der Nordregion gelegene Herkunftsprovinz des Klägers Balkh die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) verneint hat (BayVGH, B.v. 19.2.2015 - 13a ZB 14.30450 - juris; B.v. 30.6.2014 - 13a ZB 13.30359; B.v. 25.7.2012 - 13a ZB 12.30171 - juris). Gleiches gilt für die in der Zentralregion gelegene Stadt Kabul (BayVGH, B.v. 31.1.2017 - 13a ZB 16.31055; B.v. 17.8.2016 - 13a ZB 16.30090 - juris; B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.), auf die das Verwaltungsgericht abgestellt hat. Auch geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris - unter Hinweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167, das wiederum verweist auf EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris; BayVGH, U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von (entsprechend den klägerischen Angaben) hochgerechnet ca. 11.500 Opfern in Afghanistan ergibt sich für das Jahr 2016 eine Gefahrendichte, die weit unter der vom Bundesverwaltungsgericht gebilligten Wahrscheinlichkeit von 0,12% oder 1:800 liegt.

Aus den Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016, die sich auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 beziehen, wonach sich die Sicherheitslage nochmals deutlich verschlechtert habe, ergibt sich nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass dort Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016 S. 10). Aus den weiteren Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes. Die Überlegungen des Innenministers von Schleswig-Holstein zu einem Abschiebestopp basieren auf politischen Erwägungen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Dezember 2016 (B.v. 14.12.2017 - 2 BvR 2557/16 - NVwZ-RR 2017, 208) lag ein Folgeantrag eines afghanischen Asylbewerbers zugrunde, dessen Erstverfahren rund 30 Monate zurücklag und dem der Folgeantragsbescheid noch nicht bekannt gegeben worden war. Hier bedürfe es der Überprüfung, ob es Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebiete, in Fällen der Mitteilung des Bundesamts an die Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, das Bundesamt zur Offenlegung der Gründe hierfür zu verpflichten und dem Asylbewerber Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BVerfG a.a.O. Rn. 13). Ein Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage ergibt sich hieraus nicht.

Der weiteren Frage, ob in Afghanistan Schutzalternativen im Sinne von § 3e AsylG bestehen, kommt bereits deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil diese einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich ist, da ihre Beantwortung wesentlich von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den individuellen Verhältnissen des Klägers abhängt, vgl. § 3e Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Richtlinie 2011/95/EU.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2016 bleibt ohne Erfolg.

Im Antragsschriftsatz vom 20. Januar 2017 beruft sich der Kläger 1. auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, 2. unter Vorlage eines Arztbriefs auf eine Erkrankung an einem Bizepssehnenriss und 3. einen Ermessensfehler im angefochtenen Bescheid. Zu den letzten beiden Punkten nennt er weder einen Zulassungsgrund noch ist ein solcher aus dem Zusammenhang ersichtlich. Das genügt nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, wonach die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen sind.

Lediglich in Nr. 1 bezieht sich der Kläger auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wobei die Nennung von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO unschädlich ist. Eine klärungsbedürftige Frage wird auch hier nicht explizit aufgeworfen, sondern nur zu den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Stellung genommen, dass sein Vortrag, wegen privater Grundstücksstreitigkeiten bedroht worden zu sein, nicht glaubhaft sei. Im Übrigen verweist der Kläger - ebenfalls ohne eine Frage aufzuwerfen - darauf, dass Kabul, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, nicht als Fluchtalternative in Betracht komme, weil die Sicherheitslage dort nicht stabil sei, die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bestehe und er wegen einer Erkrankung nicht in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Im Zusammenhang mit seinem Schreiben vom 13. Januar 2017 lässt sich hieraus jedoch zumindest sinngemäß die Frage entnehmen, ob Kabul im Hinblick auf die schlechte Sicherheitslage und seine Erkrankung eine Fluchtalternative darstellen kann. Eine grundsätzliche Bedeutung kommt der so verstandenen Frage allerdings nicht zu.

Der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass in Afghanistan bzw. in der Zentralregion einschließlich Kabul, worauf das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die von ihm angenommene Fluchtalternative in erster Linie abgestellt hat, die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) nicht vorliegen (BayVGH, B.v. 31.1.2017 - 13a ZB 16.31055; B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs hat auch das Verwaltungsgericht ausgeführt, das Risiko, in Kabul durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, sei weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die (erneute) Klärungsbedürftigkeit im Hinblick auf die Sicherheitslage wurde vom Kläger nicht dargelegt. Mit seinem Hinweis auf die Verschlechterung der Sicherheitslage und den Anstieg von zivilen Opfern hat sich das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil auseinandergesetzt (UA S. 4 f.). Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Er wendet vielmehr nur unzutreffend ein, die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismittel seien veraltet. Neuere Berichte, die die Einschätzung des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten, legt er ebenfalls nicht vor. Seine allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Lagebewertung einzutreten. So werden in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Schutzsuchender vom 19. April 2016 vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage nur Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten zur Sicherheitslage genannt würden, die die bisherige Einschätzung in Frage stellen könnten. Zudem beruht die dortige Bewertung auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (S. 10). Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu Afghanistan geben ebenfalls keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B.v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B.v. 14.10.2015 - 2 BvR 1626/13).

Soweit sich der Kläger darauf bezieht, ob im Hinblick auf die Gefahr einer Zwangsrekrutierung und seine Erkrankung eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, kommt der Frage keine grundsätzliche Bedeutung zu. Ihre Beantwortung hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den individuellen Gegebenheiten des Klägers, ab. Es bedarf einer Würdigung, inwieweit ihm zugemutet werden kann, sich an einem anderen Ort niederzulassen. Die Frage ist damit einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich.

Selbst wenn man die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht von einer bloßen Gewebeschwäche aus, wohingegen sein Arm in Wahrheit nur bedingt einsatzfähig und die Ausübung einer Arbeit deshalb unmöglich sei, ohne eine entsprechende Darlegung dahin verstehen wollte, dass er eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 Nr. 3 VwGO geltend machen möchte, führt sein Antrag nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat sich eingehend mit dem Vortrag des Klägers und dem vorgelegten Arztbrief auseinandergesetzt. Mit der Kritik an der tatrichterlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör jedoch grundsätzlich nicht begründet werden (BVerfG, B.v. 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE 22, 267/273; BVerwG, B.v. 30.7.2014 - 5 B 25.14 - juris; B.v. 15.5.2014 - 9 B 14.14 - juris Rn. 8).

Gleiches gilt für den Einwand des Klägers, sein Vortrag, er sei wegen privater Grundstücksstreitigkeiten bedroht worden, sei durchaus glaubwürdig. Auch hier hat das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Klägers durchaus zur Kenntnis genommen, dann allerdings eine von der Auffassung des Klägers abweichende Beweiswürdigung vorgenommen. Ein Anspruch darauf, dass sich das Gericht der Bewertung des Klägers anschließt, kann aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör nicht hergeleitet werden (BayVerfGH, E.v. 2.10.2013 - Vf. 7-VI-12 - VerfGH 66, 179 = BayVBl 2014, 171).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. August 2016 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob für Angehörige der Zivilbevölkerung allein schon durch die Anwesenheit in A1 aufgrund des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben gemäß § 4 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15c der RL 2004/83/EG, hilfsweise nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG, anzunehmen ist und auch Kabul keine interne Schutzmöglichkeit darstellt“.

Die Lage in A1 habe sich seit 2015 drastisch verschlechtert und seien aktuell die Opferzahlen 2015/2016 höher als 2009, weshalb die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müsse.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach A1 keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts (UA S. 8). Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten oder als anhaltende Kampfhandlungen zu qualifizieren seien, könne dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre (UA S. 9). Denn es fehle vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sei. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen erreiche in der Heimatprovinz des Klägers, Kabul, der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt kein so hohes Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Individuelle gefahrerhöhende Umstände habe der Kläger nicht vorgetragen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor (UA S. 9). Für den Kläger ergebe sich in Kabul weder aus seiner Volkszugehörigkeit noch hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage eine extreme allgemeine Gefahrenlage. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des erkennenden Senats und des Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 6. November 2015, vom 31. März 2014 und vom 4. Juni 2013 kommt das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, das Risiko, in K. durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, sei weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (UA S. 6 f.) und könne der volljährige, arbeitsfähige und mit den Lebensverhältnissen in A1 vertraute Kläger in Kabul seinen Lebensunterhalt sicherstellen (UA S. 7 f. und 9 f.).

Die Frage betreffend das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts kann nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil es hierauf nicht entscheidungserheblich ankam. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil ausdrücklich dahinstehen lassen, ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen in A1 oder Teilen hiervon als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind.

Auch die Frage zu K. als „interne Schutzmöglichkeit“, gemeint sein dürfte damit, ob Kabul als interner Schutz im Sinn von § 3e AsylG in Betracht kommt, vermag keine grundsätzliche Bedeutung zu begründen, da es für die Zumutbarkeit nach § 3e AsylG auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls und die individuellen Verhältnisse des Klägers ankommt und die Frage damit einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich ist. Hinzu kommt, dass diese Frage im Hinblick darauf, dass die Herkunftsregion des Klägers K. ist und er vor seiner Ausreise zuletzt in der Provinz K. gelebt hat (Akte des Bundesamts Bl. 30 und 31), auch wenn das Verwaltungsgericht zusätzlich auf K. als Fluchtalternative abgestellt hat (UA S. 6 f.), in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich wäre und damit ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung führen kann. Damit scheidet mangels Entscheidungserheblichkeit auch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „niederlässt“ in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011 L 337/9) im Unterschied zur vorhergehenden Fassung „aufhält“ in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG aus.

Die weiter aufgeworfene Frage, ob praktisch jede Zivilperson in A1 bzw. K. einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei, hat das Verwaltungsgericht verneint. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, habe dieser nicht vorgetragen. Hierbei ist das Verwaltungsgericht unter Heranziehung aktueller Lageberichte zu der Erkenntnis gelangt, dass das Risiko, durch Anschläge Schaden zu erleiden, in der Herkunftsregion des Klägers, K., weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit liege (siehe hierzu BayVGH, B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; BayVGH, U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris; U.v. 8.11.2012 - 13a B 11.30391 - juris).

Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Er wendet vielmehr pauschal ein, dass sich die Lage in A1 seit dem Jahr 2015 wieder extrem verschlechtert habe und somit die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müsste. Hierzu wurde aus dem Jahresbericht der United Nations Assistance Mission in A1 (UNAMA) für das Jahr 2015, aus zahlreichen Presseartikeln und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs A1 Asylsuchender vom 19. April 2016 zitiert. Auch wird eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts mit Stand vom 7. Juli 2016 angeführt sowie auf Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 22. Juli 2014 und vom 13. September 2015, auf eine Stellungnahme der International NGO Safety Organisation (INSO) und den Amnesty Report 2016 A1 von Amnesty International verwiesen.

Diese allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Der Verwaltungsgerichtshof geht daher weiterhin davon aus, dass in A1 für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (zuletzt B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris). So werden in den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016, wonach sich die Sicherheitslage verschlechtert habe, vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Auch beruht die dortige Bewertung auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung (s. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360) decken. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (S. 10). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der im Zulassungsantrag angeführten Publikation der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 13. September 2015 (A1: Update, Die aktuelle Sicherheitslage) sowie den genannten Presseberichten. Dort wird ebenfalls nur die Sicherheitslage nach eigenen Maßstäben bewertet. Andere Ausgangsdaten, die darauf hindeuten, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären, sind dort ebenfalls nicht genannt. Schließlich geben auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu A1 keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B.v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B.v. 14.10.2015 - 2 BvR 1626/13).

Hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zudem geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris; U.v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 - LS; U.v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris; U.v. 8.12.2011 - 13a B 11.30276 - EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-). Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland A1 in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in K. ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 7. November 2016 ist unbegründet, weil die geltend gemachten Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen. Die Nennung der insoweit nicht einschlägigen, aber wortgleichen Vorschrift des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist unerheblich.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger, ein hazarischer Volkszugehöriger, hält für klärungsbedürftig,

„1. ob im Hinblick auf die in Afghanistan stattfindenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen und der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage, insbesondere in Bezug auf den Großraum Ghazni, von einem innerstaatlichen, bewaffneten Konflikt auszugehen ist und

2. ob bei Annahme eines solchen innerstaatlichen, bewaffneten Konflikts davon ausgegangen werden kann und muss, dass dieser Konflikt gekennzeichnet ist von willkürlicher Gewalt, welche ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson in der Region, und grundsätzlich auch unabhängig von der individuellen Herkunftsregion, einer ernsthaften auch individuellen Bedrohung von Leib und Leben ausgesetzt ist, sowie

3. ob die durch das Erstgericht angenommenen Verweisung des Klägers auf innerstaatliche Fluchtalternativen letztlich den Anforderungen einer „Zumutbarkeit“ für den Kläger nach Artikel 8 der maßgeblichen Durchführungsrichtlinie entspricht und schließlich,

4. ob die vom Kläger vorgetragene Gruppenverfolgung des klägerischen Volksstammes des Hazara in Afghanistan mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.“

Die Sicherheitslage habe sich nach dem Abzug der ISAF-Schutztruppe im Jahre 2014 kontinuierlich und dramatisch verschlechtert. Es gäbe keine sicheren Provinzen mehr. Aus den UNHCR-Richtlinien zur Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern aus Afghanistan vom 19. April 2016, aus Veröffentlichungen von Pro Asyl und dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ergebe sich, wie fragil die Sicherheitslage in Afghanistan sei. Das Auswärtige Amt rate deshalb auch von Auslandsbesuchen dort ab. Die im Urteil des Verwaltungsgerichts zugrunde gelegten Tatsachen seien unrichtig und zwischenzeitlich überholt.

Die (erneute) Klärungsbedürftigkeit der unter 1. und 2. aufgeworfenen Fragen wurde vom Kläger nicht dargelegt. Vielmehr ist geklärt, dass in Afghanistan bzw. in der Provinz Ghazni die Voraussetzungen einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) nicht vorliegen (BayVGH, B. v. 5.2.2014 - 13a ZB 13.30224; U. v. 4.6.2013 - 13a B 12.30063 - juris; jeweils zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AsylVfG a. F.). Für eine verlässliche Prognose, dass sich die Gefahrenlage im Jahre 2016 entscheidend verändert hätte, fehlen ausreichende Anhaltspunkte. Aus den vom Kläger genannten Berichten ergibt sich nichts anderes. Diese allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Lagebewertung einzutreten. So werden in den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Schutzsuchender vom 19. April 2016 vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage nur Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten zur Sicherheitslage genannt würden, die die bisherige Einschätzung in Frage stellen könnten. Zudem beruht die dortige Bewertung auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (S. 10). Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu Afghanistan geben ebenfalls keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B. v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B. v. 14.10.2015 - 2 BvR 1626/13).

Der weiteren (dritten) Frage, ob innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen, kommt bereits deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich ist. Bereits aus der Fragestellung ergibt sich, dass ihre Beantwortung wesentlich von den Umständen des Einzelfalls abhängt und es auf die individuellen Verhältnisse des Klägers ankommt.

Geklärt ist auch die vierte Frage, ob Volkszugehörige der Hazara in Afghanistan einer Gefährdung unterliegen, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt. Mit rechtskräftigem Urteil vom 3. Juli 2012 (Az. 13a B 11.30064 - juris) ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nach Würdigung und Bewertung der im Einzelnen genannten Erkenntnismittel im Wege einer Gesamtschau zur Überzeugung gelangt, dass Hazara in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung unterliegen, derzeit und in überschaubarer Zukunft aber weder einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung noch einer erheblichen Gefahrendichte im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F. (nunmehr § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt sind. Für die Zentralregion hat der Senat dies mit Urteil vom 1. Februar 2013 (für Maydan-Wardak in der Zentralregion: Az. 13a B 12.30045 - juris) sowie landesweit mit Beschluss vom 28. Februar 2014 (Az. 13a ZB 13.30390 - juris) und vom 1. Dezember 2015 (Az. 13a ZB 15.30224 - juris) nochmals bestätigt (vgl. auch B. v. 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581).

Neuere Erkenntnisse wurden vom Kläger nicht vorgetragen. Aus dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 ergeben sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung. Vielmehr ist danach von einer grundsätzlichen Verbesserung der Lage der Hazara auszugehen, wenngleich sie in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert seien. Unklar sei, ob dies Folge der früheren Marginalisierung oder eine gezielte Benachteiligung neueren Datums ist (Lagebericht II.1.3.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der am ... März 1997 in Ghazni/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischen Glaubens vom Volk der Hazara. Er reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Februar 2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. März 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise habe er in Afghanistan in der Provinz Ghazni im Distrikt Nahoor in der Region Sabzaab gelebt. Vor ungefähr neun Monaten sei er ausgereist. Die Reise habe bis zum Iran 60.000 Afghani gekostet. Die Kosten habe sein Bruder getragen. Für die weitere Reise nach Deutschland seien es etwa 9.000,00 EUR gewesen. Das Geld stamme aus dem Verkauf ihres Landes. Seine Eltern seien tot. Er habe keine nahen Verwandten in Afghanistan. Es gebe ein paar Cousins, zu denen er keinen Kontakt habe. Ihren Aufenthaltsort kenne er nicht. Er habe bis zur sechsten Klasse die Schule besucht. Er habe als Fliesenleger gearbeitet. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Kläger an, es habe in ihrer Region große Probleme mit Kutschi-Nomaden gegeben, die sie regelmäßig - schon als er noch ein Kind gewesen sei - im Frühling angegriffen und Vieh und Vorräte genommen hätten. Sie hätten auch seinen Vater getötet. Persönlich angegriffen worden sei er nicht. Er sei immer gegangen, bevor die Kutschi gekommen seien. Im letzten Jahr habe es einen großen Angriff der Kutschi gegeben. Es seien viele Menschen aus ihrer („unserer“) Heimatregion vertrieben worden.
Mit Bescheid vom 5. April 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie auch den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt.
Gegen den am 20. Mai 2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 30. Juni 2016 unter Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Klagefrist Klage zum Verwaltungsgericht. Zur Begründung trug er vor, auf Grund einer fehlerhaften Namensbezeichnung sei ihm der Bescheid erst auf Nachfrage beim Sozialen Dienst und gezielte Suche hin am 23. Juni 2016 bekannt geworden. In der Sache selbst trug er vor, er habe im Ort Sabzeab in der Provinz Ghazni mit seinem Bruder und seinem Vater gelebt. Der Ort sei regelmäßig von Kutschi-Nomaden angegriffen worden. Das Land seines Vaters sei regelmäßig von Kutschi besetzt worden. Im Alter von 15 Jahren habe er mitansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi erschossen worden sei, als dieser versucht habe, sein Land zu verteidigen. Aus Angst vor Angriffen hätten der Kläger und sein Bruder das Land des Vaters verkauft und seien ins etwa drei Autostunden entfernte Nawur geflohen. Dort habe der Kläger als Fliesenleger arbeiten können. Von ehemaligen Nachbarn aus Sabzeab hätten sie erfahren, dass die Kutschi, die früher die Ländereien besetzt hätten, sie suchten. Die Kutschi verübelten ihnen, dass sie das Land verkauft hätten und dieses nun wegen der wehrhaften neuen Eigentümer nicht mehr besetzt werden konnte. Aus Angst von den Kutschi hätten die Brüder sich zur Flucht entschlossen. Mit dem Geld aus dem Landverkauf seien sie in den Iran geflohen. Von dort habe sie ein Schlepper für 60.000 Afghani zur türkischen Grenze gebracht. Dort habe er seinen Bruder bei einem Zusammenstoß mit türkischen Grenzbeamten verloren. Er habe seine Flucht über das Mittelmeer allein fortgesetzt und nochmals 9.000 EUR bezahlen müssen. Beim Bundesamt habe er nur sehr unvollständige Angaben gemacht, weil ihm nicht klar gewesen sei, wie ausführlich er habe berichten sollen. Er sei mittellos und in Afghanistan völlig auf sich allein gestellt. Zur Familie der Mutter bestehe schon seit deren Tod kein Kontakt mehr. Der Kontakt zu seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie sei abgebrochen. Außerdem verwies der Kläger auf die Situation der Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan im Allgemeinen.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2016 vor dem Verwaltungsgericht beantragte der Kläger, ihm wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, den Bescheid des Bundesamts vom 5. April 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft - hilfsweise subsidiären Schutz - zuzuerkennen und weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Im Rahmen seiner Anhörung gab der Kläger an, er habe in Afghanistan einen Onkel, von dem er aber nicht wisse, wo er sich aufhalte. Wo sein Bruder sei, wisse er nicht. Verwandte in Deutschland habe er nicht. Er gehe hier zur Schule. Er habe sein Heimatdorf verlassen, weil sie im Dorf ständig von den Kutschi-Nomaden gestört worden seien. Sie seien von diesen geschlagen worden. Einmal sei sein Arm von einem der Kutschi mit einem Gewehrkolben gebrochen worden. Sein Vater sei hinzugekommen und erschlossen worden. Sie hätten bei der Polizei Anzeige erstattet, aber keine Hilfe erhalten. Sie hätten dann die Grundstücke unter Preis verkauft. Etwa drei bis vier Monate nach dem Tod des Vaters seien sie nach Nawur. Dort hätten sie zwei bis drei Monate bei einer Hazarafamilie gewohnt, die sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit aufgenommen habe. Anders als sein Bruder habe er selbst wegen des gebrochenen Arms nicht arbeiten können. Die Kutschi hätten sie weiter gesucht. Danach seien sie ins etwa drei bis dreieinhalb Fußstunden entfernte Dorf Gorgoshte gegangen. Dort hätten sie drei bis dreieinhalb Monate bzw. vier bis fünf Monate lang gewohnt. Sie hätten dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie dann etwa eineinhalb Jahre in einem Ort namens Kakrak gelebt hätten. Sie hätten für den Mann geputzt und beim Fliesenlegen geholfen. Befragt nach seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr schilderte der Kläger unter Darstellung jüngster Vorfälle, Hazara würden in Afghanistan unterdrückt, entführt und schlecht behandelt. Hazara müssten in Kabul wegen der schlechten Sicherheitslage von Bodyguards geschützt werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. Oktober 2016 ab. Die Klage sei zwar zulässig, da hinsichtlich der versäumten Klagefrist angesichts des Ablaufs in der Gemeinschaftsunterkunft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheide aber aus. Ob der Kläger in seinem Heimatland in der Vergangenheit einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei könne offenbleiben, da er internen Schutz jedenfalls in der Stadt Kabul erlangen könne. Anhaltspunkte dafür, dass die Kutschi dem Kläger landesweit nachstellen könnten, seien nicht ersichtlich. Die Hazara unterlägen auch nicht als soziale Gruppe in Kabul einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung. Auch der Zuerkennung subsidiären Schutzes stehe die Möglichkeit internen Schutzes entgegen. Nationale Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Da davon auszugehen sei, dass der Kläger in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sei nicht ersichtlich, dass aus den humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliege. Schließlich bestehe auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 31. Januar 2017 die Berufung gegen das Urteil zugelassen.
Auf den am 7. Februar 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger nach entsprechend gewährter Fristverlängerung am 21. März 2017 unter Stellung eines Antrags die Berufung begründet. Er vertritt unter Wiederholung und Darstellung seiner Angaben im Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht sowie der Urteilsbegründung die Auffassung, ihm sei auf Grund erlittener flüchtlingsrelevanter Verfolgung in Afghanistan - dem Angriff der Kutschi-Nomaden, bei dem ihm selbst der Arm gebrochen worden und sein ihm zu Hilfe eilender Vater erschossen worden sei - die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die im Urteil als widersprüchlich kritisierten Angaben beruhten womöglich darauf, dass der Kläger die Fragen beim Bundesamt nicht richtig verstanden habe. Es seien auch die mit 40 Minuten kurze Dauer der Bundesamtsanhörung, die fehlenden Rückfragen des Entscheiders, der Kulturkreis des Klägers sowie dessen Bildungsstand und Alter zu berücksichtigen. Unter Darstellung verschiedener Erkenntnisquellen argumentiert der Kläger, der Konflikt zwischen den Hazara und den Kutschi sei eine ethnisch bedingte, nichtstaatliche Verfolgung, vor der der afghanische Staat keinen Schutz gewähre bzw. gewähren könne. Interner Schutz in Kabul oder einem anderen Landesteil könne der Kläger in Anbetracht der Sicherheitslage nicht erlangen. Insbesondere sei es ihm angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Lage, nicht zumutbar, sich in Kabul niederzulassen. Er könne seine Existenz dort nicht sichern. Zuletzt hat der Kläger zudem zu seiner gesundheitlichen Situation vorgetragen und ärztliche Schreiben zu einer bei ihm festgestellten und behandelten Herzrhythmusstörung vorgelegt.
10 
Der Kläger beantragt,
11 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
13 
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan bestehen.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Berufung zurückzuweisen.
16 
Zur Begründung trägt sie unter Darstellung zahlreicher Erkenntnisquellen vor, aus der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara folge nicht die Gefahr landesweiter Verfolgung.
17 
Der Senat hat den Kläger im Rahmen der am 13. Oktober 2017 durchgeführten mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Zum Inhalt der Anhörung wird auf die Niederschrift zum Verhandlungstermin Bezug genommen.
18 
Der Kläger hat unmittelbar vor sowie im Anschluss an Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 ergänzend Unterlagen zu seinem gesundheitlichen Zustand vorgelegt. Es handelt sich um folgende Dokumente:
19 
- Schreiben des Universitätsklinikums H... vom 5. Oktober 2017 zur Vorstellung in der Chest Pain Unit des Klinikums am selben Tag mit der Verdachtsdiagnose „Wolff-Parkinson-White-Syndrom“ (einer Herzrhythmusstörung), wobei zum weiteren Vorgehen eine Wiedervorstellung zur Durchführung einer elektrophysiologischen Diagnostik und Kathetertherapie für den 23. Oktober 2017 vermerkt wurde sowie
20 
- Schreiben des Universitätsklinikum H… vom 23. Oktober 2017 zur erfolgreichen transseptalen Ablation einer linksposteroseptalen Bahn bei WPW-Syndrom;
21 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. (Ärzte für Innere Medizin, Kardiologische Diagnostik u.a.) vom 6. November 2017, wonach beim Kläger am 23. Oktober 2017 im Rahmen der elektrophysiologischen Untersuchung erfolgreich abladiert und eine Leitungsbahn am Herzen erfolgreich habe verödet werden können;
22 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. vom 13. November 2017 zu Rückfragen der Klägervertreterin bezüglich der Wahrscheinlichkeit sowie der Folgen eines möglichen Rezidivs.
23 
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 28. und 29. November 2017 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
24 
Dem Senat liegen die verfahrensbezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Sonstige Literatur

 
538 
Inhalt
        
                 
Tatbestand
- 3 -
Entscheidungsgründe
- 8 -
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
- 8 -
     1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
- 8 -
          a) §§ 3, 3a AsylG
- 9 -
          b) § 3c AsylG
- 10 -
          c) § 3e AsylG
- 10 -
          d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
- 11 -
          e) Maßstab der Überzeugungsbildung
- 13 -
     2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
- 15 -
     3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara            
- 17 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 17 -
          b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
- 19 -
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
- 29 -
     1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
- 29 -
     2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
- 29 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 30 -
          b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
- 31 -
          c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
- 32 -
     3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
- 34 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 35 -
          b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
- 37 -
          c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
- 40 -
III. Nationales Abschiebungsverbot
- 42 -
     1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
- 42 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 43 -
          b) Lebensverhältnisse landesweit
- 48 -
          c) Lebensverhältnisse in Kabul
- 70 -
          d) Subsumtion
- 75 -
     2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
- 82 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 83 -
          b) Subsumtion
- 86 -
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
- 88 -

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der nach eigenen Angaben am geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben im Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27.10.2015 einen Asylantrag. Zunächst wurde das Kreisjugendamt gerichtlich zum Vormund bestellt, dann der jetzige Vormund, Mitarbeiter des Bei seiner Anhörung am 08.02.2017 gab der Kläger zunächst an, er habe eine Tazkira besessen. Er stamme aus der Provinz Kapisa, Dorf Koratas. Mit der Mutter habe er telefonischen Kontakt, mit dem Vater seit ca. einem Monat nicht mehr. Der Vater sei vor ein paar Tagen von den Taliban bedroht worden. Er sei von den Taliban beauftragt worden, Minen auf den Straßen zu legen. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zum Vater. Der Vater sei einfach weg. Im Heimatland habe er noch zwei Brüder und drei Schwestern, sowie mehrere Onkel und Tanten. Zu den Geschwistern habe er Kontakt. Er habe die Schule während der 9. Klasse abgebrochen und in der elterlichen Landwirtschaft gearbeitet. Seine wirtschaftliche Lage sei gut gewesen. In Koratas gebe es eine Moschee. Er sei geflüchtet, weil er von den Taliban bedroht worden sei. Er hab die Schule nicht mehr besuchen können. Ein bis zweimal sei er bedroht worden. Beim dritten Mal hätten sie ihn dann entführt. Sie hätten ihn mitgenommen und zehn Tage eingesperrt und geschlagen. Der Vater habe das mitbekommen und mit den Taliban gesprochen. Der Vater habe den Taliban versprochen, mit denen zusammen zu arbeiten und dann sei er freigelassen worden. Er sei nach Hause gegangen und habe die Landstücke verkauft. Ein Cousin sei drei Mal bedroht worden. Er sei bei der Nationalarmee und durch einen Minenexplosion verletzt worden. Ein weiterer Cousin sei auch Opfer einer Minenexplosion geworden und habe dabei sein Leben verloren. Er hab die Schule nicht besuchen können, weil ihn die Leute bedroht hätten. Auf dem Schulgelände habe es einen Brunnen gegeben und dort seien Betäubungsmittel hineingeschüttet worden. In einer anderen Klasse an der Schule seien auch Betäubungsmittel hineinschmuggelt worden. Das Leben der Eltern sei jetzt in Gefahr. Er vermisse seine Eltern und sei total traurig.

Er sei das erste Mal bedroht worden, als er eines Tages von der Schule heimgegangen sei. Er wisse nicht genau, wann das gewesen sei, aber vielleicht Anfang 2015. Er sei von den Taliban bedroht worden, bei dieser Drohung seien zwei bis drei Personen hinter ihm her gewesen. Er sei aufgefordert worden, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. Er habe Minen und Bomben von den Taliban bekommen und habe diese auf den Straßen verstecken sollen. Er habe das abgelehnt. Daraufhin hätten die Taliban erwidert, dass sie in töten würden. Die weiteren Bedrohungen seien so abgelaufen, wie die erste Bedrohung. Insgesamt sei er drei oder vier Mal bedroht worden. Entführt worden sei er von den Taliban auf dem Nachhauseweg von der Schule. Das sei im Jahr 2015 gewesen. Zehn Tage lang hätten ihn die Taliban festgehalten. Anschließend sei er noch zwei Tage zu Hause gewesen bis zur Ausreise. Sie hätten ihn auf der Straße entführt. Rechts und links von der Straße sei eine Plantage gewesen. Es sei ihm ein Sack über den Kopf gezogen worden und er sei in ein Waldstück gebracht worden. Dort habe sich das Lager der Taliban befunden. Er sei von ihnen geschlagen worden und habe zwei bis drei Tage kein Essen bekommen. Drei Leute hätten ihn entführt. Im Taliban-Lager habe er nur bemerkt, dass er in einer Zelle gewesen sei. Das Lager der Taliban könne er nicht beschreiben, weil er eingesperrt gewesen sei. Die Zelle sei ein kleiner Raum mit einem Loch in der Decke gewesen. Von dort aus habe er sein Essen bekommen. Lediglich ein Stück Brot und einen Schluck Wasser, damit er nicht sterbe. Für die Toilette habe es eine kleine Tür gegeben. An diese habe man klopfen müssen und sie hätten einen zur Toilette gebracht. Diese sei während seiner Notdurft bewacht gewesen. Von der Straße, von der er entführt worden sei, bis zum Lager der Taliban im Wald seien es ungefähr zehn Autostunden gewesen. Das zur Entführung benutzte Auto sei im Waldstück versteckt. Der Vater habe in ausfindig machen können, weil die Taliban von ihm die Telefonnummer des Vaters bekommen hätten. Unter der Bedingung, dass der Vater mit den Taliban zusammenarbeite, sei er freigelassen worden. Der Vater habe zusammen mit den Taliban gegen die Regierung arbeiten sollen, das was die Taliban von ihm gefordert hätten, müsse jetzt der Vater erledigen. Das Heimatdorf liege in der Nähe einer Straße. Entlang dieser Straße verliefen Brücken und unter diesen Brücken solle der Vater Minen anbringen. Die Taliban wollten vom Vater, dass er unbedingt diese Sachen erledige. Der Vater habe dies aber abgelehnt, weil er andere Muslime nicht töten wolle. Die Taliban hätten den Vater geschlagen. Dies habe die Mutter telefonisch berichtet. Persönlichen telefonischen Kontakt zum Vater habe er selbst nicht mehr gehabt. Sie seien bei der Polizei gewesen und die hätten gesagt, sie könnten sie am Tag schützen, aber nicht in der Nacht. Der Vater müsse die Minen nachts unter den Brücken an der Straße verstecken. Aufgrund der Minenexplosionen unter diesen Brücken seien viele Leute ums Leben gekommen. Drei Leute seien ums Leben gekommen und drei weitere Personen verletzt. Den Tag wisse er nicht, es sei an einem Nachmittag im Jahr 2015 gewesen. Der Vorfall habe sich vor seiner Entführung ereignet. Die allgemeine Lage in der Provinz sei nicht gut, sie sei schlecht. Das sei nur von den Taliban gewesen. Er habe versucht, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, aber seitdem der neue Präsident an der Macht sei, sei es noch schlimmer geworden. Überall in Afghanistan sei Krieg. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei sein Leben in Gefahr. Er wisse nicht, wo sich der Vater jetzt aufhalte. Er wünsche sich, dass er hier eine Asylanerkennung bekomme und die Eltern nachholen könne.

Auf Nachfrage gab der Vormund noch an, die Taliban seien im näheren Umfeld des Mündels tätig. Schließlich sei der Kläger auch selbst betroffen. In diesem Zusammenhang wolle er auch noch mal auf die zeitliche Reihenfolge dahingehend hinweisen.

Mit Bescheid vom 13.02.2017 wurde die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt und es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 20.02.2017, eingegangen bei Gericht am 21.02.2017, erhob der Kläger durch seinen Vormund Klage zum Bayer. Verwaltungsgericht Bayreuth mit dem Antrag,

die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen und somit den Bundesamtsbescheid vom 13.02.2017 aufzuheben.

Mit Schriftsatz vom 27.02.2017 beantragte die Beklagte,

die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 14.03.2017 zeigte sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers an und verwies zur Begründung der Klage zunächst darauf, dass es nach den Feststellungen des UNHCR und anderer Organisationen entgegen der Auffassung der Beklagten keine sicheren Regionen in Afghanistan gebe.

Ergänzend wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg.

1. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sowie des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1.1 Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.

Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nicht staatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).

Für die richterliche Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO gilt folgendes:

Das Gericht muss sich die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U. v. 16.04.1985, Az.: 9 C 109.84). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U. v. 16.04.1985 a.a.O.). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 20.02.2013, Az.: 10 C-23/12; VG Augsburg, U. v. 11.07.2016, Az.: Au 5 K 16.30604).

Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweise darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.

Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Es obliegt aber dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U. v. 27.08.2013, Az.: A 12 S 2023/11; Hess. VGH, U. v. 04.09.2014, Az.: 8 A 2434/11.A).

Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht verweist zunächst auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheides (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Auch in der mündlichen Verhandlung konnte der Kläger das Gericht nicht mit der gebotenen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, sein Heimatland aus Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG verlassen zu haben.

Den Wunsch des Klägers, seine Eltern bzw. seine Familie nach Deutschland nachzuholen, hält das Gericht für aufrichtig. Ferner ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger sein Heimatland im zeitlichen Rahmen der großen Wanderungsbewegung im Sommer/Herbst 2015 verlassen hat, um in der Bundesrepublik Deutschland für sich und seine Familie eine bessere, sicherere Lebensperspektive zu finden. Das Gericht hält es allerdings aus nachfolgenden Gründen nicht für glaubhaft, dass der Kläger sein Heimatland im August 2015 unter flüchtlingsrelevantem Verfolgungsdruck verließ.

Zu seiner fluchtrelevanten Bedrängung durch die Taliban gibt der Kläger in der mündlichen Verhandlung zunächst an „jeden Tag“ von den Taliban ermahnt worden zu sein, die Schule zu verlassen (Niederschrift Seite 2). In der weiteren Anhörung macht er geltend, die Taliban seien „zwei Mal“ an ihn herangetreten, dass er die Schule verlasse und mit ihnen zusammenarbeite (Niederschrift Seite 3). Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 08.02.2017 hatte der Kläger noch angegeben, die Taliban hätten ihn „drei oder vier Mal“ bedroht (Behördenakte Seite 50).

Zum unmittelbaren Anlass der von ihm vorgetragenen Entführung „im Jahr 2015“ (Behördenakte Seite 50) gibt der Kläger an, dass ihm beim zweiten Mal der Bedrängung durch Taliban eine Bombe/Mine übergeben wurde, um sie unter eine Brücke zu legen und dadurch letztlich staatliche Fahrzeuge zu beschädigen. Bei der Bundesamtsanhörung am 08.02.2017 sagte der Kläger dazu: „Dies habe ich abgelehnt. Ich wollte dies nicht machen. Daraufhin haben die Taliban erwidert, dass sie mich töten würden“ (Behördenakte Seite 50). In der mündlichen Verhandlung sagte er zunächst: „Ich habe mich geweigert und mit dem Vater gesprochen, der hat die Polizei informiert“ und dann fährt er fort: „Ich habe die Bombe zunächst unter die Brücke gelegt. Mein Vater hat die Polizei informiert, die haben dann Leute geschickt und die Bombe entschärft“ (Niederschrift Seite 3).

Abgesehen von diesem offenkundigen, eklatanten Widerspruch bliebe aber auch für den Fall der Entschärfung einer vom Kläger auf Veranlassung der Taliban gelegten Bombe/Mine nicht nachvollziehbar, dass der Kläger nach drei Tagen wieder zur Schule gegangen sein will. Es entbehrt jeder Plausibilität, dass und wodurch eine solche Gefährdungslage nach drei Tagen abgeklungen hätte sein sollen. Hinzu kommt, dass der Kläger von seinem ersten Schultag nach der Drei-Tages-Pause von einem Giftanschlag in seiner Schule (Anhörung beim Bundesamt: mit Betäubungsmitteln vergifteter Brunnen, Behördenakte Seite 50) berichtet, der dazu führte, dass Schüler ins Krankenhaus gebracht werden mussten (Niederschrift Seite 2). Auch ein solch spektakulärer Vorfall führte offenbar nicht dazu, dass sich der Kläger – etwa aufgrund des geschilderten, unmittelbaren Vorgeschehens – konkret gefährdet gefühlt hätte und zu seinem eigenen Schutz jedenfalls erst einmal in der Schule verblieben wäre.

Zum Verbleib des Vaters und zu seinen Kontakten mit dem Vater macht der Kläger folgende Angaben:

– „Ich habe eine Tazkira besessen. Dies habe ich auch bei der Erstbefragung so angegeben. Ich habe meinen Vater angerufen. Dieser hat mir gesagt, dass meine Tazkira verloren ging“ (Bundesamts-Anhörung 08.12.2017, Behördenakte Seite 46).

– „Mein Vater wurde vor ein paar Tagen von den Taliban bedroht. Er wurde von den Taliban beauftragt, Minen auf den Straßen zu legen. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Mein Vater ist einfach weg“ (Bundesamts-Anhörung 08.02.2017, Behördenakte Seite 48).

– „Mit der Mutter habe ich noch telefonischen Kontakt. Zu meinem Vater habe ich seit ca. einem Monat keinen Kontakt mehr“ (Bundesamts-Anhörung 08.02.2017, Behördenakte Seite 48).

– „Das was die Taliban von mir forderten, dies muss jetzt mein Vater erledigen“ (Bundesamts-Anhörung 08.02.2017, Behördenakte Seite 50).

„Mein Vater wurde von den Taliban geschlagen. Dies wurde mir telefonisch von meiner Mutter berichtet. Persönliche Kontakte zu meinem Vater hatte ich nicht mehr“ (Bundesamts-Anhörung 08.02.2017, Seite 52).

– „Der Vater ist seit sieben bis acht Monaten verschwunden“ (Sitzungsniederschrift vom 26.07.2017).

– „Von der Bundesrepublik Deutschland aus habe ich den Vater angerufen … Der Vater war einige Tage bei den Taliban und ist dann geflüchtet. Das weiß ich nicht von ihm, sondern von der Mutter … Vor dem Weggang hat der Vater sich mit der Mutter unterhalten“ (Sitzungsniederschrift vom 26.07.2017, Seite 3).

– „Wenn ich gefragt werde, wo der Vater geblieben ist, sage ich, dass er dort geblieben ist, bei den Taliban. Der Vater ist nicht mehr nach Hause gekommen“ (Sitzungsniederschrift vom 26.07.2017, Seite 3).

Diese Angaben geben ersichtlich kein stimmiges Bild. Entweder der Vater ist von den Taliban nach einigen Tagen geflüchtet oder nicht mehr nach Hause gekommen. Telefonischen Kontakt mit dem Vater hatte der Kläger aber nach eigenen Angaben noch von der Bundesrepublik Deutschland aus (also seit Oktober 2015). Falls der Vater erst seit Ende 2016/Anfang 2017 verschwunden sein sollte, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang mit der Ausreise des Klägers im August 2015, der vorangehend geschilderten Entführung durch die Taliban und vor allem nach dem zwischenzeitlichen Aufenthalt des Vaters. Zudem stellt sich die Frage, wie der Vater der Mutter „vor seinem Weggang“ von einer Misshandlung durch die Taliban berichten konnte, wenn er nicht mehr nach Hause gekommen ist (Sitzungsniederschrift vom 26.07.2017, Seite 3).

Obwohl an der vielfachen und vielfältigen Ausübung nicht-staatlicher Gewalt durch die örtlichen Taliban ohne adäquate staatliche Schutzgewährung in Afghanistan nicht zu zweifeln ist, konnte sich das Gericht in der Gesamtschau nicht davon überzeugen, dass der Kläger bei der Geschichte seiner Verfolgung von selbst Erlebtem berichtet.

Nachdem der Kläger weder mit seinen Angaben zur Kontaktaufnahme durch die Taliban, noch zum entscheidenden Entführungsanlass überzeugt, kann auch seinen Folgeangaben zu einer zehntägigen Entführungszeit bei den Taliban kein Glauben geschenkt werden. Beispielhaft hervorgehoben sei nur der Rückweg nach Hause zu Fuß von 20 Stunden (als Entsprechung zu zehn Autostunden), ohne Ortskenntnis (Niederschrift Seite 3). Schließlich gelingt es dem Kläger aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben zum Aufenthalt und Schicksal des Vaters auch nicht, das Gericht – wie offenbar beabsichtigt – von einer seit seinem Weggang anhaltenden Bedrohung der Familie durch Taliban zu überzeugen.

Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger sein Heimatland im August 2015 in der Hoffnung auf eine gute Zukunft für sich und seine Familie, jedoch unverfolgt verlassen.

1.2 Dem Kläger steht darüber hinaus auch kein subsidiärer Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zu.

1.2.1 § 4 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AsylG sind nicht einschlägig. Es ist weder ersichtlich, dass vorliegend die Todesstrafe verhängt wurde, noch dass Folter, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würden.

1.2.2 Auch ist kein Fall des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG gegeben. Hierfür müsste eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gegeben sein.

1.2.2.1 Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes ist unter Beachtung des humanitären Völkerrechts auszulegen (vgl. BVerwG, U. v. 27.04.2010, Az. 10 C-4/09; U. v. 24.6.2008, Az.: 10 C-43/07). Dabei setzt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt nicht unbedingt einen so hohen Organisationsgrad und eine solche Kontrolle der Konfliktparteien über einen Teil des Staatsgebietes voraus, wie sie für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 erforderlich sind, muss aber ein gewisses Maß an Dauerhaftigkeit und Intensität aufweisen (BVerwG, U. v. 27.04.2010, Az. 10 C-4/09; U. v. 24.06.2008, Az. 10 C-43/07). Die Kampfhandlungen müssen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend ist und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konfliktes im Sinne des Art. 15 c QualRL nicht von vornherein aus. Ein Konflikt muss sich nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (BVerwG, U. v. 24.06.2008, Az. 10 C-43/07).

1.2.2.2 Für eine ernsthafte und individuelle Bedrohung ist es nicht ausreichend, dass ein eventueller Konflikt zu einer permanenten Gefährdung der Bevölkerung führt (BVerwG, U. v. 13.02.2014, Az. 10 C 6.13), sondern es bedarf einer Individualisierung der Gefahr. Eine solche kann entweder aus persönlichen Umständen oder auch ausnahmsweise aus einer Zuspitzung der allgemeinen Gefahr resultieren; letzteres ist dann der Fall, wenn der Grad willkürlicher Gewalt im relevanten Konflikt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Ausländer bei einer Rückkehr am tatsächlichen Zielort wie praktisch jede Zivilperson in diesem Gebiet alleine auf Grund der Anwesenheit im Gebiet Gefahr liefe, einer individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, U. v. 17.02.2009, Az. C-465/07; U. v. 30.01.2014, Az. C-285/12; BVerwG, U. v. 27.04.2010, Az. 10 C 4.09; U. v. 17.11.2011, Az. 10 C 13.10; U. v. 14.07.2009, Az.: 10 C 9.08; U. v. 24.06.2008, Az.: 10 C 43.07). Hierfür ist eine wertende Gegenüberstellung der Einwohnerzahlen des betreffenden Gebietes mit der Anzahl der sicherheitsrelevanten Ereignisse und der Anzahl der Opfer in diesem Gebiet notwendig (BVerwG, U. v. 13.02.2014, Az. 10 C 6.13; U. v. 17.11.2011, Az. 10 C-13/10; U. v. 27.04.2010, Az. 10 C 4.09); dabei sind nicht nur solche Gewaltakte der Konfliktpartei zu berücksichtigen, die gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen, sondern alle, durch die Leib und Leben von Zivilpersonen wahllos und ungeachtet ihrer persönlichen Situation verletzt werden (BVerwG, U. v. 27.04.2010, Az. 10 C-4/09). Hierbei ist in der Regel auf die Herkunftsregion des Ausländers abzustellen, soweit sich dieser nicht bereits vor seiner Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst hat und sich in einem anderen Landesteil auf unabsehbare Zeit niedergelassen hatte (BVerwG, U. v. 31.01.2013, Az. 10 C-15/12; U. v. 17.11.2011, Az. 10 C-13/10). Die fehlende Wertung der statistischen Betrachtung führt jedenfalls dann nicht zu einem Fehler der Beurteilung, wenn die statistischen Zahlen weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt sind (BVerwG, U. v. 17.11.2011, Az. 10 C-13/10). Dabei ist jedenfalls bei einem Opferrisiko von 1:800 noch nicht von einem Überschreiten der relevanten Risikoschwelle und auch noch nicht von einer relevanten Annährung an dieselbe auszugehen (BVerwG, U. v. 17.11.2011, Az. 10 C 13.10).

1.2.2.2.1 Vorliegend kann das Vorliegen eines entsprechenden Konfliktes dahin stehen, weil ein im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes ausreichend hohes Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, nicht gegeben ist.

1.2.2.2.2 Unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen Afghanistans (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, in der Fassung der letzten Einfügung am 11.05.2017, Nrn. 3.1 ff, S. 29 ff) von insgesamt 27.656.245 Personen und einer Gesamtanzahl ziviler Opfer in Afghanistan von 11.418 laut UNAMA (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Annual report 2016, Februar 2017) besteht eine Gesamtwahrscheinlichkeit von 0,04%, ein ziviles Opfer in Afghanistan zu werden.

1.2.2.2.3 Unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen für die einzelnen Provinzen Afghanistans im Jahr 2016 (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, in der Fassung der letzten Einfügung am 11.05.2017, Nrn. 3.1 ff, S. 29 ff), der security incidents (Sicherheitsvorfälle) im Zeitraum vom 01.09.2015 bis 31.05.2016 (EASO, „Country of Origin Information Report. Afghanistan. Security Situation“ vom November 2016, Nr. 2, S. 39 ff, aufgeschlüsselt in die einzelnen Provinzen und die Kategorien „violence targeting individuals“, „Armed confrontations and airstrikes“, „Explosions“, „Security enforcement“, „Non-conflict related incidents“ und „Other incidents“) sowie der civilian casualties (zivile Verluste) im Jahr 2016 laut UNAMA (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Annual report 2016, vom Februar 2017, der den Zeitraum vom 01.01. bis 31.12.2016 abdeckt und in die Regionen Süden, Zentral, Osten, Nord-Osten, Norden, Süd-Osten, Westen und Zentrales Hochland unterteilt ist, S. 11 f), errechnen sich (unter Einbeziehung der nicht konfliktbasierten Vorfälle) die nachfolgenden Opferwahrscheinlichkeiten.

Diese Wahrscheinlichkeiten ergeben sich durch Multiplikation des prozentualen Anteils der sicherheitsrelevanten Vorfälle der einzelnen Provinz an der Gesamtanzahl der Vorfälle in der entsprechenden Region mit den zivilen Opfern in der Gesamtregion und anschließender Division durch die Bevölkerungsanzahl der Provinz.

Dabei ist dem Gericht bewusst, dass es sich bei den errechneten Wahrscheinlichkeiten nur um Näherungen handelt, da beispielsweise sowohl bei der Erfassung der Daten, als auch in Bezug auf die einzelnen Erhebungszeitpunkte sowie die Zuordnung der Opfer zu den einzelnen Anschlägen notwendig Unschärfen bestehen. Diese sind bei dem – allerdings unumgänglichen – statistischen Abgleich unvermeidbar. Insoweit ist jedoch geklärt, dass eine annährungsweise Ermittlung der entsprechenden, zueinander ins Verhältnis zu setzenden Zahlen ausreichend ist (BayVGH, B. v. 13.01.2017, Az.: 13a ZB 16.30182, Rn. 6). Dass die Opferzahlen – bei anderer Zählweise – höher liegen können, wie teils eingewandt wird (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82 mit Fn. 2), ändert diese Bewertung nicht, denn die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar, da sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen. Dass die Methodik der UNAMA überholt wäre, die Informationen an offen erkennbaren inhaltlichen Defiziten litten, insbesondere an entscheidungserheblichen unzutreffenden Tatsachenannahmen, unlösbaren Widersprüchen, sich aus den Stellungnahmen ergebenden Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit oder eines speziellen, hier nicht vorhandenen Fachwissens bedürften (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2015 – 7 C 15.13 – NVwZ 2016, 308/312 Rn. 47 m.w.N.), ist weder ersichtlich noch substantiiert gerügt. Im Gegenteil liegen für Afghanistan mangels Einwohnermeldewesens auch für die Bevölkerungszahlen nur Schätzungen vor (dies räumt auch Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/74 ein), so dass jede Datenerhebung schon deswegen an tatsächliche Grenzen stößt. Dass und weshalb andere Auskunftsquellen methodisch belastbarere Primärdaten hätten, ist nicht ersichtlich, so dass die Daten von UNAMA weiterhin zu Grunde gelegt werden.

Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,0145%, Provinz Kapisa – 0,06%, Provinz Panjshir – 0,001%, Provinz Parwan – 0,044, Provinz Wardak – 0,1244%, Provinz Logar – 0,1%; zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,01%, Provinz Dai Kundi – 0,015%; südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,1%, Provinz Helmand – 0,1306%, Provinz Nimroz – 0,04%, Provinz Uruzgan – 0,08%, Provinz Zabul – 0,05%; süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,04%, Provinz Paktya – 0,02%, Provinz Khost – 0,03%, Provinz Paktika – 0,04%; östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,07%, Provinz Nangarhar – 0,05%, Provinz Kunar – 0,119%, Provinz Nuristan – 0,02%; nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,05%, Provinz Kunduz – 0,05%, Provinz Takhar – 0,02%, Provinz Badakhshan – 0,01%; nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,07%, Provinz Jawzjan – 0,04%, Provinz Balkh – 0,02%, Provinz Samangan – 0,01%, Provinz Sar-e Pul – 0,02%; westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,02%, Provinz Badghis – 0,03%, Provinz Farah – 0,05%, Provinz Ghor – 0,01%.

Nur in der Provinz Helmand besteht eine Opferwahrscheinlichkeit von mehr als 1:800, nämlich 0,1306% (umgerechnet in die Darstellungsweise des Bundesverwaltungsgerichtes entspräche die Wahrscheinlichkeit 1:766). Damit überschreitet diese die im Urteil des BVerwG für noch nicht ausreichend gehaltene Wahrscheinlichkeit um 0,0056%; eine relevante Überschreitung der Gefährdungsschwelle ist damit nach Auffassung des Gerichts und des Bundesverwaltungsgerichtes (U. v. 17.11.2011, Az. 10 C 13.10) nicht verbunden.

Bei Herausrechnung der nicht konfliktbasierten und der sonstigen Vorfälle ergeben sich folgende Opferwahrscheinlichkeiten:

Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,0135%, Provinz Kapisa – 0,06%, Provinz Panjshir – 0,001%, Provinz Parwan – 0,043%, Provinz Wardak – 0,1296%, Provinz Logar – 0,1%; zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,01%, Provinz Dai Kundi – 0,016%; südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,1%, Provinz Helmand – 0,1318%, Provinz Nimroz – 0,04%, Provinz Uruzgan – 0,08%, Provinz Zabul – 0,05%; süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,04%, Provinz Paktya – 0,02%, Provinz Khost – 0,03%, Provinz Paktika – 0,04%; östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,07%, Provinz Nangarhar – 0,044%, Provinz Kunar – 0,120%, Provinz Nuristan – 0,02%; nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,05%, Provinz Kunduz – 0,05%, Provinz Takhar – 0,02%, Provinz Badakhshan – 0,01%; nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,07%, Provinz Jawzjan – 0,04%, Provinz Balkh – 0,02%, Provinz Samangan – 0,008%, Provinz Sar-e Pul – 0,02%; westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,02%, Provinz Badghis – 0,03%, Provinz Farah – 0,05%, Provinz Ghor – 0,01%.

Nach diesem Berechnungsmodus besteht in den Provinzen Wardak (0,1296%, entspricht 1:772) und Helmand (0,1318%, entspricht 1:759) eine Wahrscheinlichkeit, die über der seitens des Bundesverwaltungsgerichtes ausdrücklich nicht beanstandeten Wahrscheinlichkeit liegt. Jedoch erreichen auch diese Werte noch nicht die relevante Opferschwelle (BVerwG, U. v. 17.11.2011, a.a.O., juris, Rn. 23, betont ausdrücklich, dass die Schadensrelation von 1:800 in einem Jahr „so weit“ von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass sich auch der Mangel einer wertenden Betrachtung nicht auszuwirken vermag).

In diesen Zahlen ist ohne Unterschied die Wahrscheinlichkeit von Verletzung und Tötung enthalten (die anteilige Tötungswahrscheinlichkeit beträgt in der Zentralregion 22,74%, im zentralen Hochland 21,74%, im Süden 35,33%, im Süd-Osten 37,65%, im Osten 27,15%, im Nord-Osten 30,08% im Norden 28,19% und im Westen 41,15% (vgl.: UNAMA, Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Annual report 2016, vom Februar 2017, S. 11 f)).

Unter Zugrundelegung der Opferzahlen für das erste Halbjahr 2017 (UNAMA, Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Midyear Report 2017, July 2017, S. 10) und unter Beibehaltung der übrigen Zahlen stellt sich die Berechnung unter Einbeziehung der nicht-konfliktbasierten Vorfälle wie folgt dar (in Klammern findet sich die Hochrechnung für das gesamte Kalenderjahr):

Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,0078% (0,0155%), Provinz Kapisa – 0,032% (0,063%), Provinz Panjshir – 0,0007% (0,0014%), Provinz Parwan – 0,023% (0,046%), Provinz Wardak – 0,066% (0,133%), Provinz Logar – 0,05% (0,10%); zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,002% (0,004%), Provinz Dai Kundi – 0,003% (0,006%); südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,05% (0,1%), Provinz Helmand – 0,062% (0,124%), Provinz Nimroz – 0,02% (0,04%), Provinz Uruzgan – 0,037% (0,074%), Provinz Zabul – 0,023% (0,045%); süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,02% (0,04%), Provinz Paktya – 0,014% (0,028%), Provinz Khost – 0,015% (0,03%), Provinz Paktika – 0,02% (0,04%); östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,03% (0,06%), Provinz Nangarhar – 0,02% (0,04%), Provinz Kunar – 0,05% (0,1%), Provinz Nuristan – 0,008% (0,016%); nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,016% (0,03%), Provinz Kunduz – 0,014% (0,028%), Provinz Takhar – 0,005% (0,01%), Provinz Badakhshan – 0,004% (0,008%); nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,02% (0,04%), Provinz Jawzjan – 0,013% (0,025%), Provinz Balkh – 0,008% (0,017%), Provinz Samangan – 0,003% (0,006%), Provinz Sar-e Pul – 0,008% (0,015%); westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,01% (0,02%), Provinz Badghis – 0,02% (0,04%), Provinz Farah – 0,03% (0,06%), Provinz Ghor – 0,007% (0,014%).

Ohne nicht konfliktbasierte Vorfälle ergeben sich folgende Opferwahrscheinlichkeiten:

Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,0072% (0,014%), Provinz Kapisa – 0,033% (0,066%), Provinz Panjshir – 0,0008% (0,0015%), Provinz Parwan – 0,023% (0,046%), Provinz Wardak – 0,069% (0,138%), Provinz Logar – 0,05% (0,10%); zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,002% (0,003%), Provinz Dai Kundi – 0,003% (0,006%); südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,05% (0,1%), Provinz Helmand – 0,062% (0,124%), Provinz Nimroz – 0,02% (0,04%), Provinz Uruzgan – 0,037% (0,074%), Provinz Zabul – 0,022% (0,044%); süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,02% (0,04%), Provinz Paktya – 0,014% (0,028%), Provinz Khost – 0,015% (0,03%), Provinz Paktika – 0,02% (0,04%); östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,03% (0,06%), Provinz Nangarhar – 0,02% (0,04%), Provinz Kunar – 0,05% (0,1%), Provinz Nuristan – 0,008% (0,016%); nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,016% (0,03%), Provinz Kunduz – 0,014% (0,028%), Provinz Takhar – 0,005% (0,01%), Provinz Badakhshan – 0,004% (0,008%); nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,02% (0,04%), Provinz Jawzjan – 0,013% (0,025%), Provinz Balkh – 0,008% (0,017%), Provinz Samangan – 0,003% (0,006%), Provinz Sar-e Pul – 0,008% (0,015%); westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,01% (0,02%), Provinz Badghis – 0,02% (0,04%), Provinz Farah – 0,03% (0,06%), Provinz Ghor – 0,007% (0,014%).

Voranstehender Berechnung folgend hat die Opferwahrscheinlichkeit in etlichen Provinzen abgenommen; nur in Wardak ist ein Anstieg um 0,009 Prozentpunkte (mit nicht-konfliktbasierten Vorfällen) bzw. 0,008 Prozentpunkte (ohne nicht-konfliktbasierte Vorfälle) zu verzeichnen. Dies führt nicht zum Überschreiten der relevanten Opferschwelle (s.o.).

UNAMA weist in Anlage III des Halbjahresberichtes (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Midyear Report 2017, July 2017, S. 72 f) die Anzahl der civilian casualties für jede einzelne Provinz aus. Legt man diese Zahlen der Berechnung der Opferwahrscheinlichkeiten zu Grunde, ergeben sich folgende Werte:

Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,023% (0,05%), Provinz Kapisa – 0,014% (0,028%), Provinz Panjshir – 0,00% (0,00%), Provinz Parwan – 0,006% (0,012%), Provinz Wardak – 0,007% (0,014%), Provinz Logar – 0,015% (0,03%); zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,0002% (0,0004%), Provinz Dai Kundi – 0,005% (0,009%); südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,03% (0,06%), Provinz Helmand – 0,056% (0,113%), Provinz Nimroz – 0,025% (0,051%), Provinz Uruzgan – 0,088% (0,175%), Provinz Zabul – 0,04% (0,09%); süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,013% (0,03%), Provinz Paktya – 0,03% (0,06%), Provinz Khost – 0,017% (0,04%), Provinz Paktika – 0,02% (0,04%); östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,05% (0,1%), Provinz Nangarhar – 0,02% (0,05%), Provinz Kunar – 0,02% (0,04%), Provinz Nuristan – 0,01% (0,02%); nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,01% (0,02%), Provinz Kunduz – 0,02% (0,04%), Provinz Takhar – 0,005% (0,01%), Provinz Badakhshan – 0,003% (0,006%); nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,03% (0,06%), Provinz Jawzjan – 0,013% (0,025%), Provinz Balkh – 0,003% (0,006%), Provinz Samangan – 0,006% (0,012%), Provinz Sar-e Pul – 0,007% (0,014%); westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,01% (0,02%), Provinz Badghis – 0,013% (0,027%), Provinz Farah – 0,04% (0,07%), Provinz Ghor – 0,003% (0,006%).

Danach würde bei linearer Fortschreibung der Opferzahlen auf das Gesamtjahr die Provinz Uruzgan die Opferwahrscheinlichkeit von 1/800 mit 1/572 überschreiten. Dies stellt jedoch noch keine relevante Gefahrerhöhung dar (vgl. oben).

1.2.2.2.4 Auch ist nicht ersichtlich, dass eine im Wesentlichen zunehmende Tendenz der Opferwahrscheinlichkeit gegeben wäre.

Vielmehr ist nach der Dokumentation von UNAMA (UNAMA first quarter 2017 civilian casualty Data, vom 27.04.2017) für die ersten drei Monate eine Anzahl ziviler Opfer in Höhe von 2.181 verzeichnet worden. Dies entspricht laut UNAMA einem Rückgang von vier Prozent im Vergleich zu den ersten drei Monaten des Vorjahres (2.268 zivile Opfer).

Hieran ändert auch nichts, dass der Security Council der General Assembly der UN in den Berichten des Generalsekretärs „The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security” vom 03.03. und 15.06.2017 im Zeitraum vom 18.11.2016 bis 14.02.2017 5.160 security-related incidents (sicherheitsbezogene Vorfälle), von Januar bis einschließlich März 2017 5.687 security-related incidents und im Zeitraum vom 01.03. bis 31.05.2017 6.252 security-related incidents (S. 4) verzeichnete. Insoweit spricht er von einem zehnprozentigen Zuwachs im Zeitraum vom November 2016 bis Februar 2017 im Vergleich zur selben Periode im Jahr 2015 und einem dreiprozentigen Zuwachs im Vergleich zum Jahr 2014 sowie einem zweiprozentigen Zuwachs für den Zeitraum vom 01.03. bis 31.05.2017 im Vergleich zum Vorjahr.

Auch die medial sehr präsenten Anschläge in Afghanistan seit Mai 2017 (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19.06.2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 4 ff; http://www.zeit.de/thema/afghanistan) vermögen es nicht, diese Einschätzung zu widerlegen (so etwa auch: OVG No. We., B. v. 10.07.2017, Az. 13 A 1385 (17.A)).

Im ersten Halbjahr 2017 bewegten sich die Opferzahlen in etwa auf dem hohen Niveau des Vorjahres; laut den Daten von UNAMA (Afghanistan. Protection of civilians in armed conflict. Midyear Report 2017, July 2017, S. 3) sank die Anzahl der Opfer um etwa ein halbes Prozent im Vergleich zum Vorjahr (24 Opfer weniger / 5.267 Opfer im ersten Halbjahr 2016).

Eine wesentliche Steigerung für die Zukunft impliziert dies nicht.

1.2.2.2.5 Die Zugehörigkeit zu einer herausgehobenen und damit gefährdeten Personengruppe (vgl.: AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, vom 19.10.2016, S. 4, 17 f) ist weder vorgetragen, noch ersichtlich.

1.3 Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Insoweit wird zunächst auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

1.3.1 Die Abschiebung nach Afghanistan verstößt nicht gegen Art. 3 EMRK. Hiervon werden nur besondere Ausnahmefälle erfasst, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen; der Fall, dass bei einer Rückführung die Lage des Ausländers einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, ist an sich nicht ausreichend (vgl.: BVerwG, U. v. 31.01.2013, Az. 10 C-15/12, m.w.N.). Dies bedeutet, dass schlechte humanitäre Verhältnisse – insbesondere auch schlechte Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen - nur in außergewöhnlichen Einzelfällen mit hoher Intensität als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen sind und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen (siehe BayVGH U. v. 21.11.2014, Az.: 13a B 14.30284 juris). Bei der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 3 EMRK ist auf den gesamten Abschiebezielstaat abzustellen. Strikt von dieser mit hohen Hürden verbundenen rechtlichen Frage zu trennen ist die politisch-humanitäre Leitentscheidung des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG (vgl.: BVerwG, U. v. 31.01.2013, Az. 10 C-15/12), etwa ob das gesellschaftliche System Afghanistans durch Rückkehrer (zumutbar) belastet wird bzw. ob durch die Rückkehrer eine weitere Destabilisierung des Landes erfolgt. Über diese Fragen zu entscheiden ist die oberste Landesbehörde, nicht aber das Gericht, das an das bestehende Recht gebunden ist, berufen.

Afghanische Rückkehrer teilen mit Millionen ihrer Landsleute Lebensbedingungen, die bis hin zum Überlebenskampf führen können (vgl.: Stahlmann, Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 3/2017, S. 73 ff – allerdings fußt dieser Artikel zum Teil auch auf mittlerweile wohl überholtem und teilweise nicht nachprüfbarem Datenmaterial bzw. erschöpft sich stellenweise in bloßen Behauptungen), die in der bundesdeutschen Sozialstaatswirklichkeit keine Entsprechung finden. Art. 3 EMRK verpflichtet die gebundenen Staaten jedoch gerade nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (BVerwG, U. v. 31.01.2013, Az. 10 C-15/12, m.w.N.).

Das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland keine existentielle Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG droht (siehe insofern BayVGH B. v. 13.02.2017, 13a ZB 17.3044). Er kann, da von einer Vorverfolgung durch Taliban und auch einer individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht auszugehen ist (siehe oben 1.1 und 1.2), in seine Heimatprovinz Kapisa zu seiner Familie zurückkehren. Nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung lebt die Mutter mit (fünf) Geschwistern im Heimatdorf Koratas und kann die Familie durch (landwirtschaftliche) Tätigkeiten im Dorf ernähren. Nachdem das Gericht von der Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte des Klägers nicht überzeugt ist, geht es realistischerweise jedoch davon aus, dass der Vater bei der Familie ist und die Mutter nicht alleine für den Familienunterhalt sorgt (bzw. sorgen kann). Der Kläger, der trotz Nachfrage des Gerichts nach der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts für die Familie keinerlei materielle Notlage bzw. einen Versorgungsengpass o. ä. geltend machte, kann Mutter und Vater nach einer Rückkehr zweifellos bei der Versorgung der Familie zur Seite stehen und so auch seinen eigenen Lebensunterhalt im dörflichen Umfeld sichern. Zudem stehen dem Kläger bei einer freiwilligen Rückkehr erhebliche Rückkehrhilfen offen, die ebenfalls zu einer Stabilisierung der familiären Einkommensstruktur beitragen können.

Nur ergänzend und ohne dass es vorliegend noch darauf ankäme, ist darauf hinzuweisen, dass eine (zwangsweise) Rückkehr des Klägers in sein Heimatland als Minderjähriger im Hinblick auf § 58 Abs. 1a AufenthG aufenthaltsrechtlich als ausgeschlossen anzusehen ist, was der Berücksichtigung durch die Ausländerbehörde obliegt.

1.3.2 Dem Kläger droht auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Beruft sich der Ausländer demzufolge auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten. Allgemeine Gefahren in diesem Sinne sind alle Gefahren, die der Bevölkerung Afghanistans als solcher auf Grund der derzeit dort bestehenden Sicherheits- und Versorgungslage drohen. Dazu zählen neben der Gefahr, Opfer terroristischer Übergriffe zu werden und Gefahren durch die desolate Versorgungslage auch Gefahren krimineller Aktivitäten und Rachebestrebungen von Privatpersonen.

1.4 Es bestehen auch gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatbestimmung im Hinblick auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG keine Bedenken.

1.5 Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit des von der Beklagten festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots sprechen, wurden nicht vorgebracht und sind auch nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 18. März 2016 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig,

„1. ob im Hinblick auf die in Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen und der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage, insbesondere in Bezug auf die Stadt Kabul, von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen ist und

2. ob bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts davon ausgegangen werden kann, der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt habe ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson in Kabul, unabhängig von der Herkunftsregion, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist,

3. ob (sich) die durch das Erstgericht angenommene Verweisung des Klägers auf die innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeit nach Artikel 8 der maßgeblichen Durchführungsrichtlinie bewegt.“

Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, der Kläger habe weder eine politische Verfolgung durch den Staat oder durch nichtstaatliche Akteure noch die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG glaubhaft gemacht (UA S. 7 ff.). Sein Vorbringen sei allgemein, vage und enthalte wesentliche Widersprüche sowie Ungereimtheiten. Selbst wenn man jedoch die Angaben des Klägers als wahr unterstellen wollte, wäre er auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen. Die Frage, ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Afghanistan oder Teilen davon als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren seien, könne dahinstehen, weil der Kläger jedenfalls keiner erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt wäre (UA S. 11). Damit hat das Verwaltungsgericht sowohl einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als auch auf Gewährung von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG abgelehnt, weil der Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen nicht glaubhaft geschildert habe. Er wäre außerdem auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen.

Ob der Zulassungsantrag bereits deshalb abzulehnen ist, weil der Kläger nur Fragen zur erheblichen Gefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts und zur Fluchtalternative aufgeworfen hat, nicht aber dazu, dass das Verwaltungsgericht die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens verneint hat, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls vermögen die von ihm aufgeworfenen Fragen die Zulassung der Berufung nicht zu begründen.

Die Frage Nr. 1 betreffend das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts kann nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil es hierauf nicht entscheidungserheblich ankam. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil ausdrücklich dahinstehen lassen, ob ein bewaffneter Konflikt besteht.

Die weiter aufgeworfene Frage Nr. 2, ob praktisch jede Zivilperson in Kabul einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei, hat das Verwaltungsgericht verneint. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, habe dieser ebenfalls nicht vorgetragen. Mit dem Hinweis des Klägers auf die Verschlechterung der Sicherheitslage und den Anstieg von zivilen Opfern hat sich das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil auseinandergesetzt (UA S. 9, 11). Hierbei hat es sich auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sowie auf die auch vom Kläger genannten Lageberichte des Auswärtigen Amts gestützt und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass das Risiko, durch Anschläge Schaden zu erleiden, in der Zentralregion, welche auch die Heimatprovinz des Klägers, Kabul, umfasst, weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit liege (siehe hierzu BayVGH, B. v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; BayVGH, U. v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris; U. v. 8.11.2012 - 13a B 11.30391 - juris). Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Er wendet vielmehr nur pauschal ein, die vom Verwaltungsgericht herangezogene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs und der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 6. November 2015 träfen bezüglich der Hauptstadt Kabul nicht mehr die Lebensrealität und seien überholt. Aus welchem Grund die Auskunftslage keine Geltung mehr beanspruchen sollte, bleibt offen. Diese allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Soweit sich der Kläger im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt auf die „UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016“, wonach sich die Sicherheitslage verschlechtert habe, bezieht, ergibt sich nichts anderes. Zum einen werden dort nur vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Zum anderen beruht die dortige Bewertung auf den von UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung (s. BVerwG, U. v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360) decken. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der im Zulassungsantrag angeführten Internetpublikation von Pro Asyl vom Dezember 2015 (Kein sicheres Herkunftsland, Keine Fluchtalternativen - Zur aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan) sowie den genannten Presseberichten. Dort wird ebenfalls nur die Sicherheitslage nach eigenen Maßstäben bewertet. Andere Ausgangsdaten, die darauf hindeuten, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären, sind dort ebenfalls nicht genannt. Schließlich geben auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu Afghanistan keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B. v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris).

Die Frage Nr. 3, ob (sich) die Verweisung auf die innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeit nach Art. 8 RL 2011/95/EU (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl. Nr. L 337 S. 9) bewegt, war der Urteilsbegründung zufolge ebenfalls nicht entscheidungserheblich. Im Übrigen ist es einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich, ob die Einschätzung des Verwaltungsgerichts zutreffend ist. Vielmehr hängt es wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, ob der Kläger bei einer Rückkehr jedenfalls in Kabul keiner Verfolgung ausgesetzt wäre. Das Verwaltungsgericht hat sich hierzu mit dem Vortrag des Klägers auseinandergesetzt und u. a. auf den Zeitablauf sowie darauf verwiesen, dass sich der Kläger nicht derart exponiert habe, dass er über sein engeres Umfeld hinaus landesweit eine Verfolgung fürchten müsste (UA S. 10).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 21. April 2016 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.


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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. September 2017 ist unbegründet, weil die geltend gemachten Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob sich ein alleinstehender, junger, gesunder, afghanischer Mann, der sich ab frühester Kindheit außerhalb Afghanistans aufgehalten hat und über keinen aufnahmefähigen Familienverband in Afghanistan verfügt, bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Blick auf die aktuelle Lage ein Existenzminium sichern kann.“ Schlechte humanitäre Bedingungen könnten eine Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führe. Das Verwaltungsgericht stehe mit seiner Ansicht, er sei in der Lage, sich eine Existenz aufzubauen, im Widerspruch zur aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan sowie teilweise zu behördlich ergangenen Entscheidungen. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe mit Beschluss vom 6. Februar 2017 (Az. A 11 S 164/17) insoweit die Berufung zugelassen. Die aktuellen Auskünfte des Auswärtigen Amts, des UNHCR und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zeigten, dass es entscheidend davon abhänge, ob ein Rückkehrer auf familiäre Strukturen zurückgreifen könne.

Das Verwaltungsgericht hat zu den nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ausgeführt, für alleinstehende männliche Staatsangehörige bestehe im Allgemeinen keine extreme allgemeine Gefahrenlage (UA S. 6). Dies gelte auch angesichts des Umstands, dass der Kläger im Iran gelebt habe, weil er eine der beiden Landessprachen spreche. Zudem verfüge er über eine berufliche Erfahrung als Schneider und könne Kontakt zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten herstellen.

Das entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Dieser schätzt weiterhin die Lage in Afghanistan nicht derart ein, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. B.v. 29.11.2017 – 13a ZB 17.31251 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 29.11.2017 a.a.O.; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 –13a B 13.30279 – juris).

Die Ausführungen im Zulassungsantrag geben keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Der Kläger nennt keine neuen Erkenntnisse, die den Schluss rechtfertigen würden, dass die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs überholt wäre. Aus den von ihm zitierten aktuellen Auskünften ergibt sich nicht, dass die humanitäre Situation eine Existenzgründung ausschließen würde. Der Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (S. 22) geht vielmehr davon aus, dass die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbands aufgrund kultureller Bedingungen vor allem in größeren Städten realistisch seien. Die Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 vom 28. Juli 2017 verhält sich hierzu nicht, weist aber darauf hin, dass die afghanische Regierung unter Beteiligung der internationalen Gebergemeinschaft sowie internationaler Organisationen mit der Schaffung einer Koordinierungseinheit (Displacement and Returns Executive Committee) zur Reintegration der Binnenflüchtlinge und Rückkehrer reagiert habe. Ein Großteil der internationalen Gebergemeinschaft habe zudem beschlossen, die Finanzmittel für humanitäre Hilfe im Rahmen eines Hilfsappells des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheiten OCHA Ende 2016 aufzustocken (S. 11). Nach den „UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender“ vom 19. April 2016 (S. 10) werden zwar vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, aber zugleich darauf hingewiesen, dass alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage seien, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben. In diesem Sinn wird auch von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 30.9.2016, S. 27) berichtet, dass verletzliche Personen über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft verfügten. Das Update vom 14. September 2017 weist ebenfalls auf die schwierige Situation der Rückkehrenden hin (S. 32), ohne jedoch weitere Folgerungen daraus zu ziehen. Übereinstimmend mit UNHCR lässt sich hieraus im Rückschluss entnehmen, dass nicht verletzliche Personen – alleinstehende, leistungsfähige Männer – grundsätzlich in der Lage sind, sich eine Existenz aufzubauen.

Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten.

Darüber hinaus hat sich das Verwaltungsgericht mit der konkreten Situation des Klägers befasst und ist zum Ergebnis gelangt, dass er mit seinen Fähigkeiten in der Lage sein werde, sich eine Existenz aufzubauen. Das schließt eine allgemeine Klärung aus. Im Übrigen hängt es wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen; es entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung (BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226 = NVwZ-RR 2011, 48).

Soweit sich der Kläger auf den Zulassungsbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (B.v. 6.2.2017 – A 11 S 164/17 – Asylmagazin 2017, 105) bezieht, ergibt sich nichts anderes. Diesem Beschluss lässt sich nur entnehmen, dass grundsätzlich zu klären sei, ob ein alleinstehender junger gesunder afghanischer Mann mit der Herkunftsregion Herat, der sich ab dem Alter von vier Jahren im Iran aufgehalten habe, bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Blick auf die aktuelle Lage ein Existenzminimum sichern könne. Andere Ausgangsdaten als diejenigen, die der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde liegen, werden nicht genannt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der am ... März 1997 in Ghazni/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischen Glaubens vom Volk der Hazara. Er reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Februar 2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. März 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise habe er in Afghanistan in der Provinz Ghazni im Distrikt Nahoor in der Region Sabzaab gelebt. Vor ungefähr neun Monaten sei er ausgereist. Die Reise habe bis zum Iran 60.000 Afghani gekostet. Die Kosten habe sein Bruder getragen. Für die weitere Reise nach Deutschland seien es etwa 9.000,00 EUR gewesen. Das Geld stamme aus dem Verkauf ihres Landes. Seine Eltern seien tot. Er habe keine nahen Verwandten in Afghanistan. Es gebe ein paar Cousins, zu denen er keinen Kontakt habe. Ihren Aufenthaltsort kenne er nicht. Er habe bis zur sechsten Klasse die Schule besucht. Er habe als Fliesenleger gearbeitet. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Kläger an, es habe in ihrer Region große Probleme mit Kutschi-Nomaden gegeben, die sie regelmäßig - schon als er noch ein Kind gewesen sei - im Frühling angegriffen und Vieh und Vorräte genommen hätten. Sie hätten auch seinen Vater getötet. Persönlich angegriffen worden sei er nicht. Er sei immer gegangen, bevor die Kutschi gekommen seien. Im letzten Jahr habe es einen großen Angriff der Kutschi gegeben. Es seien viele Menschen aus ihrer („unserer“) Heimatregion vertrieben worden.
Mit Bescheid vom 5. April 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie auch den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt.
Gegen den am 20. Mai 2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 30. Juni 2016 unter Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Klagefrist Klage zum Verwaltungsgericht. Zur Begründung trug er vor, auf Grund einer fehlerhaften Namensbezeichnung sei ihm der Bescheid erst auf Nachfrage beim Sozialen Dienst und gezielte Suche hin am 23. Juni 2016 bekannt geworden. In der Sache selbst trug er vor, er habe im Ort Sabzeab in der Provinz Ghazni mit seinem Bruder und seinem Vater gelebt. Der Ort sei regelmäßig von Kutschi-Nomaden angegriffen worden. Das Land seines Vaters sei regelmäßig von Kutschi besetzt worden. Im Alter von 15 Jahren habe er mitansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi erschossen worden sei, als dieser versucht habe, sein Land zu verteidigen. Aus Angst vor Angriffen hätten der Kläger und sein Bruder das Land des Vaters verkauft und seien ins etwa drei Autostunden entfernte Nawur geflohen. Dort habe der Kläger als Fliesenleger arbeiten können. Von ehemaligen Nachbarn aus Sabzeab hätten sie erfahren, dass die Kutschi, die früher die Ländereien besetzt hätten, sie suchten. Die Kutschi verübelten ihnen, dass sie das Land verkauft hätten und dieses nun wegen der wehrhaften neuen Eigentümer nicht mehr besetzt werden konnte. Aus Angst von den Kutschi hätten die Brüder sich zur Flucht entschlossen. Mit dem Geld aus dem Landverkauf seien sie in den Iran geflohen. Von dort habe sie ein Schlepper für 60.000 Afghani zur türkischen Grenze gebracht. Dort habe er seinen Bruder bei einem Zusammenstoß mit türkischen Grenzbeamten verloren. Er habe seine Flucht über das Mittelmeer allein fortgesetzt und nochmals 9.000 EUR bezahlen müssen. Beim Bundesamt habe er nur sehr unvollständige Angaben gemacht, weil ihm nicht klar gewesen sei, wie ausführlich er habe berichten sollen. Er sei mittellos und in Afghanistan völlig auf sich allein gestellt. Zur Familie der Mutter bestehe schon seit deren Tod kein Kontakt mehr. Der Kontakt zu seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie sei abgebrochen. Außerdem verwies der Kläger auf die Situation der Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan im Allgemeinen.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2016 vor dem Verwaltungsgericht beantragte der Kläger, ihm wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, den Bescheid des Bundesamts vom 5. April 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft - hilfsweise subsidiären Schutz - zuzuerkennen und weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Im Rahmen seiner Anhörung gab der Kläger an, er habe in Afghanistan einen Onkel, von dem er aber nicht wisse, wo er sich aufhalte. Wo sein Bruder sei, wisse er nicht. Verwandte in Deutschland habe er nicht. Er gehe hier zur Schule. Er habe sein Heimatdorf verlassen, weil sie im Dorf ständig von den Kutschi-Nomaden gestört worden seien. Sie seien von diesen geschlagen worden. Einmal sei sein Arm von einem der Kutschi mit einem Gewehrkolben gebrochen worden. Sein Vater sei hinzugekommen und erschlossen worden. Sie hätten bei der Polizei Anzeige erstattet, aber keine Hilfe erhalten. Sie hätten dann die Grundstücke unter Preis verkauft. Etwa drei bis vier Monate nach dem Tod des Vaters seien sie nach Nawur. Dort hätten sie zwei bis drei Monate bei einer Hazarafamilie gewohnt, die sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit aufgenommen habe. Anders als sein Bruder habe er selbst wegen des gebrochenen Arms nicht arbeiten können. Die Kutschi hätten sie weiter gesucht. Danach seien sie ins etwa drei bis dreieinhalb Fußstunden entfernte Dorf Gorgoshte gegangen. Dort hätten sie drei bis dreieinhalb Monate bzw. vier bis fünf Monate lang gewohnt. Sie hätten dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie dann etwa eineinhalb Jahre in einem Ort namens Kakrak gelebt hätten. Sie hätten für den Mann geputzt und beim Fliesenlegen geholfen. Befragt nach seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr schilderte der Kläger unter Darstellung jüngster Vorfälle, Hazara würden in Afghanistan unterdrückt, entführt und schlecht behandelt. Hazara müssten in Kabul wegen der schlechten Sicherheitslage von Bodyguards geschützt werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. Oktober 2016 ab. Die Klage sei zwar zulässig, da hinsichtlich der versäumten Klagefrist angesichts des Ablaufs in der Gemeinschaftsunterkunft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheide aber aus. Ob der Kläger in seinem Heimatland in der Vergangenheit einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei könne offenbleiben, da er internen Schutz jedenfalls in der Stadt Kabul erlangen könne. Anhaltspunkte dafür, dass die Kutschi dem Kläger landesweit nachstellen könnten, seien nicht ersichtlich. Die Hazara unterlägen auch nicht als soziale Gruppe in Kabul einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung. Auch der Zuerkennung subsidiären Schutzes stehe die Möglichkeit internen Schutzes entgegen. Nationale Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Da davon auszugehen sei, dass der Kläger in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sei nicht ersichtlich, dass aus den humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliege. Schließlich bestehe auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 31. Januar 2017 die Berufung gegen das Urteil zugelassen.
Auf den am 7. Februar 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger nach entsprechend gewährter Fristverlängerung am 21. März 2017 unter Stellung eines Antrags die Berufung begründet. Er vertritt unter Wiederholung und Darstellung seiner Angaben im Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht sowie der Urteilsbegründung die Auffassung, ihm sei auf Grund erlittener flüchtlingsrelevanter Verfolgung in Afghanistan - dem Angriff der Kutschi-Nomaden, bei dem ihm selbst der Arm gebrochen worden und sein ihm zu Hilfe eilender Vater erschossen worden sei - die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die im Urteil als widersprüchlich kritisierten Angaben beruhten womöglich darauf, dass der Kläger die Fragen beim Bundesamt nicht richtig verstanden habe. Es seien auch die mit 40 Minuten kurze Dauer der Bundesamtsanhörung, die fehlenden Rückfragen des Entscheiders, der Kulturkreis des Klägers sowie dessen Bildungsstand und Alter zu berücksichtigen. Unter Darstellung verschiedener Erkenntnisquellen argumentiert der Kläger, der Konflikt zwischen den Hazara und den Kutschi sei eine ethnisch bedingte, nichtstaatliche Verfolgung, vor der der afghanische Staat keinen Schutz gewähre bzw. gewähren könne. Interner Schutz in Kabul oder einem anderen Landesteil könne der Kläger in Anbetracht der Sicherheitslage nicht erlangen. Insbesondere sei es ihm angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Lage, nicht zumutbar, sich in Kabul niederzulassen. Er könne seine Existenz dort nicht sichern. Zuletzt hat der Kläger zudem zu seiner gesundheitlichen Situation vorgetragen und ärztliche Schreiben zu einer bei ihm festgestellten und behandelten Herzrhythmusstörung vorgelegt.
10 
Der Kläger beantragt,
11 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
13 
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan bestehen.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Berufung zurückzuweisen.
16 
Zur Begründung trägt sie unter Darstellung zahlreicher Erkenntnisquellen vor, aus der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara folge nicht die Gefahr landesweiter Verfolgung.
17 
Der Senat hat den Kläger im Rahmen der am 13. Oktober 2017 durchgeführten mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Zum Inhalt der Anhörung wird auf die Niederschrift zum Verhandlungstermin Bezug genommen.
18 
Der Kläger hat unmittelbar vor sowie im Anschluss an Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 ergänzend Unterlagen zu seinem gesundheitlichen Zustand vorgelegt. Es handelt sich um folgende Dokumente:
19 
- Schreiben des Universitätsklinikums H... vom 5. Oktober 2017 zur Vorstellung in der Chest Pain Unit des Klinikums am selben Tag mit der Verdachtsdiagnose „Wolff-Parkinson-White-Syndrom“ (einer Herzrhythmusstörung), wobei zum weiteren Vorgehen eine Wiedervorstellung zur Durchführung einer elektrophysiologischen Diagnostik und Kathetertherapie für den 23. Oktober 2017 vermerkt wurde sowie
20 
- Schreiben des Universitätsklinikum H… vom 23. Oktober 2017 zur erfolgreichen transseptalen Ablation einer linksposteroseptalen Bahn bei WPW-Syndrom;
21 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. (Ärzte für Innere Medizin, Kardiologische Diagnostik u.a.) vom 6. November 2017, wonach beim Kläger am 23. Oktober 2017 im Rahmen der elektrophysiologischen Untersuchung erfolgreich abladiert und eine Leitungsbahn am Herzen erfolgreich habe verödet werden können;
22 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. vom 13. November 2017 zu Rückfragen der Klägervertreterin bezüglich der Wahrscheinlichkeit sowie der Folgen eines möglichen Rezidivs.
23 
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 28. und 29. November 2017 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
24 
Dem Senat liegen die verfahrensbezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Sonstige Literatur

 
538 
Inhalt
        
                 
Tatbestand
- 3 -
Entscheidungsgründe
- 8 -
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
- 8 -
     1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
- 8 -
          a) §§ 3, 3a AsylG
- 9 -
          b) § 3c AsylG
- 10 -
          c) § 3e AsylG
- 10 -
          d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
- 11 -
          e) Maßstab der Überzeugungsbildung
- 13 -
     2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
- 15 -
     3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara            
- 17 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 17 -
          b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
- 19 -
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
- 29 -
     1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
- 29 -
     2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
- 29 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 30 -
          b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
- 31 -
          c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
- 32 -
     3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
- 34 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 35 -
          b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
- 37 -
          c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
- 40 -
III. Nationales Abschiebungsverbot
- 42 -
     1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
- 42 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 43 -
          b) Lebensverhältnisse landesweit
- 48 -
          c) Lebensverhältnisse in Kabul
- 70 -
          d) Subsumtion
- 75 -
     2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
- 82 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 83 -
          b) Subsumtion
- 86 -
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
- 88 -

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger ist Staatsangehöriger Afghanistans, Zugehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am … November 2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. Januar 2015 Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … August 2016 gab er im Wesentlichen an, dass er im Iran geboren und aufgewachsen sei. Iranische Polizisten hätten ihn mitgenommen und ihn geschlagen, als er gefragt habe, wohin sie fahren. In einer Art Sicherheitszentrale hätten sie ihn nach seinem Bruder gefragt. Sie hätten ihm nicht geglaubt, dass er nicht wisse, wo dieser sei und ihn geschlagen. Sie hätten auch gewollt, dass er nach Syrien gehe und dort auf Seiten der Schiiten die ISIS bekämpfe. Nach einiger Zeit hätten sie ihn ins Freie geführt. Er habe sich in einen großen Lkw-Reifen legen müssen und die Männer hätten den Reifen mehrmals einen Hang runterlaufen lassen. Er habe versucht, aus dem Reifen herauszukommen und habe sich dabei das Knie an einem großen Stein aufgeschlagen und das Bein gebrochen. Einer der Männer sei zu ihm gekommen und habe auf ihn eingeschlagen und getreten, vor allem in seinen Bauch, woraufhin er bewusstlos geworden sei. Sie hätten ihn dann in der Nähe seines Geschäftes auf dem Boden zurückgelassen. Er sei im Krankenhaus aufgewacht, nachdem er acht Tage bewusstlos gewesen und ihm die Milz entfernt worden sei. Danach habe er noch zwei Knie-OPs gehabt. Nach eineinhalb Monaten sei er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nach ca. drei Wochen habe er noch einmal ins Krankenhaus gemusst, ihm seien die Schienen abgenommen und mehrere Schrauben in das Knie gebohrt worden. Er habe zuerst nicht gehen können und sei bei seinen Eltern zuhause geblieben. Nach eineinhalb Jahren hätten er und sein Bruder Iran verlassen. Afghanistan sei nie eine Option gewesen, sein Vater habe in Afghanistan Probleme gehabt und seinerzeit wegen Erbstreitigkeiten in den Iran fliehen müssen. Die Cousins des Vaters würden diesen oder auch andere Familienmitglieder, die einen Erbanspruch stellen könnten, töten. Sein Vater sei telefonisch gewarnt worden, dass, wenn er zurückkomme, die Verwandten schon einen Plan hätten, ihn zu töten. Jeder der Familie, der nach Afghanistan komme, sei mit dem Leben bedroht. Er könne keinen Schutz von der Polizei erhalten. Da er Dari mit persischem Akzent spreche, wäre die Polizei ihm feindlich gesinnt. Aufgrund des Akzents wäre er zu erkennen, so dass seine Verwandten ihn finden würden. Auch gäbe es einen Foto-Austausch mit einer Cousine in Afghanistan.

Atteste vom … Mai 2016 sowie … und … August 2016, wonach der Kläger Gastritiden und Kniebeschwerden habe und die freie Gehstrecke auf unter 1000m begrenzt sei, wurde vorgelegt.

Mit Bescheid vom 22. November 2016, zugestellt am 24. November 2016, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, andernfalls wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger habe nichts vorgetragen, keine konkreten individuellen Verfolgungsgründe oder Unterlagen vorgelegt, was zu der Überzeugung gelangen ließe, dass in Afghanistan die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ernsthaften Schadens im flüchtlingsrechtlichen Sinne erfüllt seien. Die geschilderten Ausreisegründe des Jahres 2012 in die Bundesrepublik Deutschland bezögen sich auf den Iran. Der Kläger habe sich pauschal, vage und vielmehr nur ganz allgemein auf eine Bedrohung wegen Erbstreitigkeiten seines Vaters vor vielen Jahren berufen. Konkrete Bedrohungen im Sinne von Verfolgungshandlungen, die in ihrer Art und Wiederholung so gravierend seien, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellten, seien im Fall des Klägers nicht erkennbar. Aus seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara folge nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung. Bei vorgekommenen Entführungen und Ermordungen habe es sich um lokal begrenzte Einzelfälle gehandelt. Es könne dem Kläger auch zugemutet werden, sich in einem sicheren Landesteil aufzuhalten. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes lägen nicht vor. Dem Kläger drohe im Rahmen der Rückkehr keine Todesstrafe, Folter oder erniedrigende, unmenschliche Behandlung oder Bestrafung. Er habe in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen Konflikt gestanden und keine Berührungspunkte mit öffentlichen Organen oder anderen Gruppierungen in Afghanistan gehabt. Der Kläger müsse keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit befürchten, weil er als Zivilperson nicht von willkürlicher Gewalt im Rahmen eines in seinem Herkunftsland bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts betroffen sei. Für keine der afghanischen Provinzen könne generell ein Gefährdungsgrad für Zivilpersonen angenommen werden, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr allein auf Grund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet und Anwesenheit dort rechtfertige. Schließlich habe der Kläger auch keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr für ihn so erhöhten, dass von individuellen konfliktbedingten Gefahren gesprochen werden könne. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer individuellen Gefahrerhöhung ausgesetzt wäre. Er gehöre zur Gruppe der arbeitsfähigen Männer, bei denen grundsätzlich davon auszugehen sei, dass innere Schutzmöglichkeiten zumindest in afghanischen Städten wie z.B. …, Herat oder Mazar-e-Sharif sowie in den Provinzen Bamiyan und Panjshir bestünden und dass sie dort das erforderliche Existenzminimum erlangen könnten. Dies gelte auch, wenn er bei einer Rückkehr nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen könne. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Dem Kläger drohe in Afghanistan keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Soweit er vortrage, er habe sich nur im Iran aufgehalten, führe dies nicht zu der Annahme, er könne bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort nicht existieren. Selbst ein fehlender vorheriger Aufenthalt in Afghanistan schließe eine Rückkehr dorthin nicht grundsätzlich aus. Maßgeblich sei vielmehr, ob der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht habe und eine der beiden Landessprachen spreche. Ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ möge die Sicherung des Lebensunterhalts vereinfachen. Anhaltspunkte, dass dies erforderlich sein könnte, seien jedoch vorliegend nicht ersichtlich. Der Kläger sei ein volljähriger Mann, der im Falle einer Rückkehr in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen, sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben. Auch aus dem Vorbringen hinsichtlich bestehender Erkrankungen ergäben sich keine ernsthaften Anhaltspunkte für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Entgegen der aus § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG abzuleitenden Verpflichtung zur Darlegung der relevanten Umstände, sei bislang nicht ausreichend substantiiert vorgetragen worden, dass der Kläger an einer Erkrankung leide, deren notwendige Behandlung im Heimatland nicht erlangbar wäre und dies in absehbarer Zeit zu einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben im Sinne einer beachtlichen Gesundheitsbeeinträchtigung führe.

Mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2016, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am 4. Dezember 2016, erhoben die Prozessbevollmächtigten des Klägers Klage und beantragten,

  • 1.den Bescheid vom 22. November 2016 in Ziff. 1 und 3 bis 6 aufzuheben,

  • 2.die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutzstatus zu gewähren, hilfsweise, das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich laut der UNHCR-Stellungnahme vom Dezember 2016 die Situation derart verschärft/verschlechtert habe, dass die bisherige Rechtsprechung zur Rückkehrmöglichkeit junger, gesunder Flüchtlinge grundlegend neu bewertet werden müsse. Es sei keine Unterscheidung von „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten vorzunehmen, sondern die Bedrohungslage sei auf der Basis eines bereits neu festgestellten hohen Niveaus unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls zu bewerten. Für „normale“ Rückkehrer müsse im Rahmen einer Relevanzprüfung von einer fehlenden Rückkehrmöglichkeit sowohl nach … als auch in andere Gebiete gesprochen werden. Zu einem anderen Ergebnis komme man nur bei einem starken sozialen Netzwerk. UNHCR berücksichtige den sich massiv verschärfenden Konflikt, der sich landesweit ausgebreitet habe, den massiven Anstieg von Opfern bei Militär, Polizei und Zivilisten sowie die Zunahme an interner Flucht und Vertreibung sowie an Rückkehrern. In … führe dies zu katastrophalen Verhältnissen in der Wohnraumsituation, der medizinischen Betreuung sowie zum Fehlen jeglicher zumutbarer Arbeit. Für den Kläger, der keinerlei verwandtschaftliche oder sonstige Bezüge nach Afghanistan habe und nicht der Mehrheitsreligion angehöre, bedeute die Abschiebung die Rückkehr in eine für ihn aussichtslose Lage.

Die Beklagte stellte keinen Antrag.

In der mündlichen Verhandlung beantragte die Klägerseite,

  • 1.den Bescheid vom 22. November 2016 in Nrn. 3 bis 6 aufzuheben,

  • 2.die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutzstatus zu gewähren, hilfsweise, das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 6. März 2017 Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 6. März 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagtenseite nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da die angefochtenen Nrn. 3 bis 6 des Bescheids vom 22. November 2016 rechtmäßig sind und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen; dieser hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes (s.u. 1.) oder auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen (s.u. 2.; vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

1. Die Beklagte hat zu Recht die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG abgelehnt.

1.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

  • 1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,

  • 2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder

  • 3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

1.2 Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Kläger in Afghanistan die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung droht.

Aber auch eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG kann nicht bejaht werden:

a) Bezugspunkt für die Beurteilung der Bedrohung ist der tatsächliche Zielort des Ausländers. Da der Kläger im Iran geboren und aufgewachsen ist, ist zu erwarten und für ihn auch zumutbar, sich in größeren Städten, wie … und Herat, niederzulassen. In diesen Städten ist jedoch nicht von einer erheblichen individuellen Gefahr auszugehen. Eine Individualisierung der Gefahr kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben, wie etwa berufsbedingter Nähe zu einer Gefahrenquelle oder einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 - juris Rn. 18).

Derartige Umstände liegen in der Person des Klägers jedoch nicht vor. Insbesondere die Tatsache, dass er Schiit und Hazara ist, führt zu keiner Gefahrenerhöhung. Zwar ist der überwiegende Anteil der Bevölkerung sunnitischer Religionszugehörigkeit, aber Auseinandersetzungen sind selten und seit dem Ende des Taliban-Regimes hat sich die Situation der schiitisch-muslimischen Gemeinde wesentlich verbessert (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 - 3 A 140/16 - juris Rn. 42 m.w.N.). Zudem sind gerade in Herat große Teile der Bevölkerung Schiiten (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 19.4.2016, S. 59). Hazara unterliegen zwar noch einer gewissen Diskriminierung, sind derzeit und in überschaubarer Zukunft aber weder einer an ihre Volks- bzw. Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten Verfolgung noch einer erheblichen Gefahrendichte ausgesetzt (BayVGH, B.v. 20.1.2017 - 13a ZB 16.30996).

Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände kann eine Individualisierung nur ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 - juris Rn. 19).

In … und Herat besteht aber nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Gefährdung, insbesondere die Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben. In der Zentralregion Afghanistans, zu der auch … gehört, wurden laut UNAMA (www.unama.unmissions.org; Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, annual report 2016) im Jahr 2016 2.348 Zivilpersonen getötet oder verletzt. Ausgehend von einer Einwohnerzahl von knapp 6 Millionen (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 - 3 A 140/16 - juris Rn. 32), ergibt sich ein Risiko von 1:2.530, verletzt oder getötet zu werden. Selbst bei einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen aufgrund einer hohen Dunkelziffer ergebe sich eine Wahrscheinlichkeit von 1:868, was keine erhebliche individuelle Gefahr darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - Rn. 22). In der westlichen Region, in der Herat liegt, gab es 836 Opfer. Bei einer Einwohnerzahl von über 3,5 Millionen (vgl. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 - 3 A 140/16 - juris Rn. 35) ergibt sich ein Risiko von nur ca. 1:4.244 bzw. - bei Berücksichtigung der Dunkelziffer - von 1:1.415.

b) Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar entschieden, dass es neben der quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, auch einer wertenden Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung bedarf. Ist allerdings die Höhe des quantitativ festgestellten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens - wie hier - weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, vermöge sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auszuwirken. Zudem sei die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - juris Rn. 24; 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 23; 27.4.2010 - 10 C 4.09 - juris Rn. 33).

Nach alledem ist es auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände weder in … noch in Herat beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden. Zumindest für alleinstehende männliche Staatsangehörige besteht in Afghanistan keine extreme Gefahrenlage (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2017 - 13a ZB 16.30374 - juris Rn. 11).

c) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den aktuellen Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern vom Dezember 2016.

Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan deutlich verschlechtert habe. Es werde keine Unterscheidung von „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten vorgenommen, sondern die Bedrohung unter Einbeziehung sämtlicher individueller Aspekte des Einzelfalls bewertet. UNHCR ist der Auffassung, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt betroffen sei. Es müsse ein starkes soziales Netzwerk im Gebiet der Neuansiedlung geben. Die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich seien in … aufgrund der andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen extrem angespannt und auch in Herat halte sich eine große Zahl von Binnenvertriebenen auf.

Abgesehen davon, dass auch bei der vom UNHCR geforderten Einbeziehung der individuellen Aspekte des Klägers nicht von einer Gefahr, aufgrund eines innerstaatlichen Konflikts getötet oder verletzt zu werden, auszugehen ist (s.o. a), beruht die Bewertung in den genannten Anmerkungen auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den oben (s. a, b) dargelegten Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung decken (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2017 - 13a ZB 16.30374 - juris Rn. 11; B.v. 20.1.2017 - 13a ZB 16.30996 - juris Rn. 9; VG Augsburg, U.v.19.12.2016 - Au 5 K 16. 31939 - juris Rn. 42). Basierend auf den oben dargelegten Zahlen ist auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger, bei dem keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht.

2. Auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG liegen nicht vor.

2.1 § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017, 3 A 140/16 - juris Rn. 53 m.w.N.). Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen. In Afghanistan ist die allgemeine bzw. humanitäre Lage aber nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn.12; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 - 3 A 140/16 - juris Rn. 55 ff.).

Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 - 13a ZB 16.30374 - juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 - 13a ZB 17.30044 - juris Rn. 5; B.v. 17.1.2017 - 13a ZB 16.30929 - juris Rn. 2; B.v. 22.12.2016 - 13a ZB 16.30684 - juris Rn. 7; U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 17; VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 - 3 A 140/16 - juris Rn. 60). Gerade Rückkehrer aus dem Westen sind dabei in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch die Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in Nachbarländer Afghanistans geflohen sind, wesentlich höher (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 21). Insbesondere werden in den vorgelegten Attesten vom … Mai 2016 und … bzw. … August 2016 lediglich Gastritiden und Kniebeschwerden diagnostiziert. Dass der Kläger deswegen nicht arbeitsfähig ist, kann diesen Unterlagen nicht entnommen werden.

2.2 Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegt nicht vor.

a) Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - juris Rn. 15).

Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige ist im Allgemeinen nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (in entsprechender Anwendung) führen würde (BayVGH, B.v. 25.1.2017 - 13a ZB 16.30374 - juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 - 13a ZB 17.30044 - juris Rn. 5). Wie bereits ausgeführt (s.o. 2.1), sind alleinstehende junge Männer auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiäre Unterstützung grundsätzlich in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger im Iran geboren und aufgewachsen ist. Auch für Afghanen, die sich nicht in Afghanistan aufgehalten haben, besteht, jedenfalls dann, wenn sie - wie der Kläger - eine der Landessprachen (hier: Dari) beherrschen, die Chance, insbesondere in … durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen. Maßgeblich ist, dass der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen beherrscht, nicht, ob ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ gegeben ist (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris Rn. 7; B.v. 20.12.2016 - 13a ZB 16.30129 - juris Rn. 10).

c) Gleiches gilt für den Umstand, dass der Kläger Hazara und Shiit ist. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen (s. 1.2 a) Bezug genommen.

d) Sofern der Kläger geltend macht, es bestünde mit Verwandten seines Vaters eine Erbstreitigkeit um ein Grundstück und diese hätten gedroht, den Vater bzw. die gesamte Familie zu töten, kann dies ebenfalls zu keinem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen.

aa) Zum einen sind die Angaben des Klägers insoweit nicht nur sehr pauschal, sondern auch widersprüchlich und damit nicht glaubhaft. So gab er beim Bundesamt am … August 2016 an, dass die Bedrohung von Cousins seines Vaters ausgehe, während er in der mündlichen Verhandlung am 6. März 2017 erklärte, dass das Problem mit dem Neffen seines Vaters bestehe.

bb) Zum anderen haben die Eltern bereits vor 30 Jahren Afghanistan verlassen und die angebliche telefonische Bedrohung des Vaters ist nach Angaben des Klägers auch schon zehn bis zwölf Jahre her, so dass nach diesem langen Zeitraum eine konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr wahrscheinlich ist (vgl. BayVGH, U.v. 21.6.2013 - 13a B 12.30170 - juris Rn. 29 zu einem Zeitraum von drei bzw. fünf Jahren).

cc) Hinzukommt, dass - wie bereits ausgeführt - davon auszugehen ist, dass sich der Kläger, der nach eigenen Angaben in Afghanistan ansonsten keine Verwandte hat, in einer Großstadt, wie z.B. … oder Herat, niederlassen wird. Es ist aber nicht ersichtlich, wie ihn seine Verwandten, selbst wenn diese ihn suchen sollten, dort finden könnten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger, wie er angibt, Dari mit persischem Akzent spricht, da es in den Großstädten zahlreiche Flüchtlinge und Rückkehrer gibt, die Dari nicht akzentfrei sprechen.

Somit kann von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgegangen werden.

3. Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.

4. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des Bescheids vom22. November 2016 keinen rechtlichen Bedenken.

Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal die Klägerseite diesbezüglich keine substantiierten Einwendungen vorgebracht und insbesondere kein fehlerhaftes Ermessen gerügt hat.

Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO bzw. - soweit die Klage teilweise zurückgenommen wurde - aus § 155 Abs. 2 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Tenor

I.

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 wird die Klage abgewiesen.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

III.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 31. Dezember 1993 in Herat geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und Hazara. Er reiste auf dem Landweg vom Iran über die Türkei, Griechenland, Italien und Österreich am 25. März 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. April 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 11. Juli 2012 gab der Kläger an, er spreche Dari, außerdem Farsi und ein wenig Englisch. Seit seinem zweiten Lebensjahr habe er mit seiner Familie im Iran gelebt. Die Familie stamme aus der Provinz Herat, Gebiet Guzara. Seine Eltern hätten sich zwar über Afghanistan unterhalten, aber er habe mit ihnen nicht darüber gesprochen. Sie seien wegen der schlechten Sicherheitslage, insbesondere für Hazara, geflohen. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Er habe im Iran, in Bodjnord, fünf Jahre die Schule besucht und anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Er habe immer drei bis vier Monate in Teheran gearbeitet und sei dann wieder zur Familie zurückgekehrt. Wann er aus dem Iran ausgereist sei, wisse er nicht. Er sei seit über zweieinhalb Jahren unterwegs. Eineinhalb Jahre sei er in der Türkei gewesen, neun bis zehn Monate in Griechenland. Die Fahrt habe er mit seinem Verdienst in Teheran finanziert. In Griechenland habe er nicht gearbeitet, in der Türkei als Spüler in Restaurants. Den Iran habe er verlassen, weil die Afghanen dort unterdrückt würden. Die Familie habe auch keine offiziellen Dokumente und sei nicht einmal sozialversichert. Er habe eine Schwester mit elfeinhalb Jahren und einen Bruder mit ca. zehn Jahren.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 wurde der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt (1.), festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (2.) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. (3.) nicht vorliegen und dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (4.). Zur Begründung ist ausgeführt, wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara liege keine Verfolgung vor. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Herat bestehe nicht. Auch die Voraussetzungen von nationalen Abschiebungsverboten lägen nicht vor, insbesondere bestehe keine extreme Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Da der Kläger nach seinen Angaben bereits nach Beendigung der Schule in Restaurants gearbeitet und Motorräder repariert habe, könne er auch ohne den Rückhalt seiner Familie das erforderliche Einkommen erzielen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage an das Verwaltungsgericht München verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. In der mündlichen Verhandlung am 25. März 2014 erklärte der Kläger, Bodjnord sei etwa 17 bis 18 Stunden mit dem Bus von Teheran entfernt, wo er gearbeitet habe. In Deutschland habe er keine Schule besucht und keine Berufsausbildung gemacht. Derzeit arbeite er in einem Restaurant. Mit Urteil vom 25. März 2014 wurde der Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 antragsgemäß in Nr. 3 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt. Zudem wurde er in Nr. 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Die allgemeine Gefahr in Afghanistan habe sich in der Person des Klägers trotz seiner Volljährigkeit ausnahmsweise zu einer extremen Gefahr verdichtet. Aufgrund der besonderen Umstände kommt das Verwaltungsgericht zum Schluss, dass der Kläger, der bereits im Alter von zwei Jahren sein Herkunftsland dauerhaft mit seiner Familie verlassen habe, mit den Verhältnissen in Afghanistan nicht vertraut sei und zudem über keine Berufsausbildung verfüge, nicht dazu in der Lage wäre, die hohen Anforderungen so bewältigen zu können, dass er sich ohne die Hilfe eines aufnahmebereiten Familienverbands wenigstens ein Existenzminimum erwirtschaften könnte. Allein aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit sei davon auszugehen, dass ihm die aktuellen Lebensumstände in Afghanistan fremd seien. Er sei mit den Gepflogenheiten der afghanischen Gesellschaft nicht vertraut, zumal dort während seiner Abwesenheit entscheidende Umbrüche und Veränderungen stattgefunden hätten. Erschwerend wirke sich die fehlende Berufsausbildung aus.

Auf Antrag der Beklagten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 25. August 2014 die Berufung zugelassen wegen Divergenz zur Rechtsprechung des Senats zur extremen Gefahrenlage in den Fällen, in denen der betreffende Ausländer Afghanistan bereits im Kleinkindalter verlassen hat (BayVGH, U. v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris). Unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag und die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs führt die Beklagte aus, dass bei alleinstehenden, arbeitsfähigen und gesunden männlichen afghanischen Rückkehrern in aller Regel kein Abschiebungsschutz in Betracht käme, zumal Mittel der Rückkehrförderung in Anspruch genommen werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger geht davon aus, dass er gemessen an seiner persönlichen Situation ausnahmsweise alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Er beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG) nicht verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein national begründetes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, weshalb alle entsprechenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind (BVerwG, U. v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Allerdings sind weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 noch diejenigen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig (EMRK) ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG(U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen („zielstaatsbezogene“ Abschiebungshindernisse). Dabei sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können jedoch nur in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 unter Verweis auf EGMR, U. v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U. v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U. v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Besondere Umstände, die vorliegend eine andere Beurteilung gebieten würden, hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch nicht erkennbar.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird.

Auf eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat sich der Kläger, der sich nach seinen Angaben ab seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat, nicht berufen. Vielmehr trägt er vor, dass seine Eltern Afghanistan wegen der damaligen schlechten Sicherheitslage - eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG - verlassen hätten. Diese kann auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BVerwG, U. v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 - BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr hat durch die Verwaltungsvorschriften zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) mit Rundschreiben vom 3. März 2014, Az. IA2-2081.13-15 bezüglich der Rückführungen nach Afghanistan verfügt, dass nach wie vor alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind, vorrangig zurückzuführen sind (s. BayVVAuslR Nr. C.3.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG; vgl. nur BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; 137, 226). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B. v. 23.8.2006 - 1 B 60.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).

Im Hinblick auf die unzureichende Versorgungslage hat sich die allgemeine Gefahr in Afghanistan für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten wäre. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich aus den Erkenntnismitteln nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären (seit U. v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris; zuletzt U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris). Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Der Senat hat sich dabei im Urteil vom 30. Januar 2014 (a. a. O.) u. a. auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: 4. Juni 2013) gestützt sowie auf die Stellungnahmen von Dr. Danesch vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, von Dr. Karin Lutze (stellvertretende Geschäftsführerin der AGEF - Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit i.L.) vom 8. Juni 2011 an das OVG Rheinland-Pfalz (zum dortigen Verfahren 6 A 11048/10.OVG) und von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 1. Juni 2012. Nach den dortigen Erkenntnissen geht der Senat davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts bestehen und jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nichts anderes. Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014 (Stand: Februar 2014, S. 19 ff. - Lagebericht 2014) stellt zum einen fest, dass sich Afghanistans Bewertung im Human Development Index kontinuierlich verbessert habe. Auch wenn Afghanistan weiterhin einen sehr niedrigen Rang belege und der Entwicklungsbedarf noch beträchtlich sei, habe es sich einerseits in fast allen Bereichen positiv entwickelt. Die afghanische Wirtschaft wachse, wenn auch nach einer starken Dekade vergleichsweise schwach. Andererseits würden Investitionen aufgrund der politischen Unsicherheit weitgehend zurückgehalten. Allerdings könne nach dem Wahljahr 2014 mit einer Normalisierung des durch die starke Präsenz internationaler Truppen aufgeblähten Preis- und Lohnniveaus zu rechnen sein. Eine weitere Abwertung der afghanischen Währung könnte zu einer gestärkten regionalen Wettbewerbsfähigkeit afghanischer Produkte führen. Negativ würde sich jedoch zum anderen eine zunehmende Unsicherheit und Destabilisierung des Landes auswirken. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei auch bei einer stabilen Entwicklung der Wirtschaft eine zentrale Herausforderung. Für größere Impulse mangle es bisher an Infrastruktur und förderlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer umfassenden politischen Strategie. Da die Schaffung von Perspektiven auch zu Sicherheit und Stabilität beitrage, sei die Unterstützung der Privatwirtschaft einer der Schlüsselbereiche der bilateralen Zusammenarbeit. Im Übrigen greift der Lagebericht 2014 mit Ausnahme der medizinischen Versorgung keine Einzelaspekte auf, sondern stellt nur die generelle Situation für Rückkehrer und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dar. Es wird darauf verwiesen, dass es an grundlegender Infrastruktur fehle und die Grundversorgung - wie schon bisher - für große Teile der Bevölkerung eine große Herausforderung sei. Die medizinische Versorgung habe sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, falle allerdings im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Nach wie vor seien die Verfügbarkeit von Medikamenten und die Ausstattung von Kliniken landesweit unzureichend.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 18 ff. - SFH) führt aus, dass 36% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Besonders die ländliche Bevölkerung sei den starken klimatischen Schwankungen hilflos ausgeliefert. Die Zahl der Arbeitslosen werde weiter ansteigen. 73,6% aller Arbeitstätigen gehörten zu den working poor, die pro Tag zwei US$ oder weniger verdienten. Die Analphabetenrate sei weiterhin hoch und die Anzahl der gut qualifizierten Fachkräfte sehr tief.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 9 [UNHCR-Richtlinien] und Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan - Erkenntnisse u. a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013 vom August 2014 [UNHCR-2014]) geht davon aus, dass es für eine Neuansiedlung grundsätzlich bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm bedarf. Die einzige Ausnahme seien alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf, die unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben könnten, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung böten, und die unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle ständen.

Zusammenfassend lassen sich damit aus diesen Berichten keine für die Beurteilung der Gefahrenlage relevanten Änderungen entnehmen. Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen sind insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind, wesentlich höher. Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Nach der Beurteilung des Auswärtigen Amts in der Auskunft vom 2. Juli 2013 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (um Verfahren 8 A 2344/11.A) dürfte es unwahrscheinlich sein, dass besonders in der Hauptstadt Kabul Personen verhungern oder verdursten. Im Urteil vom 4. September 2014 (8 A 2434/11.A - juris) teilt der Hessische Verwaltungsgerichtshof die vorliegende Einschätzung (ebenso OVG NW, U. v. 27.1.2015 - 13 A 1201/12.A - juris). Demgegenüber stellt der Kläger lediglich die Vermutung auf, dass sich die Situation für Rückkehrer verschlechtert habe. Konkrete Anzeichen, die auf eine Verschlechterung hinweisen würden, benennt er nicht. Er beschränkt sich vielmehr auf Annahmen, ohne dass sich diese auf signifikante Veränderungen stützen würden.

Bei dieser Ausgangslage bedurfte es auch nicht der Einholung einer neuen Auskunft.

Die vorhandenen Auskünfte ergeben einen ausreichenden Einblick in die tatsächliche Lage in Afghanistan. Im Hinblick auf den teilweisen Abzug der internationalen Truppen ergibt sich nichts anderes. Anhaltspunkte, dass sich bei der Versorgungs- und Sicherheitslage im jetzt maßgeblichen Zeitpunkt erhebliche Veränderungen ergeben hätten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Ob in Zukunft Verschlechterungen eintreten werden, lässt sich derzeit nicht beurteilen.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Kläger als Angehöriger der Minderheit der Hazara keine Chance hätte, sich als Tagelöhner oder Gelegenheitsarbeiter zu verdingen. Die vorliegenden Gutachten und Berichte enthalten keine entsprechenden Hinweise. Der Umstand, dass der Kläger seit seinem zweiten Lebensjahr mit seiner Familie im Iran gelebt hat, steht der Annahme, er könne sich in Kabul auf sich allein gestellt notfalls „durchschlagen“, ebenfalls nicht entgegen. Hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof bereits im Urteil vom 24. Oktober 2013 (13a B 13.30031 - juris) ausgeführt, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Heimatland scheitere. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht. Ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ mag die Sicherung des Lebensunterhalts vereinfachen. Anhaltspunkte, dass dies erforderlich sein könnte, sind jedoch nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor. Der Kläger ist im Iran, einer islamisch geprägten Umgebung, aufgewachsen und spricht Farsi sowie die hiermit sehr eng verwandte Landessprache Afghanistans Dari. Zudem hebt er sich bereits dadurch von der Masse der Arbeit suchenden Analphabeten ab, dass er im Iran fünf Jahre lang die Schule besucht hat. In Teheran hat er anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Damit konnte er nicht nur seinen Lebensunterhalt erwirtschaften, sondern auch die Ausreise sowie seinen neun- bis zehnmonatigen Aufenthalt in Griechenland, wo er nach seinen Angaben nicht gearbeitet hat, finanzieren. Während seines eineinhalb jährigen Aufenthalts in der Türkei hat er - ohne Kenntnis der Landessprache - als Spüler in Restaurants gearbeitet. Ebenso ist er derzeit in Deutschland in einem Gasthof als Küchenhilfe beschäftigt. In der mündlichen Verhandlung hat er zudem relativ gut Deutsch gesprochen. Mit diesen Erfahrungen und Kenntnissen ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa in Kabul, wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Das entspricht auch der Auffassung des UNHCR, wonach bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Betracht komme (UNHCR-2014).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der am ... März 1997 in Ghazni/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischen Glaubens vom Volk der Hazara. Er reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Februar 2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. März 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise habe er in Afghanistan in der Provinz Ghazni im Distrikt Nahoor in der Region Sabzaab gelebt. Vor ungefähr neun Monaten sei er ausgereist. Die Reise habe bis zum Iran 60.000 Afghani gekostet. Die Kosten habe sein Bruder getragen. Für die weitere Reise nach Deutschland seien es etwa 9.000,00 EUR gewesen. Das Geld stamme aus dem Verkauf ihres Landes. Seine Eltern seien tot. Er habe keine nahen Verwandten in Afghanistan. Es gebe ein paar Cousins, zu denen er keinen Kontakt habe. Ihren Aufenthaltsort kenne er nicht. Er habe bis zur sechsten Klasse die Schule besucht. Er habe als Fliesenleger gearbeitet. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Kläger an, es habe in ihrer Region große Probleme mit Kutschi-Nomaden gegeben, die sie regelmäßig - schon als er noch ein Kind gewesen sei - im Frühling angegriffen und Vieh und Vorräte genommen hätten. Sie hätten auch seinen Vater getötet. Persönlich angegriffen worden sei er nicht. Er sei immer gegangen, bevor die Kutschi gekommen seien. Im letzten Jahr habe es einen großen Angriff der Kutschi gegeben. Es seien viele Menschen aus ihrer („unserer“) Heimatregion vertrieben worden.
Mit Bescheid vom 5. April 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie auch den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt.
Gegen den am 20. Mai 2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 30. Juni 2016 unter Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Klagefrist Klage zum Verwaltungsgericht. Zur Begründung trug er vor, auf Grund einer fehlerhaften Namensbezeichnung sei ihm der Bescheid erst auf Nachfrage beim Sozialen Dienst und gezielte Suche hin am 23. Juni 2016 bekannt geworden. In der Sache selbst trug er vor, er habe im Ort Sabzeab in der Provinz Ghazni mit seinem Bruder und seinem Vater gelebt. Der Ort sei regelmäßig von Kutschi-Nomaden angegriffen worden. Das Land seines Vaters sei regelmäßig von Kutschi besetzt worden. Im Alter von 15 Jahren habe er mitansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi erschossen worden sei, als dieser versucht habe, sein Land zu verteidigen. Aus Angst vor Angriffen hätten der Kläger und sein Bruder das Land des Vaters verkauft und seien ins etwa drei Autostunden entfernte Nawur geflohen. Dort habe der Kläger als Fliesenleger arbeiten können. Von ehemaligen Nachbarn aus Sabzeab hätten sie erfahren, dass die Kutschi, die früher die Ländereien besetzt hätten, sie suchten. Die Kutschi verübelten ihnen, dass sie das Land verkauft hätten und dieses nun wegen der wehrhaften neuen Eigentümer nicht mehr besetzt werden konnte. Aus Angst von den Kutschi hätten die Brüder sich zur Flucht entschlossen. Mit dem Geld aus dem Landverkauf seien sie in den Iran geflohen. Von dort habe sie ein Schlepper für 60.000 Afghani zur türkischen Grenze gebracht. Dort habe er seinen Bruder bei einem Zusammenstoß mit türkischen Grenzbeamten verloren. Er habe seine Flucht über das Mittelmeer allein fortgesetzt und nochmals 9.000 EUR bezahlen müssen. Beim Bundesamt habe er nur sehr unvollständige Angaben gemacht, weil ihm nicht klar gewesen sei, wie ausführlich er habe berichten sollen. Er sei mittellos und in Afghanistan völlig auf sich allein gestellt. Zur Familie der Mutter bestehe schon seit deren Tod kein Kontakt mehr. Der Kontakt zu seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie sei abgebrochen. Außerdem verwies der Kläger auf die Situation der Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan im Allgemeinen.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2016 vor dem Verwaltungsgericht beantragte der Kläger, ihm wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, den Bescheid des Bundesamts vom 5. April 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft - hilfsweise subsidiären Schutz - zuzuerkennen und weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Im Rahmen seiner Anhörung gab der Kläger an, er habe in Afghanistan einen Onkel, von dem er aber nicht wisse, wo er sich aufhalte. Wo sein Bruder sei, wisse er nicht. Verwandte in Deutschland habe er nicht. Er gehe hier zur Schule. Er habe sein Heimatdorf verlassen, weil sie im Dorf ständig von den Kutschi-Nomaden gestört worden seien. Sie seien von diesen geschlagen worden. Einmal sei sein Arm von einem der Kutschi mit einem Gewehrkolben gebrochen worden. Sein Vater sei hinzugekommen und erschlossen worden. Sie hätten bei der Polizei Anzeige erstattet, aber keine Hilfe erhalten. Sie hätten dann die Grundstücke unter Preis verkauft. Etwa drei bis vier Monate nach dem Tod des Vaters seien sie nach Nawur. Dort hätten sie zwei bis drei Monate bei einer Hazarafamilie gewohnt, die sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit aufgenommen habe. Anders als sein Bruder habe er selbst wegen des gebrochenen Arms nicht arbeiten können. Die Kutschi hätten sie weiter gesucht. Danach seien sie ins etwa drei bis dreieinhalb Fußstunden entfernte Dorf Gorgoshte gegangen. Dort hätten sie drei bis dreieinhalb Monate bzw. vier bis fünf Monate lang gewohnt. Sie hätten dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie dann etwa eineinhalb Jahre in einem Ort namens Kakrak gelebt hätten. Sie hätten für den Mann geputzt und beim Fliesenlegen geholfen. Befragt nach seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr schilderte der Kläger unter Darstellung jüngster Vorfälle, Hazara würden in Afghanistan unterdrückt, entführt und schlecht behandelt. Hazara müssten in Kabul wegen der schlechten Sicherheitslage von Bodyguards geschützt werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. Oktober 2016 ab. Die Klage sei zwar zulässig, da hinsichtlich der versäumten Klagefrist angesichts des Ablaufs in der Gemeinschaftsunterkunft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheide aber aus. Ob der Kläger in seinem Heimatland in der Vergangenheit einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei könne offenbleiben, da er internen Schutz jedenfalls in der Stadt Kabul erlangen könne. Anhaltspunkte dafür, dass die Kutschi dem Kläger landesweit nachstellen könnten, seien nicht ersichtlich. Die Hazara unterlägen auch nicht als soziale Gruppe in Kabul einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung. Auch der Zuerkennung subsidiären Schutzes stehe die Möglichkeit internen Schutzes entgegen. Nationale Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Da davon auszugehen sei, dass der Kläger in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sei nicht ersichtlich, dass aus den humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliege. Schließlich bestehe auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 31. Januar 2017 die Berufung gegen das Urteil zugelassen.
Auf den am 7. Februar 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger nach entsprechend gewährter Fristverlängerung am 21. März 2017 unter Stellung eines Antrags die Berufung begründet. Er vertritt unter Wiederholung und Darstellung seiner Angaben im Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht sowie der Urteilsbegründung die Auffassung, ihm sei auf Grund erlittener flüchtlingsrelevanter Verfolgung in Afghanistan - dem Angriff der Kutschi-Nomaden, bei dem ihm selbst der Arm gebrochen worden und sein ihm zu Hilfe eilender Vater erschossen worden sei - die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die im Urteil als widersprüchlich kritisierten Angaben beruhten womöglich darauf, dass der Kläger die Fragen beim Bundesamt nicht richtig verstanden habe. Es seien auch die mit 40 Minuten kurze Dauer der Bundesamtsanhörung, die fehlenden Rückfragen des Entscheiders, der Kulturkreis des Klägers sowie dessen Bildungsstand und Alter zu berücksichtigen. Unter Darstellung verschiedener Erkenntnisquellen argumentiert der Kläger, der Konflikt zwischen den Hazara und den Kutschi sei eine ethnisch bedingte, nichtstaatliche Verfolgung, vor der der afghanische Staat keinen Schutz gewähre bzw. gewähren könne. Interner Schutz in Kabul oder einem anderen Landesteil könne der Kläger in Anbetracht der Sicherheitslage nicht erlangen. Insbesondere sei es ihm angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Lage, nicht zumutbar, sich in Kabul niederzulassen. Er könne seine Existenz dort nicht sichern. Zuletzt hat der Kläger zudem zu seiner gesundheitlichen Situation vorgetragen und ärztliche Schreiben zu einer bei ihm festgestellten und behandelten Herzrhythmusstörung vorgelegt.
10 
Der Kläger beantragt,
11 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
13 
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan bestehen.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Berufung zurückzuweisen.
16 
Zur Begründung trägt sie unter Darstellung zahlreicher Erkenntnisquellen vor, aus der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara folge nicht die Gefahr landesweiter Verfolgung.
17 
Der Senat hat den Kläger im Rahmen der am 13. Oktober 2017 durchgeführten mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Zum Inhalt der Anhörung wird auf die Niederschrift zum Verhandlungstermin Bezug genommen.
18 
Der Kläger hat unmittelbar vor sowie im Anschluss an Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 ergänzend Unterlagen zu seinem gesundheitlichen Zustand vorgelegt. Es handelt sich um folgende Dokumente:
19 
- Schreiben des Universitätsklinikums H... vom 5. Oktober 2017 zur Vorstellung in der Chest Pain Unit des Klinikums am selben Tag mit der Verdachtsdiagnose „Wolff-Parkinson-White-Syndrom“ (einer Herzrhythmusstörung), wobei zum weiteren Vorgehen eine Wiedervorstellung zur Durchführung einer elektrophysiologischen Diagnostik und Kathetertherapie für den 23. Oktober 2017 vermerkt wurde sowie
20 
- Schreiben des Universitätsklinikum H… vom 23. Oktober 2017 zur erfolgreichen transseptalen Ablation einer linksposteroseptalen Bahn bei WPW-Syndrom;
21 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. (Ärzte für Innere Medizin, Kardiologische Diagnostik u.a.) vom 6. November 2017, wonach beim Kläger am 23. Oktober 2017 im Rahmen der elektrophysiologischen Untersuchung erfolgreich abladiert und eine Leitungsbahn am Herzen erfolgreich habe verödet werden können;
22 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. vom 13. November 2017 zu Rückfragen der Klägervertreterin bezüglich der Wahrscheinlichkeit sowie der Folgen eines möglichen Rezidivs.
23 
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 28. und 29. November 2017 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
24 
Dem Senat liegen die verfahrensbezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Sonstige Literatur

 
538 
Inhalt
        
                 
Tatbestand
- 3 -
Entscheidungsgründe
- 8 -
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
- 8 -
     1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
- 8 -
          a) §§ 3, 3a AsylG
- 9 -
          b) § 3c AsylG
- 10 -
          c) § 3e AsylG
- 10 -
          d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
- 11 -
          e) Maßstab der Überzeugungsbildung
- 13 -
     2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
- 15 -
     3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara            
- 17 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 17 -
          b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
- 19 -
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
- 29 -
     1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
- 29 -
     2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
- 29 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 30 -
          b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
- 31 -
          c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
- 32 -
     3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
- 34 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 35 -
          b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
- 37 -
          c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
- 40 -
III. Nationales Abschiebungsverbot
- 42 -
     1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
- 42 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 43 -
          b) Lebensverhältnisse landesweit
- 48 -
          c) Lebensverhältnisse in Kabul
- 70 -
          d) Subsumtion
- 75 -
     2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
- 82 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 83 -
          b) Subsumtion
- 86 -
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
- 88 -

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren gegenüber der Beklagten nur noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der nach seinem Vorbringen 1995 oder 1998 in Bamyan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Religionszugehörigkeit.
Er reiste nach seinem Vortrag am 18. Mai 2016 nach Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Bei der Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2016 gab der Kläger an, in der Heimat habe er bei einem Onkel gelebt, weil seine Eltern getötet worden seien, als er sieben Jahre alt gewesen sei. Der Onkel lebe in Kandahar in einem gemieteten Haus. Er handele mit Trockenfrüchten. Er, der Kläger, habe keine Schule besucht und auf dem Bau gearbeitet. Als Hazara und Schiit sei er durch die Taliban gefährdet. Vor der Flucht sei er vier bis fünf Tage von den Taliban in einem Granatapfelgarten festgehalten worden. Die Taliban hätten ihn als Kämpfer rekrutieren wollen. Sie hätten ihn geohrfeigt und mit einem Stock geschlagen. Er habe zunächst eingewilligt. Er sei jedoch geflohen, als er sich habe verstecken sollen, weil eine Attacke der afghanischen Streitkräfte vermutet worden sei. Er habe einen Bach als Versteck genutzt, und sei durch den Garten entkommen. Für eine Stunde sei er zu seinem Onkel gegangen. Danach habe er Afghanistan verlassen. Eine Alternative habe er nicht gesehen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag ab. Gleichzeitig entschied es, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise drohte das Bundesamt die Abschiebung nach Afghanistan an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es u.a.: Das Vorbringen des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei detailarm, vage und oberflächlich. Dies gelte insbesondere für die Schilderung der Situation des Aufenthalts bei den Taliban. Auch seien keine Umstände der vorgebrachten Rekrutierung durch die Taliban geschildert worden. Konkrete Fragen habe der Kläger nur knapp und wiederholend beantwortet. Wie die Tage im Granatapfelgarten abgelaufen seien, sei trotz Nachfragen offen geblieben. Zudem sei es nicht realistisch, dass innerhalb des nur einstündigen Aufenthalts beim Onkel eine beträchtliche Summe für die Flucht zur Verfügung gestellt habe werden können. Im Übrigen habe dem Kläger eine Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
Der Kläger erhob am 12. August 2016 Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg und trug vor, er habe sich seiner Zwangsrekrutierung durch die Taliban widersetzt. Am 20. September 2015 sei er von Taliban verschleppt worden. An diesem Tag habe er frei gehabt. Zwei bewaffnete Personen hätten ihn in einem Auto entführt. Man habe ihn geschlagen und getreten. Zum Schein habe er eine Zusammenarbeit zugesagt. Er habe u.a. Schießübungen absolvieren müssen. Er habe sich fünf Nächte in der Gewalt der Taliban befunden. Am 5. Tag habe er bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp fliehen können. Zu Fuß habe er sich zu seinem Onkel begeben. Nach einer Stunde hätten sie sich in ein Restaurant begeben, wo sie einen Schlepper getroffen hätten. Die Reise habe 4.500 US-Dollar gekostet. Er habe u.a. beim Onkel hinterlegte Ersparnisse gehabt.
Die Beklagte trat der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen.
Das Verwaltungsgericht hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung an.
Mit Urteil vom 17. Januar 2017 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte u.a. aus: Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die Taliban hätten ihn festgesetzt, damit er als Kämpfer für sie tätig sei. Bei einem Angriff von Regierungstruppen auf das Ausbildungscamp habe er fliehen können. Mit diesem Vortrag könne der Kläger seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Das Gericht nehme dem Kläger sein Vorbringen nicht ab. Der Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei wie schon beim Bundesamt sehr allgemein gehalten gewesen. Er sei blass und detailarm und wirke distanziert. Zudem habe es unerklärliche Ungereimtheiten gegeben. Dabei habe das Gericht wohlwollend berücksichtigt, dass der Kläger aus einem anderen Kulturkreis stamme und - wie er angegeben habe - nicht zur Schule gegangen sei. Die Kammer sei aber davon überzeugt, dass der Kläger allgemeine Erkenntnisse zur Situation in Afghanistan zur Konstruktion eines eigenen Verfolgungsschicksals verwendet habe. Das Vorbringen des Klägers sei sehr pauschal gehalten und farblos gewesen. Es habe sich auf allgemeine Angaben wie, er sei „erst einmal zusammengeschlagen worden", er habe zugestimmt, dass er „mit denen arbeiten werde", beschränkt. Auch die einschneidenden Fluchtmodalitäten habe der Kläger ganz allgemein und ohne Angabe von Einzelheiten wiedergegeben. So habe er lediglich angegeben, bei Beginn der Schießerei mit den Regierungstruppen habe er seine Waffe niedergelegt und sei geflüchtet. Anschauliche Einzelheiten seien trotz mehrerer Nachfragen des Gerichts nicht genannt geworden. Gleiches gelte für die Ausreisemodalitäten im Land Afghanistan selbst. Anschauliche Details seien dem Kläger auch insoweit nicht zu entlocken gewesen. Bereits im Hinblick darauf habe die Kammer zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet habe. An dieser Beurteilung könne auch der Vortrag des Klägers nichts ändern, es habe im Büro seines Rechtsanwalts möglicherweise Übersetzungsfehler des Dolmetschers gegeben. Die Beurteilung des Vorbringens des Klägers ergebe sich bereits aus dem Verlauf der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht unabhängig von der Vorbereitung der Klagebegründung. An der Beurteilung des Gerichts ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach seinem Vertrag Analphabet sei. Nach den Erfahrungen des Gerichts seien Analphabeten sehr wohl in der Lage, einen Sachverhalt detailreich und anschaulich darzustellen, wenn er sich denn wirklich so ereignet habe. Im Übrigen habe der Kläger über sein angebliches Verfolgungsschicksal ungereimt widersprüchlich und gesteigert berichtet. Völlig neu sei das Vorbringen des Klägers, ein Bekannter habe ihm in der Schweiz (vor der Einreise nach Deutschland) gesagt, er, der Kläger, werde konkret von den Taliban gesucht. Davon sei beim Bundesamt nie die Rede gewesen. Es hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, diesen Sachverhalt anzusprechen, wenn er sich denn wirklich so ereignet gehabt hätte. Über die Dauer der Festsetzung durch die Taliban und die Art der Misshandlungen seien ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht worden. Dies überrasche deshalb, weil die maßgeblichen Ereignisse noch nicht lange zurücklägen. Nicht nachvollziehbar sei für das Gericht auch, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den beiden Personen, die ihn angeblich in ein Auto verfrachtet hätten, überhaupt nichts habe sagen können, weil diese ihm die Augen verbunden hätten. Der Kläger müsse diese Personen aber zunächst gesehen haben. So sei dann auch noch in der Klagebegründung angegeben worden, die beiden Personen seien bewaffnet gewesen. Ungereimt sei dabei dann auch das Vorbringen des Klägers, er sei im Camp zunächst zusammengeschlagen worden, und erst später sei es um seine Mitarbeit bei den Taliban gegangen. Schließlich habe es auch bei den finanziellen Ausreisemodalitäten eine gravierende Ungereimtheit gegeben. So habe der Kläger beim Bundesamt noch angegeben, er habe sich nach der Flucht aus dem Ausbildungscamp ca. eine Stunde beim Onkel aufgehalten und sei dann sofort gegen einen hohen Geldbetrag ausgereist. Das Geld habe er mitgenommen. Nachdem dem Kläger im ablehnenden Bescheid des Bundesamts dann vorgehalten worden sei, es sie unrealistisch, innerhalb einer Stunde einen erheblichen Geldbetrag (in US-DoIIar) aufzubringen, habe der Kläger sein Vorbringen dahin modifiziert, dass das Geld erst einige Zeit später nach Griechenland übersandt worden sei. Davon sei beim Bundesamt nicht ansatzweise die Rede gewesen.
10 
Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Januar 2017 zustellt.
11 
Am 27. Februar 2017 stellte der Kläger einen Zulassungsantrag, dem der Senat durch Beschluss vom 4. April 2017 - zugestellt am 12. April 2017 - teilweise in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote entsprach.
12 
Am 11. Mai 2017 reichte der Kläger unter Stellung eines Berufungsantrags die Berufungsbegründung ein. Er trägt u.a. vor: Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. Er habe angesichts der in humanitärer Hinsicht katastrophalen Situation in Afghanistan und unter Berücksichtigung der sich ständig verschärfenden Sicherheitslage eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu befürchten. Es sei nicht wahrscheinlich, dass er das zum Überleben notwendige Existenzminimum werde erwirtschaften können. Aufgrund des vom Kläger in der Provinz Kandahar Erlebten könne ihm nicht zugemutet werden sich in dieses Gebiet zurückzubegeben. An anderen Orten in Afghanistan befänden sich indes keine Familienangehörigen. Frau Stahlmann führe jedoch in ihrem Aufsatz „Überleben in Afghanistan? - Zur humanitären Lage von Rückkehrern und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" aus, dass diese akut in ihrem Überleben gefährdet seien, wenn sie keine verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke hätten. Der Kläger könne sich ferner auch auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG berufen. Insoweit sei insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage sehe, die angeblich sicheren Landesteile, die betroffenen Ausländern als interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG dienen sollen, konkret zu benennen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 17. Januar 2017 - A 5 K 2774/16 - teilweise zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2016 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistan ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
15 
Die Beklagte tritt der Berufung aus den Gründen des angegriffenen Urteils entgegen und beantragt,
16 
die Berufung zurückzuweisen.
17 
Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen angehört; insoweit wird auf die Niederschrift vom 11. April 2018 verwiesen.
18 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten verweist der Senat auf die gewechselten Schriftsätze. Ihm lagen die Akten des Bundesamts als Ausdruck sowie die Akten des Verwaltungsgerichts vor.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
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Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
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a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
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bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
19 
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
20 
Dem Kläger kommt weder der geltend gemachte Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erweist sich daher als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
21 
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, da er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsstaat ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies gilt für alle drei Varianten des ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG.
22 
1. Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
23 
2. Ebenso wenig droht ihm Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger bringt nicht mit Erfolg vor, individuell unmittelbar von dem Eintritt eines ernsthaften Schadens bedroht zu sein. Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es insoweit bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU.
24 
a) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
25 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
26 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
27 
Siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff.
28 
Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
29 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
30 
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Prognose zugrunde zu legen ist, gilt unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat: Ein solcher Umstand stellte aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies folgt aus der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
31 
b) aa) Ausgehend von diesen Maßstäben besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr. Denn der Senat glaubt dem Kläger nicht, dass er die von ihm berichteten Geschehnisse im Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung bzw. Entführung durch die Taliban tatsächlich erlebt hat.
32 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge vielfach befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
33 
Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
34 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
35 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
36 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
37 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
38 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4; OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
39 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
40 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 50 ff.; International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images /stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
41 
bb) Die Einlassungen des Klägers zu der angeblich erlebten Rekrutierung durch Kräfte der Taliban sind nicht glaubhaft, da sie in inhaltlich wesentlichen Teilen nicht kohärent sind und es auch an zentralen Stellen an einer überzeugenden Schilderung der Vorgänge mangelt und somit die Einlassung keine hinreichende Substanz aufweist.
42 
Dieses hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, weshalb der Senat zunächst hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (vgl. § 130b Satz 2 VwGO). Hieran hat auch die Anhörung des Senats nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Es sind weitere Unstimmigkeiten hinzugekommen. Zunächst ist auch trotz entsprechender Befragung durch den Senat im Dunkeln geblieben, wie der Kläger den Taliban entkommen konnte. Von sich aus hat er zunächst überhaupt nichts Erhellendes beigetragen, sondern schlicht davon gesprochen, er sei „irgendwie“ entkommen. Aber auch diesbezügliche Nachfragen haben keine plausible Schilderung ergeben, wie der Kläger, der seinem Vortrag nach zwangsweise rekrutiert und festgehalten worden war, relativ problemlos hatte entkommen können, indem er beispielsweise „die Waffe in eine Ecke gestellt habe“, und das, obwohl sicherlich die Taliban ihn ständig unter Kontrolle gehabt haben werden. Weiter wurde der Zeitraum, den er von den Taliban festgehalten wurde, entgegen der schließlich eindeutigen Angabe in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Verwaltungsgericht wiederum abweichend genannt. Die von ihm geschilderte Kontaktaufnahme des Onkels mit dem Schleuser ist in mehrfacher Hinsicht wenig nachvollziehbar und auch widersprüchlich. Hatte er gegenüber dem Bundesamt noch keine nachvollziehbaren Angaben gemacht, erklärte er gegenüber dem Verwaltungsgericht, dass man sich in einem Restaurant getroffen habe. In der mündlichen Verhandlung war aber von einem Restaurant mit keinem Wort die Rede, vielmehr wollte man sich - so zunächst - auf dem Marktplatz getroffen haben, sodann auf einem Platz, auf dem viele Märtyrer getötet worden seien, von dem auch viele Busse abführen. Erst auf den Vorhalt seiner abweichenden Angaben beim Verwaltungsgericht erklärte der Kläger, dass auf dem Märtyrerplatz die Schleuser ihre Plätze hätten, nämlich Restaurants und Hotels. Dass es sich dabei um einen wenig tauglichen Versuch handelt, die Ungereimtheiten aus der Welt zu schaffen bzw. zu glätten, liegt für den Senat auf der Hand. Auch die Übergabe des Geldes an den Schlepper wurde vom Kläger unterschiedlich geschildert. Beim Bundesamt erklärte er, er habe das Geld mitgenommen. Vor dem Verwaltungsgericht war davon die Rede, dass der Schlepper das Geld erst erhalten sollte, wenn er - der Kläger - in Griechenland angekommen sei. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung soll der Schlepper eine erste Rate sogleich erhalten haben, während eine zweite Rate nach der Ankunft im Iran zu zahlen war. Auf die Frage des Senats, ob sich der Onkel nicht vor der Bezahlung der zweiten Rate vergewissert habe, dass er auch im Iran angekommen sei, erklärte der Kläger, er habe über das Telefon des Schleusers Kontakt mit dem Onkel aufgenommen und mit dem Onkel zwei, drei Worte oder Sätze gewechselt. Auf Vorhalt seiner Einlassung gegenüber dem Verwaltungsgericht, wonach der Onkel gar kein Telefon habe, sprach er davon, dass der Schleuser (ein zweiter Schleuser?) oder jemand anderes ein Telefon gehabt habe.
43 
Dieses zugrunde gelegt lässt sich die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nach den individuellen Schilderungen des Klägers nicht feststellen.
44 
c) Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben besteht auch keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf die Tatsache, dass der Kläger dem Volk der Hazara angehört.
45 
Der Senat hat im Urteil vom 17. Januar 2018 (A 11 S 241/17 -, juris, Rn. 28 - 83), das zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde, entschieden, dass die Volksgruppe der Hazara keiner flüchtlingsrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass die erforderliche Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden kann. Aus den gleichen Erwägungen kann auch eine Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht festgestellt werden, da insoweit, wie oben ausgeführt (I 2 a), kein unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt. Der Senat verweist in erster Linie auf diese Ausführungen, an denen auch in Ansehung der Ausführungen der Gutachterin Frau Stahlmann festzuhalten ist.
46 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 327 ff.
47 
Zwar sind hiernach in der jüngsten Vergangenheit (vermutlich drei) weitere Anschläge auf schiitische Einrichtungen hinzugekommen
48 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 334 und in diesem Zusammenhang Senatsurteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, Rn. 83,
49 
die Sicherheitslage wird hierdurch aber nicht grundlegend nachteilig verändert. Die abweichende Einschätzung von Stahlmann beruht ersichtlich auf einem anderen Wahrscheinlichkeitsmaßstab, als der für den Senat durch 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (i.V.m. Art. 3 EMRK) vorgegebene. Wie auch anderen Zusammenhängen ist nach ihren detailreichen Schilderungen zwar nicht von der Hand zu weisen, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses bei realistischer Betrachtungsweise durchaus im Bereich des Möglichen liegt, allerdings lassen die Ausführungen der Gutachterin und die vielfältigen Beispiele nicht den Schluss zu, dass - auch unter besonderer Berücksichtigung des hohen Rangs der gefährdeten Rechtsgüter - jeder (zurückkehrende) Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Rechtsgutsverletzung zu gewärtigen hätte.
50 
d) Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
51 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
52 
vgl. Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f.
53 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der §§ 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
54 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris
55 
Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
56 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
57 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
58 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
59 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
60 
so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11.
61 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
62 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
63 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU, die der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht,
64 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris, vom 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, juris und vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, juris
65 
steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
66 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
67 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
68 
st. Rspr. des erkennenden Senats, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.01.2018 - A 11 S 1265/17 -, juris Rn. 101 ff.; und vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
69 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
70 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
71 
Soweit teilweise in der Rechtsprechung vertreten wird, die schlechte humanitäre Lage sei überwiegend durch die seit Jahrzehnten herrschenden bewaffneten Konflikte und damit im Sinne von § 3c AsylG auf Aktionen staatlicher und nicht-staatlicher Konfliktparteien, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könne, zurückzuführen,
72 
VG Köln, Urteil vom 12.12.2017 - 5 K 3637/17.A -
73 
übersieht dieser Ansatz gerade, dass die Anwendung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und damit auch Art. 15b RL 2011/95/EU eine gewisse Zielgerichtetheit des Verhaltens des Akteurs erfordert
74 
EASO, Qualification for International Protection (Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109;
75 
und daher reine Kausalitätserwägungen hier nicht anspruchsbegründend wirken können. Somit scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
76 
3. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
77 
Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
78 
a) aa) Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
79 
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité, NVwZ 2014, 573 Rn. 35
80 
bb) Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
81 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 43 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - Diakité - NVwZ 2014, 573 Rn. 30.
82 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
83 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
84 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
85 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen.
86 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
87 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
88 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
89 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
90 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
91 
Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind bei der qualitativen Bewertung insbesondere auch die angewandten Methoden und Taktiken, die in dem Konflikt angewendet werden, die Anzahl der als Konfliktfolge Binnenvertriebenen und die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte und die medizinische Versorgungslage in den Blick zu nehmen.
92 
Vgl. auch EASO, Artikel 15 Buchstabe c der Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) – Eine richterliche Analyse, Dezember 2014.
93 
Die Bedeutung der kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte im Rahmen der Gesamtbetrachtung liegt – jedenfalls auch – darin, die mit zunehmender Konfliktdauer typischer- und vorhersehbarerweise ansteigende Anzahl und die ansteigende Schwere psychischer Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation angemessen zu würdigen. Indes sind solche Folgen schon deswegen nicht bei der quantitativen Betrachtung zu berücksichtigen, weil hier eine angemessene statistische Erfassung im Krisengebiet schlechterdings nicht vorstellbar ist.
94 
cc) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
95 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - Elgafaji -, NVwZ 2009, 705 Rn. 40, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
96 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
97 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
98 
b) Ausgehend von den Angaben des Klägers, vor seiner Ausreise mit seinem Onkel in dessen Haus in der Provinz Kandahar gelebt zu haben, ist auf diese Provinz für die Beurteilung des Anspruchs auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG abzustellen. Das dort vorherrschende Ausmaß an Gewalt genügt eindeutig nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen.
99 
Zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2017 UNAMA hat 716 Opfer (davon 271 Todesopfer) festgestellt. Die Anzahl der Opfer in der Zivilbevölkerung hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um 18 Prozent reduziert.
100 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018 S. 67.
101 
Die Opferzahlen sind im Verhältnis von einer Bevölkerungszahl von rund 1.279.529 Personen
102 
EASO, Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation, December 2017.
103 
gesehen nicht geeignet, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass eine jede Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss.
104 
vgl. Stahlmann, Gutachten 2018, S. 177.
105 
Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,056 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Kandahar zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen.
106 
Angesichts dieses bei quantitativer Betrachtung niedrigen Risikos kann die gebotene qualitative Betrachtung im Rahmen der Gesamtbewertung hier auch auf keinen Anspruch des Klägers auf die Gewährung subsidiären Schutzes führen. Denn auch unter Berücksichtigung der mit allein für das Jahr 2017 festzustellenden, extrem hohen Anzahl neuer oder neuerlich Binnenvertriebener in Afghanistan, nämlich über 500.000 Personen,
107 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017.
108 
und in Erwägung des Umstandes, dass der Bevölkerungsanteil, der aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt ist, voraussichtlich bei deutlich über 50 Prozent liegen dürfte
109 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, 5. April 2017, S. 2 f.
110 
lässt sich eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Heimatprovinz nicht feststellen. Es liegt hier ein Fall vor, bei dem das aufgrund quantitativer Betrachtungen festgestellte geringe Risiko, aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in Kandahar getötet oder körperlich verletzt zu werden, schon die Folge hat, dass die qualitative Betrachtung hinsichtlich der allgemeinen, nicht auf individuellen Umständen (mit-)basierenden Gefährdungslage nicht mehr zur Bejahung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen kann,
111 
zu dieser Fallgestaltung: BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 22.
112 
Soweit Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 ausführt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden,
113 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 9,
114 
handelt es sich insoweit - in Beantwortung der vom Verwaltungsgericht Wiesbaden gestellten Frage - zunächst allein um eine dem erkennenden Senat vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr sodann geschilderten tatsächlichen Umstände zeigen zwar die besonderen Umstände der innerstaatlich bewaffneten Konflikte in Afghanistan auf, lassen aber zur Überzeugung des Senats keine für den Kläger günstigere Beurteilung zu. Denn die Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen sind, die sich hier - wie ausgeführt - aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken kann.
II.
115 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, weder auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.), noch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.).
116 
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers und insbesondere auch seiner Zugehörigkeit zu den Hazaras nicht gegeben (d)).
117 
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
118 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
119 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
120 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
121 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
122 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
123 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
124 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
125 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
126 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187 und 189,
127 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
128 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris.
129 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
130 
Vgl. dazu ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser auch bereits in seinen Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
131 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind, sondern auf einer Vielzahl von Faktoren beruhen, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen sowie die Sicherheitslage. Wie bereits ausgeführt ist nicht festzustellen, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (etwa nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung hierfür trügen, insbesondere, dass etwa die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde.
132 
so auch schon VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108 sowie auch anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
133 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
134 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
135 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
136 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
137 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
138 
VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, juris Rn. 180; BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
139 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
140 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
141 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
142 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
143 
Um eine tatsächliche Gefahr und also auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung in den von Art. 3 EMRK geschützten Rechten annehmen zu können, bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
144 
EGMR, Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330 Rn. 140.
145 
Erforderlich aber auch ausreichend ist danach die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
146 
BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51 Rn. 22;
147 
Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über allen Zweifeln erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
148 
EGMR, Urteil vom 09.01.2018 - 36417/16 - (X/Schweden) Rn. 50.
149 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
150 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
151 
Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul.
152 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
153 
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade der in Kabul ergibt sich, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
154 
b) Die relevanten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
155 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner.
156 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
157 
Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
158 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
159 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
160 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
161 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
162 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
163 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
164 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
165 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
166 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
167 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
168 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
169 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
170 
Seitdem wird das Wachstum auf ein bis zwei Prozent im Jahr geschätzt.
171 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 221.
172 
Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, steht zu erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig weiterwachsen kann.
173 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
174 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch beim Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
175 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
176 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
177 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
178 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
179 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
180 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
181 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
182 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
183 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
184 
Aktuelle Erhebungen zur Arbeitslosenquote soll es nicht geben.
185 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 222.
186 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
187 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
188 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
189 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
190 
Gerade im Bereich der Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte ist die Konkurrenz immens. Gerade weil der Bausektor eingebrochen ist, erweist es sich als schwieriger, als Hilfsarbeiter oder Tagelöhner ein Auskommen zu finden. Dazu kommt, dass der Druck auf den Arbeitsmarkt vor allem in Städten rapide zugenommen ist, da die nicht konventionell umkämpften Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif zunächst aufgesucht wurden. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der unfreiwilligen Rückkehrer aus Pakistan und Iran, wenn sie keine Chance haben, in Herkunftsorte ihrer Familien zurückzukehren. Dieser Zuzug hat sich zwar vor allem in Kabul abgeschwächt, weil der Zugang zu Hilfen in Relation zu den außergewöhnlich hohen Lebenserhaltungskosten so eklatant unzureichend ist und sich die Sicherheitslage so deutlich verschlechtert hat. Der Zuzug besteht jedoch weiter fort und verschärft somit weiterhin auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
191 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 226 f.
192 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
193 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
194 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
195 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
196 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
197 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
198 
Es findet sich die Aussage, dass Rückkehrer aus Europa aufgrund ihres sozio-politischen Ausschlusses keinen Zugang zu Netzwerken und ihren Ressourcen hätten. Das Konzept einer alleinstehenden Person entsprechend es europäischen Verständnisses sei in Afghanistan nicht vorhanden, so dass die Hürden beim Zugang zu sozialen Netzwerken für abgeschobene Asylbewerber aus Europa nicht zu überwinden seien. Es sei für viele Afghanen im Wortsinn nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, was an der fundamentalen Bedeutung dieser Netzwerke und Familien im Zugang der Kontrolle von existenziellen Ressourcen liege. Die Macht über Vermittlung von Ressourcen und Sicherheit durch Familien und Netzwerke beruhe u.a. darauf, dass in der vorherrschenden Sozialordnung nicht das Individuum, sondern die Familie als kleinste soziale, ökonomische und politische Einheit verstanden werde. Der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei somit schlicht nicht vorgesehen.
199 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 205 f.
200 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
201 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
202 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
203 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
204 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
205 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
206 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
207 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
208 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt
209 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 16.
210 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.). Für das Jahr 2018 geht UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - von 3,3 Millionen Personen aus, bei denen ein akuter Bedarf an unmittelbar lebensrettender humanitärer Hilfe besteht sowie weiterer 8,7 Millionen Menschen, die einen chronischen Bedarf an Unterstützungsleistungen aufweisen. Dabei kann aus dem Unterschied in der Darstellung von 9,3 Millionen (2017) zu nun 3,3 Millionen (2018) Personen mit dringenden Bedarfen in den Angaben zum Angewiesensein auf humanitäre Hilfe nicht auf eine Verbesserung der Lage geschlossen werden. Denn der Unterschied geht auf eine abweichende Methode der Datenerfassung zurück.
211 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 15.
212 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA ein Anteil von 6 %) von schwerwiegender Ernährungsunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
213 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); Ernährungsunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen beschrieben.
214 
Für das Jahr 2017 war ein Anstieg auf 1,9 Millionen Personen, bei denen von einer schwerwiegenden Ernährungsunsicherheit auszugehen ist, zu verzeichnen. Ausgehend von der ernährungssicherheitsbezogenen Klassifizierung IPC (Integrated food security phase classification) bedeutet dies, dass sie mit einer extremen Nahrungsmittelunterversorgung konfrontiert sind, die zu akuter Mangel- oder Unterernährung mit einer überhöhten Sterblichkeitsrate führt. Weitere 5,6 Millionen Menschen werden der Gruppe zugeordnet, bei der eine akuter Nahrungsmittel und Existenzkrise angenommen wird, was bedeutet, dass eine beachtliche Nahrungsmittelunterversorgung vorliegt oder dass diese Unterversorgung nur durch den Verkauf letzter Vermögenswerte noch abgewendet werden kann. Schließlich ist bei weiteren 10 Millionen Menschen festzustellen, dass diese allein das Minimum der erforderlichen Nahrungsmittelversorgung sicherstellen können und damit eine vollständige Sicherung der Existenzgrundlage nicht gesichert erscheint.
215 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 24.
216 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Ernährungsunsicherheit betroffen.
217 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
218 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
219 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
220 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
221 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
222 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
223 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
224 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
225 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
226 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
227 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
228 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
229 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
230 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
231 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
232 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
233 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
234 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
235 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
236 
Für das gesamte Land ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
237 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
238 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
239 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
240 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
241 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
242 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012.
243 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
244 
Für das Jahr 2017 hat UNOCHA 501.000 neue Binnenvertriebene festgestellt, wobei sich ein Großteil der Betroffenen in der Provinz Nangarhar aufhalten. Über 100.000 Binnenvertriebene und Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran leben in provisorischen Unterkünften, Zelten oder unter dem freien Himmel.
245 
UNOCHA, Snapshot of Population Movements in 2017, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Afghanistan, Issue 73, 1 – 28 February 2018.
246 
Im Jahr 2016 sind etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt. Nachdem Pakistan im Herbst 2016 entschieden hatte, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, gewährt Pakistan nunmehr auf Antrag afghanischen Staatsangehörigen wieder einen befristeten legalen Aufenthaltsstatus.
247 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 11.
248 
Für 2017 hat IOM (bis einschließlich 16. Dezember 2017) über 538.000 Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan erfasst, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 sind über 160.000 Rückkehrer gezählt worden.
249 
IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 10-16 December 2017 und IOM, Return of Undocumented Afghans, Weekly Situation Report 25 -31 March 2018
250 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
251 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
252 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
253 
Sie ist - bei starken regionalen Unterschieden - anhaltend volatil.
254 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff.
255 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat beginnend mit den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen.
256 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
257 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2017 eine Zahl von 10.453 zivilen Opfern an, davon 7015 Verletzte und 3438 Tote. Damit stellte UNAMA einen Rückgang der Anzahl ziviler Opfer um 9 Prozent gegenüber dem Jahr 2016 fest, wobei dieser Rückgang fast ausschließlich auf die Zahl der Verletzten, nicht aber auf die Anzahl der getöteten Zivilpersonen zurückzuführen ist. UNAMA nimmt dabei an, dass sich diese Entwicklung auf die weit geringere Anzahl von Kollateralschäden bei Bodenkämpfen zurückführen lässt, da die Zahl der Opfer bei Selbstmord- und anderen Anschlägen weiter auf nunmehr 2.295 (605 Tote und 1.690 Verletzte) angestiegen ist. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
258 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f. UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, S. 1.
259 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
260 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
261 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupteten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimruz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
262 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
263 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
264 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
265 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
266 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
267 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat (auch Daesh) in Gestalt des IS-Zweigs ISKP (auch ISIL-KP) sowie al-Qaida.
268 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
269 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 um 10 % auf etwa 201.000 Hektar und 2017 um 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, dasjenige für 2017 bei 9.000 Tonnen. Die Steigerungen erklären sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
270 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 32; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
271 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
272 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
273 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
274 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.;
275 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
276 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 301 und dies. Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
277 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
278 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
279 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
280 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
281 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
282 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
283 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
284 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 321 ff.; dies, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
285 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere, weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
286 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
287 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
288 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
289 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
290 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
291 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
292 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
293 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
294 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa. Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
295 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
296 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
297 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
298 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
299 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
300 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
301 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
302 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
303 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
304 
AMASO hat in einem Facebook-Post vom 8.Oktober 2017 darauf hingewiesen, dass IOM sich nicht mehr um aus Europa abgeschobene Personen kümmere. Stattdessen sorge sich die Aga Khan Development Foundation um die Sicherstellung von Wohnraum in den ersten 14 Tagen nach der Ankunft und zwar im Spinzar Hotel in der Stadtmitte.
305 
Stahlmann, Gutachten 2018 S. 237 f.
306 
c) Für Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung lassen sich folgende Unterschiede oder Besonderheiten im Vergleich zu den allgemeinen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen in Afghanistan erkennen.
307 
Der Wohnungsmarkt in Kabul erweist sich als sehr angespannt und daher teuer. Die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
308 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
309 
Kabul ist einer der Hauptzielorte der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
310 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
311 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
312 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
313 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
314 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
315 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
316 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
317 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
318 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
319 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
320 
Vgl. dazu: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
321 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
322 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug der internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
323 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2017 für die gesamte Provinz Kabul 1.831 zivile Opfer registriert (479 Tote und 1.352 Verletzte), was einen Anstieg um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer, ist allerdings auch die Provinz mit der höchsten Einwohnerzahl.
324 
UNAMA, Annual Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2018, Annex III S. 67.
325 
Das Selbstmordattentat, das in Deutschland die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war der Anschlag vom 31. Mai 2017 auf die Deutsche Botschaft.
326 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
327 
Auch bei einer Reihe weiterer Anschläge in Kabul wurden Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei angegriffen, wobei viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet wurden.
328 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
329 
Im ersten Quartal des Jahres 2018 kam es zu einer Reihe schwerwiegender Anschläge im Kabul. So starben 114 Personen und wurden mindestens 229 verletzt, als ein mit Sprengstoff beladener Rettungswagen am 28. Januar 2018 an einem Kontrollpunkt detonierte. 24 Todesopfer forderte eine Geiselnahme im Hotel Intercontinental am 20. Januar 2018.
330 
UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 28.02.2018, S. 7.
331 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
332 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
333 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
334 
d) Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle der Kläger ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe seiner Abschiebung zwingend entgegensprächen im Sinne von Art. 3 EMRK, nicht festzustellen.
335 
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der Senat - wie oben ausgeführt - sich nicht davon überzeugen konnte, dass der Kläger mit einer Gruppe der Mujaheddin oder anderer regierungsfeindlicher Organisationen in Konflikt geraten ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ihm wegen dieses Umstandes und möglicher Nachstellungen die notwendige und für eine Sicherung des Existenzminimums unerlässliche Flexibilität (insbesondere am Arbeitsmarkt) fehlt.
336 
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris), an der er auch in Ansehung der Erwägungen im Gutachten von Stahlmann vom 28. März 2018 festhält, davon aus, dass im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist.
337 
(1) Zwar ist die Lage in Kabul prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
338 
Afghanistan und insbesondere Kabul sind gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
339 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
340 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
341 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder teilweise auch im gesamten Land hatten.
342 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
343 
Vom 31. Mai 2017 bis zum 23. Januar 2018 wurden 68 weitere Personen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
344 
BT-Drs. 19/632 S. 5.
345 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern sowie kinderlose Ehepaare in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, liegen hingegen nicht vor. Zwar lassen sich für den Senat auch schwerwiegende Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausschließen, eine tatsächliche Gefahr, dass sie eintreten werden, besteht indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
346 
(2) Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines bereits bestehenden familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. Ein solches traditionelles Unterstützungsnetzwerk, das durch (unterstützungsfähige und -willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe gebildet wird, ist auch nach Auffassung von UNHCR im Falle von alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan nicht geboten, um zu verhindern, dass im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang gesetzt wird, in dem sie verelenden und bleibende schwere physische und seelische Schäden davontragen. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
347 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
348 
Aus den oben zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen von Stahlmann in ihrem Gutachten vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden ergibt sich keine andere Sicht der Dinge. Denn wenn dort festgestellt wird, es sei im Wortsinn für viele Afghanen nicht „denk-bar“, ohne Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken zu überleben, der Versuch, als Individuum ohne soziale Netzwerke Zugang zu neuen sozialen Netzwerken zu bekommen, sei nicht vorgesehen und das Konzept der alleinstehenden Person sei in Afghanistan schlicht nicht vorhanden, dann spricht zwar viel dafür, dass diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zutreffen. Indes beantworten diese Aussagen nicht die Frage, wie es um die Überlebenssicherung von alleinstehenden Rückkehrern steht, wenn diese trotz der fehlenden Vorstellbarkeit des Alleinstehens in größerer Zahl tatsächlich in Afghanistan auftauchen. Hier bleibt es für die vom Senat zu treffende Risikoprognose dabei, dass sich eine tatsächliche Gefahr der zeitnahen Verelendung im Falle der Rückkehr nicht belegen lässt und es sogar überwiegend wahrscheinlich ist, dass eine solche Situation nicht eintreten wird.
349 
Von nicht unerheblicher Bedeutung ist es, ob die Betroffenen eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrschen und sich somit hinreichend verständigen können.
350 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
351 
Dies ist bei dem Kläger der Fall.
352 
Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird dem Kläger trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara, der von Stahlmann nicht infrage gestellt wird, kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
353 
siehe: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
354 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten für den Kläger in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, die Mietkosten werden mit mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat angegeben
355 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
356 
Der Kläger hat die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum oder ggf. in den von der Aga Khan Development Foundation zur Verfügung gestellten Unterkünften zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für den kinderlosen Kläger mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, vermag der Senat nicht festzustellen.
357 
Zwar beschreibt Stahlmann, dass sich die Versorgung mit Trinkwasser, Hygiene- und Sanitäranlage sowie Abwassersystemen in den Slums dramatisch verschlechtert habe und die Krankheitshäufigkeit zunehme.
358 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 163.
359 
Indes lässt sich auch ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass gravierende Erkrankungen in einer derartigen Häufigkeit aufträten, dass der Rückschluss, jedem gesunden, arbeitsfähigen Mann drohe eine solche Erkrankung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechtlich zulässig wäre. Die schlechten hygienischen Zustände in den informellen Siedlungen alleine reichen nicht aus, um die Schwelle zur tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung zu überschreiten. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Verfahren M.S.S./ Belgien und Griechenland angewendeten Standards waren zum einen auf Signatarstaaten der Konvention bezogen und mit Asylbewerbern auf eine besonders schutzbedürftige Personengruppe ausgerichtet, deren Wohlergehen im besonderen Maße von der Fürsorge des Aufnahmestaates abhängt.
360 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.
361 
Beide Voraussetzungen liegen in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht vor.
362 
(3) Der Senat geht bei seiner Bewertung der Situation davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers keine nachhaltige Bedeutung haben können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würden, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung zu bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
363 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
364 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht.
365 
(4) Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) erforderlich wäre.
366 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris; vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 - A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13.
367 
Denn bei einer auf das Jahr 2017 bezogenen rechnerischen Wahrscheinlichkeit von unter 0,07 %, aufgrund willkürlicher Gewalt getötet oder körperlich verletzt zu werden – ausgehend von dem Zahlenmaterial von UNAMA (siehe oben) – und einer Einwohnerzahl von 3.000.000 besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung allein aufgrund des Ausmaßes vorherrschender Gewalt im Falle einer Rückkehr. Die vermutlich zu niedrigen Angaben von UNAMA (siehe oben) werden hier durch eine konservative Annahme von Einwohnern der Provinz Kabul ausgeglichen. Bei einer qualitativen Bewertung ist aufgrund der Opferzahlen hier – wie auch bei der Heimatregion des Klägers – kein anderes Ergebnis geboten.
368 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote), 25. August 2017 (57 Tote), 29. September 2017 (5 Tote), am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote) und 28. Dezember 2017 (41 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen, zumal es sich fast ausnahmslos um exponierte Einrichtungen gehandelt hatte und deshalb auch nicht jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort unvorhersehbar betroffen sein konnte.
369 
Die oben beschriebenen Gefährdungen, denen sich der Kläger als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland möglicherweise ausgesetzt sehen wird, führen auch auf keine tatsächliche Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Denn die insbesondere auch von Stahlmann beschriebenen Sicherheitsrisiken für Rückkehrer aus Europa
370 
Stahlmann, Gutachten 2018, S. 299 ff.
371 
lassen allein den Rückschluss auf das bestehende Risiko des Eintritts einer tatsächlichen Gefahr zu. Das bedeutet, dass der Eintritt eines schädigenden Ereignisses zwar durchaus möglich ist, aber die Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. zur tatsächlichen Gefahr noch nicht überschritten ist. Denn aus den Schilderungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen lässt sich für den Senat nicht erkennen, dass sich die beschriebenen Risiken bei so vielen Rückkehren realisieren werden, dass ein jeder Rückkehrer sich der tatsächlichen Gefahr der unmittelbaren Verelendung gegenübersähe. Weder gibt es über eine Häufung solcher Fälle (verlässliche) Berichte noch gibt es andere, aussagekräftige Indizien, die einen Rückschluss auf eine solche tatsächliche Gefahr zuließen.
372 
2. Aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt für den Kläger kein nationales Abschiebungsverbot.
373 
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
374 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (a)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (b)).
375 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
376 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
377 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
378 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
379 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
380 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
381 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
382 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
383 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
384 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
385 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
386 
b) Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
387 
aa) Zum einen besteht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen. Insbesondere bestehen bei ihm keine individuellen Besonderheiten, etwa gesundheitlicher Art.
388 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann, im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen.
III.
389 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2, zurückzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
390 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Tenor

I.

Die Klage wird abgewiesen.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Feststellung eines Abschiebeverbotes hinsichtlich Afghanistans.

Der am ... 1985 in ... (Afghanistan) geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit der Hazara und schiitischer Religionszugehörigkeit.

Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 10. November 2015 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 8. Juni 2016 Asylerstantrag stellte.

Bei seiner persönlichen Anhörung gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 29. Juni 2016 führte der Kläger unter anderem aus, dass er seit ca. 20 Jahren im Iran lebe. Seine Familie habe ursprünglich in ... gewohnt. Dort hätten seine Eltern gelebt, bevor sie Afghanistan verlassen hätten. Er sei Analphabet. Es sei ca. 9 Monate her, dass er den Iran verlassen habe. Er sei über die Türkei, Griechenland, Serbien und Kroatien gereist. Seine Eltern lebten nach wie vor im Iran. Verwandte in Afghanistan habe er keine. Im Iran habe er noch drei Brüder und eine Schwester. Er habe nie eine Schule besucht; er könne nicht lesen und Schreiben. Er habe in der Landwirtschaft als Helfer gearbeitet. Seine wirtschaftliche Situation im Iran beschrieb der Kläger als durchschnittlich. Die Familie habe im Iran ein Haus gemietet. Die Reise in die Bundesrepublik Deutschland habe insgesamt 6.000,-- EUR gekostet. 3.000,-- EUR seien für den Schlepper bis zur türkischen Grenze und danach nochmals 3.000,-- EUR bis nach Griechenland angefallen. Bei dem Geld habe es sich um sein Erspartes gehandelt. Zu seinen Asylgründen befragt, führte der Kläger aus, dass er, als seine Familie Afghanistan verlassen habe, noch ein Kind gewesen sei. Er könne sich an die Gründe nicht erinnern. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil er dort keine Verwandte habe. Im Iran habe er keine Dokumente erhalten. Sein Problem bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre, dass er dort niemanden kenne und kein Eigentum besitze. Probleme habe er in Afghanistan nie besessen. Er sei sehr jung gewesen, als die Familie Afghanistan verlassen hätte. Für das weitere Vorbringen des Klägers wird auf die Niederschrift des Bundesamtes über die persönliche Anhörung des Klägers verwiesen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Nrn. 1 und 2 des Bescheides). Nr. 3 des Bescheides bestimmt, dass dem Kläger auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werde. Nr. 4 bestimmt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Falle des Klägers nicht vorliegen. Dieser wird in Nr. 5 aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest.

In den Gründen des Bescheids ist ausgeführt, dass der Kläger kein Flüchtling im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) sei. Ein Ausländer sei Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinde, dessen Staatsangehörigkeit er besitze. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne dieser Definition. Eine staatlich zu verantwortende Verfolgung sei vom Kläger nicht vorgebracht worden. Er habe keine Verfolgungsgründe geltend gemacht, die an ein Merkmal des § 3 AsylG anknüpften. Im Übrigen habe sich der Kläger bereits seit 20 Jahren nicht mehr in Afghanistan aufgehalten. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Ein Ausländer erhalte subsidiären Schutz, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht habe, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe. Als ernsthafter Schaden gelte insbesondere die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Dies sei sämtlich im vorliegenden Fall nicht gegeben. Zwar sei davon auszugehen, dass in Afghanistan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt bestehe oder zumindest nicht ausgeschlossen werden könne und der Kläger als Zivilperson sich daran nicht aktiv beteiligt habe. Es drohten ihm jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Sowohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) als auch das Bundesverwaltungsgericht gingen davon aus, dass Situationen willkürlicher Gewalt bzw. einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die das für die Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau erreichten, Ausnahmecharakter besäßen. Der vorliegend für Afghanistan festzustellende Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau. So gehe etwa die Bundesregierung im Fortschrittsbericht Afghanistan vom November 2014 davon, dass die Sicherheitslage in der Hauptstadt Kabul trotz einzelner medienwirksamer Anschläge und häufiger Hinweise auf Anschlagsplanungen unverändert „überwiegend kontrollierbar“ sei. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AslyG i. V. m. § 59 AufenthG zu erlassen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG werde nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Auf den weiteren Inhalt des Bescheides vom Bundesamt vom 16. September 2016 wird ergänzend verwiesen.

Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 30. September 2016 Klage erhoben und beantragt:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2016, Gz: ..., verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen

Eine schriftsätzliche Begründung der Klage ist nicht erfolgt.

Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. Oktober 2016 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Am 23. Januar 2017 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte verwiesen.

Gründe

Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage des Klägers entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung am 23. Januar 2017 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Die zulässige Klage ist in der Sache nicht begründet.

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 16. September 2016 ist auch hinsichtlich der Ausreiseaufforderung, der Abschiebungsandrohung und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:

Das Gericht vermag kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Falle des Klägers zu erkennen.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sie aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In Fällen, in denen gleichzeitig über die Gewährung unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet bei Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris).

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine solche Abschiebestoppanordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht.

Auch ist das Gericht der Auffassung, dass die allgemeine Gefahr in Afghanistan sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet hat, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellten Voraussetzungen sind nicht erfüllt (vgl. BayVGH, B. v. 11.12.2013 - 13A ZB 13.30119 u. a. - juris; VGH Baden-Württemberg, U. v. 27.4.2012 - A 11 S 3079/11 - juris). Wann allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer reinen quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssten jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann. So besteht eine extreme Gefahrenlage dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen und sicheren Hungertod nach erfolgter Abschiebung ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226).

In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (z. B. B. v. 19.2.2014 - 13A ZB 14.30022 - juris) geht das Gericht davon aus, dass derzeit für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende, männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige, zu denen auch der Kläger zu rechnen ist, in Afghanistan nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG führt. Da die Familienangehörigen des Klägers - seine Ehefrau und die drei minderjährigen Kinder - in der Bundesrepublik Deutschland über ein Bleiberecht verfügen, ist im maßgeblichen Zeitpunkt auf die Rückkehr des Klägers als Einzelperson außerhalb seines Familienverbundes abzustellen. Insoweit droht dem Kläger keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan. Zwar gestaltet sich die allgemeine Versorgungslage nach wie vor schwierig. Trotz dieser kritischen Versorgungslage muss nicht jeder Rückkehrer aus Europa generell im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung erleiden. In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Auskünfte ist nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer aus Europa generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Kabul erleiden müsste (vgl. BayVGH, U. v. 20.1.2012 - 13A B 11.30425 - juris Rn. 32 ff.). Nur für besonders schutzwürdige Rückkehrer wie Alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, lässt sich eine extreme Gefahrenlage begründen. Für junge und arbeitsfähige Männer ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Kabul oder einer anderen größeren Stadt aufzubauen (st. Rspr.. des BayVGH, beispielsweise U. v. 15.3.2012 - 13a B 11.30439 - juris Rn. 25). Für die Zumutbarkeit einer Rückkehr spricht beim Kläger zudem, dass es diesem anscheinend auch über Jahre gelungen ist, im Iran, dessen Staatsangehörigkeit der Kläger nicht besitzt, trotz fehlender Berufsausbildung eine Existenz für sich und seine Familie aufzubauen, die der Kläger selbst als durchschnittlich bezeichnet. Auch war es dem Kläger im Iran anscheinend möglich, nicht unerhebliche Ersparnisse zu erwirtschaften. Warum ihm dies in Afghanistan nicht erneut gelingen sollte, erschließt sich dem Gericht nicht. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass der Kläger mit Geldmitteln seiner im Iran lebenden Verwandten unterstützt werden kann.

Der Kläger ist volljährig und leidet, soweit ersichtlich, nicht unter gesundheitlichen Einschränkungen.

Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum bei einer Rückkehr nach Afghanistan durchaus sichern kann. Im Übrigen verweist das Gericht auf mögliche Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer nach Afghanistan nach dem REAG/GARP-Programm. Darüber hinaus werden Leistungen nach dem Reintegrationsprogramm „ERIN“ gewährt (vgl. Auskünfte der Regierung von Schwaben vom 17. August 2016 und des Bundesamtes vom 12. August 2016 an das Verwaltungsgericht Augsburg).

Auch steht der langjährige Aufenthalt des Klägers im Iran einer Einschätzung einer zumutbaren Rückkehr nach Afghanistan nicht entgegen. Schließlich hat der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht (vgl. BayVGH, B. v. 30.9.2015 - 13A ZB 15.30063 - juris; zuletzt B. v. 14.12.2016 - 13a ZB 16.30139 -, nicht veröffentlicht). Zudem spricht der Kläger die Landessprache Dari bzw. zumindest das der Landessprache ähnliche Farsi, weshalb es nicht maßgeblich darauf ankommt, ob der Kläger speziell mit den afghanischen Verhältnissen vertraut ist (vgl. BayVGH, B. v. 19.2.2014 - 13A ZB 14.30022 - juris).

Dass der Kläger Teil einer Familie mit drei minderjährigen Kindern ist, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Die übrigen Familienangehörigen des Klägers verfügen - soweit ersichtlich - in der Bundesrepublik Deutschland über ein Bleiberecht. Damit ist nicht von einer Rückkehr des Klägers im Familienverbund nach Afghanistan auszugehen, was eine andere rechtliche Wertung nahegelegt hätte. Sollte sich die Familie gleichwohl dazu entscheiden, mit dem Kläger zurück nach Afghanistan bzw. Kabul zurückzukehren, um die Familieneinheit zu wahren, handelt es sich um eine freiwillige Rückkehr, die zu keiner anderen Beurteilung der Gefahrenprognose mit Blick auf den Kläger führen kann.

Damit liegt aber mit der Wahrung der Familieneinheit (Art. 6 Grundgesetz - GG) ein sog. inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor, dessen Prüfung allein der Ausländerbehörde obliegt und somit bei der Beurteilung des zielstaatbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG von vornherein keine Berücksichtigung findet.

Das von der Beklagten verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage des § 11 Abs. 1 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Nach Ansicht des Gerichts ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate angemessen (§ 11 Abs. 2 AufenthG). Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.

Damit war die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen. Sie war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.

Tenor

Im Umfang der Klagerücknahme wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger, der angibt, ein 25 Jahre alter, im Iran geborener und dort aufgewachsener, im März 2013 in die Bundesrepublik Deutschland gelangter afghanischer Staatsangehöriger zu sein, der der Volksgruppe der Hazara angehöre, beantragte am 12.03.2013 seine Anerkennung als Asylberechtigter: Er habe den Iran verlassen, weil sein Stiefvater ihn dort versklavt habe. Von Afghanistan wisse er nichts. Er habe gehört, dass dort Krieg herrsche.

2

Mit am 15.05.2015 zugestelltem Bescheid vom 11.05.2015 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), und es drohte für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an (Nr. 5).

3

Am 27.05.2015 hat der Kläger Klage erhoben. Er betont, als vermögensloser Analphabet ohne Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt in Afghanistan werde er nicht in der Lage sein, sein Existenzminimum zu sichern, zumal er noch nie in Afghanistan gewesen sei und die Landessprache (Dari oder Paschtu) nicht beherrsche, sondern nur Farsi.

4

Der Kläger beantragt unter Klagerücknahme im Übrigen,

5

die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt und den angegriffenen Bescheid aufzuheben, soweit entgegensteht.

6

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.

7

Die Kammer hat die Entscheidung des Rechtsstreits dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

8

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehört worden.

9

Wegen der Darstellung des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

10

Soweit das Verfahren nicht in Folge der in der mündlichen Verhandlung erklärten teilweisen Klagerücknahme gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen ist, ist die Klage zulässig, jedoch unbegründet.

11

Im maßgeblichen Zeitpunkt dieser gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) hat der Kläger keinen Anspruch (§ 113 Abs. 5 VwGO) auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG. Das erkennende Gericht macht sich insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylG die Feststellungen und die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids mit den nachfolgenden Maßgaben bzw. Ergänzungen zu eigen.

12

Es fehlt nach wie vor an tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, die mit der sich anhaltend allgemein schwierig gestaltenden humanitären Lage in Afghanistan (vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 06.11.2015) einhergehenden allgemeinen Gefahren würden sich aufgrund der besonderen persönlichen Situation des Klägers dahin verdichten, dass humanitäre Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ erschienen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - Rn. 278, 282 f.) bzw. dass er im Rückkehrfall mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod oder schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris).

13

Jedenfalls für den Kläger als jungen, gesunden, arbeitsfähigen und alleinstehenden Mann besteht in urbanen und semiurbanen Umgebungen, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten, und die unter wirksamer staatlicher Kontrolle stehen, allenfalls in einem geringfügigen Maß ein Verelendungsrisiko (siehe nur UNHCR, Eligibility guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan, 19.04.2016, S. 86). Denn es ist davon auszugehen, dass er – etwa im Raum Kabul (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.06.2016 - 13 A 1882/15.A - juris) – seinen Lebensunterhalt nach einer Wiedereingliederungsphase zumindest auf einem nach westlichen Maßstäben niedrigen Niveau wird sicherstellen können. Da der keine Unterhaltslasten tragende Kläger nur für sich selbst sorgen muss, ist er im Ausgangspunkt schon deswegen einem geringeren Armutsrisiko ausgesetzt. Hinzu kommt, dass der Kläger über Fähigkeiten verfügt, die es ihm in Afghanistan erleichtern dürften, eine Erwerbsgrundlage zu finden. So hat er angegeben, im Iran schon früh wesentliche Beiträge zur Ernährung seiner Mutter, seines Stiefvaters und seiner zuletzt vier Halbgeschwister geleistet zu haben, indem er in einer Plastikfabrik, einer Schneiderei und bei der Herstellung von Baumaterialröhren gearbeitet habe. Während seines Aufenthaltes in Griechenland sei er in der Lage gewesen, durch eigene Arbeit als Hilfskoch seine Weiterreise zu finanzieren, was seinen Erwerbsperspektiven in Afghanistan ebenfalls nicht abträglich ist, sondern sie begünstigen dürfte. Zudem kann bei der Rückkehrprognose auch die zumutbare Inanspruchnahme von Rückkehr- und Eingliederungshilfen – allein die Starthilfe (vgl. http://germany.iom.int/sites/default/files/REAG/REAG-GARP-2016-Infoblatt-Deutsch.pdf) beträgt mehr als das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen in Afghanistan (vgl. https://www.laenderdaten.info/durchschnittseinkommen.php) – nicht kurzerhand ausgeblendet werden.

14

Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, dass dem Kläger auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt in Afghanistan die ausreichende Sicherung seines Lebensunterhalts gelingen wird. Hieran ändert nichts, dass der Kläger angibt, Analphabet zu sein, zumal mehr als die Hälfte aller Afghanen nicht des Lesens und Schreibens mächtig ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.03.2015, S. 22). Daran ändert auch nichts, dass der Kläger im Iran als Kind afghanischer Eltern geboren und aufgewachsen sein will. Zum einen hat er damit den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht. Zum anderen hat er gerade durch seinen Aufenthalt in Griechenland gezeigt, dass er sich auch in einer fremden Umgebung „durchschlagen“ kann (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris). Nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung ist auch, dass der Kläger angibt, keine der afghanischen Landessprachen zu sprechen, sondern nur Farsi. Denn Farsi und Dari sind keine unterschiedlichen Sprachen, sondern nur Ausgestaltungen der persischen Sprache (vgl. http://derstandard.at/1308680777512/Landessprache-als-Politikum-Keine-Unterschiede-zwischen-Farsi-und-Dari sowie http:// www.afghan-aid.de/dari.htm). Dabei wird nicht verkannt, dass ein spezielles Vertrautsein mit Dari im besonderen und den afghanischen Verhältnissen im allgemeinen die Sicherung des Lebensunterhalts in Afghanistan vereinfachen dürfte, unabdingbar ist dies aus Sicht des erkennenden Gerichts allerdings ungeachtet der Rechtsprechung des Berufungsgerichts – vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 26.10.2015 - 2 LA 102/15 - (unveröffentlicht), sowie Urteil vom 10.12.2008 - 2 LB 23/08 - (juris) – nicht.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Sie ist gemäß § 167 VwGO iVm den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.


Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der am ... in Shush im Iran geborene Antragsteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger mit der Volkszugehörigkeit der Hazara und schiitischer Religion. Er hielt sich gemeinsam mit seinen Eltern und seinen jüngeren Geschwistern bis zur Ausreise im Iran in Teheran auf. Nach eigenen Angaben verließ der Antragsteller etwa Mitte April 2014 den Iran und reiste auf dem Landweg über verschiedene Drittstaaten in das Bundesgebiet ein, wo er Mitte Mai 2015 eintraf. Am 22. Juli 2015 beantragte er Asyl.

In der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 19. Oktober 2015 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er habe im Iran sieben bis acht Jahre lang die Schule besucht und danach Aushilfsjobs ausgeübt. Beispielsweise habe er Autos mit Schutzfolie abgedeckt. Er wisse nicht genau, aus welchem Ort in Afghanistan seine Eltern stammten, er habe nur gehört, dass sie aus Behsud stammten. Er habe im Iran nicht bleiben können, weil sein Flüchtlingsausweis abgelaufen sei und die iranischen Behörden diesen nicht verlängern wollten. Die Iraner würden den Flüchtlingen aus Afghanistan das Leben schwer machen, er selbst sei mit einer Glasflasche am Rücken verletzt worden. Als Hazara werde man immer beschimpft und auf der Straße zusammengeschlagen. Man werde auch bestohlen und habe keine Zukunft. In Afghanistan lebe zwar noch eine Tante väterlicherseits in Masare-Sharif, die Lage dort sei jedoch noch viel schlimmer, er könnte dort nur auf den Tod warten. In Deutschland lebten sein Cousin mit Ehefrau und drei Kindern, er habe jedoch keinen Kontakt zu ihnen und wisse nicht, in welcher Stadt sie sich aufhielten.

Unter dem 10. Dezember 2015 teilte der zwischenzeitlich bestellte Amtsvormund mit, dass der Antragsteller volljährig geworden sei. Bei einer Testung sei festgestellt worden, dass der Antragsteller geistig behindert sei. Es sei eine gesetzliche Betreuung angeregt worden, das Verfahren sei jedoch noch nicht abgeschlossen.

Mit Bescheid vom 13. Mai 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1. des Bescheides) sowie den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) als offensichtlich unbegründet ab, lehnte den Antrag auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 3.) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.). Der Antragsteller wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (Ziffer 5.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe eine Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Die von ihm geäußerten Gründe seien vage und unsubstantiiert. Sie hätten sich im Großen und Ganzen auf die allgemeine Lebenssituation der Flüchtlinge im Iran bezogen und nicht den Eindruck erweckt, dass er das von ihm Geschilderte auch tatsächlich erlebt habe. Er habe schon in Bezug auf seine eigene Erlebnissphäre nicht schlüssig und substantiiert dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht, in erheblicher Weise von der Gefahr eines ernsthaften Schadens individuellkonkret bedroht oder betroffen zu sein. Dafür, dass ihm etwa aus anderweitigen Gesichtspunkten ein subsidiärer Schutzstatus zuzuerkennen wäre, fehle es gleichermaßen an durchgreifenden bzw. tragfähigen Hinweisen bzw. sonstigen geeigneten Erkenntnissen. Die Gründe, die der Antragsteller geltend mache, seien auch zu allgemein gehalten, um Hinweise auf eine persönliche Gefahrenlage i. S. d. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu geben. Bei dem Antragsteller handele es sich um einen jungen, gesunden, erwerbsfähigen und unverheirateten Mann, der in der Lage sei, eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen und seinen Lebensunterhalt zu sichern. Er habe zwar mit seinen Eltern im Iran gelebt. Nach seinen eigenen Angaben verfüge er jedoch über Familienangehörige in der Provinz Balk der Stadt Masare-Sharif. Der Erhalt von entsprechenden Hilfen innerhalb seines Familienverbundes sei damit mehr als gegeben. Auf die Gründe des Bescheides wird im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung wird darauf hingewiesen, dass gegen diesen Bescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Würzburg erhoben werden könne. Ein Hinweis auf die Klagefrist von einer Woche im Falle des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG sowie auf dieselbe Frist für die Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO findet sich in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht (Bl. 96 der Bundesamtsakte).

Am 24. Mai 2016 erhob der Antragsteller zur Niederschrift der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Klage (Az. W 1 K 16.30616), über die noch nicht entschieden ist.

Gleichzeitig beantragt er im vorliegenden Verfahren, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Zur Begründung von Klage und Antrag wurde unter dem 28. Mai 2016 im Wesentlichen ausgeführt, die Anhörung sei von einer sonderbeauftragten Einzelentscheiderin durchgeführten worden, während die Entscheidung selbst durch einen anderen Entscheider ergangen sei. Dies führe zwar nicht zwingend zur Rechtswidrigkeit des Bescheides, sei aber hinsichtlich der Begründung desselben zu berücksichtigen. Die Ablehnung sei als offensichtlich unbegründet erfolgt. Die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung betreffe allerdings nur „normale“ Ablehnungen. Die Fristen seien daher nicht wirksam in Lauf gesetzt. Inhaltlich erweise sich die Entscheidung zumindest im Hinblick auf die Ablehnung als offensichtlich unbegründet als unhaltbar. Soweit darauf abgestellt werde, der Antragsteller habe nicht schlüssig und substantiiert dargelegt bzw. glaubhaft gemacht, in erheblicher Weise von Gefahren i. S. d. § 4 AsylG individuellkonkret bedroht oder betroffen zu sein, hätte dies angesichts der Aussage zur Lage in Afghanistan einer Nachfrage bedurft. Der Antragsteller habe keinerlei Kontakt zu der Tante in Afghanistan, die er bei der Anhörung angegeben habe. Er wisse lediglich von seinen Eltern, dass diese in Masare-Sharif wohne. Ob für den Antragsteller die Möglichkeit bestehe, bei dieser unterzukommen, sei für ihn nicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Situation in Masare-Sharif und die letzten Vorkommnisse dort müsse der Antragsteller befürchten, von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden. Es sei auch nicht ersichtlich, wie er sich dort eine wirtschaftliche Existenz aufbauen könnte und sollte, um zu überleben, nachdem er sein Leben im Iran verbracht und damit keinerlei Bezug zu Afghanistan habe. Dem Antragsteller drohten im Hinblick auf die Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere die katastrophalen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche und konkrete Gefahren für Leib und Leben.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG, § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes im streitgegenständlichen Bescheid vom 13. Mai 2016 anzuordnen, bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er fristgerecht bei Gericht gestellt. Dies gilt auch für die am selben Tag erhobene Klage. Unabhängig davon, wann dem Antragsteller der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes zugestellt wurde (ein Zustellungsnachweis befindet sich nicht in der Bundesamtsakte), ist die Klage- und Antragsfrist von einer Woche gemäß § 74 Abs. 1 2. Halbsatz AsylG im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht angelaufen, weil der Antragsteller hierüber nicht ordnungsgemäß belehrt wurde. Gemäß § 36 Abs. 3 Satz 2 AsylG ist der Ausländer auf die Wochenfrist für Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsandrohung im Falle des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG hinzuweisen. Für den Fall des fehlenden ordnungsgemäßen Hinweises gilt nach § 36 Abs. 3 Satz 3 AsylG die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO im Falle der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung entsprechend. Die dem streitgegenständlichen Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung (Bl. 96 der Bundesamtsakte) verweist lediglich auf die Klagefrist von zwei Wochen gemäß § 75 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG für den Fall der Ablehnung des Asylantrags als (einfach) unbegründet, enthält jedoch keinen Hinweis auf den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung sowie die Wochenfrist für die Antragstellung nach § 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet.

2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.

a) Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Prüfungsmaßstab zur Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs ist die Frage, ob die für die Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes vorliegen. Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darf nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - DVBl. 1996, 729, juris).

Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat stammt, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht (§ 29a Abs. 1 AsylG). Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag des Weiteren dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 AsylG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt eine Abweisung der Asylklage als offensichtlich unbegründet voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage dem Verwaltungsgericht geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B.v. 20.9.2001 - 2 BvR 1392/00 - juris = InfAuslR 2002, 146; B.v. 5.2.1993 - 2 BvR 1294/92 - juris = InfAuslR 1993, 196). Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kommt es darauf an, ob die Offensichtlichkeitsentscheidung in Bezug auf die geltend gemachten Asylgründe bei der hier gebotenen summarischen Prüfung mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden kann.

b) Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils im streitgegenständlichen Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft sowie der Asylanerkennung. Es fehlt bereits an einem hinreichend substantiierten Vortrag des Antragstellers hinsichtlich ihm konkret drohender oder von ihm erlittener Verfolgungsmaßnahmen in Afghanistan. Der Vortrag des Antragstellers, in Afghanistan könne er nur auf den Tod warten, ist insoweit nicht ausreichend. Der persönliche Vortrag des Antragstellers im Übrigen bezieht sich auf die erlittenen Repressalien im Iran, die nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind.

Soweit der Antragsteller darauf verweist, dass die seine Anhörung durchführende Bedienstete des Bundesamtes nicht auch den Bescheid erlassen hat, führt dies vorliegend nicht zu ernstlichen Zweifeln am Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des erkennenden Einzelrichters und anderer Verwaltungsgerichte, dass im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils bestehen können, soweit dieses auf die Unglaubhaftigkeit des Vortrags des Asylantragstellers gestützt ist und der Entscheider den Asylantragsteller nicht selbst persönlich angehört hat, wenngleich das Gesetz insoweit keine ausdrücklichen Regelungen trifft (VG Würzburg, B.v. 28.8.2014 - W 1 S 14.30466 - juris Rn. 15 ff. m. w. N.). Im vorliegenden Falle wurde die Anhörung durch die Entscheiderin R. durchgeführt (Bl. 60 der Bundesamtsakte), den Bescheid hat der Entscheider F. erlassen (Bl. 89 der Bundesamtsakte). Das Offensichtlichkeitsurteil ist jedoch ausweislich der Gründe des Bescheides nicht maßgeblich auf Glaubhaftigkeitszweifel, sondern darauf gestützt, dass sich dem Vorbringen des Antragstellers schon keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung entnehmen ließen. In einem derartigen Falle kann die Trennung von Anhörer und Entscheider nicht zu einem Rechtsfehler geführt haben, auf dem die Entscheidung beruht, weshalb es sich nicht um einen relevanten Verfahrensfehler handelt (VG Würzburg a. a. O., Rn. 15 f.). Zwar führt der Entscheider auf S. 3 des streitgegenständlichen Bescheides (Bl. 84 der Bundesamtsakte) im dritten Absatz von oben aus, der Antragsteller habe eine Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft machen können, die geäußerten Gründe seien vage und unsubstantiiert und hätten sich im Großen und Ganzen auf die allgemeine Lebenssituation der Flüchtlinge im Iran bezogen. Damit ist die Entscheidung aber nicht maßgeblich auf Glaubhaftigkeitsmängel gestützt, sondern darauf, dass der Antragsteller schlichtweg kein individuelles Verfolgungsschicksal in Bezug auf Afghanistan vorgetragen hat. Das Auseinanderfallen von anhörendem Entscheider und den Bescheid erlassendem Entscheider führt daher im vorliegenden Falle nicht zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.

Soweit der Antragsteller vortragen lässt, ihm drohe im Falle der Rückkehr nach Masare-Sharif aufgrund der dortigen Sicherheitslage die zwangsweise Rekrutierung als Talibankämpfer, ist dem zwar zuzugeben, dass junge, gesunde Männer nach der Einschätzung des UNHCR, dessen Stellungnahmen im Asylverfahren ein erhebliches Gewicht zukommt, zu der besonders schutzbedürftigen Personengruppe der in Afghanistan durch Zwangsrekrutierung bedrohten Personen zählen (UNHCR, Eligibility guidelines for assessing the international protection needs of asylumseekers from Afghanistan, 19.4.2016, S. 44 ff.). Allein dies vermag jedoch nicht die Annahme zu begründen, den betroffenen Personen werde durch nichtstaatliche Akteure ohne Weiteres ein flüchtlingsrelevantes Merkmal i. S. d. §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 AsylG zugeschrieben, insbesondere sind diese nicht ohne Weiteres als soziale Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2014 - 13a ZB 14.30208 - juris Rn. 4 f.). Davon geht auch der UNHCR nicht aus. Dieser Vortrag kann daher allenfalls für die Frage der Gefahr eines ernsthaften Schadens i. S.d subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG von Relevanz sein.

Dem Antragsteller droht im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auch keine Verfolgung durch andere Akteure i. S. d. § 3c AsylG in Anknüpfung an seine Volkszugehörigkeit der Hazara. Ungeachtet der unbestritten bestehenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und Benachteiligung besteht derzeit keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan, weil die genannten Benachteiligungen und vereinzelten gewaltsamen Übergriffe nicht die dafür erforderliche Verfolgungsintensität und Verfolgungsdichte i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG aufweisen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 6. November 2015 - Stand: November 2015 - Seite 11; ebenso st.Rspr., z. B. BayVGH, U.v. 3.7.2012 - 13a B 11.30064 - juris Rn. 27; U.v. 21.6.2013 - 13a B 12.30170 - juris Rn. 24; VG Würzburg, U.v. 22.12.2015 - W 2 K 15.30616 - juris Rn. 30).

c) Auch im Übrigen überwiegt bei einer maßgeblich an den Erfolgsaussichten der Klage gegen die in Ziffer 3 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheides getroffenen Entscheidungen orientierten eigenen Interessenabwägung des Gerichtes das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers.

Hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG fehlt es bereits an einem substantiierten Vortrag des Antragstellers. Ob einem Antragsteller aufgrund der im Klage- und Antragsschriftsatz vorgetragenen Gefahr der Zwangsrekrutierung die Gefahr eines ernsthaften Schadens i. S. d. subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG bzw. eine im Rahmen des nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK droht, ist eine Frage des Einzelfalles (BayVGH, B.v. 10.8.2015 - 13a ZB 15.30050 - juris Rn. 9 f.; B.v. 20.8.2014 - 13a ZB 14.30208 - juris Rn. 4 ff.). Hierzu fehlt es jedoch im vorliegenden Falle an konkreten Anhaltspunkten. Der pauschale Verweis auf die aktuelle Sicherheitslage in Masare-Sharif genügt hierfür nicht.

d) Der Antragsteller hat auch keine substantiierten Gründe für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorgetragen.

Die durch den Amtsvormund mit Schreiben vom 10. Dezember 2015 vorgetragene geistige Behinderung des Antragstellers ist nicht durch Vorlage ärztlicher Stellungnahmen belegt worden. Unter Zugrundelegung des Vortrags des Antragstellers ergibt sich hieraus keine andere Betrachtungsweise im Hinblick auf die Frage einer existenziellen Gefährdung i. S. d. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG im Falle der Rückkehr nach Afghanistan. Denn der Antragsteller hat angegeben, im Iran Gelegenheitsarbeiten wahrgenommen zu haben. Es ist nicht ersichtlich, dass er hierzu in Afghanistan nicht in der Lage sein sollte.

Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan stellt demgegenüber keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK dar, die im Rahmen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen wäre. Zwar können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167; BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 12).

Dem Antragsteller droht auch aufgrund der unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan keine extreme Gefahr infolge einer Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG führen könnte. Die genannten Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 16; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. A. 2016, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssten. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte, der sich der erkennende Einzelrichter jüngst erneut angeschlossen hat (VG Würzburg, U.v. 26.4.2016 - W 1 K 16.30269 - juris Rn. 31 ff.), ergibt sich auch aus den aktuellen Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (st.Rspr., z. B. BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 17 m. w. N.; B.v. 30.9.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 - 13 A 1828/09.A - juris Rn. 73 m. w. N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 - 1 A 144/15.A - juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 - 9 LB 320/14 - juris).

Zusammenfassend lassen sich auch aus den aktuellsten Erkenntnismitteln keine für die Beurteilung der hier relevanten Gefahrenlage bedeutsamen Änderungen entnehmen. Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen sind insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch ihre Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in Nachbarländer geflüchtet sind, wesentlich höher. Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar, wie oben ausgeführt, nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Antragsteller als Zugehöriger der ethnischen Minderheit der Hazara keine Chance hätte, sich etwa als Tagelöhner zu verdingen. Die vorliegenden Gutachten und Berichte enthalten keine entsprechenden Hinweise. Der Umstand, dass es dem Antragsteller gelungen ist, sich alleine bis Europa „durchzuschlagen“, steht der Annahme, er könne in Kabul auf sich allein gestellt sein Existenzminimum sichern, ebenfalls nicht entgegen. Eine Rückkehr nach Afghanistan scheitert nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich auch nicht an einem langjährigen Aufenthalt in Europa oder in Drittländern, z. B. in Pakistan oder dem Iran. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Betroffene - wie hier der Antragsteller - den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht. Ein spezielles „Vertraut-Sein mit den afghanischen Verhältnissen“ mag die Sicherung des Lebensunterhaltes vereinfachen. Anhaltspunkte, dass dies erforderlich sein könnte, sind jedoch nicht ersichtlich (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris Rn. 24 m. w. N.). Damit fehlt es an der für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller alsbald existenzbedrohenden Mangellagen in Afghanistan ausgesetzt wäre. Der Antragsteller ist im Iran aufgewachsen und spricht Farsi, das der Landessprache Dari in Afghanistan sehr ähnlich ist. Er hat sieben bis acht Jahre lang die Schule besucht und Lesen und Schreiben gelernt. Bis zu seiner Ausreise hat er Gelegenheitsarbeiten ausgeführt. Auch wenn der Kläger nicht über eine Berufsausbildung verfügt, verfügt er somit über Landeskenntnisse und über einen Bildungsstand, mit dem er gegenüber den vielen Analphabeten in Afghanistan im Vorteil ist. Mit diesen Erfahrungen und Kenntnissen ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa in Kabul, wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Das entspricht auch der Auffassung des UNHCR, wonach bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Betracht komme (UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, Seite 9). Auf die familiäre Verbindung des Antragstellers nach Afghanistan, nämlich die wohl in der Region Masare-Sharif lebende Tante, kommt es daher nicht entscheidungserheblich an. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die im Iran lebenden Verwandten den Antragsteller - zumindest im Falle einer Notlage - nicht mit den nötigsten finanziellen Mitteln versorgen könnten.

e) Im Hinblick auf die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 2, 3 AufenthG hat der Antragsteller keine besonderen persönlichen Belange vorgetragen, die der Befristung auf 30 Monate entgegenstehen würden. Zu dem im Bundesgebiet lebenden Onkel väterlicherseits hat er nach eigenen Angaben keinerlei Kontakt.

Nach alldem war der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag aus nachstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. August 2016 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „ob für Angehörige der Zivilbevölkerung allein schon durch die Anwesenheit in A1 aufgrund des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben gemäß § 4 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15c der RL 2004/83/EG, hilfsweise nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG, anzunehmen ist und auch Kabul keine interne Schutzmöglichkeit darstellt“.

Die Lage in A1 habe sich seit 2015 drastisch verschlechtert und seien aktuell die Opferzahlen 2015/2016 höher als 2009, weshalb die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müsse.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach A1 keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts (UA S. 8). Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten oder als anhaltende Kampfhandlungen zu qualifizieren seien, könne dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre (UA S. 9). Denn es fehle vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG sei. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen erreiche in der Heimatprovinz des Klägers, Kabul, der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt kein so hohes Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Individuelle gefahrerhöhende Umstände habe der Kläger nicht vorgetragen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor (UA S. 9). Für den Kläger ergebe sich in Kabul weder aus seiner Volkszugehörigkeit noch hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage eine extreme allgemeine Gefahrenlage. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des erkennenden Senats und des Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 6. November 2015, vom 31. März 2014 und vom 4. Juni 2013 kommt das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, das Risiko, in K. durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, sei weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (UA S. 6 f.) und könne der volljährige, arbeitsfähige und mit den Lebensverhältnissen in A1 vertraute Kläger in Kabul seinen Lebensunterhalt sicherstellen (UA S. 7 f. und 9 f.).

Die Frage betreffend das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts kann nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil es hierauf nicht entscheidungserheblich ankam. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil ausdrücklich dahinstehen lassen, ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen in A1 oder Teilen hiervon als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren sind.

Auch die Frage zu K. als „interne Schutzmöglichkeit“, gemeint sein dürfte damit, ob Kabul als interner Schutz im Sinn von § 3e AsylG in Betracht kommt, vermag keine grundsätzliche Bedeutung zu begründen, da es für die Zumutbarkeit nach § 3e AsylG auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls und die individuellen Verhältnisse des Klägers ankommt und die Frage damit einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich ist. Hinzu kommt, dass diese Frage im Hinblick darauf, dass die Herkunftsregion des Klägers K. ist und er vor seiner Ausreise zuletzt in der Provinz K. gelebt hat (Akte des Bundesamts Bl. 30 und 31), auch wenn das Verwaltungsgericht zusätzlich auf K. als Fluchtalternative abgestellt hat (UA S. 6 f.), in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich wäre und damit ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung führen kann. Damit scheidet mangels Entscheidungserheblichkeit auch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „niederlässt“ in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011 L 337/9) im Unterschied zur vorhergehenden Fassung „aufhält“ in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG aus.

Die weiter aufgeworfene Frage, ob praktisch jede Zivilperson in A1 bzw. K. einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei, hat das Verwaltungsgericht verneint. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren in der Person des Klägers führen könnten, habe dieser nicht vorgetragen. Hierbei ist das Verwaltungsgericht unter Heranziehung aktueller Lageberichte zu der Erkenntnis gelangt, dass das Risiko, durch Anschläge Schaden zu erleiden, in der Herkunftsregion des Klägers, K., weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit liege (siehe hierzu BayVGH, B.v. 30.7.2015 - 13a ZB 15.30031 - juris; BayVGH, U.v. 1.2.2013 - 13a B 12.30045 - juris; U.v. 8.11.2012 - 13a B 11.30391 - juris).

Dem ist der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Er wendet vielmehr pauschal ein, dass sich die Lage in A1 seit dem Jahr 2015 wieder extrem verschlechtert habe und somit die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müsste. Hierzu wurde aus dem Jahresbericht der United Nations Assistance Mission in A1 (UNAMA) für das Jahr 2015, aus zahlreichen Presseartikeln und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs A1 Asylsuchender vom 19. April 2016 zitiert. Auch wird eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts mit Stand vom 7. Juli 2016 angeführt sowie auf Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 22. Juli 2014 und vom 13. September 2015, auf eine Stellungnahme der International NGO Safety Organisation (INSO) und den Amnesty Report 2016 A1 von Amnesty International verwiesen.

Diese allgemeinen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Der Verwaltungsgerichtshof geht daher weiterhin davon aus, dass in A1 für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht (zuletzt B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris). So werden in den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016, wonach sich die Sicherheitslage verschlechtert habe, vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass neuere Daten genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Auch beruht die dortige Bewertung auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben, die sich nicht mit den Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an einen bewaffneten Konflikt und eine erhebliche individuelle Gefährdung (s. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360) decken. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (S. 10). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der im Zulassungsantrag angeführten Publikation der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 13. September 2015 (A1: Update, Die aktuelle Sicherheitslage) sowie den genannten Presseberichten. Dort wird ebenfalls nur die Sicherheitslage nach eigenen Maßstäben bewertet. Andere Ausgangsdaten, die darauf hindeuten, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären, sind dort ebenfalls nicht genannt. Schließlich geben auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu A1 keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B.v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B.v. 14.10.2015 - 2 BvR 1626/13).

Hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zudem geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris; U.v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 - LS; U.v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris; U.v. 8.12.2011 - 13a B 11.30276 - EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-). Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland A1 in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in K. ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Der Antrag wird abgelehnt.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 1. Dezember 2016 bleibt ohne Erfolg.

Soweit sich der Kläger auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) beruft, macht er keinen der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Zulassungsgründe geltend. Das ist zwar der Fall bei der weiter von ihm erhobenen Grundsatzrüge, jedoch ist sein Antrag insoweit unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger trägt insoweit vor, nachdem seinem jüngeren Bruder vom Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen worden sei, müssten bei ihm die Voraussetzungen erst recht vorliegen. Damit wird jedoch bereits nicht deutlich, welche Frage von grundsätzlicher Bedeutung hier aufgeworfen werden sollte. Sofern als grundsätzlich klärungsbedürftig angesprochen werden sollte, ob Familienangehörigen mit vorgetragenem gleichen Sachverhalt eine unterschiedliche bzw. keine Schutzgewährung zugesprochen werden könnte, ließe sich dies nur im Einzelfall, nicht aber in verallgemeinerungsfähiger Form beantworten.

Auch mit dem weiteren Vortrag, die Sicherheitslage habe sich in Afghanistan in den letzten zwölf Monaten massiv verschlechtert, wird keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige im Allgemeinen derzeit keine extreme Gefahrenlage anzunehmen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U. v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris; U. v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 -LS-; U. v. 22.3.2013 - 13a B 12.30044 - juris; U. v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris; U. v. 8.12.2011 - 13a B 11.30276 - EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-; U. v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris). Der Verwaltungsgerichtshof geht weiterhin davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Für eine Veränderung der Lage im Jahre 2016, die eine andere Beurteilung erfordern würde, fehlen ausreichende Anhaltspunkte (BayVGH, B. v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600).

Der Kläger rügt weiter, die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Verfolgungsgefahr sei nicht glaubhaft gemacht, wäre falsch. Damit spricht er die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts an und macht, ohne es ausdrücklich anzusprechen, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO geltend. Eine solche liegt hier jedoch nicht vor.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B. v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Wie aus dem angefochtenen Urteil hervorgeht, hat sich das Verwaltungsgericht mit den vom Kläger geschilderten persönlichen Verhältnissen befasst (UA S. 7 f.). Es hat aber das Vorbringen als widersprüchlich erachtet und ist zudem zu der Einschätzung gelangt, dass dem Kläger eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehe und deshalb keine Gefahr für ihn anzunehmen sei. Mit der Kritik an der tatrichterlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör grundsätzlich nicht begründet werden (BVerfG, E. v. 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE 22, 267/273; BVerwG, B. v. 30.7.2014 - 5 B 25.14 - juris; B. v. 15.5.2014 - 9 B 14.14 - juris Rn. 8).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für einen noch zu stellenden Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 4. Oktober 2016 ist abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinn von § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO bietet. Das Gericht hat dabei die Erfolgsaussichten des Antrags auf der Grundlage des dargestellten Streitverhältnisses zu prüfen. Nicht erforderlich ist, dass der Kläger substantiiert das Vorliegen von Zulassungsgründen darlegt (BayVGH, B.v. 10.10.2007 - 13a ZB 07.2007 - juris; B.v. 31.1.2006 - 13a ZB 05.31244 - juris). Fehlt - wie hier - jegliche Begründung, sind die Erfolgsaussichten anhand des erstinstanzlichen Urteils zu prüfen (Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 124a Rn. 42).

Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Verfahren das Bestehen eines Zulassungsgrunds gemäß § 78 Abs. 3 AsylG mit hinreichender Aussicht auf Erfolg geltend gemacht werden könnte, liegen aber nicht vor. Eine Abweichung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs oder eines anderen dort genannten Gerichts ist nicht ersichtlich. Ein Verfahrensmangel nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG ist ebenfalls nicht erkennbar. Auch ein auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützter Zulassungsantrag wäre ohne hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass eine Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Hiervon ausgehend ist nicht ersichtlich, inwieweit die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sein könnte. Die vom Kläger in der Klage thematisierte Rückkehrgefährdung wegen der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan verleiht ihr keine grundsätzliche Bedeutung. In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige im Allgemeinen derzeit keine extreme Gefahrenlage anzunehmen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris; U.v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 -LS-; U.v. 22.3.2013 - 13a B 12.30044 - juris; U.v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris; U.v. 8.12.2011 - 13a B 11.30276 - EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-; U.v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris). Der Verwaltungsgerichtshof geht weiterhin davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Dies gilt auch für Volkszugehörige der Hazara, zu denen auch der Kläger gehört (BayVGH, B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600). Für eine Veränderung der Lage im Jahre 2016 fehlen ausreichende Anhaltspunkte (BayVGH, B.v. 4.1.2017 a. a. O.).

Tenor

I.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

III.

Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, da der Zulassungsantrag keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO).

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. Oktober 2016 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „inwieweit Familienangehörige von Regierungsbeamten allein aufgrund der Familienzugehörigkeit mit flüchtlingsrechtlich und abschiebungsschutzrechtlich relevanter Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan rechnen müssen.“ Die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts Augsburg habe in einem ausführlichen wie überzeugenden Urteil entschieden, dass Familienangehörige eines Regierungsbeamten in Afghanistan politisch verfolgt würden, wenn Taliban sein Kind entführt und die Familie erneut bedroht hätten (U. v. 3.11.2015 - Au 6 K 15.30373).

Die aufgeworfene Frage ist jedoch einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich. Vielmehr setzt deren Beurteilung eine Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls voraus, insbesondere auch in Zusammenhang mit der konkreten Situation des Klägers. Dies zeigt insbesondere auch die von diesem in Bezug genommene Entscheidung. Der dort zugrunde gelegte Sachverhalt weicht erheblich - z. B. durch die Entführung des Kindes - von der hier vorliegenden Situation ab. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Vortrag des Klägers in Bezug auf selbst erlittene Verfolgung wegen erheblich gesteigerten Vorbringens als insgesamt nicht glaubwürdig angesehen (UA S. 10).

Auch aus der weiter aufgeworfenen Frage, „inwieweit angesichts der aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amts für Afghanistan sowie der allgemeinen Gefahrenlage in Afghanistan gerade seit Beginn der zweiten Jahreshälfte 2016 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bzw. unmittelbar aus Art. 1, 2 GG bestehen“, ergibt sich keine grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG. In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U. v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris; U. v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris = KommunalPraxisBY 2014, 62 -LS-; U. v. 20.1.2012 - 13a B 11.30425 - juris; U. v. 8.12.2011 - 13a B 11.30276 - EzAR-NF 69 Nr. 11 = AuAS 2012, 35 -LS-). Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.

Für eine verlässliche Prognose, dass sich die Gefahrenlage im Jahre 2016 entscheidend verändert hätte, fehlen ausreichende Anhaltspunkte. Der Verwaltungsgerichtshof sieht daher weiterhin in Afghanistan für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage (zuletzt B. v. 27.7.2016 - 13a ZB 16.30051 - juris). Auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts zu Afghanistan geben keinen Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung eine Indizwirkung nicht zu. Nach dem Wortlaut der Reisewarnung und den Grundsätzen für den Erlass einer solchen sei auszuschließen, dass die hierfür maßgebenden rechtlichen Maßstäbe zur Bewertung der Verfolgungs- bzw. Sicherheitslage und damit auch der aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse mit den vorliegend anzuwendenden identisch seien (BVerwG, B. v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris; die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG, B. v. 14.10.2015 - 2 BvR 1626/13).

Für § 60 Abs. 5 AufenthG gilt nichts anderes. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig (EMRK) ist. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass in Afghanistan die Lage nicht so ernst ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167; BayVGH, U. v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris). Vielmehr müssen besondere (Einzelfall-)Umstände vorliegen, um zu einer anderen Beurteilung zu kommen. Damit scheidet eine grundsätzliche Bedeutung aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Tenor

I.

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 wird die Klage abgewiesen.

II.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

III.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 31. Dezember 1993 in Herat geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und Hazara. Er reiste auf dem Landweg vom Iran über die Türkei, Griechenland, Italien und Österreich am 25. März 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. April 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 11. Juli 2012 gab der Kläger an, er spreche Dari, außerdem Farsi und ein wenig Englisch. Seit seinem zweiten Lebensjahr habe er mit seiner Familie im Iran gelebt. Die Familie stamme aus der Provinz Herat, Gebiet Guzara. Seine Eltern hätten sich zwar über Afghanistan unterhalten, aber er habe mit ihnen nicht darüber gesprochen. Sie seien wegen der schlechten Sicherheitslage, insbesondere für Hazara, geflohen. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Er habe im Iran, in Bodjnord, fünf Jahre die Schule besucht und anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Er habe immer drei bis vier Monate in Teheran gearbeitet und sei dann wieder zur Familie zurückgekehrt. Wann er aus dem Iran ausgereist sei, wisse er nicht. Er sei seit über zweieinhalb Jahren unterwegs. Eineinhalb Jahre sei er in der Türkei gewesen, neun bis zehn Monate in Griechenland. Die Fahrt habe er mit seinem Verdienst in Teheran finanziert. In Griechenland habe er nicht gearbeitet, in der Türkei als Spüler in Restaurants. Den Iran habe er verlassen, weil die Afghanen dort unterdrückt würden. Die Familie habe auch keine offiziellen Dokumente und sei nicht einmal sozialversichert. Er habe eine Schwester mit elfeinhalb Jahren und einen Bruder mit ca. zehn Jahren.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 wurde der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt (1.), festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (2.) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. (3.) nicht vorliegen und dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht (4.). Zur Begründung ist ausgeführt, wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara liege keine Verfolgung vor. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Herat bestehe nicht. Auch die Voraussetzungen von nationalen Abschiebungsverboten lägen nicht vor, insbesondere bestehe keine extreme Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Da der Kläger nach seinen Angaben bereits nach Beendigung der Schule in Restaurants gearbeitet und Motorräder repariert habe, könne er auch ohne den Rückhalt seiner Familie das erforderliche Einkommen erzielen.

Mit der hiergegen gerichteten Klage an das Verwaltungsgericht München verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. In der mündlichen Verhandlung am 25. März 2014 erklärte der Kläger, Bodjnord sei etwa 17 bis 18 Stunden mit dem Bus von Teheran entfernt, wo er gearbeitet habe. In Deutschland habe er keine Schule besucht und keine Berufsausbildung gemacht. Derzeit arbeite er in einem Restaurant. Mit Urteil vom 25. März 2014 wurde der Bescheid des Bundesamts vom 5. September 2013 antragsgemäß in Nr. 3 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt. Zudem wurde er in Nr. 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen. Die allgemeine Gefahr in Afghanistan habe sich in der Person des Klägers trotz seiner Volljährigkeit ausnahmsweise zu einer extremen Gefahr verdichtet. Aufgrund der besonderen Umstände kommt das Verwaltungsgericht zum Schluss, dass der Kläger, der bereits im Alter von zwei Jahren sein Herkunftsland dauerhaft mit seiner Familie verlassen habe, mit den Verhältnissen in Afghanistan nicht vertraut sei und zudem über keine Berufsausbildung verfüge, nicht dazu in der Lage wäre, die hohen Anforderungen so bewältigen zu können, dass er sich ohne die Hilfe eines aufnahmebereiten Familienverbands wenigstens ein Existenzminimum erwirtschaften könnte. Allein aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit sei davon auszugehen, dass ihm die aktuellen Lebensumstände in Afghanistan fremd seien. Er sei mit den Gepflogenheiten der afghanischen Gesellschaft nicht vertraut, zumal dort während seiner Abwesenheit entscheidende Umbrüche und Veränderungen stattgefunden hätten. Erschwerend wirke sich die fehlende Berufsausbildung aus.

Auf Antrag der Beklagten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 25. August 2014 die Berufung zugelassen wegen Divergenz zur Rechtsprechung des Senats zur extremen Gefahrenlage in den Fällen, in denen der betreffende Ausländer Afghanistan bereits im Kleinkindalter verlassen hat (BayVGH, U. v. 24.10.2013 - 13a B 13.30031 - juris). Unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag und die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs führt die Beklagte aus, dass bei alleinstehenden, arbeitsfähigen und gesunden männlichen afghanischen Rückkehrern in aller Regel kein Abschiebungsschutz in Betracht käme, zumal Mittel der Rückkehrförderung in Anspruch genommen werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 25. März 2014 vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger geht davon aus, dass er gemessen an seiner persönlichen Situation ausnahmsweise alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Er beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG) nicht verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein national begründetes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, weshalb alle entsprechenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind (BVerwG, U. v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Allerdings sind weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 noch diejenigen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig (EMRK) ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG(U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen („zielstaatsbezogene“ Abschiebungshindernisse). Dabei sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können jedoch nur in besonderen Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen. In Afghanistan ist die Lage jedoch nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 unter Verweis auf EGMR, U. v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U. v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U. v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952). Besondere Umstände, die vorliegend eine andere Beurteilung gebieten würden, hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch nicht erkennbar.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird.

Auf eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat sich der Kläger, der sich nach seinen Angaben ab seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat, nicht berufen. Vielmehr trägt er vor, dass seine Eltern Afghanistan wegen der damaligen schlechten Sicherheitslage - eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG - verlassen hätten. Diese kann auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BVerwG, U. v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 - BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr hat durch die Verwaltungsvorschriften zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) mit Rundschreiben vom 3. März 2014, Az. IA2-2081.13-15 bezüglich der Rückführungen nach Afghanistan verfügt, dass nach wie vor alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind, vorrangig zurückzuführen sind (s. BayVVAuslR Nr. C.3.2).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG; vgl. nur BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; 137, 226). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B. v. 23.8.2006 - 1 B 60.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).

Im Hinblick auf die unzureichende Versorgungslage hat sich die allgemeine Gefahr in Afghanistan für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten wäre. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich aus den Erkenntnismitteln nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären (seit U. v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris; zuletzt U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris). Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Der Senat hat sich dabei im Urteil vom 30. Januar 2014 (a. a. O.) u. a. auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: 4. Juni 2013) gestützt sowie auf die Stellungnahmen von Dr. Danesch vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, von Dr. Karin Lutze (stellvertretende Geschäftsführerin der AGEF - Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit i.L.) vom 8. Juni 2011 an das OVG Rheinland-Pfalz (zum dortigen Verfahren 6 A 11048/10.OVG) und von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 1. Juni 2012. Nach den dortigen Erkenntnissen geht der Senat davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts bestehen und jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nichts anderes. Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014 (Stand: Februar 2014, S. 19 ff. - Lagebericht 2014) stellt zum einen fest, dass sich Afghanistans Bewertung im Human Development Index kontinuierlich verbessert habe. Auch wenn Afghanistan weiterhin einen sehr niedrigen Rang belege und der Entwicklungsbedarf noch beträchtlich sei, habe es sich einerseits in fast allen Bereichen positiv entwickelt. Die afghanische Wirtschaft wachse, wenn auch nach einer starken Dekade vergleichsweise schwach. Andererseits würden Investitionen aufgrund der politischen Unsicherheit weitgehend zurückgehalten. Allerdings könne nach dem Wahljahr 2014 mit einer Normalisierung des durch die starke Präsenz internationaler Truppen aufgeblähten Preis- und Lohnniveaus zu rechnen sein. Eine weitere Abwertung der afghanischen Währung könnte zu einer gestärkten regionalen Wettbewerbsfähigkeit afghanischer Produkte führen. Negativ würde sich jedoch zum anderen eine zunehmende Unsicherheit und Destabilisierung des Landes auswirken. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei auch bei einer stabilen Entwicklung der Wirtschaft eine zentrale Herausforderung. Für größere Impulse mangle es bisher an Infrastruktur und förderlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer umfassenden politischen Strategie. Da die Schaffung von Perspektiven auch zu Sicherheit und Stabilität beitrage, sei die Unterstützung der Privatwirtschaft einer der Schlüsselbereiche der bilateralen Zusammenarbeit. Im Übrigen greift der Lagebericht 2014 mit Ausnahme der medizinischen Versorgung keine Einzelaspekte auf, sondern stellt nur die generelle Situation für Rückkehrer und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dar. Es wird darauf verwiesen, dass es an grundlegender Infrastruktur fehle und die Grundversorgung - wie schon bisher - für große Teile der Bevölkerung eine große Herausforderung sei. Die medizinische Versorgung habe sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, falle allerdings im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Nach wie vor seien die Verfügbarkeit von Medikamenten und die Ausstattung von Kliniken landesweit unzureichend.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 18 ff. - SFH) führt aus, dass 36% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Besonders die ländliche Bevölkerung sei den starken klimatischen Schwankungen hilflos ausgeliefert. Die Zahl der Arbeitslosen werde weiter ansteigen. 73,6% aller Arbeitstätigen gehörten zu den working poor, die pro Tag zwei US$ oder weniger verdienten. Die Analphabetenrate sei weiterhin hoch und die Anzahl der gut qualifizierten Fachkräfte sehr tief.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 9 [UNHCR-Richtlinien] und Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan - Erkenntnisse u. a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013 vom August 2014 [UNHCR-2014]) geht davon aus, dass es für eine Neuansiedlung grundsätzlich bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm bedarf. Die einzige Ausnahme seien alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf, die unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben könnten, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung böten, und die unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle ständen.

Zusammenfassend lassen sich damit aus diesen Berichten keine für die Beurteilung der Gefahrenlage relevanten Änderungen entnehmen. Aufgrund der in den Auskünften geschilderten Rahmenbedingungen sind insbesondere Rückkehrer aus dem Westen in einer vergleichsweise guten Position. Allein schon durch Sprachkenntnisse sind ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, gegenüber den Flüchtlingen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind, wesentlich höher. Hinzu kommt, dass eine extreme Gefahrenlage zwar auch dann besteht, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226), jedoch Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer extremen Gefahr führen. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist allerdings eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Die Gefahr muss sich alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies ist aus den genannten Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Nach der Beurteilung des Auswärtigen Amts in der Auskunft vom 2. Juli 2013 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (um Verfahren 8 A 2344/11.A) dürfte es unwahrscheinlich sein, dass besonders in der Hauptstadt Kabul Personen verhungern oder verdursten. Im Urteil vom 4. September 2014 (8 A 2434/11.A - juris) teilt der Hessische Verwaltungsgerichtshof die vorliegende Einschätzung (ebenso OVG NW, U. v. 27.1.2015 - 13 A 1201/12.A - juris). Demgegenüber stellt der Kläger lediglich die Vermutung auf, dass sich die Situation für Rückkehrer verschlechtert habe. Konkrete Anzeichen, die auf eine Verschlechterung hinweisen würden, benennt er nicht. Er beschränkt sich vielmehr auf Annahmen, ohne dass sich diese auf signifikante Veränderungen stützen würden.

Bei dieser Ausgangslage bedurfte es auch nicht der Einholung einer neuen Auskunft.

Die vorhandenen Auskünfte ergeben einen ausreichenden Einblick in die tatsächliche Lage in Afghanistan. Im Hinblick auf den teilweisen Abzug der internationalen Truppen ergibt sich nichts anderes. Anhaltspunkte, dass sich bei der Versorgungs- und Sicherheitslage im jetzt maßgeblichen Zeitpunkt erhebliche Veränderungen ergeben hätten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Ob in Zukunft Verschlechterungen eintreten werden, lässt sich derzeit nicht beurteilen.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Kläger als Angehöriger der Minderheit der Hazara keine Chance hätte, sich als Tagelöhner oder Gelegenheitsarbeiter zu verdingen. Die vorliegenden Gutachten und Berichte enthalten keine entsprechenden Hinweise. Der Umstand, dass der Kläger seit seinem zweiten Lebensjahr mit seiner Familie im Iran gelebt hat, steht der Annahme, er könne sich in Kabul auf sich allein gestellt notfalls „durchschlagen“, ebenfalls nicht entgegen. Hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof bereits im Urteil vom 24. Oktober 2013 (13a B 13.30031 - juris) ausgeführt, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich nicht am fehlenden vorherigen Aufenthalt im Heimatland scheitere. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht. Ein spezielles „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ mag die Sicherung des Lebensunterhalts vereinfachen. Anhaltspunkte, dass dies erforderlich sein könnte, sind jedoch nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor. Der Kläger ist im Iran, einer islamisch geprägten Umgebung, aufgewachsen und spricht Farsi sowie die hiermit sehr eng verwandte Landessprache Afghanistans Dari. Zudem hebt er sich bereits dadurch von der Masse der Arbeit suchenden Analphabeten ab, dass er im Iran fünf Jahre lang die Schule besucht hat. In Teheran hat er anschließend sowohl in Restaurants gearbeitet als auch Motorräder in Stand gesetzt. Damit konnte er nicht nur seinen Lebensunterhalt erwirtschaften, sondern auch die Ausreise sowie seinen neun- bis zehnmonatigen Aufenthalt in Griechenland, wo er nach seinen Angaben nicht gearbeitet hat, finanzieren. Während seines eineinhalb jährigen Aufenthalts in der Türkei hat er - ohne Kenntnis der Landessprache - als Spüler in Restaurants gearbeitet. Ebenso ist er derzeit in Deutschland in einem Gasthof als Küchenhilfe beschäftigt. In der mündlichen Verhandlung hat er zudem relativ gut Deutsch gesprochen. Mit diesen Erfahrungen und Kenntnissen ist davon auszugehen, dass der Kläger selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten, etwa in Kabul, wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Das entspricht auch der Auffassung des UNHCR, wonach bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Betracht komme (UNHCR-2014).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der am ... März 1997 in Ghazni/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischen Glaubens vom Volk der Hazara. Er reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und beantragte am 3. Februar 2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. März 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, vor seiner Ausreise habe er in Afghanistan in der Provinz Ghazni im Distrikt Nahoor in der Region Sabzaab gelebt. Vor ungefähr neun Monaten sei er ausgereist. Die Reise habe bis zum Iran 60.000 Afghani gekostet. Die Kosten habe sein Bruder getragen. Für die weitere Reise nach Deutschland seien es etwa 9.000,00 EUR gewesen. Das Geld stamme aus dem Verkauf ihres Landes. Seine Eltern seien tot. Er habe keine nahen Verwandten in Afghanistan. Es gebe ein paar Cousins, zu denen er keinen Kontakt habe. Ihren Aufenthaltsort kenne er nicht. Er habe bis zur sechsten Klasse die Schule besucht. Er habe als Fliesenleger gearbeitet. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Kläger an, es habe in ihrer Region große Probleme mit Kutschi-Nomaden gegeben, die sie regelmäßig - schon als er noch ein Kind gewesen sei - im Frühling angegriffen und Vieh und Vorräte genommen hätten. Sie hätten auch seinen Vater getötet. Persönlich angegriffen worden sei er nicht. Er sei immer gegangen, bevor die Kutschi gekommen seien. Im letzten Jahr habe es einen großen Angriff der Kutschi gegeben. Es seien viele Menschen aus ihrer („unserer“) Heimatregion vertrieben worden.
Mit Bescheid vom 5. April 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie auch den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt.
Gegen den am 20. Mai 2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 30. Juni 2016 unter Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Klagefrist Klage zum Verwaltungsgericht. Zur Begründung trug er vor, auf Grund einer fehlerhaften Namensbezeichnung sei ihm der Bescheid erst auf Nachfrage beim Sozialen Dienst und gezielte Suche hin am 23. Juni 2016 bekannt geworden. In der Sache selbst trug er vor, er habe im Ort Sabzeab in der Provinz Ghazni mit seinem Bruder und seinem Vater gelebt. Der Ort sei regelmäßig von Kutschi-Nomaden angegriffen worden. Das Land seines Vaters sei regelmäßig von Kutschi besetzt worden. Im Alter von 15 Jahren habe er mitansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi erschossen worden sei, als dieser versucht habe, sein Land zu verteidigen. Aus Angst vor Angriffen hätten der Kläger und sein Bruder das Land des Vaters verkauft und seien ins etwa drei Autostunden entfernte Nawur geflohen. Dort habe der Kläger als Fliesenleger arbeiten können. Von ehemaligen Nachbarn aus Sabzeab hätten sie erfahren, dass die Kutschi, die früher die Ländereien besetzt hätten, sie suchten. Die Kutschi verübelten ihnen, dass sie das Land verkauft hätten und dieses nun wegen der wehrhaften neuen Eigentümer nicht mehr besetzt werden konnte. Aus Angst von den Kutschi hätten die Brüder sich zur Flucht entschlossen. Mit dem Geld aus dem Landverkauf seien sie in den Iran geflohen. Von dort habe sie ein Schlepper für 60.000 Afghani zur türkischen Grenze gebracht. Dort habe er seinen Bruder bei einem Zusammenstoß mit türkischen Grenzbeamten verloren. Er habe seine Flucht über das Mittelmeer allein fortgesetzt und nochmals 9.000 EUR bezahlen müssen. Beim Bundesamt habe er nur sehr unvollständige Angaben gemacht, weil ihm nicht klar gewesen sei, wie ausführlich er habe berichten sollen. Er sei mittellos und in Afghanistan völlig auf sich allein gestellt. Zur Familie der Mutter bestehe schon seit deren Tod kein Kontakt mehr. Der Kontakt zu seinem Onkel väterlicherseits und dessen Familie sei abgebrochen. Außerdem verwies der Kläger auf die Situation der Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan im Allgemeinen.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2016 vor dem Verwaltungsgericht beantragte der Kläger, ihm wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, den Bescheid des Bundesamts vom 5. April 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft - hilfsweise subsidiären Schutz - zuzuerkennen und weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Im Rahmen seiner Anhörung gab der Kläger an, er habe in Afghanistan einen Onkel, von dem er aber nicht wisse, wo er sich aufhalte. Wo sein Bruder sei, wisse er nicht. Verwandte in Deutschland habe er nicht. Er gehe hier zur Schule. Er habe sein Heimatdorf verlassen, weil sie im Dorf ständig von den Kutschi-Nomaden gestört worden seien. Sie seien von diesen geschlagen worden. Einmal sei sein Arm von einem der Kutschi mit einem Gewehrkolben gebrochen worden. Sein Vater sei hinzugekommen und erschlossen worden. Sie hätten bei der Polizei Anzeige erstattet, aber keine Hilfe erhalten. Sie hätten dann die Grundstücke unter Preis verkauft. Etwa drei bis vier Monate nach dem Tod des Vaters seien sie nach Nawur. Dort hätten sie zwei bis drei Monate bei einer Hazarafamilie gewohnt, die sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit aufgenommen habe. Anders als sein Bruder habe er selbst wegen des gebrochenen Arms nicht arbeiten können. Die Kutschi hätten sie weiter gesucht. Danach seien sie ins etwa drei bis dreieinhalb Fußstunden entfernte Dorf Gorgoshte gegangen. Dort hätten sie drei bis dreieinhalb Monate bzw. vier bis fünf Monate lang gewohnt. Sie hätten dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie dann etwa eineinhalb Jahre in einem Ort namens Kakrak gelebt hätten. Sie hätten für den Mann geputzt und beim Fliesenlegen geholfen. Befragt nach seinen Befürchtungen im Falle einer Rückkehr schilderte der Kläger unter Darstellung jüngster Vorfälle, Hazara würden in Afghanistan unterdrückt, entführt und schlecht behandelt. Hazara müssten in Kabul wegen der schlechten Sicherheitslage von Bodyguards geschützt werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 13. Oktober 2016 ab. Die Klage sei zwar zulässig, da hinsichtlich der versäumten Klagefrist angesichts des Ablaufs in der Gemeinschaftsunterkunft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheide aber aus. Ob der Kläger in seinem Heimatland in der Vergangenheit einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei könne offenbleiben, da er internen Schutz jedenfalls in der Stadt Kabul erlangen könne. Anhaltspunkte dafür, dass die Kutschi dem Kläger landesweit nachstellen könnten, seien nicht ersichtlich. Die Hazara unterlägen auch nicht als soziale Gruppe in Kabul einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung. Auch der Zuerkennung subsidiären Schutzes stehe die Möglichkeit internen Schutzes entgegen. Nationale Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Da davon auszugehen sei, dass der Kläger in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sei nicht ersichtlich, dass aus den humanitären Bedingungen im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliege. Schließlich bestehe auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 31. Januar 2017 die Berufung gegen das Urteil zugelassen.
Auf den am 7. Februar 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger nach entsprechend gewährter Fristverlängerung am 21. März 2017 unter Stellung eines Antrags die Berufung begründet. Er vertritt unter Wiederholung und Darstellung seiner Angaben im Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht sowie der Urteilsbegründung die Auffassung, ihm sei auf Grund erlittener flüchtlingsrelevanter Verfolgung in Afghanistan - dem Angriff der Kutschi-Nomaden, bei dem ihm selbst der Arm gebrochen worden und sein ihm zu Hilfe eilender Vater erschossen worden sei - die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die im Urteil als widersprüchlich kritisierten Angaben beruhten womöglich darauf, dass der Kläger die Fragen beim Bundesamt nicht richtig verstanden habe. Es seien auch die mit 40 Minuten kurze Dauer der Bundesamtsanhörung, die fehlenden Rückfragen des Entscheiders, der Kulturkreis des Klägers sowie dessen Bildungsstand und Alter zu berücksichtigen. Unter Darstellung verschiedener Erkenntnisquellen argumentiert der Kläger, der Konflikt zwischen den Hazara und den Kutschi sei eine ethnisch bedingte, nichtstaatliche Verfolgung, vor der der afghanische Staat keinen Schutz gewähre bzw. gewähren könne. Interner Schutz in Kabul oder einem anderen Landesteil könne der Kläger in Anbetracht der Sicherheitslage nicht erlangen. Insbesondere sei es ihm angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Lage, nicht zumutbar, sich in Kabul niederzulassen. Er könne seine Existenz dort nicht sichern. Zuletzt hat der Kläger zudem zu seiner gesundheitlichen Situation vorgetragen und ärztliche Schreiben zu einer bei ihm festgestellten und behandelten Herzrhythmusstörung vorgelegt.
10 
Der Kläger beantragt,
11 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2016 - A 2 K 3108/16 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12 
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
13 
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan bestehen.
14 
Die Beklagte beantragt,
15 
die Berufung zurückzuweisen.
16 
Zur Begründung trägt sie unter Darstellung zahlreicher Erkenntnisquellen vor, aus der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara folge nicht die Gefahr landesweiter Verfolgung.
17 
Der Senat hat den Kläger im Rahmen der am 13. Oktober 2017 durchgeführten mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Zum Inhalt der Anhörung wird auf die Niederschrift zum Verhandlungstermin Bezug genommen.
18 
Der Kläger hat unmittelbar vor sowie im Anschluss an Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 ergänzend Unterlagen zu seinem gesundheitlichen Zustand vorgelegt. Es handelt sich um folgende Dokumente:
19 
- Schreiben des Universitätsklinikums H... vom 5. Oktober 2017 zur Vorstellung in der Chest Pain Unit des Klinikums am selben Tag mit der Verdachtsdiagnose „Wolff-Parkinson-White-Syndrom“ (einer Herzrhythmusstörung), wobei zum weiteren Vorgehen eine Wiedervorstellung zur Durchführung einer elektrophysiologischen Diagnostik und Kathetertherapie für den 23. Oktober 2017 vermerkt wurde sowie
20 
- Schreiben des Universitätsklinikum H… vom 23. Oktober 2017 zur erfolgreichen transseptalen Ablation einer linksposteroseptalen Bahn bei WPW-Syndrom;
21 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. (Ärzte für Innere Medizin, Kardiologische Diagnostik u.a.) vom 6. November 2017, wonach beim Kläger am 23. Oktober 2017 im Rahmen der elektrophysiologischen Untersuchung erfolgreich abladiert und eine Leitungsbahn am Herzen erfolgreich habe verödet werden können;
22 
- Schreiben des Medizinischen Versorgungszentrums Dr. H. u.a. vom 13. November 2017 zu Rückfragen der Klägervertreterin bezüglich der Wahrscheinlichkeit sowie der Folgen eines möglichen Rezidivs.
23 
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 28. und 29. November 2017 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
24 
Dem Senat liegen die verfahrensbezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Gründe

 
25 
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
26 
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
27 
Die Klage ist zwar aus den zutreffenden Erwägungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zulässig (vgl. ohnehin § 60 Abs. 5 VwGO). Sie bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Denn in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.) noch auf subsidiären Schutz (II.). Auch ein nationales Abschiebungsverbot liegt nicht vor (III.).
28 
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
29 
1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
30 
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
31 
a) §§ 3, 3a AsylG
32 
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
33 
Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.
34 
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.
35 
b) § 3c AsylG
36 
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
37 
c) § 3e AsylG
38 
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG).
39 
d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
40 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
41 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
42 
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. „real risk“) einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.
43 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.
44 
Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.
45 
Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein „voller Beweis“ nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.
46 
VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.
47 
Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.
48 
BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.
49 
Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
50 
e) Maßstab der Überzeugungsbildung
51 
Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im „Verfolgerland“ vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.
52 
Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit d)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
53 
Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.
54 
So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.
55 
Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.
56 
Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.
57 
Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.
58 
Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.
59 
Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).
60 
2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
61 
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn er befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes. Dem Kläger droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
62 
Eine insoweit relevante Vorverfolgung des Klägers, auf Grund derer der Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen könnte, liegt nicht vor.
63 
Der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat, wonach ihm bei einem der regelmäßigen Angriffe der Kutschi-Nomaden auf die Ländereien seines Vaters durch einen Angreifer mittels eines Gewehrkolbens der Arm gebrochen worden sei, glaubt der Senat nicht.
64 
Zwar kommt es durchaus regelmäßig zu den vom Kläger beschriebenen Konflikten zwischen den paschtunischen Kutschi-Nomaden, die von den Hazara teils mit der Bezeichnung „taleban“ versehen werden, und niedergelassenen Hazara.
65 
Vgl. dazu insgesamt ausführlich Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, dort auch S. 13 zur verbreiteten Bezeichnung „taleban“ für die Kutschi.
66 
Allerdings ist die Schilderung des Klägers nicht in Einklang zu bringen mit seinen Angaben beim Bundesamt und auch mit den (ansonsten detaillierten) Darstellungen im Schreiben zur Klagebegründung vom 7. Juli 2016. Beim Bundesamt hat der Kläger auf Frage, ob er persönlich bedroht oder angegriffen worden sei, angegeben, er sei immer weggegangen, bevor die Kutschi gekommen seien, nämlich in den Nachbardistrikt. Auch in der ausführlichen Klagebegründung wird ein Angriff auf den Kläger oder eine Verletzung nicht erwähnt, obwohl (in Steigerung zum Vortrag beim Bundesamt) nun erstmals geschildert wird, der Kläger habe mit ansehen müssen, wie sein Vater von den Kutschi beim Versuch, sein Land zu verteidigen, erschossen worden sei. Genau in diesem Zusammenhang soll nach der Schilderung des Klägers beim Verwaltungsgericht und vor dem Senat nun auch der Angriff auf den Kläger selbst erfolgt sein. Auf Vorhalt seiner Angaben beim Bundesamt hat der Kläger lediglich erklärt, man habe ihn gefragt, warum er nach Deutschland gekommen sei. Er habe keinerlei Gelegenheit bekommen, etwas dazu zu sagen. Auch auf wiederholte Nachfrage und Bitte um Erklärung seiner Antwort beim Bundesamt auf die ausdrücklich auf einen ihn persönlich betreffenden Angriff bezogene Frage hat der Kläger nur geäußert, er sei bedroht, weil Kutschi und Taliban dasselbe seien. Wieso der Kläger ein derart zentrales und auch für ihn persönlich prägendes Ereignis wie den Tod seines Vaters und den Angriff auf ihn selbst mit der Folge einer erheblichen Verletzung beim Bundesamt nicht geschildert hat, erschließt sich (auch im Hinblick auf die gehaltlos gebliebenen Erklärungsversuche des Klägers) nicht. Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger angeführten Umstände - etwa der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der Bundesamtsanhörung (welche richtigerweise nicht 40, sondern 55 Minuten dauerte), des kulturellen Hintergrunds sowie des Bildungsstands und des Alters des Klägers - ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger seinen jüngsten Schilderungen entsprechend Opfer eines Übergriffs der Kutschi geworden ist, zumal die Angaben des Klägers im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 auch im Übrigen in sich widersprüchlich und unklar waren (etwa die Angaben zum Erlös aus dem Verkauf des väterlichen Lands, zu dem der Kläger zunächst 9.000 EUR und 60.000 Afghani, dann nur 9.000 EUR angegeben und zuletzt geäußert hat, er wisse überhaupt nicht, was sein - wechselnd jüngerer oder älterer - Bruder für den Verkauf erhalten habe).
67 
Danach fehlt es bereits an einer glaubhaft geschilderten Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG), so dass es keiner weiteren Ausführungen dazu bedarf, ob der vom Kläger beschriebene Sachverhalt überhaupt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund des § 3b AsylG (etwa - wie es das Verwaltungsgericht angedeutet hat - die Ethnie des Klägers) anknüpft, oder ob dieser schlicht kriminelles Unrecht betrifft.
68 
3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara
69 
Des Weiteren kommt auch eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft alleine auf Grundlage der Zugehörigkeit des Klägers zum Volk der Hazara nicht in Betracht. Denn nur die Anknüpfung an die Volkszugehörigkeit - ohne bzw. unabhängig von einer Vorverfolgung - wäre nur dann zur Begründung einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung geeignet, wenn sich eine Verfolgung der gesamten Gruppe der Hazara feststellen ließe.
70 
Dies ist allerdings nicht der Fall.
71 
a) Rechtliche Anforderungen
72 
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, also einer anlassgeprägte Einzelverfolgung ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, also die Gefahr der Gruppenverfolgung besteht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Mit dem Begriff der Gruppenverfolgung werden daher lediglich schlagwortartig die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen anzunehmen ist, dass jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal in der Gefahr persönlicher Verfolgung steht. Der Begriff der Gruppenverfolgung ist damit nur ein Hilfsmittel, um aus Maßnahmen, die gegen die Gruppe gerichtet sind, auf eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit zu schließen. Das Eingreifen der Regelvermutung
73 
- BVerwG, Urteile vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13, vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7; zum Teil auch als materiell-rechtlicher Anscheinsbeweis bezeichnet: Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juni 2017, § 108 Rn. 73 -
74 
ohne Nachweis individueller konkreter Verfolgungsmaßnahmen setzt voraus, dass jedes im Verfolgungsgebiet im Verfolgungszeitraum lebende Gruppenmitglied nicht nur möglicherweise latent oder potentiell, sondern wegen seiner Gruppenzugehörigkeit aktuell gefährdet ist, weil den Gruppenangehörigen insgesamt Verfolgung droht. Die Verfolgungshandlungen müssen sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht; dagegen sind nur vereinzelt bleibende, individuelle Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nicht geeignet, eine Gruppenverfolgung zu begründen. Erforderlich ist vielmehr eine bestimmte Verfolgungsdichte mit einer großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter, die die Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich erhebliche Merkmale treffen. Die Gruppenverfolgung kann dabei nicht nur aus unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung resultieren, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Ob die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen ist durch eine wertende Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund einer Gruppenverfolgung ist dabei ausgehend von der (jedenfalls annähend zu bestimmenden) Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe zu ermitteln. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine erreich- und zumutbare Möglichkeit internen Schutzes offensteht.
75 
Vgl. insgesamt: BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936, Rn. 41; vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237, Rn. 13 ff.; vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590, juris Rn. 7 f. und vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420, juris Rn. 20 ff., jeweils m.w.N.; grundlegend zur Gruppenverfolgung auch: BVerfG, Urteil vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 515/90, 1827/89 -, NVwZ 1991, 768 und BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - NVwZ 1995, 175.
76 
b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
77 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara allerdings aus. Die Hazara bilden zwar eine ethnische Minderheit (aa)), es ist allerdings weder eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung festzustellen (bb)) noch lässt sich auf Grundlage der Situation der Hazara im alltäglichen Leben (cc)) eine Gruppenverfolgung ersehen, zumal auch positive Entwicklungen zu verzeichnen sind (dd)). Insbesondere vermag der Umstand, dass Volkszugehörige der Hazara Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden, eine Gruppenverfolgung nicht zu begründen (ee))
78 
aa) Die Volksgruppe der Hazara stellt im Vielvölkerstaat Afghanistan - nach den Paschtunen (40 %) und den Tadschiken (25 %) - mit einem Anteil von etwa 10 % der Bevölkerung eine Minderheit dar.
79 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96).
80 
Ihre Anzahl wird auf ungefähr drei Millionen geschätzt.
81 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
82 
Teilweise wird abweichend hiervon eine Zahl von 2,7 bis 6 Millionen bzw. ein Anteil von 9 bis 20 % der Bevölkerung angegeben.
83 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6 m.w.N.).
84 
Hinsichtlich der Vergleichsgröße ist für das gesamte Land von einer Einwohnerzahl zwischen etwa 27 bis 34 Millionen auszugehen.
85 
Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch „the world fact book“ - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.
86 
Bei den Hazara handelt es sich um ein Volk mongolischer Abstammung. Auf Grund dieser Herkunft sind sie optisch wegen ihrer tendenziell eher zentralasiatischen Gesichtszüge meist als ihrer Volksgruppe zugehörig zu erkennen.
87 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7; Stahlmann, ZAR 2017, 189 (190 f.); Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6.
88 
Sie sprechen vorwiegend einen Dialekt des Persischen namens Hazaragi, der mongolische und turksprachige Wörter enthält. Die Hazara waren einst die größte ethnische Gruppe Afghanistans. Mehr als die Hälfte der Hazara-Bevölkerung war allerdings bereits im Jahr 1893 getötet worden, als die Hazara nach einem politischen Aufstand ihre Autonomie eingebüßt hatten. Die meisten Hazara leben auch heute noch im sogenannten Hazarajat (auch: Hazarestan) im zentralen Bergland Afghanistans, dem „Land der Hazara“. Dessen ca. 50.000 Quadratkilometer großes Gebiet ist in seiner exakten Abgrenzung zwar umstritten, es umfasst jedenfalls den Bereich der Provinz Bamiyan sowie Teile benachbarter Provinzen. Andere Hazara leben in den Bergen von Badachschan (eine Provinz im äußersten Nordosten Afghanistans), aber auch in weiteren Teilen Afghanistans, etwa in Daikundi und Ghazni.
89 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 6; vgl. auch zu weiteren Distrikten Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 17; vgl. auch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 152, dort werden als Kernland der Region des Hazarat die Provinzen Bamiyan, Ghazni, Daikundi, der Westen der Provinz Wardak und Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pol genannt.
90 
In Bamiyan besteht die Bevölkerung beispielsweise zu 67 % aus Hazara.
91 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2.
92 
Die meisten Hazara in Kabul leben in dem überbevölkerten Gebiet Dasht-e Barchi.
93 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 f. Fn. 492.
94 
Der ganz überwiegende Teil der Hazara ist schiitischen Glaubens und stellt somit auch in religiöser Hinsicht - im Vergleich zu den mehrheitlich sunnitischen Muslimen des Landes - eine Minderheit dar.
95 
Vgl. insgesamt ausführlich: Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 2 und 4 m.w.N. sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 7 und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 59.
96 
bb) Für eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung der Hazara gibt es keine Anhaltspunkte.
97 
In der afghanischen Verfassung ist der Gleichheitsgrundsatz verankert. Sie schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Auch ist eine systematische, etwa auch nach dem Merkmal der Volkszugehörigkeit diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis für Afghanistan nicht erkennbar.
98 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 und S. 11; Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150; anschaulich auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 17.
99 
Nachdem die Hazara zuvor unter dem Regime der sunnitischen Taliban schwerwiegenden Misshandlungen - etwa auch Massakern und dem Vorenthalten von Nahrungsmitteln - ausgesetzt gewesen waren, konnten sie neben ihrer allgemeinen sozio-ökonomische Position insbesondere ihre gesellschaftliche Stellung auch in der Politik erheblich verbessern. So besetzte ein Hazara unter Präsident Karzai verschiedene hochrangige Regierungspositionen, u.a. auch das Amt des Vizepräsidenten. Auch ansonsten finden sich in hochrangigen Positionen in der öffentlichen Verwaltung und der Politik sowohl auf zentraler als auch lokaler Ebene Hazara. Die Hazara gelten insgesamt als in der Zivilgesellschaft gut vertreten.
100 
Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 12 m.w.N.
101 
cc) Im alltäglichen, gesellschaftlichen Leben kommt es allerdings durchaus zu Diskriminierungen von Hazara. So wird - allgemein gehalten - davon berichtet, dass Hazara beständig sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt sowie Inhaftierung betroffen seien und sie beispielsweise auch innerhalb der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt seien, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als dies bei Nicht-Hazara-Beamten der Fall ist.
102 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, 27.06.2016, S. 5 f.; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 2 m.w.N.; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87 sowie S. 59 Fn. 327, 328 sowie auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 153; außerdem: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 114 m.w.N.; USDOS, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 47.
103 
Ein Beispiel für die - jedenfalls als solche empfundene - Benachteiligung ist die Auseinandersetzung um den Verlauf einer Stromtrasse. Der Umstand, dass eine durch Bamiyan geplante internationale Hochspannungsleitung lediglich als Durchgangslinie angedacht war und nicht etwa das bislang nur durch eine staatliche Solaranlage (unter-) versorgte Bamiyan elektrifiziert werden sollte, wurde zum Ursprung einer Protestbewegung der Hazara, des sog. „Enlightenment Movement“.
104 
SRF, Bericht: Schiiten in Afghanistan - Das Volk der Hazara will mehr Licht; Diskriminiert - die Minderheit der Hazara in Afghanistan, 16.03.2017; vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9 f.; vgl. dazu auch im Weiteren zur Demonstration der Hazara bzw. der Enlightenment-Bewegung vom 23. Juli 2016, die zum Ziel eines verheerenden Anschlags von IS-Kräften wurde.
105 
dd) Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So stellt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016 dar, dass sich die Lage der ca. 3.000.000 Hazara in Afghanistan grundsätzlich verbessert hat, auch wenn sie in der öffentlichen Verwaltung weiterhin unterrepräsentiert sind, was aber auch noch eine Nachwirkung vergangener Zeiten sein könnte.
106 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 9.
107 
Ähnliches lässt sich auch der Darstellung des UNHCR entnehmen, der von erheblichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritten der Hazara seit dem Ende des Taliban Regimes im Jahr 2001 berichtet und u.a. auf die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder verweist, die in etwa dem Anteil der Schiiten in der Bevölkerung entspreche. Die Diskriminierung von Schiiten durch Sunniten hat danach deutlich abgenommen und aus Kabul sowie aus größeren Randgebieten seien keine Vorfälle mehr gemeldet worden. In Herat würden - bei einem großen schiitischen Bevölkerungsanteil - sowohl schiitische als auch sunnitische Führer von einem weitgehend harmonischen Zusammenleben berichten.
108 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 87, 59, dort insbesondere auch Fn. 326 unter Verweis auf den Bericht des US Department of State vom 14.10.2015: 2014 Report on International Religious Freedom - Afghanistan vgl. zur signifikanten Verbesserung der Lage der Hazara seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 auch Landinfo/Norwegian Country of Origin Information Centre,: Report: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 3.
109 
In seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern von Dezember 2016
110 
- UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 5 f. -
111 
berichtet der UNHCR, dass Hazara-Familien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Binnenflüchtlinge in der vergleichsweise ruhigen Provinz Bamiyan aufgenommen wurden, nachdem im Herbst 2016 Dörfer von Hazara im Rahmen der Taliban-Aufstände gegen regierungsnahe Kräfte angegriffen worden sind. Auch kam es zu Verhandlungen zwischen Gruppen der Hazara und der Taliban, durch die bereits einige Angelegenheiten geklärt werden konnten. In Ghazni haben die Taliban und die Hazaras einen Nichtangriffspakt geschlossen, auf der Grundlage, dass den Taliban erlaubt wurde, bestimmte Straßen durch die Gebiete der Hazara zu nutzen.
112 
Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 18 f., vgl. auch S. 20 f.
113 
Hieraus allerdings eine sich verfestigende Lage oder gar eine dauerhafte Entwicklung ableiten zu wollen, ist angesichts der sich ständig ändernden Verbindungen, Partei- und Fraktionswechsel der verschiedenen Akteure (etwa der Bewegungen zwischen und auch innerhalb der Taliban, der IS-Bewegungen und sonstigen Gruppen) nicht angezeigt.
114 
Vgl. zu den von jeher üblichen „pragmatischen“ Doppelallianzen, Wechseln in den Loyalitäten, persönlichen Verbindungen, Meinungsunterschieden und -umschwüngen insbesondere der regierungsfeindlichen Gruppen eindrücklich: Stahlmann, ZAR 2017, 189 (S. 190 ff.), insbes. S. 192 sowie auch ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22 f.
115 
Vielmehr verbleibt es insgesamt bei einer unsicheren Situation, in der auch nicht von einer gleichförmigen Lage sämtlicher hazarischen Volkszugehörigen die Rede sein kann. So arbeiten die Hazara teilweise mit den Taliban zusammen oder gehören ihnen sogar an
116 
- EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan - recruitment by armed groups, September 2016, S. 19 -,
117 
zuweilen findet - angesichts der üblicherweise schiitischen Religionszugehörigkeit der Hazara allerdings nur in Ausnahmefällen - sogar eine Rekrutierung von Hazara durch die (sunnitischen) Taliban statt.
118 
ÖRK/Accord, Afghanistan, Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner, 04.05.2016, S. 22.
119 
ee) Auch aus einer für Volkszugehörige der Hazara prekären Sicherheitslage lässt sich nicht auf eine Verfolgungsdichte nach den Anforderungen einer Gruppenverfolgung schließen.
120 
Die Vorfälle, durch die Hazara - oft auch als Angehörige der schiitischen Religion - betroffen waren bzw. verletzt oder sogar getötet wurden, sind zahlreich, was die nachfolgenden (nicht abschließenden) Ereignisse verdeutlichen.
121 
Im März 2016 wurden in der Provinz Sar-e Pol elf, im Juni 2016 17 Hazara entführt. Letztere wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. Am 6. Juli 2016 töteten Taliban 22 Polizisten, die Angehörige der Hazara waren.
122 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 6 f. und S. 15 f. sowie außerdem im Bericht insgesamt auch ausführlich zu weiteren Vorfällen vor 2016; US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 3.
123 
Am 23. Juli 2016 ereignete sich in Kabul äußerst gravierender und „öffentlichkeitswirksamer“ Anschlag auf Angehörige der Hazara, der im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 - also aus einer Zeit vor dem schweren Anschlag vom 31. Mai 2017 - als schwerster Selbstmordanschlag in der afghanischen Geschichte bezeichnet wurde.
124 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 10.
125 
Bei einem Angriff auf eine Kundgebung der zuvor erwähnten „Enlightenment“-Bewegung in Kabul, zu dem sich die dem Islamischen Staat (auch bezeichnet als Daesh) zugehörige Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province, auch ISIL-KP) bekannte, starben 80 Personen.
126 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 8; Norwegian Country of Origin Information Centre, Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups vom 03.10.2016, S. 25; dort auch zur IS-Gruppe ISKP als einer Splittergruppe dies Islamischen Staats (IS), der auch Daesh genannt wird, ausführlich auf S. 22 ff. des Berichts sowie auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 18 und 30;
127 
Am 11. Oktober 2016 kam es zu zwei Angriffen auf schiitische Einrichtungen (einen Schrein und die Azrat-Moschee), bei denen mindestens 13 Zivilisten getötet wurden. Am 21. November 2016 wurde eine weitere schiitische Moschee in Kabul (Baqir-Ul-Olum) angegriffen, wobei 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden.
128 
Zu den (jeweils auch abweichenden) Zahlen: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 16 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10.
129 
Im Gegensatz zu den Selbstmordanschlägen und komplexen Attacken der Taliban richten sich vom ISKP durchgeführte Anschläge auch absichtlich gegen Zivilisten, insbesondere gegen die Hazara als schiitische Minderheit, da diese auch wegen der Teilnahme afghanischer Schiiten am Kampf gegen den IS auf Seiten des syrischen Regimes im Fokus des ISKP steht.
130 
Vgl. dazu den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
131 
Auch in der maßgeblich von Hazara bewohnten Provinz Bamiyan kommt es wiederholt zu gezielten Angriffen auf Hazara durch regierungsfeindliche Kräfte entlang der Hauptverkehrsstraßen. Dabei erweisen sich insbesondere die Route von Kabul über die Provinz Parwan sowie die Straße über Maidan Wardak als unsicher.
132 
UNHCR, Anmerkung zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016, S. 6; vgl. auch Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 11 „Todesstraße“/„Death Road“ und auch Accord Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, 24.02.2016, S. 3; vgl. auch Stahlmann, ZAR 2017, 189 (194) zur „Straße des Todes“.
133 
Die Vorfälle zum Nachteil von Hazara setzten sich auch im Jahr 2017 fort. Bereits am 1. Januar 2017 forderte eine Sprengstoffexplosion in einer schiitischen Moschee in Herat ein Todesopfer. Fünf Menschen wurden verletzt. Regierungsfeindliche Kräfte hielten am 6. Januar 2017 in der Provinz Baghlan einen Bus mit Minenarbeitern, die hauptsächlich Hazara waren, an. Sie töteten acht Passagiere und verletzten drei weitere. In Sar-e Pol wurden durch Anhänger des ISKP am 15. März 2017 drei Hazara getötet. Sie wurden erschossen und anschließend geköpft. Am 12. Mai 2017 verübte der Daesh/ISKP mittels einer ferngesteuerten Sprengvorrichtung einen Anschlag auf eine Bäckerei in einem schiitisch geprägten Stadtviertel vom Herat nahe einer religiösen Versammlung, bei dem sieben Menschen getötet und 17 verletzt wurden. Auch zu einem weiteren Anschlag auf eine schiitische Moschee in Kabul am 15. Juni 2017, bei dem fünf Zivilisten getötet und sieben weitere verletzt worden waren, bekannte sich der ISKP.
134 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 46 und 48, 49.
135 
Bei zwei weiteren Angriffen auf schiitische Moscheen in Kabul und in der Provinz Ghor am 20. Oktober 2017 wurden in Kabul mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet und 67 weitere verletzt; in Ghor wurden bis zu 33 Menschen getötet. Bei gegen die schiitische Minderheit gerichteten Anschlägen wurden im Zeitraum zwischen Januar und Ende Oktober 2017 insgesamt mindestens 149 Menschen getötet und 300 verletzt, wobei für den überwiegenden Anteil vermutlich der ISKP verantwortlich ist.
136 
Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017; Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017.
137 
ff) Angesichts vorstehender Ausführungen und auch im Hinblick auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Afghanistan lebenden Hazara nicht ausreichend gewichtigen Anzahl ist insgesamt trotz der dargestellten Vielzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle zum Nachteil von Hazara nicht festzustellen, dass über eine „nur“ latente oder potentielle Gefährdung hinaus ein Grad erreicht wäre, der die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Ein- bzw. Angriffen betroffen wäre. Auch kann aus dem Umstand, dass die Opfer der Vorfälle hazarische Volkszugehörige sind, nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass sie ihren Grund immer gerade in der Volks- oder auch in der schiitischen Religionszugehörigkeit der Geschädigten haben. Dies ist zwar für einzelne Ereignisse klar oder jedenfalls naheliegend.
138 
Vgl. etwa für den Anschlag auf die Demonstration vom 23. Juli 2016 oder die Anschläge auf schiitische Moscheen in der zweiten Hälfte des Jahrs 2016, vgl. dazu UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 41 f. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
139 
Teilweise lässt sich bereits nicht feststellen, ob es sich nicht schlicht um kriminelles Unrecht handelt, das letztlich zufällig zum Nachteil von Hazara wirkt, aber ebenso andere Volksgruppen treffen könnte und auch trifft. So kann etwa der Anteil betroffener Hazara auf der vorgenannten „Death Road“ auch auf andere Umstände als ihre Ethnie zurückzuführen sein, etwa darauf, dass sie überdurchschnittlich viel reisen. Auch der Umstand, dass ein großer Anteil von Hazara in Stadtzentren lebt, dort in höheren Positionen tätig ist und daher auch mehr Geld verdient, kann ihre hohe Betroffenheit erklären.
140 
So einer von mehreren Erklärungsansätzen laut Landinfo, Report Afghanistan: Hazaras and Afghan insurgent groups, 03.10.2016, S. 19.
141 
Auch bleibt oft unklar, von wem die Übergriffe letztlich ausgehen, da es oft kein oder umgekehrt mehrere Bekenntnisse verschiedener Gruppen gibt und beispielsweise auch eine Tendenz zu bestehen scheint, wonach die afghanische Regierung nicht zuordenbare Gruppen erst einmal dem IS zuschreibt.
142 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 22.
143 
Es bedarf daher auch keiner weiteren Ausführungen dazu, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohnehin entgegensteht, dass die Situation der Hazara sich in einzelnen Gebieten und Provinzen erheblich voneinander unterscheidet und sich daher auch die Frage einer internen Schutzmöglichkeit stellen könnte. So stellt sich in homogenen, hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten die Situation durchaus abweichend von anderen Regionen dar: Die Provinzen Bamiyan und Daikundi werden zuweilen als großteils sicher bezeichnet, wobei aber wiederum Teile im nördlichen Bamiyan und in den an Urusgan angrenzenden Teilen Daikundis als instabil gelten, da sie an Regionen mit Aktivitäten Aufständischer angrenzen
144 
Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konflikts zwischen Kuchis und Hazara, 02.09.2016, S. 9; zur Problematik der Gefahren für Hazara auch in verhältnismäßig sicheren Bereichen wegen erforderlicher Reisen in größere Städte zum Zwecke der Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung ergänzend: S. 9 m.w.N.; zum hohen - subjektiven - Sicherheitsempfinden in Bamiyan mit 86,3 % vgl. den Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 9; dort auch auf S. 10 der Hinweis, dass bislang noch keine Anschläge des ISKP auf Hazara in deren angestammten Siedlungsgebieten der zentralen Hochlandregion bezeugt sind).
145 
Insgesamt liegen damit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan nicht vor.
146 
So im Übrigen auch: BayVGH, Beschlüsse vom 20.01.2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11 f.; vom 04.01.2017 - 13a ZB 16.30600 -, juris Rn. 6; und vom 19.12.2016 - 13a ZB 16.30581 -, juris Rn. 4; außerdem auch jüngere untergerichtliche Entscheidungen: eingehend VG Lüneburg, Urteile vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 24 ff. und vom 13.06.2017 - 3 A 136/16 -, juris Rn. 25 ff.; außerdem VG Cottbus, Urteil vom 01.08.2017 - 5 K 1488/16.A -, juris Rn. 21 ff.; VG Berlin, Urteil vom 14.06.2017 - 16 K 207/17 A -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urteil vom 15.03.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net, S. 8 UA; VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A -, juris Rn. 28 ff.
147 
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
148 
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
149 
1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
150 
Dem Kläger droht weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 AsylG).
151 
2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
152 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung droht. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die § 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere bedarf es also auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 genannten Gründen eines Verfolgungsakteurs im Sinne des § 3c AsylG (Art. 6 Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl EU L 337/95).
153 
An diesen Voraussetzungen fehlt es.
154 
Hinweise für drohende Folter (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 AsylG) oder ernsthaften Schaden wegen einer unmenschlichen oder erniedrigen Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 3 AsylG) gibt es nicht.
155 
Ebenso kommt die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus auf Grundlage eines gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2 AsylG relevanten ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung vorliegend nicht in Betracht. Denn die Voraussetzungen der §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Var. 2, Abs. 3 Satz 1, 3c bis 3e AsylG (a)) sind weder wegen des vorgebrachten individuellen Verfolgungsgeschehens erfüllt (b)) noch im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, weil es insofern an einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt (c)).
156 
a) Rechtliche Anforderungen
157 
aa) Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen.
158 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 Rn. 220 m.w.N. sowie vom 11.07.2006 - 54810/00 - (Jalloh/ Deutschland), NJW 2006, 3117 Rn. 67; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 22 ff. m.w.N.; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff. und Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. 2016, Art. 4 Rn. 9.
159 
Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.
160 
Vgl. auch dazu im Einzelnen ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 4 AsylG Rn. 22 ff., insbesondere Rn. 24, 25.
161 
bb) Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
162 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 20; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.03.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.
163 
Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU.
164 
b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
165 
Unter Berücksichtigung dieser Anforderung besteht keine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das individuelle Vorbringen des Klägers im Falle seiner Rückkehr.
166 
Nach der Schilderung des Klägers wäre eine solche in Anknüpfung an den von ihm als Vorverfolgungsgeschehen geschilderten Übergriff der Kutschi, bei dem sein Arm verletzt wurde, vorstellbar. Wie bereits ausgeführt vermag der Senat von einer solchen Vorverfolgung des Klägers nicht auszugehen, weil er dem Kläger das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen nicht glaubt. Eine auf dieser Schilderung basierende Zuerkennung subsidiären Schutzes scheidet aus.
167 
c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
168 
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Denn es fehlt am erforderlichen Akteur § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG.
169 
Trotz der inhaltlichen Kongruenz von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG („Als ernsthafter Schaden gilt:... Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ...“) und Art. 3 EMRK („Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“)
170 
- vgl. dazu sowie auch zu Unterschieden: Storey, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part D III, Art. 15 Rn. 3 f. -
171 
führt das Vorliegen der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zwingend zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes. Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind - neben § 4 Abs. 2 AsylG - gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
172 
Es ist in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15b RL 2011/95/EU eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten einer Krankheit im Herkunftsstaat zurückzuführen ist, solange die notwendige Versorgung nicht absichtlich verweigert wird. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 6 RL 2011/95/EU eine Liste der Akteure enthält, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann. Schäden im Sinne des Art. 15 RL 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden.
173 
EuGH, Urteil vom 18.12.2014 - C-542/13 - (M´Bodj), NVwZ-RR 2015, 158, insb. Rn. 35 und 41.
174 
Dies bekräftigend hat auch Generalanwalt Bot jüngst ausgeführt, aus der Auslegung von Art. 6 RL 2004/83/EG - der Fall betrifft das Vereinigte Königreich - folge, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.
175 
GA Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 - C-353/16 - (MP/Vereinigtes Königreich), Rn. 28 - 30.
176 
Insbesondere trifft es nicht zu, dass Art. 3 EMRK eine erweiternde Auslegung von Art 15b RL 2011/95/EU gebieten würde
177 
(so aber: Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), dort S. 11),
178 
denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist, was sich u.a. aus Art. 5 RL 2008/115/EG ergibt. Der zu prüfende Grundsatz der Nichtzurückweisung ist hier umfassend und damit auch auf Art. 3 EMRK bezogen zu verstehen und damit weiter als derjenige aus Art. 33 Abs. 1 GFK.
179 
Vgl. Lutz, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part C VII, Art. 5 Rn. 9.
180 
Diese Auslegung von Art. 15b RL 2011/95/EU steht im Einklang mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung.
181 
VG Berlin, Urteil vom 10.07.2017 - VG 34 K 197.16 A -, juris Rn. 54; VG Lüneburg, Urteil vom 15.05.2017 - 3 A 156/16 -, juris Rn. 51 f.; VG Osnabrück, Urteil vom 15.05.2017 - 1 A 19/17 -, asyl.net; außerdem: EASO, Qualification for International Protection Directive 2011/95/EU) - A judicial analysis, Dezember 2016, S. 109; vgl. auch Hinterberger/Klammer, Abschiebungsverbote aus gesundheitlichen Gründen: Die aktuelle EGMR- und EuGH-Rechtsprechung zum Non-Refoulement und deren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage, NVwZ 2017, 1180 [1181 f.] sowie wohl auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 4 Rn. 32 und Hailbronner, Ausländerrecht, Mai 2017, § 60 Rn. 57 zum „nicht in vollem Umfang“ identischen Schutzbereich von § 60 Abs. 5 AufenthG und von § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU/§ 4 AsylG.
182 
An einem somit erforderlichen Akteur fehlt es vorliegend. Denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen.
183 
Vgl. zu dem Umstand, dass die schwierige humanitäre Situation in Afghanistan nicht unmittelbar dem afghanischen Staat zuzurechnen ist bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, juris Rn. 108, dort zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, sowie auch - anknüpfend an die vorgenannte Entscheidung: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris.
184 
Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (also insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen sowie Naturkatastrophen) sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
185 
Vgl. dazu im Folgenden die Darstellungen zu den Lebensverhältnissen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
186 
Daher scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bereits in Ermangelung eines tauglichen Akteurs aus.
187 
3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
188 
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor.
189 
a) Rechtliche Anforderungen
190 
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
191 
aa) Dies ist der Fall, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt aber außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen.
192 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705 und vom 30.01.2014 - C-285/12 - (Diakité/Belgien), NVwZ 2014, 573.
193 
Der für die Annahme einer individuellen Gefahr in diesem Sinne erforderliche Grad willkürlicher Gewalt wird daher umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhender Umstände spezifisch betroffen ist. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden etwa als Arzt oder Journalist ergeben, da diese regelmäßig gezwungen sind, sich nahe an einer Gefahrenquelle aufzuhalten. Ebenso können solche Umstände aber auch aus einer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit herrühren, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist.
194 
Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
195 
BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 454 Rn. 19 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris Rn. 13; NdsOVG Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
196 
Das besonders hohe Niveau kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt werden. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung - etwa auch im Hinblick auf die medizinische Versorgungslage - erfolgen.
197 
BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 23 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 24; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 - 3 L 53/12 -, juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris.
198 
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in den Urteilen vom 17. November 2011
199 
10 C 13.10, Rn. 22 und 10 C 11.10, Rn. 20
200 
- bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (0,125 %) bzw. 1:1.000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen.
201 
Vgl. hieran anknüpfend auch: NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
202 
bb) Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des „tatsächlichen Zielortes der Rückkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des EuGH
203 
EuGH, Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 - (Elgafaji/Niederlande), NVwZ 2009, 705, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167
204 
ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat schützt, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage) ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus.
205 
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167.
206 
b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
207 
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen fehlt es - auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände (dazu lit. c)) - an der erforderlichen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
208 
Dabei ist in Anwendung vorstehender Anforderungen auf die Provinz Ghazni abzustellen, in der der Kläger geboren und aufgewachsen ist und wo er sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten hat.
209 
Für diese ist allerdings sowohl nach quantitativer Betrachtung als auch in qualitativer Hinsicht die erforderliche Gefahrendichte nicht festzustellen.
210 
Denn das Risiko der Verletzung oder Tötung liegt für die Provinz Ghazni weit unterhalb den vorgenannten Schwellen von 0,125 % bzw. 0,1 %.
211 
Ghazni hat ca. 1.270.000 Einwohner. Es ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl und bildet gemeinsam mit den Provinzen Khost (Einwohnerzahl ca. 593.000), Paktia (Einwohnerzahl ca. 570.000) und Paktika (Einwohnerzahl ca. 450.000) die südöstliche Region Afghanistans.
212 
Zu den (geschätzten) Einwohnerzahlen (2017): Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017: Ghazni 1.270.192, Paktia 570.534, Khost 593.691, Paktika 449.116. sowie auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; zu 2016: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 71, 93 und 96 m.w.N. (CSO 2016): Ghazni: 1.249.000; Khost; 584.000; Paktia: 561.000; Paktika: 441.000; für 2015: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94, 98, 101 und 106: Ghazni: 1.228.831, Paktia: 551.987; Khost: 574.582, Paktika: 434.742; zur Einordnung in die südöstliche Region: UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 2 und S. 12 Fn. 15.
213 
Für die südöstliche Region ergibt sich damit eine Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000.
214 
Für das Jahr 2015 erfasste die UNAMA eine Anzahl von 1.470 verletzten oder getöteten Zivilpersonen in der südöstlichen Region. Für das Jahr 2016 wurden insgesamt 903 gezählt.
215 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 21.
216 
Für die (mangels provinzbezogener Zahlen herangezogene) südöstliche Region ist damit orientiert an der Gesamteinwohnerzahl von ca. 2.881.000 für bei 1.470 Opfern für das Jahr 2015 von einer Wahrscheinlichkeit von 0,051 % und für das Jahr 2016 mit 903 Opfern von 0,031 % auszugehen. Nichts anderes ergibt sich, wenn der Provinz Ghazni die Hälfte der Opferzahlen für die südöstliche Region zurechnet werden, weil Ghazni rund 44 % der Einwohner der südöstlichen Region stellt (1.270.000 zu 2.881.000) und weil auf Ghazni in der Vergangenheit auch etwa die Hälfte der sicherheitsrelevanten Vorfälle (einschließlich Vorfällen, die nicht zum Nachteil von Zivilpersonen erfolgten) entfallen sind. So wurden im Zeitraum 1. September 2015 bis 31. Mai 2016 für Ghazni insgesamt 1.292 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, während es im Vergleich dazu in Khost 441, in Paktia 394 und in Paktika 491 Vorfälle gab. Der Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in der südöstlichen Region von damit insgesamt 2.618 stehen für Ghazni damit 1.292 Vorfälle gegenüber, also ein Anteil von etwa der Hälfte.
217 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55, 72, 94 und 96; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 95, 99, 102 und106.
218 
Auch bei der Übertragung dieses Verhältnisses ergibt sich lediglich ein Anteil von 0,058 % für 2015 (die Hälfte von1.470 zu 1.270.000) bzw. 0,036 % für 2016 (die Hälfte von 903 zu 1.270.000).
219 
Für das erste Halbjahr 2017 hat die UNAMA die Anzahl der zivilen Opfer u.a. auch nach Provinzen aufgeführt. Für Ghazni wurden danach 165 Opfer erfasst
220 
- UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 -,
221 
was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 330 Personen ergäbe. Für das Jahr 2017 errechnet sich mit der hochgerechneten Zahl von 330 Opfern in Orientierung an der Einwohnerzahl von Ghazni mit 1.270.000 ein Anteil von 0,026 %.
222 
Dabei ist dem Senat andererseits bewusst, dass die von der UNAMA berichteten zivilen Opferzahlen womöglich auf Grund der Methodik der UNAMA tatsächlich zu niedrig bemessen sein können.
223 
Zur Problematik der Aussagekraft der UNAMA-Zahlen im Hinblick auf das selbst auferlegte Erfordernis von drei unabhängigen Quellen vgl. Stahlmann, ZAR 2017, 189 (192 f.); hierauf unter Aufgreifen der Bedenken Bezug nehmend auch Berlit, ZAR 2017, 110 (116).
224 
Eine „Korrektur" der ausgewiesenen Zahlen mit Hilfe eines - ohnehin schwierig zu bemessenden - Faktors
225 
- in diese Richtung: NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 65; HessVGH, Urteil vom 30.01.2014 - 8 A 119/12.A -, BeckRS 2014, 48268; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, juris Rn. 151 und 230; jeweils unter hilfsweiser Betrachtung ("selbst wenn") mit einer Verdreifachung der UNAMA-Zahlen, orientiert an einer Stellungnahme von an einer Stellungnahme von Dr. Danesch an den HessVGH vom 03.09.2013, S. 11 -
226 
hält der Senat allerdings nicht für angezeigt. Denn es ergibt sich nicht mir unter Berücksichtigung des vorliegend schon quantitativ geringen Anteils auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr so weit verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre.
227 
Insbesondere ist bei der Bewertung auch zu berücksichtigen, dass sich die Sicherheitslage in Ghazni gegenüber dem Vorjahr erheblich verbessert hat. Die Zahl der zivilen Opfer ist um 26 % zurückgegangen.
228 
Vgl. UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73.
229 
Der Senat verkennt nicht, dass es auch im Jahr 2017 zu Vorfällen zum Nachteil der Zivilbevölkerung gekommen ist und voraussichtlich auch weiter kommen wird. Allerdings sind die Gewinne der Taliban in der Region minimal und unbeständig. Im Gegensatz zum Jahr 2015 registrierte die UNAMA im Jahr 2016 auch keine Entführungsfälle der Hazara-Bevölkerung in Ghazni mehr. In vormals betroffenen Gegenden wurden Checkpoints der afghanischen Sicherheitskräfte errichtet, was als Abschreckung gewertet wird.
230 
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 55; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 56.
231 
Insgesamt ist daher sowohl bei quantitativer als auch bei qualitativer Betrachtung angesichts der Bevölkerungszahl auf der einen und den Verletzten und getöteten Zivilpersonen auf der anderen Seite für eine Zivilperson in der Provinz Ghazni nicht beachtlich wahrscheinlich, aufgrund eines sicherheitsrelevanten Vorfalls verletzt oder getötet zu werden.
232 
Vgl. auch BayVGH, Beschlüsse vom 10.04.2017 - 13 a ZB 17.30266 -, juris Rn. 5; vom 06.04.2017 - 13a ZB 17.30254 -, juris Rn. 7; NdsOVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 51 ff.
233 
c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
234 
Insbesondere lässt sich dies auch unter Berücksichtigung individueller Umstände nicht feststellen. Denn im Falle des Klägers sind keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände gegeben, die eine erheblichen individuellen Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu begründen geeignet sind.
235 
So lassen sich solche nicht aus der Volkszugehörigkeit des Klägers herleiten.
236 
Wie aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht, sind Volkszugehörige der Hazara zwar wiederholt Opfer im andauernden Konflikt, da es in Afghanistan insgesamt, aber auch in der hier maßgeblichen Provinz Ghazni immer wieder zu gezielt gegen Hazara bzw. Schiiten gerichtete Aktionen kommt, etwa die Anschläge auf schiitische Moscheen sowie die (vermutlich) gerade auf Hazara zielende Entführungen. Hinsichtlich letzterer ist allerdings darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Jahr 2015 im Weiteren in der Provinz Ghazni keine solchen Entführungen mehr bekannt wurden und auch im Land insgesamt ein ganz erheblicher Rückgang festzustellen ist: Während im Jahr 2015 noch 224 Hazara entführt worden waren, waren es 2016 noch 84 Personen, was ohnehin nur 4 % der Gesamtzahl an Entführungsopfern des gesamten Landes darstellt.
237 
UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict: 2016, Februar 2017, S. 74 f. und S. 65; UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation Office, August 2017, S. 19.
238 
Anhaltspunkte dahin, dass die zivilen Opfer in der Provinz Ghazni, deren Bevölkerung zu 49 % aus Paschtunen, zu 46 % aus Hazara und zu 5 % aus Tadschiken besteht
239 
- EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 -,
240 
zu einem erheblichen Teil Volkszugehörige der Hazara sind, gibt es ebenso wenig wie dafür, dass dies für das gesamte Land der Fall wäre. So werden etwa als die Hauptziele regierungsfeindlicher Kräfte in Ghazni nicht etwa die Hazara genannt, sondern Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) (hierzu gehören u.a. die Armee, die Luftstreitkräfte, die Polizei etc.), Distriktgouverneure, Stammesführer und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. In Ghazni hatten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle im Zeitraum zwischen September 2015 und Mai 2016 direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Luftangriffe zum Hintergrund (nämlich 952 von 1.292). Andere Ursachen sind eher untergeordnet (155 Vorfälle im Rahmen von Sicherheitsmaßnahmen wie Festnahmen etc., 144 im Zusammenhang mit Explosionen, 39 Fälle von gezielt gegen Einzelpersonen gerichteter Gewalt etc.).
241 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 94 f.; zu den Definitionen S. 9 ff.
242 
Dass Hazara von den danach wesentlichen, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen Kräften bzw. den Luftangriffen in besonderem Maße betroffen wären, ist nicht ersichtlich.
243 
Auch UNAMA hat im Midyear Report des Jahrs 2017 festgestellt, dass die Hauptursache für die Verletzung bzw. Tötung von Zivilisten Bodenkämpfe sind (diese umfassen etwa direkte bewaffnete Auseinandersetzungen und Zusammenstöße der Konfliktparteien, Kreuzfeuer etc.). An zweiter Stelle folgen improvisierte Sprengkörper (IEDs) und erst an dritter Stelle kommen gezielte bzw. absichtliche Tötungen.
244 
UNAMA Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 sowie S. 68.
245 
Danach lässt sich nicht feststellen, dass nur oder vor allem Hazara Opfer im Rahmen des bestehenden Konflikts wären oder dass Hazara in besonderem Maße Gefahr laufen, als unbeteiligte Zivilpersonen Opfer des Konflikts zu werden.
246 
III. Nationales Abschiebungsverbot
247 
Auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (1.) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.) liegen nicht vor.
248 
1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
249 
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Denn die rechtlichen Voraussetzungen (a)) hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt (b)) und der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (c)) sowie in Ansehung der der persönlichen Situation des Klägers (d)) nicht gegeben.
250 
a) Rechtliche Anforderungen
251 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
252 
aa) Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
253 
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen.
254 
Vgl. dazu bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 4 sowie insbesondere auch juris Rn. 71 m.w.N.
255 
Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will.
256 
EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681.
257 
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt.
258 
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1167, Rn. 24 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.07.2013 - A 11 S 697/13 -, Leitsatz 5 sowie insbesondere auch juris Rn. 79 ff.; EGMR, Urteile vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - (D./Vereinigtes Königreich), NVwZ 1998, 161; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334; vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland) - NVwZ 2011, 413; vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 und vom 13.10.2011 - 10611/09 - (Husseini/Schweden), NJOZ 2012, 952.
259 
Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 13. Dezember 2016
260 
- 41738/10 - (Paposhvili/Belgien), NVwZ 2017, 1187 Rn. 187und 189,
261 
aber nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden. Auch in einem solchen Fall kann ausnahmsweise ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen sein, wenn die Abschiebung zu einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen führen würde, die ein schweres Leiden oder eine erhebliche Verringerung der Lebenserwartung zur Folge hätte.
262 
Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw.
263 
Vgl. dazu jüngst wieder ausführlich BayVGH, Urteil vom 23.03.2017 - 13a B 17.30030 -, BeckRS 2017, 113717; dieser bereits zuvor in seinen beiden Urteilen vom 21.11.2014 – 13a B 14.30285 -, BeckRS 2015, 41010 und - 13a B 14.30284 -; dort jeweils eingehend zur Bejahung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen bezüglich Familien mit minderjährigen Kindern wegen der Rahmenbedingungen in Afghanistan (m.w.N.).
264 
Vorliegend sind allein die hohen Anforderungen der letztgenannten Fallgestaltung maßgeblich, da die hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK relevanten humanitären Verhältnisse in Afghanistan keinem Akteur zuzuordnen sind (s.o.).
265 
bb) Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch die des Bundesverwaltungsgerichts
266 
- EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f. und BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 -
267 
machen deutlich, dass ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind. So hat das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit, als es die allgemeine Lage in Afghanistan als nicht ausreichend ernst für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK eingestuft hat, die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation betont.
268 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, insb. Leitsatz 3 -; vgl. auch: BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
269 
Dabei kann aber - schon nach der Gesetzessystematik - der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG nicht, insbesondere auch nicht analog, herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die ggf. erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG ebenfalls nicht übertragen.
270 
BayVGH, Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30284 -, juris Rn. 19.
271 
Ein Zusammenhang zwischen Art. 3 EMRK und § 3e AsylG besteht lediglich dergestalt, dass für den Fall, dass die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte, dieser Schutzort den Anforderungen des § 3e AsylG nicht genügen würde.
272 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 85 m.w.N.
273 
cc) Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein.
274 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681; Entscheidung vom 22.09.2009 - 30471/08 - (Abdolkhani und Karimnia/Türkei), InfAuslR 2010, 47; Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris; Urteil vom 28.02.2008 - 37201/06 - (Saadi/Italien), NVwZ 2008, 1330; vom 27.05.2008 - 26565/05 - (N./Vereinigtes Königreich), NVwZ 2008, 1334 sowie Urteil vom 06.02.2001 - 44599/98 - (Bensaid/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2002, 453.
275 
Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Es gilt - wie bei § 60 Abs. 1 AufenthG - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen.
276 
BVerwG, Urteil v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; EGMR, Urteil vom 17.07.2008 - 25904/07 - (NA./Vereinigtes Königreich), juris.
277 
dd) Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet.
278 
BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 2 und EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681, Rn. 265, 301, 309.
279 
Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist vorliegend Kabul.
280 
Vgl. zu den Flugverbindungen nach Afghanistan: Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 25 sowie zu den bislang durchgeführten Abschiebungen nach Kabul (etwa am 15. Dezember 2016, 24. Januar 2017, 23. Februar 2017 und am 28. März 2017): Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 12 m.w.N.
281 
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann nur beanspruchen, wem prinzipiell im gesamten Zielstaat der Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung landesweit droht. Es darf also für den Betroffenen keine interne/innerstaatliche Fluchtalternative („internal flight alternative“) bestehen.
282 
Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche)
283 
- vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304 -
284 
Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
285 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 266; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 - 1948/04 - (Salah Sheekh/Niederlande) Rn. 141; Lehnert, in: Meyer-Ladewig u.a., EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 70 m.w.N.
286 
Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat.
287 
EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 Rn. 294 f.
288 
Anknüpfend hieran ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan (dazu b)) und auch der in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung (dazu c)), dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers (dazu d)) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt.
289 
b) Lebensverhältnisse landesweit
290 
Die landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und die Situation von Rückkehrern gestalten sich wie folgt:
291 
Afghanistan hat insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen Einwohner (s.o.). Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.
292 
Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.
293 
Geprägt wird das Leben der Menschen im Land von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (aa)) und Versorgungslage (bb)), von prekären humanitären Gegebenheiten (cc)) sowie von einer volatilen Sicherheitslage (dd)). Zudem sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt (ee)). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Rückkehrer unter bestimmten Umständen spezielle Unterstützungsmaßnahmen erhalten können (ff)).
294 
aa) Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut nach dem hier verfolgten Ansatz vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan weist im Vergleich mit allen asiatischen Ländern den höchsten Anteil armer Menschen auf. Die Zahl derjenigen, die humanitärer Unterstützung bedurften, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.
295 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.
296 
Bei einer ohnehin schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.
297 
Dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.
298 
Sie sieht sich in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 konfrontiert mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.
299 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.
300 
Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.
301 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
302 
Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.
303 
Vgl. dazu Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.
304 
Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst.
305 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.
306 
Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.
307 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").
308 
Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.
309 
Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.
310 
Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 % - in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung - tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.
311 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
312 
Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurde ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.
313 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
314 
Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.
315 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.
316 
Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.
317 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76).
318 
Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.
319 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.
320 
Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freund-/Feindschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung einer der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.
321 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur „untergeordneten“ Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.
322 
Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.
323 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: „Network as key to the job market“; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.
324 
So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden unabhängig von ihren Qualifikationen, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. „wasita“ (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind „shanaktht“ (jemanden kennen) und „safarish“ (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.
325 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.
326 
Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.
327 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
328 
Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.
329 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.
330 
Soweit eine Arbeitsstelle gefunden werden kann
331 
- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum „vulnerable employment“ -,
332 
ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Das durchschnittliche monatliche Einkommen in Afghanistan wird in verschiedenen Quellen mit 80 bis 120 US$ angegeben, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - wie ausgeführt - bei 36 % der afghanischen Bevölkerung der Lohn bei unter 20 US$ pro Monat liegt.
333 
IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.
334 
Afghanistan bleibt eine hauptsächlich ländliche Gesellschaft, deren Wirtschaft maßgeblich auf der Landwirtschaft basiert. 76 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten. Mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte des Landes ist im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt. 96 % der Produktion bewegt sich im Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung, also einem Bereich, der in hohem Maße von der Landwirtschaft abhängig ist.
335 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22, 32.
336 
Einen nicht unwesentlichen Anteil in der Landwirtschaft hat allerdings auch der Opiumanbau (s.o.), da dieser zum einen eine große Gewinnmarge verspricht und zum anderen die Mohnpflanzen mit den widrigen Bedingungen (etwa der schlechten Bodenqualität) verhältnismäßig gut zurechtkommen.
337 
Zum Opiumanbau allgemein: General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 50; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 15; zur Verteilung des Opiumanbaus in den einzelnen Provinzen vgl. ausführlich EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016): zu Daikundi, S. 70 f.; zu Kandahar, S. 73 -; zu Helmand, S. 77 („Afghanistan’s single largest opium poppy cultivating province in 2015, accounting for 47 % of the total area under opium poppy cultivation in the country.“); zu Uruzgan, S. 87 („opium poppy as a dominant crop“); zu Zabul - S. 90; zu Badakhshan, S. 133; zu Ghor, S. 171.
338 
Die Landwirtschaft leidet allerdings - neben der problematischen Sicherheitssituation - insbesondere auch unter vielfältigen Naturkatastrophen, weswegen das World Food Programme das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch reagiert. Gerade der Norden - eigentlich die „Kornkammer“ des Landes - ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt
339 
- Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8 -
340 
(vgl. im Weiteren ausführlicher bei den Darstellungen zur Versorgungslage und zur humanitären Situation unter lit. bb) und cc)).
341 
bb) Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Wie bereits ausgeführt ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt, mit 9,3 Mio. Menschen, die Anfang 2017 auf humanitäre Hilfe angewiesen waren (s.o.).
342 
Im Jahr 2016 waren etwa 1,6 Millionen Afghanen (nach den Daten von UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs - ein Anteil von 6 %) ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit („severely food insecure“) betroffen, bei weiteren 9,7 Millionen Menschen (34 %) war dies in mäßiger Weise der Fall („moderately food insecure“).
343 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 5 f. und 26 sowie die Aufteilung nach Regionen auf S. 21; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 42 m.w.N.; vgl. auch UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 28; dort auch unter Bezugnahme auf UNOCHA der Hinweis auf die Wechselwirkung mit der steigenden Anzahl intern Vertriebener und Rückkehrer, die sich in den städtischen Zentren und Randgebieten sammeln sowie zur erwarteten Anzahl von mehr als einer Million neuer Rückkehrer im Sommer 2017); zur Lebensmittelunsicherheit in den Vorjahren vgl. auch Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014: S. 6 f., 43, 54 und 56 - die Hälfte der Haushalte in Städten und 68 % der intern Vertriebenen werden als ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen beschrieben.
344 
48 % der Haushalte von intern vertriebenen Personen, die in informellen Siedlungen in Kabul lebten, waren im Dezember 2015 ernsthaft von Lebensmittelunsicherheit betroffen.
345 
UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 7.
346 
Insbesondere die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. eine Million oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten.
347 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 23.
348 
In den Städten allgemein und insbesondere der Hauptstadt Kabul sind die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zum Einkommen hoch. So finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul
349 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -
350 
und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern
351 
- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,
352 
wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind.
353 
Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.
354 
Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRFIOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.
355 
Die im Vergleich zum realistischer Weise zu erzielenden Einkommen immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.
356 
Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.).
357 
Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein „unmoralisches“ Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.
358 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Asylmagazin 2017, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.
359 
Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.
360 
BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.
361 
Zwischen den Verhältnissen in den urbanen Zentren und den ländlichen Gebieten Afghanistans herrscht ein eklatantes Gefälle. Es fehlt außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Trinkwasser hat, beträgt nur 46 %.
362 
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 19.10.2016 - Stand September 2016 -, S. 21; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 31.
363 
cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - nicht zuletzt aufgrund erheblicher Migrationsbewegungen.
364 
Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten.
365 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
366 
Im Jahr 2015 gab es in ganz Afghanistan mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebene.
367 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.
368 
Im April 2016 war deren Zahl auf 1,2 Millionen geschätzt worden.
369 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74 f.) m.w.N.;. a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.
370 
Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.
371 
Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.
372 
Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.
373 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.
374 
Plastisch hat der UNHCR die Versorgungs- und humanitäre Situation zusammengefasst. Er beschreibt, dass infolge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos - einschließlich der Zunahme der die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betreffenden Sicherheitsvorfälle - der Zugang zu den betroffenen Menschen für humanitäre Hilfsorganisationen begrenzt ist. Die begrenzte Präsenz jener Organisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Der fortwährende Konflikt greift durch die Zerstörung von Lebensgrundlagen und von Viehbestand, steigende Raten ansteckender Krankheiten, verstärkte Vertreibung, ständige Menschenrechtsverletzungen und höhere Kriminalitätsraten diese Schwachstellen weiter an. Ebenso haben der andauernde Konflikt, schwache Regierungsgewalt sowie ineffiziente oder korrupte Institutionen dazu geführt, dass Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf Katastrophen, Risikoreduzierung und Notfallmechanismen Berichten zufolge nicht oder kaum vorhanden sind. In der Folge stellen Naturkatastrophen wie Überflutungen, Schlammlawinen, Erdbeben, Dürren und harte Winter eine weitere Belastung für die Bevölkerung dar, deren Widerstandskraft ohnehin bereits geschwächt wird.
375 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 30 f.; vgl. auch UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2017, November 2016, S. 8.
376 
dd) Des Weiteren ist die Situation der Menschen in Afghanistan bestimmt durch eine anhaltend schlechte Sicherheitslage.
377 
Sie wird - bei starken regionalen Unterschieden - allgemein als anhaltend volatil beschrieben.
378 
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 4. Ruttig in Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 4 ff. spricht von der dreifachen Krise im Hinblick auf die Sicherheitslage, die sozio-ökonomische und die politische Situation in Afghanistan
379 
Afghanistan besetzt auf dem Global Peace Index (GPI) des Jahres 2017 bei den am wenigsten friedlichen Ländern den zweiten Platz hinter Syrien. In der weiteren Beschreibung des GPI wird dazu ausgeführt, die Gesamtbewertung Afghanistans habe sich das sechste Jahr in Folge weiter verschlechtert. Die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen hat auch in den ersten Monaten des Jahres 2017 wieder zugenommen, insbesondere im Vergleich zu derselben Zeitspanne des Vorjahres.
380 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 14 m.w.N. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 13 f.
381 
Eine Bedrohung für Leib und Leben von Zivilisten geht von den Kampfhandlungen der Konfliktparteien, aber auch von improvisierten Sprengkörpern, von Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. UNAMA gab im Bericht betreffend den Schutz von Zivilisten im bewaffneten Konflikt für das Jahr 2016 eine Zahl von 11.418 zivilen Opfern an, davon 7.920 Verletzte und 3.498 Tote. Der Halbjahresbericht vom Juli 2017 geht für das erste Halbjahr 2017 von einer Gesamtopferzahl (Tote und Verletzte) von 5.243 im Vergleich zu 5.267 im Vorjahreszeitraum aus. Die überwiegende Zahl von zivilen Opfern ist dabei auf Kampfhandlungen am Boden (38 % im Jahr 2016, 34 % im ersten Halbjahr 2017) und improvisierte Sprengsätze (19 % im Jahr 2016, 18 % im ersten Halbjahr 2017) zurückzuführen. Dabei ist die Bevölkerung immer dann gefährdet, wenn sie bei Kämpfen der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerät oder Opfer improvisierter Sprengsätze wird, die für andere Ziele gedacht waren. Weniger ausschlaggebend ist dagegen, ob die afghanischen Sicherheitskräfte oder die Taliban die Kontrolle über einen Raum ausüben.
382 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8 f.; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017. S. 3; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 10.
383 
Während zivile Opfer in ländlichen Gebieten vor allem auf Kampfhandlungen, Landminen, improvisierte Sprengsätze und Übergriffe von nicht-staatlichen Gruppen zurückzuführen sind, stellen für die städtische Bevölkerung vor allem Selbstmordanschläge, komplexe Attacken, gezielte Tötungen und Entführungen Bedrohungen dar. Dies gilt insbesondere für Kabul.
384 
Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 9.
385 
Ein großer Teil des Landes wird von regierungsfeindlichen Kräften beherrscht, wobei die jeweilige Vorherrschaft der unterschiedlichen Kräfte ständigem Wandel unterworfen ist. Im ersten Quartal 2017 waren nur etwa 60 % der 407 Distrikte des Landes unter der Kontrolle oder dem Einfluss der afghanischen Regierung, was einen Anstieg um 2,5 Prozentpunkte im Vergleich zum Stand Mitte November 2016, aber einen Rückgang um 11 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Quartal 2016 bedeutet. Die Taliban behaupten, 16 der 34 Provinzen Afghanistans zu kontrollieren und in nur 89 Distrikten nicht präsent zu sein. In den südlichen Provinzen Helmand, Nimroz, Uruzgan, Zabul, Ghazni würden beinahe alle Distrikte von ihnen kontrolliert bzw. seien zumindest „umkämpft“.
386 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 22 f. m.w.N.; siehe auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 27.
387 
Unter dem direkten Einfluss der Taliban standen im dritten Quartal 2016 etwa 2,9 Millionen Menschen, im vierten Quartal waren es noch ungefähr 2,5 Millionen.
388 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 26 f.
389 
Die afghanische Regierung konnte dabei die Kontrolle über Kabul sowie die Hauptbevölkerungszentren, die meisten Schlüsselverbindungsstrecken, Provinzhauptstädte und die Mehrzahl der Distriktzentren behalten, wobei Distriktzentren und Provinzhauptstädte von Taliban bekämpft bzw. bedroht und diese sich zeitweise der Hauptkommunikationsverbindungen im Land bemächtigt haben, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Helmand.
390 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23 m.w.N.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 24.
391 
In Afghanistan - aber auch grenzüberschreitend Richtung Pakistan - sind mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke aktiv, darunter die Taliban, das Haqqani Netzwerk (verbündet mit den Taliban, aber nicht Teil von deren Kernbewegung), der Islamische Staat/Daesh in Gestalt der ISKP sowie al-Qaida.
392 
Zu den einzelnen Gruppen ausführlich u.a.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 10 ff. und 27 ff.
393 
Die Sicherheitslage wird außerdem durch den Opiumanbau in Afghanistan beeinträchtigt. Die Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen sowohl die Aufständischen als auch daneben bestehende kriminelle Netzwerke. Die Anbaufläche für Opium vergrößerte sich im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % auf etwa 201.000 Hektar. Das für das Jahr 2016 geschätzte Volumen der Opiumproduktion betrug 4.800 Tonnen, was eine Steigerung von etwa 43 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Die im Vergleich zur Ausweitung der Produktionsfläche auffallend hohe Steigerung der Produktionsmenge erklärt sich aus guten Anbaubedingungen bei zugleich weniger effektiven staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen aufgrund von fehlenden finanziellen Ressourcen hierfür sowie der schlechten Sicherheitslage.
394 
Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 31; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 11; zur Instabilität infolge des Opiumhandels: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.
395 
ee) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.
396 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.
397 
Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz bis hin zur Bestrafung mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen.
398 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen „Kontamination“ durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13 und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen „Verwestlichung“ bei Frauen ausführlich Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.
399 
Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse.
400 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Asylmagazin 2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.
401 
Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch Kreditgeber, mit der Folge, dass ein Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern „bestenfalls“ nur eine Belastung für diese ist.
402 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.
403 
Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.
404 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.
405 
Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.
406 
Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.
407 
Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa („Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär“) in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.
408 
Stahlmann, ZAR 2017, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.
409 
Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.
410 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 18.
411 
ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.
412 
Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.
413 
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.
414 
Das REAG/GARP-Programm 2017 („Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany“/„Government Assisted Repatriation Program“) gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe, die für Erwachsene und Jugendliche 500 EUR und für Kinder unter zwölf Jahren 250 EUR beträgt.
415 
IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“ (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt „Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen“, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.
416 
Das „StarthilfePlus-Programm 2017“, das zum Dezember 2017 aktualisiert und erweitert wurde, gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine zusätzliche finanzielle Unterstützung. Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR, für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind geleistet („Stufe 1“). Nach Zustellung eines negativen Asylerstbescheids verringert sich der Betrag auf 800 EUR bzw. für Kinder auf 400 EUR, sofern die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden („Stufe 2“). Die zum Dezember 2017 neu eingeführten „Stufe S“ betrifft Leistungen an Personen mit Schutzstatus, die freiwillig auf ihren Schutzstatus verzichten („Stufe S“). Die Übergangsregelung der „Stufe Ü“, die bereits im Vorgängerprogramm der StarthilfePlus vom Januar 2017 enthalten war, sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung besitzen, einen Folgeantrag oder einen Zweitantrag gestellt haben. Anders als im Vorgängerprogramm setzt die Gewährung der StarthilfePlus nun nicht mehr voraus, dass die Entscheidung zur freiwilligen Ausreise vor einem Stichtag (dies war bislang der 31. Juli 2017) zu erfolgen hat. Erforderlich ist lediglich, dass die betroffene Person vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert wurde und eine vollziehbare Ausreisepflicht, eine Duldung oder die Stellung eines Folge- oder Zweitantrags vor dem 1. August 2017 vorlag. Bei gemeinsamem Antrag von mehr als vier Familienmitgliedern ist zudem bei allen vier Stufen ein Familienzuschlag von 500 EUR vorgesehen. Ein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung besteht allerdings nicht.
417 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 2; BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.
418 
Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die des StarthilfePlus-Programms 2017 je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.
419 
BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Dezember 2017), S. 3; IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.
420 
Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action Program für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Es gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer eine umfangreichere Unterstützung („larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen erbracht. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Als „berücksichtigungsfähige Kriterien“ bei der Prüfung werden existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen genannt. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.
421 
Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017; IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.
422 
Sachleistungen können freiwillige Rückkehrer außerdem im Rahmen eines für den Zeitraum zwischen 1. Dezember 2017 und 28. Februar 2018 geltenden Sonderprogramms der StarthilfePlus zur Reintegrationsunterstützung beantragen. Diese umfassen u.a. Bau-, Renovierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen, Basismobiliar und Grundausstattung für Küche und sanitäre Anlagen. Die Leistungen sind auf den Wert von 1.000 EUR pro Einzelperson und 3.000 EUR pro Familie begrenzt. Die konkrete Ausgestaltung der Reintegrationsunterstützung ist abhängig von einem nach der Rückkehr im Zielland zu erarbeitenden Reintegrationsplan.
423 
BAMF/IOM, Informationsblatt „Reintegrationsunterstützung im Bereich Wohnen im Bundesprogramm StarthilfePlus“ (Dezember 2017).
424 
IOM-Programme werden allerdings nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.
425 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich („one-size-fits-all“).
426 
Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.
427 
Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet und im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen. Damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung des familiären bzw. sozialen Umfelds angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.
428 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28, dort auch zu Unterstützungsangeboten für das Umfeld bzw. die Gemeinschaft der Rückkehrer („a more community-oriented financial support“).
429 
Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen umfassen die Bereiche der Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden und Obdach. Die Unterstützung wird nicht von einer einzelnen Institution gewährt, vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Rückkehrer aus Europa berichten, dass sie nur wenig Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.
430 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28.
431 
Schließlich gibt es lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.
432 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.
433 
Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.
434 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.
435 
Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.
436 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 63.
437 
c) Lebensverhältnisse in Kabul
438 
In Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung gestalten sich die Lebensverhältnisse in Teilen ähnlich, es gibt allerdings auch Unterschiede zu den für das gesamte Land erläuterten Lebensverhältnissen.
439 
Wie bereits im Zusammenhang mit dem städtischen Wohnungsmarkt allgemein dargestellt, ist der Wohnungsmarkt in Kabul teuer und (insbesondere auch auf Grund der großen Zahl intern Vertriebener und Rückkehrern aus dem benachbarten Ausland) sehr angespannt. Denn die Stadt Kabul hat von der erheblichen, stetig ansteigenden Anzahl an Migranten einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen.
440 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.
441 
Kabul ist der Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung und zugleich auch traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt 5,7 Millionen Menschen, die nach dem Fall der Taliban aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt waren, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul herum niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere Personen hinzu, etwa ein erheblicher Anteil der im Jahr 2016 aus Pakistan Zurückgekehrten. Ihre Zahl wurde zur Jahresmitte 2016 noch mit 54.600 bemessen. Zum Ende des Jahres 2016 nannte der UNHCR die Zahl ca. 625.000 Rückkehrern aus Pakistan allein für die letzten vier Monate des Jahres 2016. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.
442 
Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; Stahlmann, Asylmagazin 2017, S. 73 (75); UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.
443 
Fast einem Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, als äußerst eingeschränkt.
444 
UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.
445 
Ein nicht unerheblicher Teil der Migranten, aber auch der von jeher in Kabul ansässigen Bevölkerung, gehört dabei der Volksgruppe der Hazara an. In Kabul sollen nach Schätzungen über eine Million bzw. bis zu 1,5 Millionen Hazara leben. Die meisten davon sind Vertriebene, die sich erst vor Kurzem dort niedergelassen haben. Sie sind von den negativen Auswirkungen des hohen Arbeitslosigkeit in gleichem Maße wie auch die übrige Bevölkerung betroffen.
446 
Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Situation of Hazara people living in Kabul City, including treatment by society, security situation, and access to employment; security situation for Hazara traveling to areas surrounding Kabul City to access employment, 20.04.2016.
447 
Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Diese bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränkten Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Es wird von mehreren Dutzend Menschen, insbesondere Kindern und älteren Personen, berichtet, die in den Wintermonaten der Jahre 2012 und 2017 wegen der Kälte gestorben sind. Zum Anderen führt der immense Zuzug dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft sind, die Arbeitslosigkeit und die Alltagskriminalität zunehmen.
448 
EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.
449 
Im Übrigen bedeutet eine Wohnung in Kabul zu haben nicht automatisch den Zugang zu Wasser und Strom. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings ist bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität schlecht geworden, da Infrastruktur ursprünglich für weit weniger Einwohner ausgelegt war. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.
450 
Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.
451 
Schließlich ist auch die Sicherheitslage in Kabul prekär.
452 
Vgl. dazu die Übersicht: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.
453 
Sie war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.
454 
Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: „aktuell als stabil eingeschätzt“) und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.
455 
In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahrs 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % die Folge von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.
456 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, Annex III, S. 73 und S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte); EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.
457 
Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul (bei 42 Angriffen an anderen Orten in Afghanistan). So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanische Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017.
458 
UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f. vgl. zu den weiteren zahlreichen Vorfällen die Darstellung in der Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
459 
Wie bei dem Vorfall vom 31. Mai 2017 wurden auch bei weiteren Anschlägen in Kabul, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.
460 
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.; vgl. auch dazu die Entscheidung des Senats: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 206 ff.
461 
Auch am 20. Oktober 2017 kam es wieder zu einem Selbstmordattentat, bei dem mindestens 39, womöglich sogar mehr als 65 Personen getötet wurden.
462 
Spiegel-online, Terror in Afghanistan - Mehr als 50 Tote bei Attentaten auf Moscheen, 20.10.2017; Human Rights Watch: The Pain Behind the Numbers of Afghanistan’s Deadly Attacks, 23.10.2017.
463 
Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfern (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.
464 
UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.
465 
Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul
466 
- vgl. hierzu ergänzend die Ausführungen im Urteil des Senats vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris Rn. 193, sowie auch zu den Verhältnissen in Kabul allgemein: juris Rn. 99 ff. -
467 
festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen „neuen“ regierungsfeindlichen Kräfte (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und sogar gerade auf die Zivilbevölkerung zielen.
468 
Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939.
469 
d) Subsumtion
470 
Ausgehend von den dargestellten Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist im Falle des Klägers ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen seine Abschiebung sprächen, nicht festzustellen. Denn in Anbetracht der Situation, wie sie leistungsfähige, erwachsene Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, zu denen auch der Kläger zählt, bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul antreffen und unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers, sind die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt.
471 
Zwar ist die Lage in Kabul - wie im gesamten Land - prekär. Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ersehen lässt, sind sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht. Dasselbe gilt für die in den letzten Jahren stetig schlechter gewordene Sicherheitslage.
472 
Dennoch kann nicht gleichsam für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt in (familiären oder sonstigen) Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen.
473 
Zwar ist Afghanistan und insbesondere Kabul gerade auch in jüngster Zeit mit der Rückkehr einer Vielzahl von Menschen aus dem benachbarten und westlichen Ausland konfrontiert. Dabei stellt sich deren Lage, obwohl die Situation für Rückkehrer schwierig ist, nicht für alle gleichermaßen problematisch dar. Berichte dahin, dass Rückkehrer generell oder aber jedenfalls in sehr großer Zahl und unabhängig von ihrer persönlichen Disposition ihr Existenzminimum nicht sichern könnten, gibt es nicht. Vielmehr sind bestimmte, vulnerable Gruppen wie etwa Familien mit jüngeren Kindern, alleinstehende Frauen, Kranke oder ältere Menschen in besonderem Maße gefährdet, ohne dass aber insgesamt festzustellen wäre, dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer nicht gewährleistet wäre.
474 
Insbesondere trifft dies auch nicht für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Europa oder gar aus Deutschland zu, zumal beispielsweise mit Unterstützung der IOM seit dem Jahr 2003 insgesamt 15.041 Personen aus verschiedenen Ländern Europas (darunter das Vereinigte Königreich, Norwegen, die Niederlande, Deutschland, Schweden, Dänemark, Frankreich, Belgien und Österreich) freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt sind. Allein im Jahr 2016 unterstützte die IOM 6.864 Personen bei ihrer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, davon über 3.000 aus Deutschland. Die meisten Rückkehrer (78 % oder 5.382) waren dabei junge Männer, von denen wiederum ein erheblicher Anteil zwischen 19 und 26 Jahren alt war (2.781) oder sogar Jugendliche mit bis zu 18 Jahren (2.101). Die Zahl der zurückgekehrten Familien wird mit 733 angegeben.
475 
Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, August 2017, S. 16; Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 2; UN General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017, S. 10.
476 
Neben diesen zahlreichen freiwilligen Rückkehrern gab und gibt es Abschiebungen aus Europa. So wurden im Zeitraum zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 176 Personen aus Europa nach Afghanistan abgeschoben, darunter 106 aus Deutschland, von denen wiederum auch einige keine Verwandten in Kabul oder in Afghanistan insgesamt hatten (etwa, weil sie zuvor lange Jahre im Iran gelebt hatten).
477 
Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 3 ff.
478 
Obwohl diese Rückkehrer sich - wie dargestellt - in Afghanistan vielen Belastungen gegenübersehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen. Zwar gibt es vereinzelte Rückkehrerberichte, die die oben geschilderte Bandbreite von Problemen betreffen. Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahin, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich.
479 
Insbesondere lässt sich aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten. So kann auch nach Auffassung des UNHCR im Falle von - wie er es formuliert - alleinstehenden, leistungsfähigen Männern ohne besonderen Schutzbedarf von dem grundsätzlich für erforderlich erachteten traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch (unterstützungsfähige und - willige) Mitglieder der (erweiterten) Familie oder ihrer größeren ethnischen Gruppe trotz der schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan abgesehen werden. Denn von diesen kann erwartet werden, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen, wobei allerdings dennoch immer eine einzelfallbezogene Analyse vorzunehmen ist.
480 
UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 10 und S. 99, wobei in der nachfolgenden Stellungnahme des UNHCR vom Dezember 2016 (Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016) insofern keine Änderungen der Bewertung vorgenommen wurden (vgl. dort zur Aufrechterhaltung der Erwägungen der Richtlinien vom 19.04.2016: S. 7 f.).
481 
Von nicht unerheblicher Bedeutung kann allerdings sein, ob der Betroffene eine der beiden in Afghanistan gesprochenen Sprachen (Paschtu und Dari) beherrscht und sich somit hinreichend verständigen kann.
482 
Zu diesem Kriterium vgl. BayVGH, Urteil vom 16.01.2014 - 13a B 13.30025 -, Leitsatz sowie juris Rn. 25 (Sicherung des Existenzminimums für einen afghanischen Rückkehrer ohne Kenntnisse einer der Landessprachen verneint, wenn kein Vermögen vorhanden und keine familiäre Unterstützung zu erlangen ist).
483 
Dies ist beim Kläger, der Dari spricht, der Fall.
484 
Auch die zur Situation der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland geschilderte, ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft und das Misstrauen gegenüber Personen ohne Leumundszeugen ist für sich nicht geeignet, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Zwar sind Nachteile bei Unterkunfts- und Arbeitssuche durchaus nicht ausgeschlossen, zwangsläufig eintreten werden diese indes nicht. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Situation auch im Falle des Klägers realisieren würde - dass also auch der Kläger entsprechend erkannt würde, dass er infolge dessen tatsächlich keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft haben würde oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre -, vermag der Senat daher nicht festzustellen.
485 
Vielmehr handelt es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, leistungsfähigen, erwachsenen Mann. Das Erwirtschaften eines - wenn auch womöglich sehr geringen - Einkommens wird ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein. Insbesondere steht dem der Gesundheitszustand des Klägers nicht entgegen. Er hat zwar geltend gemacht, er leide an einer Herzrhythmusstörungen, zu denen er im Rahmen der Anhörung vor dem Senat im Verhandlungstermin vom 13. Oktober 2017 erklärt hat, sie hätten Schlafstörungen und einen Gewichtsverlust verursacht. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen belegen allerdings auch, dass die Ursache der Herzrhythmusstörung im Rahmen des am 23. Oktober 2017 durchgeführten Eingriffs erfolgreich beseitigt werden konnte (dazu im Weiteren noch ausführlicher im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, s.u. III. 2). Eine Einschränkung des Klägers in seiner Erwerbs- und Leistungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Der Kläger hat nach eigenen Angaben bereits in der Vergangenheit in Afghanistan gearbeitet, zuerst in der Landwirtschaft seines Vaters und im Weiteren auch als Fliesenleger. Auch der den Erkenntnismitteln zu entnehmende und auch vom Kläger selbst beschriebene Zusammenhalt unter den Volkszugehörigen der Hazara kann ihm bei einer Rückkehr nach Kabul zugutekommen, da - wie beschrieben - für Hazara beim Zuzug in eine neue Stadt die Möglichkeit besteht, auf ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse bzw. eine Wohlfahrtseinrichtung zurückzugreifen.
486 
S.o.:EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.
487 
Zwar sind die Lebenshaltungskosten in Kabul hoch. Ausgehend von vorstehenden Ausführungen (ohne Unterbringungskosten) sind sie mit mindestens 100 EUR pro Monat zu bemessen, für die Mietkosten fallen mindestens 88 US$ bzw. 4.000 Afghani bzw. 75 EUR pro Monat an.
488 
S.o., insbesondere zu den monatlichen Lebenshaltungskosten von mindestens 100 EUR: BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017 sowie zum Preis von ab 4.000 Afghani für ein Einzelzimmer: Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42.
489 
Der Kläger hat aber die Möglichkeit, zunächst im Jangalak-Zentrum zu wohnen, sich von dort um Arbeit und Unterkunft - beides ggf. auf niedrigem Niveau - zu bemühen und - sollte es nicht anders gehen - vorübergehend in einer der informellen Siedlungen unterzukommen. Dass die fraglos beklagenswerten Zustände in solchen Siedlungen insgesamt flächendeckend derart desolat sind, dass sie gleichsam für jeden Bewohner und damit auch für einen jungen, leistungsfähigen Mann, wie es der Kläger ist, mit den hohen Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren wären, kann nicht festgestellt werden.
490 
Der Senat geht dabei allerdings davon aus, dass die dargestellten Rückkehrerhilfen für die Frage der Existenzsicherung des Klägers eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen können, da sie bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. einen nur vorübergehenden Ausgleich schaffen können. Die 500,- EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, vermögen ihm nur eine überschaubare Erleichterung bieten. Auch die Leistungen des ERIN-Programms stellt der Senat nicht in die Beurteilung ein. So besteht kein Rechtsanspruch auf diese Leistungen, weswegen unklar ist, ob der Kläger überhaupt Leistungen erhalten würde. Im Übrigen ist auch nicht im Voraus bestimmbar, welche Leistungen im Falle einer Leistungsgewährung vor Ort in Betracht gezogen werden könnten.
491 
Vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
492 
Gleiches gilt für die Geldleistungen des im Dezember 2017 neu aufgelegten StarthilfePlus-Programms, auf die ein Rechtsanspruch nicht besteht. Auch welche Sachleistungen im Rahmen des bis 28. Februar 2018 befristeten Reintegrations-Programms der StarthilfePlus womöglich gewährt werden könnten, ist angesichts des erst vor Ort auszuarbeitenden Reintegrationsplans völlig offen.
493 
Des Weiteren lässt sich bezüglich der von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland beschriebenen, unmittelbar gegen die körperliche Unversehrtheit und Freiheit gerichteten Handlungen - etwa wegen vermuteten Reichtums - nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass gerade der Kläger Opfer eines entsprechenden Angriffs werden würde. Gleiches gilt für denkbare Übergriffe wegen eines unterstellten Bruchs mit kulturellen oder religiösen Normen oder wegen vermeintlicher Nähe zu westlichen Kräften. Denn aus der abstrakt bleibenden Möglichkeit solcher Übergriffe ist ein Abschiebungsverbot nicht herzuleiten. Der Umstand, dass von solchen Vorfällen wiederholt berichtet wird, erlaubt nicht den Rückschluss, dass (auch angesichts der erheblichen Zahl von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland) der Kläger hiervon mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit betroffen sein wird.
494 
Ferner steht die Volkszugehörigkeit des Klägers einer Existenzsicherung nicht entgegen. Wie beschrieben können sich die Hazara als Minderheit zwar einerseits im Alltag durchaus Diskriminierungen ausgesetzt sehen, andererseits hat sich ihre Situation seit dem Jahr 2001 insgesamt verbessert. Gerade in Kabul lebt mit etwa 1 bis 1,5 Millionen Personen eine ganz erhebliche Anzahl von - teils (intern) vertriebenen - Hazara. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Verhältnisse für diese - und in Anknüpfung hieran womöglich auch für den Kläger - so gestalteten, dass ein Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Unterkunft nicht (auch nicht auf einfachstem Niveau) gewährleistet wäre, zumal es trotz der großen Zahl der Hazara in Kabul keine Berichte dahin gibt, dass Hazara typischerweise keine Arbeit und/oder keine Unterkunft erhalten würden.
495 
Schließlich ist auch im Hinblick auf die durchaus schwierige Sicherheitslage in Kabul ein Verstoß im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht festzustellen. So entspricht die Gefahrendichte in der Provinz Kabul insbesondere nicht der, wie sie im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) erforderlich wäre.
496 
Zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen des Art. 3 EMRK bzw. des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteile vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/19 -, vom 14.08.2013 – A 11 S 688/13 - und vom 24.07.2013 - A 11 S 727/13 -.
497 
So nennt UNAMA etwa für das erste Halbjahr 2017 für die Provinz Kabul die Anzahl von 1.048 zivilen Opfern (s.o.), was hochgerechnet für das gesamte Jahr 2017 eine Zahl von 2.096 Personen ergibt. Selbst wenn man dieser Zahl im Rahmen einer für den Kläger günstigen Herangehensweise die von der CSO genannten (wohl zu niedrig bemessenen) Einwohnerzahlen gegenüberstellte, reichte dies bei weitem nicht aus, um eine für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevante Gefahrendichte von 0,125 % bzw. 0,1 % zu erreichen.
498 
Zu dieser: BVerwG, Urteile vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 22 und vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 20; NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris; OVG LSA, Urteil vom 23.07.2014 – 3 L 53/12 –, Rn. 26, juris.
499 
Denn es ergäbe sich bei einer Einwohnerzahl der Provinz Kabul von ca. 4.700.000, wie sie die CSO angibt, ein Anteil von 0,045 % (2.096 / 4.700.000). Tatsächlich wird dieser allerdings noch geringer sein. Denn allein die Zahl der Einwohner der Stadt Kabul dürfte die von der CSO angegebene Bevölkerungsgröße übersteigen. Sie wird mit bis zu sieben Millionen Menschen bemessenen.
500 
Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.
501 
Daher wird bei realistischer Betrachtung die Anzahl der Opfer zu einer höheren Bevölkerungszahl ins Verhältnis zu setzen sein. Die nach dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG als bei Weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle wird daher schon quantitativ nicht erreicht und auch in qualitativer Hinsicht ist zu bedenken, dass in Kabul die medizinische Versorgungssituation im Falle von Anschlägen typischerweise besser ist, als in anderen Regionen Afghanistans.
502 
Vgl. dazu im Übrigen auch ausführlicher VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -.
503 
Dabei verkennt der Senat nicht, dass unter den sicherheitsrelevanten Vorfällen in Kabul in jüngerer Zeit wiederholt solche zu verzeichnen waren, die sich gegen Volkszugehörige der Hazara bzw. Angehörige des schiitischen Glaubens gerichtet haben, etwa der bereits mehrfach erwähnte Anschlag vom 23. Juli 2016 (80 Tote) sowie die genannten Angriffe auf schiitische Moscheen bzw. Einrichtungen am 11. Oktober 2016 (mindestens 13 Tote), am 21. November 2016 (27 Tote), am 15. Juni 2017 (5 Tote) und am 20. Oktober 2017 (mindestens 39 Tote). Angesichts der über eine Million Hazara, die in Kabul leben, vermag auch dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nicht zu begründen.
504 
Sicherheitsbedenken ergeben sich ferner nicht aus dem vom Kläger geschilderten Verfolgungsgeschehen, da die Angaben des Klägers nicht glaubhaft sind.
505 
Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
506 
2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
507 
Auch ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht gegeben.
508 
a) Rechtliche Anforderungen
509 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
510 
Dies kann aus individuellen Gründen - etwa wegen drohender An- oder Übergriffe Dritter oder auf Grund von Krankheit - der Fall sein (aa)), kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht (bb)).
511 
aa) Vom Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden existentielle Gefahren wie Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst
512 
- Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 15.08.2016, § 60 Rn. 40; Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 33 -,
513 
sowie insbesondere auch solche auf Grund von Krankheit.
514 
Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712, juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 53 juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -, juris Rn. 7 und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524.
515 
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind.
516 
Vgl. zusammenfassend HTK-AuslR/§ 60 AufenthG/zu Abs. 7 Satz 1 bis 4/ Rn. 8 und Möller/Stiegeler, in: Hofmann u.a., Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 32, beide m.w.N., sowie zum Maßstab bei individuellen Gründen u.a. auch BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 71.01 -, juris sowie Urteile vom 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712, juris Rn. 20 und vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 1999, juris Rn. 16.
517 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Verhältnisse im Zielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes erwarten lassen. Die vorhandene Erkrankung des Ausländers muss sich aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmern, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, weil etwa die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland unzureichend sind oder die zwar grundsätzlich verfügbare medizinische Versorgung dem Betroffenen aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.
518 
Vgl. statt vieler: BVerwG, Beschluss vom 12.07.2015 - 1 B 84.16 - Rn. 4 m.w.N. sowie insgesamt auch BVerwG, Urteile vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 14 ff.; vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9; vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - und vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -.
519 
bb) Neben den genannten individuellen Gefahren für Leib und Leben können unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch die generell herrschenden Lebensbedingungen im Zielstaat ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
520 
Zwar sind allgemeine Gefahren - also auch die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen in einem Land - gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen und begründen demnach grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden.
521 
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
522 
Dazu u.a. BVerwG, Urteile 13.06.2013 – 10 C 13.12 -, NVwZ 2013, 1489 Rn. 12 f.; vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 38.; vom 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, NVwZ 2012, 451 Rn. 20; vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, NVwZ 2012, 240 Rn. 22 f. und vom 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, juris Rn. 14 f.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12 -, Rn. 28 zu den unterschiedlichen rechtlichen Maßstäben von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG60 Abs. 2 AufenthG a.F.) sowie auch Art. 3 EMRK einerseits und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG andererseits.
523 
Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
524 
b) Subsumtion
525 
Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
526 
aa) Zum einen besteht eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers aus individuellen Gründen nicht.
527 
Hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorfalls (der Angriff und seine Verletzung durch die Kutschi) liegt eine entsprechende Gefahr nicht vor. Wie ausgeführt ist der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht glaubhaft.
528 
Aber auch im Hinblick auf die gesundheitliche Verfassung des Klägers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.
529 
Aus den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Schreiben geht zwar hervor, dass beim Kläger im Oktober 2017 eine Herzrhythmusstörung bei Verdacht auf ein sogenanntes Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert wurde, weswegen sich der Kläger am 23. Oktober 2017 einem operativen Eingriff unterzogen hat. Zum Ergebnis dieser Operation wird in den vorliegenden ärztlichen Schreiben vom 23. Oktober 2017, vom 6. November 2017 und vom 13. November 2017 übereinstimmend geschildert, dass erfolgreich eine Ablation durchgeführt werden konnte, dass der für die Störung ursächliche Erregungsherd verödet, die Herzrhythmusstörungen beseitigt und der Kläger beschwerdefrei entlassen werden konnte. Die Gefahr eines Rezidivs wird ausdrücklich als nur gering wahrscheinlich bezeichnet und die Rezidivrate mit knapp unter 5 % bemessen, wobei eine Medikation derzeit nicht notwendig sei. Eine bedrohliche, akute Gefährdung des Klägers besteht nach erfolgreicher Ablation nicht mehr.
530 
Angesichts dieser vom Kläger selbst mitgeteilten, nicht in Frage gestellten Angaben, bezüglich derer auch der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ist bereits nicht festzustellen, ob der Kläger angesichts der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit überhaupt infolge seiner (derzeit) geheilten Erkrankung künftig wieder Einschränkungen haben wird. Erst recht nicht ist ersichtlich, dass ein Rezidiv und seine Folgen alsbald nach einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan eintreten werden.
531 
Insbesondere geht aus den Stellungnahmen auch hervor, dass zur Minderung der Rezidivgefahr eine (medikamentöse oder sonstige) Behandlung, für die sich die Frage der Verfügbarkeit in Afghanistan stellen könnte, nicht erfolgt, sondern sich das Behandlungsregime auf Wiedervorstellungstermine zu Kontrolluntersuchungen zum Zwecke des Ausschlusses eines (unwahrscheinlichen) Rezidivs und zur Prüfung der Integrität des Herzens beschränkt.
532 
Im Übrigen könnte selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Rezidivs nicht von einer schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers ausgegangen werden. Ein Rezidiv würde mit Phasen von Herzrasen einhergehen, wobei dabei Luftnot und ein Beklemmungsgefühl auftreten können, wie es der Kläger in ähnlicher Weise ausweislich der Anamnesebeschreibung im Arztbrief vom 23. Oktober 2017 bereits vor dem Eingriff verspürt hat („rezidivierendes thorakales Brennen und Stechen“). Die abstrakt denkbare, schwerste (aber als selten eingeordnete) Folge eines Rezidivs wäre ein Kreislaufkollaps bzw. eine Ohnmacht, was für sich ebenfalls nicht geeignet wäre, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers von besonderer Intensität bzw. eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung zu begründen.
533 
bb) Zum anderen lässt sich auch aus den dargestellten, schlechten Lebensverhältnissen in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Denn die beschriebenen hohen Anforderungen, aus denen wegen einer extremen Gefahrenlage ausnahmsweise ein solches Abschiebungsverbot hergeleitet werden könnte, liegen nicht vor. So vermögen die - fraglos schlechten - Lebensverhältnisse vorliegend schon keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (s.o.). Dass gerade der Kläger als leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen im Falle einer Rückkehr alsbald sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, kann der Senat danach nicht festzustellen. So liegen etwa Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod preisgegeben wäre, nicht vor.
534 
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
535 
Die Berufung ist daher insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
536 
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
537 
Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Sonstige Literatur

 
538 
Inhalt
        
                 
Tatbestand
- 3 -
Entscheidungsgründe
- 8 -
I. Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
- 8 -
     1. Rechtsgrundlage: §§ 3 bis 3e AsylG
- 8 -
          a) §§ 3, 3a AsylG
- 9 -
          b) § 3c AsylG
- 10 -
          c) § 3e AsylG
- 10 -
          d) Wahrscheinlichkeitsmaßstab (beachtliche Wahrscheinlichkeit/real risk)
- 11 -
          e) Maßstab der Überzeugungsbildung
- 13 -
     2. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Grund von Vorverfolgung
- 15 -
     3. Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung der Hazara            
- 17 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 17 -
          b) Subsumtion: Keine Gruppenverfolgung von Hazara in Afghanistan
- 19 -
II. Kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes
- 29 -
     1. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AsylG
- 29 -
     2. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG
- 29 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 30 -
          b) Kein Anspruch auf Grund individueller Umstände
- 31 -
          c) Kein Anspruch auf Grund der schlechten humanitären Situation mangels Akteur
- 32 -
     3. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG
- 34 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 35 -
          b) Situation am maßgeblichen Ort, der Provinz Ghazni
- 37 -
          c) Keine individuell gefahrerhöhenden Umstände als Hazara
- 40 -
III. Nationales Abschiebungsverbot
- 42 -
     1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK
- 42 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 43 -
          b) Lebensverhältnisse landesweit
- 48 -
          c) Lebensverhältnisse in Kabul
- 70 -
          d) Subsumtion
- 75 -
     2. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
- 82 -
          a) Rechtliche Anforderungen
- 83 -
          b) Subsumtion
- 86 -
IV. Ergebnis, Nebenentscheidungen
- 88 -

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will, oder
2.
von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.
Unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen kann darüber hinaus auch von einer Abschiebungsandrohung abgesehen werden, wenn
1.
der Aufenthaltstitel nach § 51 Absatz 1 Nummer 3 bis 5 erloschen ist oder
2.
der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.