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Der Antrag, mit dem der Antragsteller unter Berufung auf eine bei ihm diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, ihm für den am 4. September 2007 beginnenden schriftlichen Teil des Ersten juristischen Staatsexamens eine Schreibzeitverlängerung um eine Stunde je Klausur zu gewähren, hat keinen Erfolg.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass einerseits ein Anspruch glaubhaft gemacht wird, dessen vorläufiger Sicherung die begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und dass andererseits die Gründe glaubhaft gemacht werden, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund).
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Gemessen an diesen Anforderungen ist der vorliegende Antrag unbegründet.
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Zwar hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund infolge Eilbedürftigkeit glaubhaft gemacht. Ohne eine vorläufige Regelung wäre er praktisch rechtlos gestellt, da der schriftliche Teil der Ersten juristischen Staatsprüfung, zu der der Antragsteller im Rahmen eines Notenverbesserungsversuch zugelassen worden ist, bereits am 4. September 2007 beginnt.
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Der Antragsteller hat jedoch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass er gemäß § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993 einen Anspruch darauf hat, dass das Landesjustizprüfungsamt für ihn die Bearbeitungszeit der Klausuren angemessen verlängert. Der insbesondere für eine - wie vorliegend gegebene - Hauptsachevorwegnahme erforderliche hohe Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg im Klageverfahren ist zu verneinen. Vielmehr erscheint die Entscheidung des Antragsgegners, dem Antragsteller die beantragte Schreibzeitverlängerung nicht zu gewähren, rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten.
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Der Antragsteller erfüllt nicht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Schreibzeitverlängerung. Gemäß § 12 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (i.d.F. v. 7.5.1993 - JAPrO 1993 -) , der vorliegend gemäß § 62 Abs. 1 JAPrO 2002 Anwendung findet, kann das Landesjustizprüfungsamt bei Behinderungen, die die Schreibfähigkeit beeinträchtigen, auf schriftlichen Antrag (u.a.) die Bearbeitungszeit angemessen verlängern. Die Beeinträchtigung ist darzulegen und durch amtsärztliches Zeugnis, das die für die Beurteilung nötigen medizinischen Befundtatsachen enthält, nachzuweisen.
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Der Antragsteller macht insoweit geltend, dass er unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS/ADS) im Erwachsenenalter leide, die dazu führe, dass er äußerst leicht ablenkbar und nur sehr eingeschränkt konzentrationsfähig sei. Er müsse lange Sachverhalte überdurchschnittlich oft durchlesen. Das häufige unwillkürliche Abschweifen seiner Gedanken hindere ihn an einer zügigen, aufmerksamen Bearbeitung der Klausur. Das Erfassen des Sachverhalts und das Gliedern der Lösung nähmen überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch. Durch die hohe Ablenkbarkeit und Reizoffenheit führe jede noch so kleine Störung während der Prüfung zu einer Unterbrechung der Klausurbearbeitung. Frau Dr. ..., Gesundheitsamt des Landratsamts ..., führt in ihrem amtsärztlichen Zeugnis vom 6. August 2007 aus, an der Diagnose eines ADHS im Erwachsenenalter bestehe kein Zweifel. Infolge des Aufmerksamkeitsdefizits sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sowohl behindert sei bei der Aufnahme der Prüfungsaufgabe als auch bei der Denkarbeit der ersten Phase wie auch in der zweiten Phase der Niederschrift. Die erforderliche Schreibzeitverlängerung werde auf eine Stunde eingeschätzt, weil nicht nur die Niederschrift, sondern die ganze Aufgabenbearbeitung durch die Störung beeinträchtigt sei.
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Damit hat der Antragsteller jedoch eine die Schreibfähigkeit beeinträchtigende Behinderung im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993 nicht glaubhaft gemacht. Denn § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993 erfasst neben aktuellen, vorübergehenden Beeinträchtigungen der rein mechanischen Darstellungsfähigkeit - wie einem gebrochenen Arm - nur solche dauerhaften Behinderungen, die lediglich den Nachweis einer uneingeschränkt vorhandenen Befähigung erschweren und die in dem mit der Prüfung angestrebten Beruf oder der (weiteren) Berufsausbildung durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können. Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft prägen, rechtfertigen dagegen keine Arbeitszeitverlängerung im Wege des Nachteilsausgleichs (vgl. zur Unterscheidung Niehues, Schul- und Prüfungsrecht Band 2, Rn. 120 ff.; BVerwG, Beschl. v. 13.12.1985 - 7 B 210/85 -, in Juris; Urt. v. 30.8.1977 - 7 C 50.76 -, in Juris; Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05 -, in Juris; OVG Schleswig, Beschl. v. 19.8.2002 - 3 M 41/02 -, SPE n.F. 600 Nr. 18).
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Um ein solches Dauerleiden aber handelt es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung des Antragstellers. Denn infolge der dauerhaften Reizüberflutung und seiner mangelnden Fähigkeit zur Filterung von Informationen hat der Antragsteller, wie er ausführt, Schwierigkeiten bei der vollständigen Erfassung der Aufgabenstellung, bei der Entwicklung und Gliederung seiner Klausurlösung und bei der Fokussierung seiner Aufmerksamkeit auf die Klausur; diese vom Antragsteller geschilderte Symptomatik deckt sich mit den in den Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV genannten Symptomen für die Diagnostik einer AD(H)S. Erschwert ist dem Antragsteller folglich nicht nur die schriftliche Fixierung einer im Kopf erarbeiteten Falllösung; vielmehr ist er infolge seiner deutlich geringeren Konzentrationsfähigkeit, seiner erhöhten Ablenkbarkeit und den Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung gerade auch bei der gedanklichen Erarbeitung der Klausurlösung selbst beeinträchtigt. Dies ergibt sich auch aus dem amtsärztlichen Gutachten von Frau Dr. ..., in dem diese ausführt, dass der Antragsteller „auch bei der Denkarbeit der ersten Phase“ behindert sei; „nicht nur die Niederschrift, sondern die ganze Aufgabenbearbeitung“ sei „durch die Störung beeinträchtigt“.
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Gerade die Fähigkeit, einen Sachverhalt aufzunehmen und zu verstehen sowie den Fall in angemessener Zeit einer plausibel begründeten Lösung zuzuführen, aber stellt die eigentliche juristische Leistung dar, die im Rahmen des schriftlichen juristischen Staatsexamens bewertet werden soll (Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05 -, in Juris). Der Antragsteller kann in diesem Zusammenhang auch nicht damit gehört werden, er sei durchaus in der Lage, den Sachverhalt zu durchdringen und zu lösen, brauche hierfür jedoch krankheitsbedingt mehr Zeit. Denn gerade bei juristischen Prüfungen soll auch die - für die spätere berufliche Praxis wichtige - Fähigkeit des Prüflings, unter Zeitdruck einen gegebenen juristischen Fall zu bearbeiten, bewertet werden; dass dem zeitlichen Moment im Rahmen von Prüfungen große Bedeutung zukommt, wird im Übrigen nicht zuletzt daraus deutlich, dass die Aussage, bei längerer Bearbeitungszeit bessere Ergebnisse zu erzielen, auf praktisch jeden Prüfling zutreffen dürfte.
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Die ADHS stellt sich nach alldem als eine persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Antragstellers dar, die in den Examensklausuren angelegten juristischen Fragestellungen in der vorgegebenen Zeit zu durchdringen und überzeugenden Lösungen zuzuführen. Eine derartige Leistungsminderung bestimmt sein „normales“ Leistungsbild mit der Konsequenz, dass, soweit sich die durch die ADHS bedingten Leistungsschwächen im Prüfungsergebnis niederschlagen, dessen Aussagewert gerade nicht verfälscht wird.
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Insoweit trägt auch der vom Antragsteller herangezogene Vergleich der ADHS mit Legasthenie, bei deren Vorliegen mehrere Obergerichte in der Tat einen Anspruch des Prüflings auf Kompensation durch Schreibzeitverlängerung festgestellt haben (Hess. VGH, Beschl. v. 3.1.2006 - 8 TG 3292/05 -, in Juris; OVG Schleswig, Beschl. v. 19.8.2002 - 3 M 41/02 -, SPE n.F. 600 Nr. 18; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 19.9.2000 - 9 S 1607/00 -, in Juris), nicht. Denn bei der Legasthenie handelt es sich wenn auch nicht um eine typische mechanische Beeinträchtigung des Schreibvorgangs, so doch um eine Beeinträchtigung, die sich in langsamerer Lesegeschwindigkeit sowie einer erschwerten handschriftlichen Darlegung des gefundenen Ergebnisses und somit in einer mangelnden technischen Fähigkeit zur Darstellung des eigenen Wissens erschöpft (vgl. Hess. VGH, aaO.; VGH Bad.-Württ., aaO.; OVG Schleswig, aaO.). Da im Rahmen juristischer Examina - anders als etwa bei der Ausbildung zur Sekretärin - die rein technische Lese- und Schreibtätigkeit außerhalb der durch die Prüfung zu ermittelnden juristischen Leistungsfähigkeit, einen Sachverhalt aufzunehmen und in gegebener Zeit einer plausiblen Lösung zuzuführen, liegt und letztere durch die Legasthenie nicht beeinträchtigt wird, mag es in der Tat naheliegen, die aus der Legasthenie resultierenden Schwierigkeiten bei der technischen Umsetzung der Leistungsfähigkeit im juristischen Staatsexamen durch Schreibzeitverlängerung zu kompensieren (so Hess. VGH, aaO.). Die ADHS dagegen erschöpft sich, wie gesehen, aber gerade nicht in einer Beeinträchtigung der Lese- und Schreibtätigkeit als technischem Vorgang.
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Dieser strukturelle Unterschied in der Einordnung von Legasthenie und ADHS wird auch deutlich bei der - vor Berücksichtigung der Behinderung im Rahmen der Prüfung anzustellenden (vgl. Niehues, aaO., Rn. 122, m.w.N.; OVG Schleswig, Beschl. v. 2.10.2003 - 9 B 85/02 -, in Juris) - Kontrollüberlegung, inwieweit eine Kompensationsmöglichkeit der Behinderung im späteren Berufleben besteht. Während die aus der Legasthenie resultierenden Behinderungen nämlich überwiegend durch den Einsatz von Hilfsmitteln - etwa von Leseprogrammen bzw. Spracherkennungs- und Diktierprogrammen am PC oder von Diktiergeräten - ausgeglichen werden können, lassen sich die zentralen Schwierigkeiten, die der Antragsteller infolge seiner Erkrankung gerade unter zeitlichem Druck bei der Ordnung und Fokussierung seiner Gedanken, der Filterung von Informationen und der Konzentration auf die relevante - juristische - Fragestellung hat, durch Hilfsmittel nicht kompensieren. Vielmehr wird sein ADHS-Leiden sich im späteren beruflichen Alltag nicht wesentlich anders als im Rahmen des Staatexamens niederschlagen.
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Nichts anderes ergibt sich schließlich aus dem Verweis des Antragstellers auf die Nachfolgervorschrift des § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO 1993, nämlich § 13 Abs. 7 S. 1 JAPrO 2002. Die Kammer sieht bereits nicht, inwieweit der geänderte Wortlaut - „prüfungsunabhängige Beeinträchtigungen eines Kandidaten, die die Anfertigung der Aufsichtsarbeiten erschweren“ anstatt „Behinderungen, die die Schreibfähigkeit beeinträchtigen“ - zu einer substantiellen Änderung im Hinblick auf den Umfang der zu kompensierenden Behinderungen führen sollte. Vielmehr hatte der VGH Baden-Württemberg bereits auf der Grundlage von § 12 Abs. 1 JAPrO 1993 entschieden, dass nicht nur rein mechanische Beeinträchtigungen zu kompensieren sind, sondern auch solche, die, wie etwa Legasthenie, die technische Fähigkeit zur Darstellung des eigenen Wissens beeinträchtigen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 19.9.2000 - 9 S 1607/00 -, in Juris), so dass Überwiegendes dafür spricht, der Gesetzgeber habe die bereits geltende Rechtlage lediglich klarer formulieren wollen. Abgesehen davon ergäbe sich auch für den Fall, dass die Neuregelung eine gewisse Ausweitung der zu kompensierenden Beeinträchtigungen mit sich bringen sollte, eine Ungleichbehandlung des Antragstellers gegenüber den in derselben Prüfungskampagne nach neuem Recht teilnehmenden Prüflingen - ungeachtet der Frage, ob sich der Antragsteller insoweit überhaupt auf eine Ungleichbehandlung berufen könnte - schon deshalb nicht, weil eine Kompensierung seiner ADHS durch Schreibzeitverlängerung auch nach neuer Rechtslage nicht möglich wäre. Denn gemäß § 13 Abs. 7 S. 1 2. HS JAPrO 2002 darf auf den Nachweis von Fähigkeiten, die zum Leistungsbild der abgenommenen Prüfung gehören, nicht verzichtet werden; hieraus wird deutlich, dass jedenfalls Beeinträchtigungen, die - wie die ADHS - die zeitgerechte intellektuelle Bewältigung des Prüfungsstoffs erschweren, nach wie vor nicht auszugleichen sind.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 3 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass mit dem Verfahren das Hauptsacheverfahren weitgehend vorweggenommen wird, erscheint der volle Auffangstreitwert i.H.v. 5.000 EUR angemessen.
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