Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 26. Juli 2012 - 2 L 68/10

ECLI:ECLI:DE:OVGST:2012:0726.2L68.10.0A
bei uns veröffentlicht am26.07.2012

Tatbestand

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Der am (…) 1978 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Am 04.11.2002 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt gab er u. a. an, er habe zuletzt in Vedeno in dem Dorf O. im Gebiet von Vedenski gelebt. Einen Beruf habe er nicht erlernt. Er habe bis 1999 als Angestellter der Maschadow-Regierung gearbeitet und Ölanlagen bewacht. Im Mai 2002 habe er gemeinsam mit einem Freund zwei Personen erschossen und einen russischen Offizier festgenommen, um seinen bei einer „Säuberungsaktion“ festgenommenen Bruder durch einen Austausch freizubekommen. Danach hätten sich alle drei auf der Flucht befunden, zunächst aber keine Möglichkeit gehabt, das Land zu verlassen. Mit Hilfe eines Schleppers seien sie Ende Oktober 2002 mit einem LKW nach Deutschland gebracht worden.

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Mit Bescheid vom 25.04.2003 lehnte die Beklagte den Asylantrag ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung führte sie u. a. aus, der Kläger habe das von ihm vorgetragene Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Seine Schilderungen der vermeintlich die Flucht auslösenden Vorfälle seien insgesamt zu unpräzise, ausweichend, allgemein gehalten und teilweise lebensfremd.

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Am 12.05.2003 hat der Kläger Klage erhoben und ergänzend vorgetragen, die Entführung des russischen Offiziers habe um die Mittagszeit auf dem Markt der Stadt Vedeno stattgefunden. Die russischen Militärangehörigen seien im Zentrum der Stadt mit einem russischen Geländewagen (UASIK) unterwegs gewesen und hätten auf dem Markt einkaufen wollen. Kurz nachdem die Russen aus ihrem Wagen ausgestiegen seien, sei es zu einer Schießerei gekommen, in deren Verlauf zwei russische Soldaten ums Leben gekommen seien. Der etwa 45-jährige russische Offizier habe sofort einsehen müssen, dass jeglicher Widerstand unsinnig sei und für ihn den Tod bedeuten würde. Er habe sich sofort festnehmen lassen und sei schnell ins Auto gebracht worden, das einem seiner (des Klägers) Freunde gehört habe. Dieser sei auch gleichzeitig der Fahrer des Wagens gewesen. Der festgenommene Offizier sei in ein Waldstück in den Bergen unweit von Vedeno gebracht worden, wo er ca. zwei Monate bis zu seinem Umtausch in einer unterirdischen Befestigung festgehalten worden sei. Am Umtausch des russischen Offiziers gegen seinen Bruder hätten auf der tschetschenischen Seite ca. 10 Leute teilgenommen. Die Operation habe unweit der georgischen Grenze stattgefunden. Die Vertreter der russischen Seite seien auf Panzern angefahren und hätten seinen Bruder mitgebracht.

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Nach dem erzwungenen Umtausch hätten sich weder er selbst noch sein Bruder vor der Verfolgung durch russische Organe sicher sein können. Die russischen Behörden verfügten insgesamt über ein gutes Informationssystem, bei dem sie sich auch auf tschetschenische Informanten stützen könnten. Es liege nahe, dass nach solchen Personen, die sich der Begehung von Kapitalverbrechen verdächtig gemacht hätten, überall in der Russischen Föderation gefahndet werde. Es sei ihm auch nicht zuzumuten, sich in der Russischen Föderation einem rechtsstaatlichen Prozess zu stellen, wie dies ihm in der Anhörung vor dem Bundesamt nahe gelegt worden sei. Es sei allgemein bekannt, dass die russischen Ermittlungs- und Justizbehörden gegen bestimmte Kreise und Gruppen rigoros vorgingen.

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Sowohl auf Grund der Gesamtsituation der Tschetschenen in der Russischen Föderation als auch wegen der geschilderten Ereignisse bestehe auch keine inländische Fluchtalternative.

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Der Kläger hat (sinngemäß) beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 25.04.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG vorliegen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Mit Urteil vom 15.06.2005 hat das Verwaltungsgericht Magdeburg die Beklagte verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in die Russische Föderation festzustellen, und den angefochtenen Bescheid aufgehoben, soweit er dem Verpflichtungsanspruch entgegensteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt:

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Der Kläger sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung ausgesetzt. Nach Überzeugung des Gerichts sei der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger und habe in Tschetschenien gelebt. Ihm drohe sowohl in Tschetschenien als auch im gesamten übrigen Gebiet der Russischen Föderation derzeit politische Verfolgung. Eine staatlicherseits betriebene oder geduldete gruppengerichtete Verfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien sei zwar nicht feststellbar, da die Zahl der feststellbaren Verfolgungsfälle in ihrer Dichte nicht ausreiche, um die hohen Anforderungen der Rechtsprechung an eine staatliche Gruppenverfolgung anzunehmen. Es fehlten auch hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm.

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Unabhängig davon, ob der Kläger vorverfolgt aus seiner Heimat ausgereist sei, drohe ihm aber deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil die durch das Föderationsgesetz theoretisch auch für tschetschenische Volkszugehörige gegebene Freizügigkeit in der Praxis außerhalb Tschetscheniens stark eingeschränkt werde. Dem Kläger stehe innerhalb der Russischen Föderation auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

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Die vom Senat zugelassene Berufung hat der Beteiligte wie folgt begründet: Bei der Ermittlung der Verfolgungsdichte dürften nicht einfach alle Übergriffe, egal von welcher Seite und mit welcher zu vermutenden Zielrichtung undifferenziert einbezogen werden. Bei Aktionen tschetschenischer Widerstandskämpfer, Guerillas oder schlichten Räuberbanden sei nicht ersichtlich, dass diese auf asyl- oder flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter und Eigenschaften ihrer Opfer, insbesondere die ethnische Zugehörigkeit zur tschetschenischen Bevölkerungsmehrheit abzielten. § 60 Abs. 1 AufenthG diene nur dem Schutz vor politischer Verfolgung und habe nicht die Aufgabe, vor den Unglücksfolgen allgemeiner Kriegszustände und -wirren oder schlicht vor allgemein verbreiteter Gewaltkriminalität oder Terror zu bewahren. Zudem komme eine hier allenfalls mögliche örtlich begrenzte Gruppenverfolgung nur bei denjenigen Tschetschenen in Betracht, die in Tschetschenien leben. Wer hingegen – wie der Kläger – vor 2004 die russische Föderation verlassen habe und nunmehr aus dem Ausland zurückkehre, gehöre nicht zur verfolgungsgefährdeten Gruppe. Anderes gelte nur für denjenigen, der sein Heimatland vorverfolgt verlassen habe. Dafür bestünden aber im Fall des Klägers mangels Glaubhaftmachung keine Anhaltspunkte.

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Der Beteiligte hat beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 15. Juni 2005 – 3 A 216/03 MD – zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Der Kläger hat beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Mit Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat die Berufung des Beteiligten zurückgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

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Dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Er habe die Russische Föderation vorverfolgt verlassen. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise sei er von politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG unmittelbar bedroht gewesen. Die unmittelbare Bedrohung durch russische Sicherheitskräfte habe sich aus der tschetschenischen Volkszugehörigkeit des Klägers in Verbindung mit der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft mit Hilfe tschetschenischer Widerstandskämpfer ergeben, was sich aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-separatistische Sache dargestellt habe. Der Kläger habe im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen können, dass er im Rahmen des Zweiten Tschetschenienkrieges an der Seite der Tschetschenen und gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft habe, indem er an der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft maßgeblich beteiligt gewesen sei. Bei einer Gefangennahme eines russischen Offiziers und der Tötung von russischen Soldaten könne davon ausgegangen werden, dass die russische Armee spätestens nach der Austauschaktion Kenntnis darüber erlangte, dass der Kläger hinter dieser Gefangennahme gestanden habe und dies die Einleitung einer landesweiten Fahndung gegen beide Brüder zur Folge gehabt hätte. Die dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende (Straf-)Verfolgung sei auch asylerheblich, insbesondere liege darin nicht nur die Ahndung kriminellen Unrechts. Eine Strafverfolgung des Klägers wegen der von ihm geschilderten Ereignisse hätte – jedenfalls auch – politischen Charakter gehabt. Auf Grund der anzunehmenden landesweiten Fahndung gegen den Kläger sei auch das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative bzw. die Möglichkeit internen Schutzes nach Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im Oktober 2002 zu verneinen. Auch außerhalb Tschetscheniens hätte der Kläger aus asylerheblichen Gründen keinen fairen Strafprozess erwarten können, er wäre vielmehr auf Grund der ihm vorgeworfenen Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer in Verbindung mit seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit auch dort einer politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Es lägen keine stichhaltigen Gründe vor, die angesichts der Vorverfolgung des Klägers eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien ausschlössen. Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG sei auch nicht gemäß § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen.

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Mit Urteil vom 16.02.2010 (BVerwG 10 C 7.09) hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Senats aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Es hat beanstandet, das Berufungsgericht habe nicht festgestellt, ob die Voraussetzungen der in Art. 8 Abs. 2 des Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs geregelten Tatbestände erfüllt seien, die für die Einordnung von Handlungen als Kriegsverbrechen im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG maßgebend seien. Zudem habe das Berufungsgericht den Ausschlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG auf zu schmaler Tatsachengrundlage verneint.

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Der Beteiligte hat ergänzend zur Berufungsbegründung vorgetragen: Aus seiner Sicht spreche Überwiegendes gegen die Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Klägers. Insbesondere liege nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 21.04.2011 weiterhin kein feststellbares Fahndungsersuchen vor. Jedenfalls liege ein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylVfG vor, weil der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen habe. Auch könne dem Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe keine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, auch weil für ihn eine inländische Ausweichmöglichkeit bestehe.

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Der Beteiligte beantragt (weiterhin),

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 15. Juni 2005 – 3 A 216/03 MD – zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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I. Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

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Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil zu Unrecht verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl I S. 162) – AufenthG – erfüllt sind und insoweit zu Unrecht den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu (1.). Er hat aber einen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG besteht (2.).

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1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 2 des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008 (BGBl I S. 1798) – AsylVfG – sowie § 60 Abs. 1 und Abs. 8 Satz 2 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG ist ein Ausländer jedoch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er (1.) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, (2.) vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder (3.) den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat. Dies gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

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1.1. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Eine Verfolgung liegt vor, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an eines der genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (siehe grundsätzlich: BVerfG, Urt. v. 10.07.1989 – 2 BvR 502, 1000 und 961/86 –, BVerfGE 80, 315, 5. 339). Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind (nunmehr) für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ergänzend anzuwenden.

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Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention Handlungen, die

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a) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

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b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.

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Die asylerheblichen Merkmale werden als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert.

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Hat der Ausländer sein Heimatland individuell vorverfolgt verlassen oder war er vor seiner Ausreise unmittelbar von solcher Verfolgung bedroht, kommt ihm für die Verfolgungsprognose die Beweiserleichterung des gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG (ergänzend) anzuwendenden Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute. Danach stellt der Umstand, dass der Schutz suchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG) erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 05.05.2009 – 10 C 21.08 –, NVwZ 2009, 1308 [1309], RdNr. 19). Eine Vorverfolgung kann nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden; dies bedeutet, dass im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann gilt, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand (BVerwG, Urt. v. 24.11.2009 – 10 C 24.08 –, BVerwGE 135, 252 [259], RdNr. 18).

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a) Der Kläger hat die Russische Föderation vorverfolgt verlassen. Er war zum Zeitpunkt seiner Ausreise von politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 QRL unmittelbar bedroht. Die unmittelbare Bedrohung durch politische Verfolgung seitens der russischen Sicherheitskräfte ergab sich aus der tschetschenischen Volkszugehörigkeit des Klägers in Verbindung mit der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft mit Hilfe eines Freundes und tschetschenischer Widerstandskämpfer, was sich aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-separatistische Sache darstellte.

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aa) In seinem Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat die vom Kläger gegebene Schilderung der Ereignisse, die eine Vorverfolgung begründen, als glaubhaft bewertet und dazu ausgeführt:

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„Der Senat ist zunächst davon überzeugt, dass der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger ist. Seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung erfolgte in tschetschenischer Sprache.

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Der Kläger hat ferner im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen können, dass er im Rahmen des Zweiten Tschetschenienkrieges an der Seite der Tschetschenen und gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft hat, indem er an der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft maßgeblich beteiligt war. Seine Aussagen vor dem Bundesamt waren zwar noch sehr allgemein gehalten. Einzelheiten zu der Festnahme seines Bruders im Zuge der „Säuberungsaktion“, zu der Gefangennahme des russischen Offiziers sowie insbesondere zu der Austauschaktion im Mai 2002 schilderte er dort nicht. In der mündlichen Verhandlung hat er jedoch detailreich und ohne Widersprüche zu seinem bisherigen Vortrag und den Ausführungen in der Klagebegründung nähere Angaben zu den behaupteten Ereignissen gemacht. Er hat geschildert, warum sein Bruder festgenommen worden war, wie die Gefangennahme des russischen Offiziers vorbereitet wurde, wie diese ablief und wie es möglich war, dass sie zu zweit drei bewaffnete Militärangehörige überwältigen konnten. Er hat ferner überzeugend dargestellt, wo der Offizier gefangen gehalten wurde, wie genau der Austausch ausgehandelt wurde und wie dieser ablief. Auf die Sitzungsniederschrift wird insoweit verwiesen.

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Soweit vermeintliche Widersprüche aufgetreten sind, konnte der Kläger sie auf Vorhalt entkräften. Dies gilt beispielsweise für die Dauer der Gefangennahme des russischen Offiziers. Während er in der Klagebegründung ausgeführt hat, zwischen der Festnahme des russischen Offiziers im Mai 2002 und dem Austausch habe ein Zeitraum von etwa 2 Monaten gelegen, hat er bei der Befragung in der mündlichen Verhandlung zunächst angegeben, der Austausch habe (bereits) im Juni 2002 stattgefunden. Auf entsprechenden Vorhalt hat er bekundet, er habe mit der Zeitangabe in der Klagebegründung einen Zeitraum von etwa 1½ Monaten gemeint. Da er bei seinen früheren Befragungen keine genauen Datumsangaben gemacht hatte, hat der Senat letztlich keinen die Glaubhaftigkeit der Aussage in Frage stellenden Widerspruch feststellen können. Auch hinsichtlich der Angabe des Orts, an dem der Austausch stattfand, ist es dem Kläger gelungen, eine vermeintliche Ungereimtheit zu klären. In der mündlichen Verhandlung hat er auf Nachfrage zunächst angegeben, der Gefangenenaustausch habe in dem Gebiet von Shatoy stattgefunden. Auf den Vorhalt, nach seinen Angaben in der Klagebegründung, diese Operation habe unweit der georgischen Grenze stattgefunden, hat er dem Gericht nachvollziehbar erläutert, dass Teile des Gebiets von Shatoy zu Grenzregion zu Georgien zählten. Die Stadt Shatoy liegt (nur) etwa 40 bis 50 km von der georgischen Grenze entfernt. Die Region Shatoiskij grenzt an Georgien an.

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Für die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers spricht ferner, dass sein Bruder im Rahmen seines Asylverfahrens ein Verfolgungsschicksal geschildert hat, das mit den vom Kläger gemachten Angaben übereinstimmt. Der Umstand, dass der Bruder des Klägers – nach kurzer Überlegung – von zwei ausgetauschten Offizieren gesprochen hatte, während der Kläger auch auf Nachfrage erklärt hat, dass nur ein Offizier ausgetauscht worden sei, steht dem nicht entgegen. Der Kläger konnte dies nachvollziehbar damit erklären, dass seinem Bruder vor der Übergabe ein Sack über den Kopf gestülpt worden sei, so dass er bei dem Austausch möglicherweise nur schwer erfassen konnte, wie viele der anwesenden Offiziere Gegenstand des Austauschs waren.

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Die Angaben des Klägers stehen auch nicht in Widerspruch zu der vom Senat eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 10.09.2008. Danach kann ein im Jahr 2002 erfolgter Gefangenenaustausch von inhaftierten Tschetschenen gegen festgenommene russische Offiziere nicht ausgeschlossen werden. Während der Kriegshandlungen sei es, wenn auch selten, zu derartigen Austauschaktionen gekommen. Zwar wird darin einschränkend weiter ausgeführt, dass, sofern in der Vergangenheit ein Gefangenenaustausch bekannt geworden sei, es sich um Gruppen von Gefangenen gehandelt habe, die nach einer langen Prüfung durch die russische Armeeführung ausgetauscht worden seien. Da der Offizier etwa 1 bis 2 Monate festgehalten wurde, erscheint eine ausführliche Prüfung jedenfalls nicht ausgeschlossen. Im Übrigen kann, da nach den Angaben des Auswärtigen Amts eine offizielle Anfrage bei der russischen Armee nicht möglich ist und das Auswärtige Amt nur auf der Grundlage der ihm bekannt gewordenen Fällen Auskunft geben kann, nicht ausgeschlossen werden, dass während des Kriegsgeschehens in Einzelfällen auch einzelne Gefangene durch Militäreinheiten vor Ort ausgetauscht wurden.“

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Der Senat hält die vom Kläger vor dem Bundesamt, im erstinstanzlichen Verfahren und in der ersten mündlichen Verhandlung des Senats vom 28.11.2008 gegebene Darstellung dieser Ereignisse auch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 weiterhin für glaubhaft. Zwar hat der Kläger bei seiner informatorischen Befragung am 26.07.2012 Einzelheiten der Tötung oder Verwundung der beiden russischen Soldaten teilweise anders geschildert als bisher. So hat er nunmehr zunächst erklärt, dass er und sein Freund die Waffen zunächst offen am Gürtel getragen hätten, während er bei seiner ersten Befragung noch angegeben hatte, auf dem Markt (offener Basar) habe man mit versteckten Waffen herumlaufen können, und die von ihm verwendete AKM 45 habe man leicht unter der Jacke verstecken können. Nachdem er auf diesen Widerspruch hingewiesen worden ist, erklärte der Kläger, dass er sich an Details nicht mehr erinnern könne und er nicht mehr wisse, ob sie die Waffen offen oder versteckt getragen hätten. Auf die Frage, ob die russischen Soldaten sich zur Wehr gesetzt hätten, hat er ausgeführt, die Soldaten hätten zwar schießen wollen, er aber sei schneller gewesen. In der mündlichen Verhandlung am 28.11.2008 hatte er noch vorgetragen, als Erster habe der Widerstandkämpfer und danach er selbst geschossen, die Soldaten seien getroffen worden, hätten aber trotzdem noch zurückgeschossen. Diese Widersprüche lassen sich indes damit erklären, dass der Kläger ersichtlich den Versuch hat unternehmen wollen, den möglichen, im Revisionsverfahren zur Sprache gekommenen Vorwurf zu entkräften, die beiden russischen Soldaten „meuchlerisch“ getötet zu haben und deshalb Kriegsverbrecher im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG zu sein.

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bb) Der Senat geht weiter davon aus, dass dem Kläger auf Grund der Tötung oder zumindest schweren Verletzung der russischen Soldaten und der Entführung des russischen Offiziers politische Verfolgung unmittelbar drohte. Bereits im Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat ausgeführt:

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„Nach der bereits erwähnten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 10.09.2008 kann bei einer Gefangennahme eines russischen Offiziers und der Tötung von russischen Soldaten davon ausgegangen werden, dass die russische Armee spätestens nach der Austauschaktion Kenntnis darüber erlangte, dass der Kläger hinter dieser Gefangennahme stand, um seinen inhaftierten Bruder frei zu bekommen. Der Auskunft lässt sich weiter entnehmen, dass dies die Einleitung einer landesweiten Fahndung gegen beide Brüder zur Folge gehabt hätte.

46

Die dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende (Straf-)Verfolgung wegen der Tötung von zwei russischen Soldaten, der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders während des Zweiten Tschetschenienkrieges ist auch asylerheblich, insbesondere liegt darin nicht nur die Ahndung kriminellen Unrechts.

47

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 27.04.2004 – 2 BvR 1318/03 –, NvWZ-RR 2004, 613) ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Dies gilt allerdings nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Das Asylgrundrecht gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass insbesondere die Anwendung von Folter als schärfste Form der Ausgrenzung aus der staatlichen Friedensordnung ein Indiz für die asylerhebliche Zielrichtung der staatlichen Maßnahme darstellen kann. Die staatliche Verfolgung kriminellen Unrechts, also von Straftaten, die sich gegen die Rechtsgüter anderer Bürger richten, ist keine „politische" Verfolgung, und zwar auch dann nicht, wenn die Straftaten aus einer politischen Überzeugung heraus begangen worden sind. Politische Verfolgung liegt auch dann nicht vor, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass die Verfolgung einer sich gegen ein politisches Rechtsgut richtenden Tat nicht der mit dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solcher gilt, sondern einer in ihm zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit der Staatenpraxis geläufig ist. Auch hier kann aber politische Verfolgung zu bejahen sein, wenn der Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher – nicht politischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (BVerfG, Beschl. v. 20.12.1989 – 2 BvR 958/86 – BVerfGE 81, 42 [151]). Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung können dann als asylerhebliche Vorverfolgung zu bewerten sein, wenn zusätzliche Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene jedenfalls auch wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Nicht Asyl begründend sind staatliche Maßnahmen also nur dann, wenn sie nach Art und Intensität Abwehrcharakter haben und den Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der damit zusammenhängenden Straftaten nicht verlassen. Wird darüber hinaus der politische Gegner – in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal – verfolgt, kommt den dabei eingesetzten staatlichen Maßnahmen Asyl begründende Wirkung zu. Extralegale Handlungen und gravierende Menschenrechtsverletzungen werfen auch im Rahmen einer unnachsichtigen Bekämpfung des Terrors durch den Staat stets die Frage auf, ob damit nicht zumindest auch asylerhebliche Ziele verfolgt werden. Ein Umschlagen in eine asylerhebliche Verfolgung liegt dementsprechend dann nahe, wenn die staatlichen Maßnahmen das der reinen Terrorismusbekämpfung angemessene Maß überschreiten, insbesondere wenn sie mit erheblichen körperlichen Misshandlungen einhergehen; aber auch bei einer übermäßig langen Freiheitsentziehung kann dies anzunehmen sein. In solchen Fällen spricht eine Vermutung dafür, dass sie den Einzelnen zumindest auch wegen seiner asylerheblichen Merkmale treffen und deshalb politische Verfolgung darstellen. Hierbei sind auch die jeweilige Rechtslage und deren Beachtung in der Rechtswirklichkeit in den Blick zu nehmen. Welche Abwehrmaßnahmen im Einzelnen bei objektiver, wertender Betrachtung noch als „legitim" und dem Rechtsgüterschutz dienend anzuerkennen sind mit der Folge, dass sie nach ihrem äußeren Erscheinungsbild aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen, entzieht sich einer abstrakten Festlegung. Diese Frage kann letztlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles, vor allem unter Berücksichtigung der jeweiligen Sicherheitslage und der allgemeinen Verhältnisse in dem betreffenden Staat beurteilt werden (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. vom 25.07.2000 – 9 C 28.99 –, BVerwGE 111, 334 [338]).

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Aus der QRL, insbesondere deren Art. 9 Abs. 2 Buchstabe c) und Art. 10 Abs. 1 Buchstabe e), ergeben sich keine höheren Anforderungen an den Schutz vor einer Strafverfolgung im Heimatland. Auch Art. 9 Abs. 2 Buchstabe c) QRL bestimmt, dass eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention sein kann.

49

In Anwendung dieser Grundsätze hätte eine Strafverfolgung des Klägers wegen der von ihm geschilderten Ereignisse – jedenfalls auch – politischen Charakter gehabt.

50

Dass Folter und Erzwingung von Geständnissen bereits lange Zeit vor der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation zu den üblichen Praktiken der russischen Sicherheitskräfte gehörten, ist durch zahlreiche Quellen belegt. Nach verschiedenen Auskünften wurde von zahlreichen menschenrechtswidrigen Übergriffen berichtet. In sog. Filtrationslagern, die dazu dienen sollten, tschetschenische Terroristen aufzuspüren, kam es im großen Stil abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu systematischen Folterungen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, Urt. v. 24.10.2007 – 11 B 03.30710 –, Juris, m. w. Nachw.). Auch noch nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 22.11.2008 (S. 11) berichten Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig über zahlreiche Strafprozesse gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, vor allem Tschetschenen, die auf Grund von – auch – unter Folter erlangten Geständnissen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien. Beim Kläger ist für eine – zumindest auch – politische Zielgerichtetheit von Verfolgungsmaßnahmen der russischen Sicherheitskräfte von entscheidender Bedeutung, dass er auf Grund der Zusammenarbeit mit tschetschenischen Widerstandskämpfern während des Zweiten Tschetschenienkrieges im Verdacht stand, deren politische Ansichten zu teilen und mit Waffengewalt zu unterstützen bereit ist; zumal seinem – freigepressten – Bruder nach den glaubhaften Darstellungen sowohl des Klägers als auch seines Bruders in dessen Asylverfahren von russischer Seite vorgeworfen wurde, an Militäraktionen beteiligt gewesen zu sein. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers in großer Zahl zu menschenrechtswidrigen Übergriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Terroristen gekommen ist, die von Seiten der russischen Verantwortlichen weder gesühnt noch sonst irgendwie geahndet wurden; vielmehr gehörte es offensichtlich zu der Einschüchterungspolitik der russischen Sicherheitskräfte, dem russischen Militär bzw. den vor Ort tätigen Sicherheitskräften freie Hand zu lassen und Übergriffe gerade und besonders auch gegenüber unter Terrorismusverdacht festgenommenen Personen letztendlich durch die völlige Straflosigkeit der jeweiligen Täter zu befördern, wenn nicht gar als gezieltes Mittel zur Einschüchterung zu benutzen (vgl. HessVGH, Urt. v. 24.04.2008 – 3 UE 410/06.A –, Juris).

51

An dieser Bewertung hält der Senat fest. Es liegen keine neuen Erkenntnismittel vor, die die seinerzeit vorgenommene Einschätzung in Frage stellen.

52

b) Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe vor, die angesichts der Vorverfolgung des Klägers eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien ausschließen. Hierzu hat der Senat im Urteil vom 28.11.2008 festgestellt:

53

„Die Lage in Tschetschenien hat sich zwar mittlerweile entscheidend verändert. Sie ist dadurch geprägt, dass die von dem ehemaligen Präsidenten der Russischen Föderation Putin verfolgte und betriebene Politik der „Tschetschenisierung" des Tschetschenienkonflikts aufgegangen zu sein scheint. Mit der Wahl des tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene „politische Prozess" zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen. Der ehemalige Präsident Putin erklärte bereits im Januar 2006 zum wiederholten Male die „antiterroristische Operation", d. h. den Krieg, für beendet. Wenngleich seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows in Tschetschenien Zeichen der Normalisierung festzustellen sind, finden auch heute noch kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt. Die aktiven Rebellen weichen immer mehr in die Nachbarrepubliken, insbesondere Inguschetien und Dagestan, aus, wobei die Lage im Nordkaukasus außerordentlich instabil bleibt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008). Trotz der Tötung der Separatistenführer Aslan Maschadow im März 2005 und Abdelchalim Sadullajew im Juni 2006 sowie des „Topterroristen" Schamil Bassajew im Juli 2006 gibt es laut Schätzungen der lokalen tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin einige Hunderte Rebellen in den Bergregionen Tschetscheniens, die vor allem Anschläge auf Sicherheitskräfte verüben. Der russische Armeegeneral Krivonos nannte am 11.05.2007 eine Zahl von noch 300 aktiven Kämpfern. Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist somit noch nicht eingetreten. Die Aktivitäten der tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, wurden auch 2007 fortgesetzt. Seit 1999 forderte der Konflikt erhebliche Opfer: 10.000 bis 20.000 getötete Zivilisten (Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial"), 5000 bis 7000 getötete und 18.000 verletzte Angehörige der Sicherheitskräfte (Zahlen des Verteidigungsministeriums, die teilweise widersprüchlich sind) (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 13.01.2008).

54

Die von Ramsan Kadyrow im Schatten der autoritären Herrschaft Putins in Tschetschenien aufgerichtete Präsidialdiktatur bricht vollständig mit jenen Prinzipien, nach denen die Tschetschenen als Volk bis zu Präsident Maschadow vor allem auf dem Lande gelebt haben und nach denen ihre Gesellschaft organisiert war. Es war dies eine vormoderne, patriarchalisch und zugleich demokratisch aufgebaute Ordnung von Sippen (tejp) und Sippenverbänden (tuchkum). In ihr spielten Statusfreiheiten und demokratische Mechanismen eine wichtige Rolle, weil die Tschetschenen – im Unterschied zu den Nachbarvölkern – niemals einen Grundadel mit feudaler Herrschaft und Leibeigenschaft hervorgebracht hatten. Die russisch-sowjetische Fremdherrschaft hat zwar tief in die traditionelle Ordnung der Tschetschenen eingegriffen, aber kraft ihrer starken kollektivistischen Elemente und Institutionen in Partei und Staat (Sowjets) der patriarchalischen tejp-Ordnung elastische Anpassungs- und dadurch wirksame Überlebensmöglichkeiten geboten (vgl. Prof. Dr. Luchterhandt an HessVGH vom 08.08.2007, a. a. O.). Die von dem gerade erst 30 Jahre alten Präsidenten Kadyrow mit Moskauer Hilfe und Garantie errichtete, mit wachsender Einseitigkeit ausgestaltete und rücksichtslos durchgesetzte diktatorische politische Ordnung in der Republik setzt sich über alle vom tschetschenischen Gewohnheitsrecht (adat) geheiligten Grundsätze hinweg: Anerkennung für den Vorrang und die Würde des Alters, demokratische Konsensstrukturen, Achtung der tejp-Ordnung. Zwar ist auch die Herrschaft Ramsan Kadyrows im Ansatz die eines Clans, da sie im Kern auf dem Tejp benoj beruht, der im Raum von Gudermes-Dorf Centoroj wurzelt, aber sie ist in sich wesentlich anders strukturiert. Insbesondere werden wichtige Repräsentanten und Akteure des Kadyrow-Clans sowie weiterer mit ihm verbündeter Gruppen von Motiven gesteuert, die den Bruch mit einer weiteren festen Institution des tschetschenischen adat bedeuten, nämlich der Blutrache. Die von Kadyrow befehligten Verbände sind im Kern aus Bündnissen von Personen hervorgegangen, die – da sie wegen krimineller Handlungen der Blutrache verfallen waren – sich zusammenfanden, um gemeinsam als sogenannte Krovniki stärker als die Rächer der geschädigten tejps zu sein, ja, mehr als das, jene mit den überlegenen russischen Sicherheitskräften im Rücken zu unterdrücken und zu erniedrigen, zu verfolgen und ggfs. auch zu vernichten. Der durch eine solche „Politik" der Machthaber bewirkte Zuzug zum tschetschenischen Untergrund von Seiten verbitterter, verzweifelter Menschen ist eine ihrer Folgen. Ein anderer Aspekt ist die Unberechenbarkeit des von kriminellen, zu allem fähigen Gewalttätern beherrschten Kadyrow-Regimes. Angefangen von Ramsan Kadyrow selbst, von dem bekannt ist, dass er – wie etwa Saddam Hussein – sich an den Qualen seiner Opfer in der „privaten" Gefängnisanlage seines Heimatdorfes und Machtzentrums Centoroj weidet und sich bisweilen selbst an Folterungen beteiligt, sind all zu viele Vertreter dieses Regimes von kriminellen Leidenschaften, von Allmachtsgefühlen und Mordlust, von Habgier und Hass gesteuert. Dem Kadyrow-Regime ist daher im Alltag ein starker Zug zu „privat" gesteuerten, daher unberechenbaren Gewaltaktionen und Ausbrüchen, kurz zur Irrationalität eigen. Nicht zuletzt dies erzeugt in weiten Teilen der Gesellschaft, vor allem bei Angehörigen der älteren und mittleren Generation, ein ausgeprägtes Gefühl der Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Davon betroffen sind keineswegs nur die Rückkehrer aus den Nachbarregionen, sondern im Prinzip alle Einwohner der Republik. Gleichwohl stellen sich für die Rückkehrer einige spezifische Sicherheitsfragen (vgl. zum Ganzen: Prof. Dr. Luchterhandt an HessVGH vom 08.08.2007, a. a. O.).

55

Vor diesem Hintergrund einer sowohl in autoritären als auch willkürlichen Machtstrukturen gefangenen Gesellschaft wird die Sicherheitslage insbesondere zurückkehrender Tschetschenen von sachkundigen bzw. sachverständigen Stellen nicht einheitlich bewertet:

56

Das Auswärtige Amt kommt in seiner Stellungnahme an den HessVGH vom 06.08.2007 in deutlicher Abweichung zu der noch in seinem Lagebericht vom 17.03.2007 geäußerten Einschätzung zu dem Ergebnis, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in der tschetschenischen Republik im Wesentlichen normalisiert und die Zahl illegaler Verhaftungen und Entführungen von Personen stark abgenommen habe. So genannte „Säuberungen" seien schon seit mehreren Monaten nicht mehr durchgeführt worden. Tschetschenische Volkszugehörige, die nach Abschluss der Kampfhandlungen in die tschetschenische Republik zurückgekehrt seien, lebten in der Regel ein normales Leben, wobei sich „normales Leben" nicht am deutschen Standard, sondern an dem Standard Tschetscheniens von noch vor einem Jahr orientiere. Anfeindungen von Seiten der tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte, aber auch von Nachbarn aus möglichen Neidmotiven, seien im Einzelfall nicht auszuschließen. Über Drangsalierungen durch tschetschenische Rebellen lägen keine Erkenntnisse vor. Die Rückkehr in ein normales Leben sei allerdings nur für Personen möglich, die nicht aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen hätten. Russische oder tschetschenische Sicherheitskräfte stellten derzeit keine Gefahrenquelle für die männlichen Jugendlichen dar, da sie unter Berücksichtigung des Alters, in dem sie die tschetschenische Republik verlassen hätten, nicht in dem Verdacht stünden, zu Kämpfern zu werden. Traditionell hätten sie zudem bei Verlust des Vaters eine wichtige Rolle innerhalb des Familienverbands zu übernehmen. Von möglichem Interesse sei allerdings diese Altersgruppe für die tschetschenischen Kämpfer, die durch agitatorische Arbeit unter Jugendlichen versuchten, ihnen ihre ideologischen Wertvorstellungen zu vermitteln und sie auf ihre Seite zu ziehen. Tschetschenen würden seit 2001 auf freiwilliger Basis in die russische Armee aufgenommen, aber bislang nur in geringer Zahl und in Spezialfunktionen in Tschetschenien eingesetzt. Soweit es gleichwohl zu Übergriffen komme, könnten diese in Erpressung von Geld, Drohungen, im Einzelfall aber auch in Entführung oder Folter bestehen. Eine geschlechtsspezifische Unterscheidung der Übergriffsmethoden und Intensität lasse sich nicht feststellen. Im Übrigen gebe es in der tschetschenischen Republik kaum allein stehende Frauen, da sie auch als Witwen in der Familie der Verwandten lebten. Personen, die Opfer von Übergriffen von russischen oder tschetschenischen Sicherheitskräften geworden seien, könnten sich an die zuständigen Rechtsschutzorgane und Gerichte wenden, jedoch seien die Erfolgsaussichten immer noch gering.

57

Amnesty international (vgl. Auskunft an den HessVGH vom 27.04.2007) ist der Auffassung, von einer Normalisierung der Situation in Tschetschenien könne nach wie vor keine Rede sein, es komme im geringen Umfang weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften auf der einen und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite. Diese Zusammenstöße fänden vorwiegend nur noch in den südlichen Regionen der Republik statt, aber durchaus auch ab und an in anderen Teilen Tschetscheniens und sogar in der Hauptstadt Grosny. Regelmäßige Luftangriffe und Artilleriebeschuss durch die föderalen russischen Kräfte, von denen frühere Phasen des zweiten Tschetschenienkonflikts geprägt waren, fänden in dem damaligen Ausmaß nicht mehr statt. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergingen, dauerten jedoch fort. Für Tschetschenen, die während des zweiten Tschetschenienkrieges ihre Heimatregion verlassen haben und jetzt nach Tschetschenien zurückkehren, könne sich die Sicherheitslage vielfach noch schlechter darstellen als für diejenigen, die in den letzten Jahren in Tschetschenien verblieben seien. Die Sicherheitslage insbesondere junger männlicher Tschetschenen sei sehr schlecht, da diese generell verdächtigt würden, mit den Widerstandskämpfern unter einer Decke zu stecken. Rückkehrer seien danach mehr bedroht, unrechtmäßig festgenommen, gefoltert und misshandelt zu werden oder „zu verschwinden".

58

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist ebenfalls der Ansicht, dass Rückkehrern eine erhöhte Gefahr drohe. Sie würden oft Opfer von Erpressungen. Von offiziellen tschetschenischen Stellen würden sie beschuldigt, bei den Rebellen gewesen zu sein, wobei ihnen angeboten werde, diese Beschuldigungen gegen auch wiederholte oder regelmäßige Geldzahlungen fallen zu lassen (vgl. Auskunft der Heinrich-Böll-Stiftung an HessVGH vom 20.04.2007).

59

Gleich lautend kommt Frau Svetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Memorial", in ihrer Auskunft an den HessVGH vom 17.05.2007 zu dem Ergebnis, dass Rückkehrer nach Tschetschenien besonders gefährdet seien, da man sie verdächtige, bei den Aufständischen gewesen zu sein. Außerdem würden sie Opfer von Erpressungsversuchen, da man davon ausgehe, dass sie über Geld verfügten. Jeder, der nach Tschetschenien reise, begebe sich in Lebensgefahr, wobei rückkehrgefährdet insbesondere junge Männer seien, die man verdächtige, sich bewaffneten Banden angeschlossen zu haben. Wer auch nur zur Passbeantragung nach Tschetschenien zurückkehre, könne sich den Terrorismusvorwurf einhandeln. Wer altersbedingt noch keinen Pass habe oder wer seinen sowjetischen Pass verloren habe, könne auf keinen Fall nach Tschetschenien reisen. Bei jedem Versuch, einen der Checkpoints zu passieren, werde er unweigerlich festgenommen. In der tschetschenischen Republik gebe es nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit, Menschen würden auch weiterhin unter fabrizierten Vorwürfen angeklagt und verurteilt, Folter sei ein übliches Mittel, um Geständnisse und Beschuldigungen zu erzwingen.

60

Dies einschränkend wird im Bericht von „Memorial" von Oktober 2007 (Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007) allerdings beschrieben, dass sich in dem Berichtszeitraum von August 2006 bis Oktober 2007 für die Menschen der Republik bedeutsame Veränderungen ergeben hätten. So hätten die Entführungen und Morde bis Ende 2006 schrittweise abgenommen, seit Januar 2007 sogar stark. Dabei vermute man, dass Ramsan Kadyrow den Chefs der ihm unterstehenden Strukturen klar gesagt habe, dass Entführungen nicht mehr geduldet würden. Besorgnis erregend bleibe jedoch, dass Strafprozesse mit fabrizierten Anschuldigungen geführt würden, wobei zentraler Bestandteil der Beweislage Geständnisse seien, wie sie aus der Stalinzeit als „Königin der Beweise" bekannt seien. Allerdings bleibt „Memorial" bei seiner Einschätzung, dass besonders gefährdet Rückkehrer aus dem Ausland seien, da man bei ihnen viel Geld vermute.

61

Nach der Auskunft des UNHCR an den Hess. VGH vom 08.10.07 hat sich die Sicherheitslage in Tschetschenien graduell verbessert, unrechtmäßige Handlungen und Gewaltakte stellten jedoch weiterhin eine Bedrohung für die ortsansässige Bevölkerung dar. Von lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen würden insbesondere die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen und das Versagen der Behörden bei der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beklagt, außerdem die Anwendung von Folter und unrechtmäßiger Inhaftierung sowie die Nichtbeachtung des Prinzips der Rechtmäßigkeit durch die Exekutivorgane sowie die fehlende Unabhängigkeit der Rechtsprechungsorgane. Entführungen und das „Verschwindenlassen" von Personen seien weiterhin zu verzeichnen, auch wenn solche Ereignisse im Vergleich zu den früheren Jahren stark abgenommen hätten. Nach den von „Memorial“ gesammelten Daten seien im Jahr 2006 195 Personen in Tschetschenien entführt worden, 98 von ihnen seien nach Zahlung eines Lösegeldes freigelassen, 15 Personen getötet worden. 15 Fälle würden derzeit noch untersucht, während der Verbleib von 69 Personen weiterhin ungeklärt sei. Für die ersten 7 Monate des Jahres 2007 sei über die Entführung von 24 Personen berichtet worden, 15 Personen seien freigelassen oder freigekauft worden und eine Person sei tot aufgefunden worden. 6 Fälle würden derzeit noch untersucht, während der Verbleib von 2 Personen weiterhin ungeklärt sei. Die Zahlen, die von den Behörden für die genannten Zeiträume angegeben worden seien, seien wesentlich geringer. Für Rückkehrer lägen dem UNHCR keine umfassenden Untersuchungen vor, es lägen allerdings Berichte vor, wonach der föderale Sicherheitsgeheimdienst (FSB) Rückkehrer aus dem Ausland unter Beobachtung stelle und diese zu Befragungen einbestelle. Es sei bekannt, dass Rückkehrer aus Georgien zu den FSB-Büros gebracht und dort befragt würden. Es lägen jedoch keine Berichte darüber vor, dass Rückkehrer neben der Befragung zusätzlichen Problemen ausgesetzt seien. Vielmehr scheine es so, dass die Probleme, denen Rückkehrer möglicherweise ausgesetzt seien, eher davon abhingen, ob sie eine „saubere" Akte hätten als von der Tatsache, dass sie für einige Jahre in einem GUS-Staat gelebt hätten. Junge männliche Rückkehrer, die dem Rekrutierungsalter nahe seien, könnten allerdings von den Behörden als potenzielle Gefahr für die Regierung angesehen werden, wenn sie Rebellenkämpfer unter ihren Familienangehörigen (im weiten Sinne) hätten bzw. gehabt hätten. Allein stehende Frauen ohne männlichen Schutz oder Schutz durch ihre Familie seien potenziell stärker gefährdet, geschlechtsspezifischer Gewalt durch die Gemeinschaft oder im häuslichen Bereich ausgesetzt zu sein. Dies gelte besonders für nichttschetschenische Frauen, da Tschetscheninnen möglicherweise bis zu einem gewissen Grad von ihrer „Großfamilie" Schutz erhielten, auch wenn sie keine direkten männlichen Familienangehörigen (mehr) haben. Als besonders rückkehrgefährdet seien (frühere) Mitglieder illegaler, bewaffneter Formationen und deren Angehörige einzuschätzen sowie Personen, die offizielle (auch sehr niedrige) Positionen im Regime Maschadow inne gehabt hätten, Personen, die offensichtlich von den Positionen der gegenwärtigen Regierung abweichende politische Ansichten hätten sowie Personen, die möglicherweise für ihre vor der Flucht erfolgte, nichtmilitärische Unterstützung der Rebellentruppen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten.

62

Prof. Dr. Luchterhandt kommt in seiner Stellungnahme an den HessVGH vom 08.08.2007 zu dem Ergebnis, dass die heutige Lage im Vergleich zu den Verhältnissen, die bis etwa 2005 auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, also zunächst nach 1999 unter der direkten Herrschaft der föderalen Sicherheits- bzw. Streitkräfte, dann ab etwa 2004 unter dem immer mächtiger hervortretenden Ramsan Kadyrow in Tschetschenien geherrscht haben, wenige Monate nach der Erhebung Ramsan Kadyrows zum Präsidenten der Republik (02.03.2007) – bei allen Vorbehalten – eine deutlich andere, d. h. bessere sei. Nach übereinstimmender Einschätzung aller Beobachter Tschetscheniens unter Einschluss auch der Menschenrechtsorganisationen seien die Fälle von Mord, Folterungen, Misshandlungen, Menschenraub und Freiheitsberaubung signifikant zurückgegangen. Halte dieser Zustand an, werde man bald von einer auch qualitativ neuen Lage der inneren Verhältnisse Tschetscheniens sprechen können.

63

Auch jüngere Presseberichte deuten darauf hin, dass sich die Lage für Tschetschenen in Tschetschenien erkennbar verbessert hat.

64

In einem Artikel von „Spiegel Online“ vom 01.03.2008 („Geld gewinnt die Schlacht um Grosny“) heißt es, acht Jahre nach dem russischen Einmarsch komme der Wiederaufbau voran. In Grosny, der von zwei Kriegen zerstörten Hauptstadt Tschetscheniens, kündeten nur noch Überreste zerschossener Gebäude von den Schrecken der Vergangenheit. Grosny wachse. Die staatliche tschetschenische Universität zähle heute wieder 16.000 Studenten. Ihre Dozenten bereiteten sie auf rund 70 verschiedene Berufe vor. Acht Jahre nach Kriegsbeginn scheine Russland heute im einst so aufsässigen Tschetschenien einen späten Sieg davon getragen zu haben. Nur noch versprengte Guerilla-Trupps widersetzten sich Moskaus Statthalter in der Kaukasusrepublik, Präsident Ramsan Kadyrow. Ihre Zahl werde auf wenige Hundert geschätzt. Kadyrow, auf Russlands Seite gewechselter ehemaliger Rebell, habe sie erfolgreich dezimiert. Viele der ehemaligen Kämpfer dienten heute in seiner Privatarmee. Wen der 31-Jährige nicht auf seine Seite ziehen könne, den machten seine Schwadronen nieder. Die verbliebenen Widerständler hätten sich inzwischen in verfeindete Islamisten und Nationalisten gespalten. Die verbesserte Sicherheitslage lasse die Menschen in Grosny aufatmen. Der Wiederaufbau gelinge in Rekordzeit. Es sei ein merkwürdiger Aufbruch in Tschetschenien, gespeist von Erschöpfung. Den Wiederaufbau trieben enorme Zuwendungen aus Moskau. Die neue „Stabilität“ fuße auf der Kriegmüdigkeit der Menschen – und auf Angst. Wenige wagten heute noch, in aller Öffentlichkeit Präsident Ramsan Kadyrow zu kritisieren. Der Frieden im Kaukasus habe seinen Preis. Moskaus Establishment umarme Kadyrow, weil dessen eiserne Faust endlich für ein Mindestmaß an Ruhe sorge. Dafür sei Russland auch bereit, weitgehende Zugeständnisse zu machen. Sicherheitskräfte der russischen Zentralmacht rückten kaum mehr aus ihren Kasernen in Grosny aus. Stück für Stück sicherten sich Kadyrows ergebene Einheiten immer größeren Einfluss.

65

In einem Artikel in „tagesschau.de“ vom 28.02.2008 („Wir sind alle kriegsmüde“) heißt es, Tschetschenien scheine heute, auch wenn der zweite Tschetschenienkrieg den Widerstand der Separatisten nicht gebrochen habe, befriedet. Doch der Preis dafür sei hoch gewesen. Die meisten Menschen wollten einfach Frieden, keiner mehr „in die Berge“. Der Prospekt Pobjeda (zu deutsch: “Sieg“) sei wieder eine breite Einkaufsstraße mit Läden, Cafés und der größten Moschee Europas, die noch in Bau sei. Überall werde in Grosny gebaut. Tschetschenische Milizen bewachten den Wiederaufbau, unübersehbar stünden sie schwer bewaffnet auf Straßen und Plätzen. Auf fast allen Baustellen des Landes arbeiteten Bauarbeiter aus der Türkei, aus Dagestan oder aus anderen Republiken; die Tschetschenen seien noch unausgebildet. Ruinen oder Einschusslöcher seien nur noch selten zu sehen, mehr am Stadtrand, wo auch noch Warnschilder auf Minenfelder hinwiesen. Doch der Alltag sei friedlich, meine die Journalistin Sura, die weiter geäußert habe, sie lebten schon viel besser, die Kindergärten, die Schulen, die Universität arbeiten, wenn auch das Niveau der Ausbildung noch nicht sehr hoch sei. Freie Meinungsäußerung und freie Wahlen seien allerdings tabu. Präsident Kadyrow sei allgegenwärtig, jede zentrale Hauswand trage sein Porträt oder das seines Vaters. Auch in den Köpfen sei Kadyrow angekommen.

66

Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen e. V.“ stellt in ihrem Bericht aus dem Jahr 2007 fest, dass Zehntausende Vertriebene, die in die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan geflohen waren, nach Tschetschenien zurückgekehrt seien. Große Anstrengungen würden unternommen, um den Wiederaufbau der vor weniger als einem Jahrzehnt von schweren Bombardements zerstörten Hauptstadt Grosny voranzubringen. Dennoch müsse die Kaukasusregion weiterhin als ein Pulverfass bezeichnet werden. Außerhalb Tschetscheniens seien die Kämpfe wieder aufgeflackert, und die gesamte Region sei nach wie vor von hoher Militärpräsenz geprägt. Entführungen, Morde, das Verschwinden von Personen und Bombenanschläge seien vor allem in Inguschetien, Nordossetien und Dagestan auf der Tagesordnung. Auch im Inneren Tschetscheniens sei die Lage für die Zivilbevölkerung noch immer angespannt. Ebenso leicht könne man in einen sporadischen Schusswechsel geraten wie in einen Autounfall mit schweren Militärfahrzeugen verwickelt werden.

67

Die Organisation „Cap Anamur“ (Boris Dieckow) berichtet unter Datum vom 18.02.2008, wer jetzt nach Grosny fahre, werde auf den ersten Blick Schwierigkeiten haben, Indizien dafür zu finden, dass hier ein Krieg stattgefunden habe. Vor allem in den letzten zwei Jahren habe in Grosny und in ganz Tschetschenien ein massiver Wiederaufbau stattgefunden. Die hinlänglich bekannten Bilder des zerstörten Zentrums von Grosny seien Geschichte. Das „System Kadyrow" funktioniere. 60.000 russische Soldaten seien in den Kasernen, aber im Alltagsbild nicht mehr sichtbar. Kadyrow sichere den Menschen in Tschetschenien eine Stabilität, die sie seit 15 Jahren nicht hatten. Wer die Extreme einer Diktatur nicht erfahre, richte sich ein.

68

Die Gesellschaft für bedrohte Völker betont in ihrer Stellungnahme an den HessVGH vom 18.06.2007, bei den jüngst veröffentlichten Statistiken, nach denen sich in den Städten die Lage verbessert habe und die Zahl der Gewaltverbrechen zurückgegangen sein solle, sei zu berücksichtigen, dass sich viele Menschen aus Angst vor Repressalien davor fürchteten, eine Anzeige über Gewaltverbrechen durch die tschetschenischen Sicherheitskräfte zu erstatten.

69

Auch Prof. Dr. Luchterhandt weist in seiner Auskunft an den HessVGH vom 08.08.2007 darauf hin, dass vor allem zwei Faktoren, welche die Einschätzung der Sicherheitslage wesentlich erschwerten, zu benennen seien, nämlich erstens die tief sitzende Furcht und Angst einer durch die beiden Tschetschenienkriege traumatisierten Bevölkerung und zweitens die Diskrepanz zwischen öffentlich – durchaus von verschiedenen Seiten, staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen – verbreiteten Zahlen über schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen und deren Opfer.

70

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Klaus Amman) führt in ihrem Bericht vom Januar 2007 (S. 6) aus, während insbesondere in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny wieder gebaut werde, verschwänden nach wie vor Menschen. Es werde immer noch gemordet und gefoltert. Als Täter verdächtigten Menschenrechtsaktivist(inn)en immer häufiger Kadyrowzy. Deutlich verschlechtert habe sich die Sicherheitslage in den schwer zugänglichen Bergregionen. Dorthin habe sich in den letzten Monaten und Jahren die Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und Widerstandskämpfern verlagert. Die lokale Bevölkerung werde verdächtigt, Widerstandskämpfer zu unterstützen, und leide deshalb besonders unter den Übergriffen durch die Sicherheitskräfte. Um die Menschenrechte stehe es in Tschetschenien ähnlich wie um die Bausubstanz seiner Häuser: Vordergründig verbessere sich die Lage, die Menschenrechtsorganisationen meldeten einen deutlichen Rückgang der Gewaltverbrechen in Tschetschenien:

71

Laut Memorial sei die Zahl der Morde und Verschleppungen zwischen Herbst 2005 und Herbst 2006 um ein Drittel auf 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen zurückgegangen. Im Jahr zuvor seien es noch 310 Morde und 418 Verschleppungen gewesen. Allerdings sei anzumerken, dass das Memorial-Monitoring nur ein Drittel des tschetschenischen Territoriums umfasse und dass Daten insbesondere über die Bergregionen, in denen die Gewalt zugenommen habe, in der jüngsten Statistik fehlten. Außerdem gäben Menschenrechtsaktivist(inn)en zu bedenken, dass unter Kadyrows Regime viele Menschenrechtsverletzungen aus Angst vor Repressalien erst gar nicht mehr angezeigt würden. Gewisse Verbesserungen seien auch bezüglich der humanitären und soziökonomischen Lage in Tschetschenien unübersehbar. So nehme die Zahl der Geschäfte und Cafés in den Städten stetig zu. Straßen und Gebäude würden renoviert. Ministerpräsident Kadyrow übergebe Familien vor laufenden Kameras die Schlüssel zur frisch erstellten Wohnung. Allerdings seien diese Fortschritte nicht nur auf die massiven Gelder zurückzuführen, die Moskau jährlich überweise und von denen nach wie vor große Summen veruntreut würden. Der Wiederaufbau werde gemäß Angaben von MenschenrechtsaktivistInnen dadurch finanziert, dass Kadyrow von allen Bediensteten eine „freiwillige“ Spende abpresse. Diese Gelder flössen in den so genannten „Kadyrow-Fonds“, aus dem wiederum der Aufbau von Schulen, Sportstätten und anderen öffentlichen Einrichtungen finanziert werde.

72

Sowohl amnesty international (Auskunft an den HessVGH vom 27.04.07) als auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (Auskunft an des HessVGH vom 18.06.07) gehen in Übereinstimmung mit Memorial davon aus, dass die Sicherheitslage insbesondere junger männlicher Tschetschenen sehr schlecht ist, da diese generell verdächtigt würden, mit den Widerstandskämpfern unter einer Decke zu stecken. Rückkehrer seien danach mehr bedroht, unrechtmäßig festgenommen, gefoltert und misshandelt zu werden oder „zu verschwinden".

73

Laut Auskunft des UNHCR an den HessVGH vom 08.10.2007 gibt es keine Hinweise darauf, dass zurückkehrende Personen bei ihrer Rückkehr allein auf Grund der Tatsache verfolgt werden, dass sie im Ausland gelebt haben, oder deshalb, weil sie einer ethnischen Minderheit angehörten. Maßgeblich für eine Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr sei insbesondere die tatsächliche oder unterstellte – frühere – Mitwirkung bzw. Einbindung bei den Rebellengruppen oder im Regime Maschadow. In diesem Zusammenhang verweist UNHCR auch auf die bereits oben benannten besonders gefährdeten Rückkehrergruppen.

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Nach der Auskunft von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007 ist die Gefahr, Opfer von russischen Sicherheitseinheiten, sei es von Soldaten oder russischen Milizverbänden mit Sonderaufgaben des föderalen Innenministeriums zu werden, für die Bevölkerung zwar weiterhin vorhanden, aber aus den genannten Gründen – Tschetschenisierung des Tschetschenenkonflikts und quantitativ begrenzte Einsätze – nur noch als gering einzustufen. Anders verhalte es sich jedoch mit den föderalen Verbänden tschetschenischer Sicherheitskräfte, also mit den Kadyrovcy, Jamadaevcy, Kakivci, wobei die beiden zuletzt genannten nicht der Kommandogewalt von Ramsan Kadyrow unterstünden. Hier sei die Gefahr, Opfer schwerer Angriffe auf Freiheit, Leben und Leib zu werden, noch immer als relativ hoch einzuschätzen, obgleich sie im Vergleich zu früheren Jahren deutlich geringer geworden sei. Dabei lägen keine Angaben über Fälle vor, welche Rückschlüsse auf eine höhere Gefährdung oder gar Sonderbehandlung von Rückkehrern zuließen. So habe im Oktober 2006 der Leiter des tschetschenischen Memorialbüros unter Berufung auf Anna Politkovskaja festgestellt, dass 85 % der Entführungen in Tschetschenien auf das Konto der Ramsan Kadyrow unterstehenden Verbände gingen. Dieser Prozentsatz könne auf die Verantwortlichkeit für menschenrechtswidrige Repressionsmaßnahmen der Sicherheitskräfte im Allgemeinen ausgedehnt werden. Abstrakt betrachtet sei es nicht nur wahrscheinlich, sondern selbstverständlich, dass bekannte oder gar prominente Funktionäre oder Parteigänger Präsident Maschadows und der „tschetschenischen Republik Ickerija" im Falle ihrer Rückkehr aus der Diaspora nach Russland und speziell nach Tschetschenien nicht – nur – routinemäßig behandelt, sondern angefangen bei den Einreiseformalitäten von dem in solchen Fällen zuständigkeitshalber eingeschalteten FSB, also dem Inlandsgeheimdienst, einer sorgfältigen Überprüfung und Kontrolle unterzogen würden. Gewöhnliche Tschetschenen, die auf dem Höhepunkt der „antiterroristischen Operation" (2000) Tschetschenien verlassen hätten, um irgendwo ungefährdet in Ruhe leben zu können, dürften wahrscheinlich bei ihrer Rückkehr keiner größeren Gefährdung ausgesetzt sein als andere Tschetschenen auch. Dabei bleibe festzuhalten, dass die einen wie die anderen Sicherheitskräfte menschenverachtend, wahl- und rücksichtslos bei den „antiterroristischen" Aktionen (auch) gegen die Zivilbevölkerung vorgingen und „Kollateralschäden" bedenkenlos in Kauf nähmen. Bombardements und Beschießungen von Gebäudegruppen, von Siedlungen sowie ganzer Dörfer sowie großräumige „Säuberungen" bis in die jüngste Zeit sprächen, wenngleich sie deutlich seltener geworden seien, eine beredte Sprache. Allerdings sei die Gefährdung durch föderale – russische und tschetschenische – Sicherheitskräfte beeinträchtigt zu werden, 2007 gegenüber 2006 und 2005 noch einmal messbar geringer geworden. Darauf, dass sich dieser Trend bald umkehren könnte, deute gegenwärtig nichts hin.

75

Betroffene Personen haben zwar theoretisch die Möglichkeit, sich im Fall von Übergriffen erfolgreich durch Inanspruchnahme staatlicher Stellen zur Wehr zu setzen, indem sie sich an die zuständigen Rechtsschutzorgane und Gerichte wenden (Auskunft des Auswärtigen Amts an den HessVGH vom 06.08.2007). Viele lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen äußern jedoch weiterhin erhebliche Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtssituation in der tschetschenischen Republik; deren Berichte heben besonders die Sorge über die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen und das Versagen der Behörden bei der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, über die Anwendung von Folter und unrechtmäßiger Inhaftierung sowie über die Nichtbeachtung des Prinzips der Rechtmäßigkeit durch die Exekutivorgane und die fehlende Unabhängigkeit der Rechtsprechungsorgane und die übermäßige Macht der Exekutive hervor (Auskunft des UNHCR an den HessVGH vom 08.10.2007). Gegenüber dem schon von vornherein geschwächten Rechtsschutz des Bürgers gegenüber Sicherheitsorganen in Russland erfährt die Lage in Tschetschenien dabei in mehrfacher Hinsicht noch eine weitere Schwächung, und zwar zunächst dadurch, dass in der Republik de facto ein Sonder- bzw. Notstandsregime gilt bzw. angewendet wird, das von den Grund- und Menschenrechten der föderalen Verfassung nicht einmal mehr ein Schatten übrig lässt (Gutachten von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007). Die staatliche Praxis wird dadurch bestimmt, dass Präsident Kadyrow nicht nur die republikanische Exekutive, sondern über seine kadyrovcy auch die beiden Kammern des Parlaments und die in der Republik judizierenden Gerichte beherrscht. In aller Regel werden Ermittlungsverfahren nach einiger Zeit mit der stereotypen Formel eingestellt, man habe die Täter nicht feststellen können, und das selbst dann, wenn die Beweislage noch so klar und erdrückend ist. Immer breiter ist infolgedessen in den letzten Jahren der Strom der Beschwerden zum EGMR geworden, wobei die Beschwerdeführer unisono die völlige Unwirksamkeit des Rechtsschutzverfahrens in Tschetschenien und höheren Orts in Moskau feststellen und beklagen. Die ausbleibende Bestrafung der Übeltäter ist deshalb auch zum geflügelten Wort, zur kürzesten Formel für die Beschreibung der in Tschetschenien auf dem Gebiet von Justiz und Rechtsschutz herrschenden Verhältnisse geworden (Gutachten von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007.

76

Unter Würdigung dieser Erkenntnismittel ist der Senat in seinem Urteil vom 31.07.2008 (2 L 23/06 –, Juris) zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der anzustellenden Gefährdungsprognose im Rahmen der Rückausschlussklausel des Art. 4 Abs. 4 a. E. QRL entscheidend ist, ob der Rückkehrer zu einer der besonders gefährdeten Personengruppen gehört, wobei hierzu insbesondere Personen zählen, die selbst oder in ihrem familiären Umfeld von Seiten der tschetschenischen Sicherheitskräfte mit ehemaligen oder derzeitigen Mitgliedern der Rebellenorganisation in Zusammenhang gebracht werden. Bestehen hierfür Anhaltspunkte, bleibt es bei dem „ernsthaften Hinweis" des Art. 4 Abs. 4 QRL und der darin enthaltenen Vermutungsregel, da dieser Personenkreis mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen, die bis hin zu Folterungen und Verschwindenlassen führen können, bei Rückkehr zu rechnen hat und daher keine stichhaltigen Gründe dagegen sprechen, dass er nicht erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht ist (HessVGH, Urt. v. 21.02.2008, a. a. O.). Auch der BayVGH (vgl. Urt. v. 24.10.2007, a. a. O.) geht davon aus, dass von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen solche Personen betroffen sind, die einer bestimmten Risikogruppe angehören, so insbesondere Personen, die selbst der Kooperation mit den Separatisten verdächtig sind.

77

Hiernach ist zu befürchten, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien flüchtlingsrelevanten Gefährdungen ausgesetzt sein wird. Er gehört als jemand, der mit Hilfe tschetschenischer Rebellen die Entführung eines russischen Offiziers und die Freilassung seines Bruders erzwungen hat, dieser Risikogruppe an.

78

Dem Kläger steht auch im übrigen Gebiet der russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß Art. 8 Abs. 1 QRL können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Es spricht indes eine mehr als nur entfernte Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger auf Grund seiner Beteiligung an der „Befreiungsaktion“ seines Bruders und der deshalb bestehenden landesweiten Fahndung auch in anderen Gebieten seines Heimatstaates als Tschetschenien Maßnahmen der Staatsgewalt ausgesetzt sein wird, die als Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG und Art. 9 f. QRL zu werten sind. Generell auf die Russische Föderation bezogen wird von dem Menschenrechtsbeauftragten Lukin moniert, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden kommt. Besonders kritisch sieht der Menschenrechtsbeauftragte die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der so genannten „operativen Ermittlungstätigkeit" (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008 [S. 23] und vom 22.11.2008 [S. 21]). Bei Hinzutreten eines unterstellten oder vermuteten Terrorismusverdachts besteht die Gefahr erneuter Folter und menschenrechtswidriger Übergriffe (vgl. HessVGH, Urt. v. 24.04.2008, a. a. O.).

79

An dieser Würdigung ist festzuhalten. Es liegen auch insoweit keine neuen Erkenntnisse vor, die diese Würdigung in Frage stellen.

80

Im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.03.2011 heißt es vielmehr zur Lage in Tschetschenien (Abschnitt 3.1, S. 21 ff.) u. a.:

81

„In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramsan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert…Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 bis 2010 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wird von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (im gesamten Nordkaukasus soll es nach nicht verifizierbaren Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben)…Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für 2009 in Tschetschenien 93 Entführungsfälle gegenüber 42 im Vorjahr registriert. Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial – auch außerhalb Tschetscheniens – regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

82

Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung. Hierein fügen sich auch die Angriffe u. a. mit Farbpistolen auf tschetschenische Mädchen und Frauen im Herbst 2010, welche nach Meinung der Machthaber in der Öffentlichkeit nicht züchtig gekleidet erschienen. Kadyrow selbst hatte die Übergriffe öffentlich begrüßt.

83

Am 22. Juni 2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13. Dezember 1999 und dem 23. September 2006 im Nordkaukasus begangen wurden. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen („Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen“, sofern sie bis zum 15. Januar 2007 die Waffen niederlegten) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u. a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben.

84

Im Bericht des Menschenrechtszentrums „Memorial“ von 2011 (S. 7) heißt es, es sei darauf hinzuweisen, dass in Tschetschenien alle gefährdet seien, die nach einer langen Abwesenheit nach Tschetschenien zurückkehrten. Es werden zwei Referenzfälle angeführt, in denen die Rückkehrer verdächtigt bzw. beschuldigt wurden, die Aufständischen zu unterstützen. In einem der Fälle sei auch gefoltert worden.

85

c) Es ist schließlich weiterhin davon auszugehen, dass dem Kläger keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation offen steht.

86

Zwar hat das Auswärtige Amt in seiner Auskunft an den Senat vom 21.04.2011 mitgeteilt, dass laut Auskunft von Interpol Moskau nach dem Kläger in der Russischen Föderation nicht gefahndet werde. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Personen, welche nicht zur Fahndung ausgeschrieben seien, im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Teile der Russischen Föderation staatliche Maßnahmen drohen würden. Allerdings hat das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 07.03.2001 zur Behandlung von Rückkehrern ausgeführt (S. 35 ff.), solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst sei, sei davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Sollte den russischen Behörden bekannt werden, dass der Kläger die von ihm im Asylverfahren geschilderten Straftaten begangen hat, droht ihm auch landesweite Verfolgung. Amnesty international hält in seiner Stellungnahme an den Senat vom 27.02.2012 eine Verhaftung für möglich und führt ergänzend aus, dass in diesem Fall die Gefahr der Folterung oder Misshandlung zur Erlangung eines Geständnisses sowie ein unfaires Verfahren mit einer unverhältnismäßig hohen Haftstrafe drohten.

87

1.2. Die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG und eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet jedoch gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, Satz 2 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG aus. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist ein Ausländer u. a. dann nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er (1.) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, (2.) vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden. Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG gilt Satz 1 auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

88

1.2.1. Der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG liegt in der Person des Klägers vor.

89

Die Frage, ob Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG vorliegen, bestimmt sich gegenwärtig in erster Linie nach den im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.07.1998 (BGBl 2000 II S. 1394, [IStGH-Statut]) ausgeformten Tatbeständen dieser Delikte. In Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut werden Kriegsverbrechen differenzierend zwischen Taten in internationalen (Buchst. a und b) und innerstaatlichen (Buchst. c bis f) bewaffneten Konflikten definiert. Für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt knüpft Buchst. c an schwere Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte vom 12.08.1949 an. Er stellt u. a. Angriffe auf Leib und Leben sowie die Geiselnahme von Personen unter Strafe, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache außer Gefecht befindlich sind. Die Vorschrift wertet danach auch Handlungen als Kriegsverbrechen, die gegen Soldaten gerichtet sind. Buchst. e erfasst andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze und Gebräuche im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. So erstreckt sich Buchst. e Nr. IX - XI auf den Schutz gegnerischer Kombattanten im Falle meuchlerischer Tötung oder Verwundung, der Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird sowie der körperlichen Verstümmelung von Personen, die sich in der Gewalt einer anderen Konfliktpartei befinden (vgl. zum Ganzen das Revisionsurteil des BVerwG vom 16.02.2010 – 10 C 7.09 –, BVerwGE 136, 89 [97], RdNr. 26 ff.).

90

a) Bei dem Zweiten Tschetschenienkrieg, in dessen Verlauf der Kläger die von ihm geschilderten Taten beging, handelte es sich um einen innerstaatlichen Konflikt.

91

aa) Art. 8 Abs. 2 Buchst. d und f IStGH-Statut grenzen innerstaatliche bewaffnete Konflikte ab gegenüber Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder anderen ähnlichen Handlungen. Buchst. f setzt zudem voraus, dass zwischen staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht. Diese Regelungen markieren die untere völkerrechtliche Relevanzschwelle für einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Verlangt wird ein gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts, um den Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates zu rechtfertigen (BVerwG, Urt. v. 24.11.2009, a.a.O., S. 265, RdNr. 33).

92

bb) Nach diesem Maßstab ist der Zweite Tschetschenienkrieg als innerstaatlicher Konflikt einzuordnen. Diese Bewertung ergibt sich vor folgenden Hintergründen, die im Internet-Lexikon wikipedia wie folgt dargestellt sind:

93

1921/1922 wurde Tschetschenien Teil der Sowjetunion. Am 01.11.1991 erklärte der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew einseitig die Unabhängigkeit seines Landes und lehnte auch einen Föderationsvertrag mit Russland ab. Es begann eine „Tschetschenisierung“ sämtlicher Lebensbereiche, die die massenhafte Flucht der russischsprachigen Bevölkerungsteile nach sich zog. Die russische Regierung in Moskau unterstützte in der Folge zunächst die politischen Gegner Dudajews und verstärkte ihre Truppen an den Grenzen zu Tschetschenien. Bis zum Jahr 1994 kam es zu einem Massenexodus der nicht-tschetschenischen Bevölkerung aus der Republik (ca. 200.000 bis 300.000 Menschen).

94

Am 29.11.1994 beschloss der Sicherheitsrat der Russischen Föderation unter seinem Ersten Sekretär Oleg Lobow ohne Konsultation der übrigen Institutionen den Angriff auf Tschetschenien. Am 11.12.1994 erteilte der russische Präsident Boris Jelzin schließlich den Befehl zur militärischen Intervention (Erster Tschetschenienkrieg). Der tschetschenische Rebellenchef Dudajew wurde am Abend des 21.04.1996 in der Nähe des Dorfes Gechi-Tschu getötet. Offiziellen Stellungnahmen zufolge wurde er während eines Telefonats durch einen gezielten Angriff mit einer Rakete tödlich verletzt. Allerdings gab es auch Spekulationen darüber, dass Dudajew innertschetschenischen Machtkämpfen zum Opfer gefallen sei oder gar überlebt habe. Vor den russischen Präsidentschaftswahlen am 16.06.1996 einigte man sich auf ein Waffenstillstandsabkommen, das aber zunächst von beiden Seiten nicht eingehalten wurde. Im August 1996 handelte dann der russische General Alexander Lebed mit dem Chef der tschetschenischen Übergangsregierung Aslan Maschadow ein neues Waffenstillstandsabkommen aus, das auch den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien beinhaltete (Abkommen von Chassawjurt). Maschadow hatte im August 1996 die von der russischen Armee kontrollierte Stadt Grosny mit etwa 5.000 tschetschenischen Separatisten zurückerobert. Der Krieg hatte damit für die russische Seite eine überraschende und niederschmetternde Wende genommen. Anfang Januar 1997 war der Abzug der russischen Truppen abgeschlossen. Ende Januar fanden in Tschetschenien Parlaments- und Präsidentenwahlen statt, aus denen Maschadow als Staatschef hervorging; am 12.05.1997 unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen formellen Friedensvertrag. Der umstrittene politische Status Tschetscheniens wurde allerdings in diesem Vertrag nicht geklärt, sondern auf den 31.12.2001 verschoben.

95

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Chassawjurt 1996 wurde Tschetschenien de facto, allerdings nicht de jure, eine unabhängige Republik. Die Macht rissen jedoch bald die intensiv aus dem Ausland unterstützten islamistischen Gruppierungen an sich. Der 1997 noch demokratisch gewählte Präsident Aslan Maschadow musste schon bald einwilligen, die Scharia einzuführen, und seine Macht mit den Kriegsherren und ihren wahabitischen Mentoren aus dem arabischen Raum teilen. Dem Aufbau der staatlichen Exekutivstrukturen widersetzten sich kriminelle Clans. Bis zum Jahr 1999 verwandelte sich Tschetschenien auf diese Weise in ein sicheres Rückzugsgebiet für Mitglieder mafiaähnlicher Vereinigungen, die im ganzen GUS-Raum-Raum operierten. Parallel dazu fanden eine erzwungene Islamisierung des öffentlichen Lebens, Übergriffe auf nicht-muslimische Minderheiten und ihr Exodus statt.

96

Rund 400 tschetschenische Freischärler unter der Führung von Schamil Bassajew und Ibn al-Chattab griffen am 07.08.1999 das Nachbarland Dagestan im Bezirk Botlichinskij an. In Kämpfen bis zum 26.08.1999 kamen rund 73 russische Soldaten ums Leben und 259 wurden verwundet. Am 05.09.1999 griffen diesmal rund 2.000 Kämpfer den dagestanischen Bezirk Nowolakskij bis 15.09. an und töteten mehrere hundert Menschen. Am 01.10.1999 marschierte die russische Armee erneut in Tschetschenien ein, um die aus der Sicht Russlands kriminelle und die Rebellen unterstützende Regierung von Aslan Maschadow von der Macht zu entfernen. Schon bald eroberte die Armee den Großteil des tschetschenischen Flachlandes und die Hauptstadt Grosny (Zweiter Tschetschenienkrieg).

97

Maschadow und die islamistischen Gruppierungen tauchten in den Untergrund ab und versuchten sich in die schwer zugänglichen südlichen Gebirgsregionen zurückzuziehen, wo sie sich vor der russischen Armee sicher glaubten. Nachdrängende russische Truppen schlossen jedoch einen Großteil der flüchtenden Rebellen südlich von Grosny ein. Während der überwiegende Teil von ihnen nach der Schlacht um Höhe 776 der Umschließung entkam, wurde ein weiterer Großverband unter dem Kommando von Ruslan Gelaew bei Komsomolskie von Föderationstruppen aufgerieben.

98

Die eigentliche militärische Phase der russischen Invasion endete demzufolge bereits im Frühjahr 2000. Ihre Truppen blieben jedoch vor Ort stationiert, um eine Rückkehr der Rebellen zu verhindern und sie, wenn möglich, gänzlich aus ihren Rückzugsgebieten zu vertreiben. Die verbliebenen tschetschenischen Verbände, unter denen sich auch internationale Dschihad-Kämpfer befanden, gingen in der Folge zu einer Guerilla-Taktik über, indem sie kleine Kampfeinheiten (10 bis 50 Mann) bildeten und auf überfallartige Angriffe und Anschläge gegenüber der russischen Armee setzten, bei denen oft auch tschetschenische Zivilisten starben. Ab 2000 traten auch erstmals weibliche Selbstmordattentäter, die so genannten „Schwarzen Witwen“, in Erscheinung. Von Beobachtern werden ausländische Geldgeber als Finanziers der Rebellen vermutet, wobei Georgien auf Grund seiner Lage als Operationsbasis vermutet wird.

99

2001 startete Russland eine breit angelegte so genannte „Antiterror-Operation“ mit dem Ziel der Zerschlagung des tschetschenischen Widerstandes. In ihrem Verlauf gelang es den Russen nach und nach, wichtige Führungspersonen des tschetschenischen Widerstandes auszuschalten, darunter tschetschenische und internationale Größen wie Ibn al-Chatab, Abu al-Walid, Salman Radujew, Ruslan Gelajew und Aslan Maschadow. Ein Erfolg bei der Auffindung des wohl gefährlichsten Terroristen Schamil Bassajew blieb lange aus, am 10.07.2006 wurde sein Tod gemeldet. Diesen Nachrichten zufolge wurde er durch eine russische Geheimdienstaktion getötet.

100

Am 26.09.2002 griffen die tschetschenischen Freischärler unter dem Anführer Ruslan Gelajew die kleine russische Republik Inguschetien an und töteten in dem Dorf Galschki 14 russische Soldaten und 17 Bürger.

101

Bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater vom 23.10. bis 26.10. 2002 nahmen tschetschenische Selbstmordattentäter, darunter auch mehrere Frauen, unter Führung von Mowsar Barajew etwa 700 Geiseln und forderten die Beendigung des Krieges und den sofortigen Abzug des russischen Militärs. Zur Beendigung des Dramas setzten die russischen Behörden ein zuvor ungetestetes Betäubungsgas ein. Dabei starben alle 41 Geiselnehmer sowie 129 Geiseln: Die bewusstlosen Geiselnehmer durch Genickschüsse der russischen Einsatzkommandos, die Theaterbesucher überwiegend auf Grund der Betäubungsmittelüberdosis und der unzureichenden medizinischen Versorgung nach ihrer Befreiung.

102

Ein Bombenanschlag auf das tschetschenische Regierungsgebäude in Grosny am 27.12.2002 forderte 72 Todesopfer. Im Februar 2003 erließen die USA Sanktionen gegen tschetschenische Rebellengruppen und setzten sie auf ihre Liste terroristischer Organisationen, unter anderem infolge der Bombenattentate in Moskau. Außerdem wurden Bankkonten eingefroren. Bei einer Volksbefragung in Tschetschenien am 23.03.2003 stimmten laut offiziellem Ergebnis 95,5 % der Bevölkerung für den Verbleib in der Russischen Föderation. Beobachter bezweifelten allerdings die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses.

103

Am 05.10.2003 fanden in Tschetschenien Präsidentenwahlen statt. Russlands Präsident Wladimir Putin, der diese Wahlen angeordnet hatte, gelang es, seinen Kandidaten Achmad Kadyrow, den Chef der Verwaltungsbehörde, durchzusetzen, indem er erwirkte, dass alle Kandidaten, die in Umfragen vor Kadyrow lagen, nicht kandidierten. Aslambek Alsachanow bekam als Gegenleistung für den Rückzug seiner Kandidatur einen Posten als Putins Beauftragter in Tschetschenien-Fragen, Malik Saidullajews Kandidatur wurde vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt. Die Wahl, zu der die OSZE nach offiziellen Angaben aus Sicherheitsgründen keine Beobachter entsandt hatte, wurde sowohl von westlichen Politikern als auch von Menschenrechtsorganisationen als Farce bezeichnet. Kadyrow kündigte an, noch härter gegen seine Gegner vorzugehen.

104

Sieben Monate später, am 09.05.2004, wurde Kadyrow bei einem Bombenanschlag getötet. Putin ernannte daraufhin den tschetschenischen Regierungschef Sergej Abramow zum provisorischen Präsidenten.

105

Nach einem Radiointerview des von Moskau nicht anerkannten, im Untergrund lebenden Präsidenten Aslan Maschadow im Juni 2004, in dem er eine Taktikänderung bei den Separatisten ankündigte, griffen am 22.06.2004 (am Jahrestag des deutschen Russlandfeldzugs) tschetschenische Rebellen erneut die Nachbarrepublik Inguschetien an. Nach Augenzeugenberichten umzingelten etwa 200 schwer bewaffnete Rebellen mehrere Polizeistationen, Posten der Verkehrspolizei und eine Kaserne von Grenzsoldaten und erschossen alle anwesenden Polizisten, Soldaten sowie Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und des Inlandsgeheimdienstes FSB. In dem Blutbad starben 90 Menschen, darunter 62 lokale Sicherheitskräfte, der inguschetische Innenminister Abukar Kostojew, einer seiner Stellvertreter und der Gesundheitsminister.

106

Im September 2004 starben bei der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan nach offiziellen Angaben 338 Zivilisten und Sicherheitskräfte sowie die etwa 30 Geiselnehmer. Das Kommando hatte am Einschulungstag eine große Anzahl von Schülern, Lehrern und Eltern in ihre Gewalt gebracht und drohte mit der Sprengung der Turnhalle, in der sie sich mit den Geiseln aufhielten, falls Russland sich nicht aus Tschetschenien zurückzöge. Der Aktion waren die Entführung und spätere Sprengung zweier russischer Passagiermaschinen mit etwa 90 Menschen an Bord sowie ein Anschlag auf eine Station der Moskauer Metro mit 12 Todesopfern vorausgegangen. Die Verantwortung übernahm jeweils der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew.

107

Am 08.03.2005 gelang es den Russen, den nicht anerkannten Rebellen-Präsidenten Maschadow bei Tolstoj-Jurt zu stellen und im Verlauf der nicht näher aufgeklärten Operation zu töten. Während im Westen in diesem Zusammenhang Warnungen vor einer Radikalisierung des tschetschenischen Widerstandes geäußert wurden, gingen viele russische Beobachter, denen Maschadow als Drahtzieher und Mitorganisator zahlreicher Anschläge galt, von einer Minderung der Zahl der Terrorakte und einer Stabilisierung der Lage aus. Tatsächlich zogen sich die wenigen verbliebenen Rebellen mehr und mehr aus dem Vorhaben eines Krieges gegen Russland zurück. Ihre Zahl wurde je nach Quelle auf etwa 100–200 Mann geschätzt, die in kleinen Gruppen von 2–4 und höchstens 10–15 Mann operieren. Um ihr eigenes Fortbestehen zu finanzieren, sind die Gruppen vermehrt zum Drogenhandel übergegangen.

108

Am 16.04.2009 wurde auf Anweisung des russischen Präsidenten Dimitir Medwedew Tschetscheniens Status einer „Zone der Ausführung antiterroristischer Operationen" aufgehoben. Mit dem Abzug etwa 20.000 russischer Militärangehöriger liegt die Regierungsgewalt verstärkt beim 2007 vereidigten Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow.

109

cc) Da der Konflikt innerhalb des Staates der Russischen Föderation in der Teilrepublik Tschetschenien stattfand und sich die Russischen Streitkräfte einerseits und (wenn auch teilweise vom Ausland unterstützte) tschetschenische Rebellen andererseits gegenüberstanden, war der Konflikt innerstaatlich. Angesichts des oben dargestellten Ausmaßes der Kampfhandlungen kann auch nicht von bloßen „inneren Unruhen oder Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder anderen ähnlichen Handlungen“ gesprochen werden. Zwischen den staatlichen russischen Behörden und organisierten bewaffneten tschetschenischen Rebellen bestand vielmehr ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt. Wie bereits das BVerwG im Revisionsurteil ausgeführt hat, sind auch die Beteiligten in der dortigen mündlichen Verhandlung vom Vorliegen eines solchen (aus Sicht des Revisionsgerichts naheliegenden) innerstaatlichen Konflikts ausgegangen.

110

b) Der Umstand, dass der Kläger nach seinen Schilderungen nicht Mitglied der organisierten bewaffneten tschetschenischen Rebellen war und damit als Zivilperson anzusehen sein dürfte, schließt nicht aus, dass er Täter eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut sein kann (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 30).

111

aa) Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut definiert nur, welche Handlungen Kriegsverbrechen darstellen und wer geeignetes Opfer sein kann, grenzt jedoch den Täterkreis selbst nicht ein. Nach der Rechtsprechung internationaler Strafgerichtshöfe und nach der völkerstrafrechtlichen Literatur kann grundsätzlich auch eine Zivilperson Täter eines Kriegsverbrechens sein, nicht nur ein Kämpfer der sich gegenüberstehenden Konfliktparteien; es muss aber ein funktionaler Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt bestehen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 31, m.w.N.).

112

Der funktionale Zusammenhang erfordert eine Verbindung zwischen der Tat und dem bewaffneten Konflikt, nicht zwischen dem Täter und einer der Konfliktparteien. Eine Verbindung des Täters zu einer der Konfliktparteien ist zwar ein Indiz für den funktionalen Zusammenhang zwischen Tat und Konflikt, aber keine zwingende Voraussetzung. Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts muss für die Fähigkeit des Täters, das Verbrechen zu begehen, für seine Entscheidung zur Tatbegehung, für die Art und Weise der Begehung oder für den Zweck der Tat von wesentlicher Bedeutung sein. Für einen funktionalen Zusammenhang spricht es, wenn bestimmte Taten unter Ausnutzung der durch den bewaffneten Konflikt geschaffenen Situation begangen werden. Dies gilt aber nicht für Taten, die nur bei Gelegenheit des gleichzeitigen bewaffneten Konflikts und unabhängig von diesem begangen werden. Zu prüfen ist insoweit, ob die Tat in Friedenszeiten ebenso hätte begangen werden können oder ob die Situation des bewaffneten Konflikts die Tatbegehung erleichtert und die Opfersituation verschlechtert hat. Die persönliche Motivation des Täters ist unerheblich (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 32, m.w.N.).

113

bb) Der hiernach notwendige Zusammenhang zwischen der vom Kläger verübten Tat und dem innerstaatlichen Konflikt ist gegeben.

114

Der Zweite Tschetschenienkrieg war jedenfalls für seine Entscheidung zur Tatbegehung von wesentlicher Bedeutung. Nur auf Grund der Tatsache, dass sein Bruder als Mitglied der bewaffneten Rebellen festgenommen worden war, entschloss sich der Kläger, zur Befreiung seines Bruders einen russischen Offizier zu entführen und dabei die ihn begleitenden Soldaten kampfunfähig zu machen, also zu verwunden oder gar zu töten.

115

Dem funktionalen Zusammenhang steht auch nicht entgegen, dass die Aktion abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen auf einem Markt durchgeführt wurde; denn die Aktion war gegen eine der Konfliktparteien gerichtet. Sie wurde mit Hilfe der gegnerischen Konfliktpartei realisiert. Die persönliche Motivation des Klägers, seinen Bruder aus russischer Haft zu befreien, steht dem nicht entgegen, da die spezifische Gefährdungssituation des bewaffneten Konflikts die Tat erst ermöglichte (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 33).

116

c) Auch sind die beiden getöteten oder verwundeten russischen Soldaten als Opfer eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut anzusehen.

117

aa) Der Kläger hat den Tatbestand der „meuchlerischen Tötung“ der beiden russischen Soldaten nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut erfüllt.

118

a) Die meuchlerische Tötung und Verwundung feindlicher Kombattanten (sog. Perfidieverbot) wird seit der Verabschiedung von Art. 23 Buchst. b der Haager Landkriegsordnung von 1907 (RGBl 1910, 132) als Kriegsverbrechen angesehen. Während dieses Kriegsverbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt auch gegenüber Zivilpersonen begangen werden kann (vgl. Art. 8 Abs. 2 Buchst. b Nr. XI IStGH-Statut), sind taugliche Opfer im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt nur Kämpfer der gegnerischen Partei (Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut) (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 37). Da die beiden Personen, an deren Tötung der Kläger beteiligt war, russische Soldaten waren, kommt der Kläger als Täter einer „meuchlerischen Tötung“ in Betracht.

119

ß) Im Einzelfall sind verbotene Perfidie und erlaubte Kriegslist schwer voneinander abzugrenzen. Zur näheren Bestimmung der Voraussetzungen der „meuchlerischen Tötung" kann auf das Verbot der Heimtücke im internationalen bewaffneten Konflikt nach Art. 37 Abs. 1 des am 08.06.1977 unterzeichneten Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Zusatzprotokoll I - BGBl 1990 II S. 1551) zurückgegriffen werden, das auch für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt gilt (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 38). Diese Bestimmung lautet:

120

"Art. 37 Verbot der Heimtücke

121

(1) Es ist verboten, einen Gegner unter Anwendung von Heimtücke zu töten, zu verwunden oder gefangen zu nehmen. Als Heimtücke gelten Handlungen, durch die ein Gegner in der Absicht, sein Vertrauen zu missbrauchen, verleitet wird, darauf zu vertrauen, dass er nach den Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts Anspruch auf Schutz hat oder verpflichtet ist, Schutz zu gewähren. Folgende Handlungen sind Beispiele für Heimtücke:

122

a) das Vortäuschen der Absicht, unter einer Parlamentärflagge zu verhandeln oder sich zu ergeben;

123

b) das Vortäuschen von Kampfunfähigkeit infolge Verwundung oder Krankheit;

124

c) das Vortäuschen eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus;

125

d) das Vortäuschen eines geschützten Status durch Benutzung von Abzeichen, Emblemen oder Uniformen der Vereinten Nationen oder neutraler oder anderer nicht am Konflikt beteiligter Staaten."

126

Völkerrechtswidrig ist danach nicht jede Irreführung des Gegners, sondern nur die Ausnutzung eines durch spezifische – insbesondere in Art. 37 Abs. 1 Zusatzprotokoll I beschriebene – Handlungen geschaffenen Vertrauenstatbestandes. Entscheidend ist, dass der Täter den Gegner gerade über das Bestehen einer völkerrechtlichen Schutzlage getäuscht hat. Das gilt auch im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass es für Guerilla- bzw. Widerstandskämpfer keine völkerrechtliche Pflicht zum Tragen einer Uniform gibt. Mithin ist der Tatbestand des Vortäuschens eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus nur unter besonderen Voraussetzungen erfüllt. Für Widerstandskämpfer im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt besteht jedoch die Pflicht zum offenen Tragen der Waffe als Unterscheidungsmerkmal zwischen Kämpfern und Zivilpersonen. Das lässt sich aus der Vorschrift des Art. 44 Abs. 3 Zusatzprotokoll I ableiten, wonach Kombattanten nicht gegen das Verbot perfiden Verhaltens verstoßen, wenn sie ihre Waffen bei jeder militärischen Handlung einschließlich der Vorbereitung von Angriffen offen tragen. Diese Wertung ist auch für die Anwendung des Perfidieverbots im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 39 f., m.w.N.).

127

?) Der Kläger hat im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut „meuchlerisch“ gehandelt, in dem er den getöteten oder verwundeten Soldaten einen zivilen bzw. Nichtkombattantenstatus vortäuschte.

128

(1) Der Kläger hat bei seiner Befragung im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 erklärt, dass er und sein Freund bei der Entführung des russischen Offiziers Zivilkleidung trugen.

129

(2) Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Kläger und sein Freund die Waffen, mit denen sie die Soldaten töteten oder verwundeten, vor Abgabe des ersten Schusses, verdeckt trugen und die die russischen Soldaten darüber täuschten, dass sie von ihnen keinen Angriff zu erwarten hatten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.11.2008 (Bl. 92 GA) hat der Kläger angegeben, auf dem Markt (offener Basar) habe man mit versteckten Waffen herumlaufen können, und die von ihm verwendete AKM 45 habe man leicht unter der Jacke verstecken können. Dies kann zur Überzeugung des Senats nur so verstanden werden, dass der Kläger und der Mittäter die Waffen vor Abgabe des ersten Schusses versteckt trugen. Zwar hat der Kläger bei der zweiten informatorischen Befragung am 26.07.2012 zunächst erklärt, er und sein Freund hätten die Waffen offen am Gürtel getragen. Diese Darstellung hält der Senat aber nicht für glaubhaft. Nachdem der Kläger auf den Widerspruch zu seiner früheren Schilderung hingewiesen worden ist, hat er erklärt, dass er sich an Details nicht mehr erinnern könne und er nicht mehr wisse, ob sie die Waffen offen oder versteckt getragen hätten. Ein offenes Tragen der Waffen erschiene indes wenig plausibel, da dies einen Erfolg der geplanten Entführung eines bewaffneten Offiziers und seiner beiden bewaffneten Begleiter durch nur zwei Personen wesentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte. Der Senat ist – wie bereits oben dargelegt – davon überzeugt, dass der Kläger mit seiner in der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 zunächst vorgetragenen Darstellung, er und sein Freund hätten die Waffen offen getragen, ersichtlich den Versuch hat unternehmen wollen, den im Revisionsverfahren zur Sprache gekommenen Vorwurf zu entkräften, die beiden russischen Soldaten „meuchlerisch“ getötet zu haben und deshalb Kriegsverbrecher im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG zu sein.

130

(3) Dem Kläger ist auch ein vorsätzliches und wissentliches Verhalten im Sinne von Art. 30 IStGH-Statut vorzuhalten.

131

Gemäß § 30 Abs. 1 IStGH-Satut ist, sofern nichts anderes bestimmt ist, eine Person für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen nur dann strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wenn die objektiven Tatbestandsmerkmale vorsätzlich und wissentlich verwirklicht werden. Gemäß § 30 Abs. 2 IStGH-Statut liegt „Vorsatz“ im Sinne dieses Artikels vor, wenn die betreffende Person a) im Hinblick auf ein Verhalten dieses Verhalten setzen will, b) im Hinblick auf die Folgen diese Folgen herbeiführen will oder ihr bewusst ist, dass diese im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eintreten werden. „Wissen" im Sinne dieses Artikels bedeutet gemäß § 30 Abs. 3 StGH-Statut das Bewusstsein, dass ein Umstand vorliegt oder dass im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eine Folge eintreten wird; „wissentlich" und „Wissen" sind entsprechend auszulegen.

132

Der Kläger handelte hiernach in Bezug auf die Tatbestandsmerkmale „Tötung“ bzw. „Verwundung“ und „meuchlerisch“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e Nr. IX IStGH-Statut vorsätzlich.

133

Er und sein Freund schossen nach seinen eigenen Angaben mit Waffen, die er als „moderne Form der Kalaschnikow" bezeichnet hat, gezielt auf die Soldaten, um sie kampfunfähig zu machen und die Entführung des Offiziers als Austauschperson für seinen Bruder durchführen zu können. Das Verhalten, das Abgeben von Schüssen auf die Soldaten, wollte der Kläger damit ersichtlich setzen. Ihm war auch bewusst, dass als Folge der gezielten Schüsse im gewöhnlichen Verlauf die Soldaten verwundet werden und sie ihren Verletzungen – möglicherweise oder wahrscheinlich – erliegen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.11.2008 gab er zwar an (Bl. 93 GA), er habe keine Tötungsabsicht gehabt, er habe aber die russischen Soldaten außer Gefecht setzen müssen, um seinen Bruder zu befreien. Tötungsabsicht setzt Art. 30 IStGH-Statut indes nicht voraus. Da der Kläger und sein Freund aus einer Entfernung von ca. 5 bis 6 m gezielte Schüsse abgaben, musste der Kläger allerdings davon ausgehen, dass diese für die Soldaten tödlich sein werden. Zudem bejahte er im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt die Frage, ob er zur Rettung seines Bruders „zum Mörder geworden" sei, was gegen ein bloß fahrlässiges Handeln spricht (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 42). Im Übrigen genügt gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e Nr. IX IStGH-Statut auch die bloße „meuchlerische Verwundung“ des Kombattanten für die Annahme eines Kriegsverbrechens. Vorsatz ist auch in Bezug auf die „meuchlerische“ Form der Tötung oder Verwundung zu bejahen. Denn durch das verdeckte Tragen der Waffen wollte der Kläger bei den Soldaten, die sich auf dem Markt in keiner unmittelbaren Bedrohungssituation sahen, keinen Argwohn wecken und sie durch einen überraschenden Angriff kampfunfähig machen.

134

(4) Der Kläger kann sich ferner nicht – strafausschließend – darauf berufen, dass er mit der Verwundung bzw. der (in Kauf genommenen) Tötung der Soldaten (letzten Endes) die Befreiung seines Bruders habe erreichen wollen, dem unmittelbar Gewalt gedroht habe. Strafausschließungsgründe sind am Maßstab von Art. 31 Abs. 1 IStGH-Statut zu messen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 43).

135

Nach dieser Vorschrift ist neben anderen in diesem Statut vorgesehenen Gründen für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit strafrechtlich nicht verantwortlich, wer zur Zeit des fraglichen Verhaltens

136

a) wegen einer seelischen Krankheit oder Störung unfähig ist, die Rechtswidrigkeit oder Art seines Verhaltens zu erkennen oder dieses so zu steuern, dass es den gesetzlichen Anforderungen entspricht;

137

b) wegen eines Rauschzustands unfähig ist, die Rechtswidrigkeit oder Art seines Verhaltens zu erkennen oder dieses so zu steuern, dass es den gesetzlichen Anforderungen entspricht, sofern er sich nicht freiwillig und unter solchen Umständen berauscht hat, unter denen er wusste oder in Kauf nahm, dass er sich infolge des Rausches wahrscheinlich so verhält, dass der Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt wird;

138

c) in angemessener Weise handelt, um sich oder einen anderen oder, im Fall von Kriegsverbrechen, für sich oder einen anderen lebensnotwendiges oder für die Ausführung eines militärischen Einsatzes unverzichtbares Eigentum, vor einer unmittelbar drohenden und rechtswidrigen Anwendung von Gewalt in einer Weise zu verteidigen, die in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang der ihm, dem anderen oder dem geschützten Eigentum drohenden Gefahr steht. Die Teilnahme an einem von Truppen durchgeführten Verteidigungseinsatz stellt für sich genommen keinen Grund für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Buchstaben dar;

139

d) wegen einer ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder unmittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens zu einem Verhalten genötigt ist, das angeblich den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt, und in notwendiger und angemessener Weise handelt, um diese Gefahr abzuwenden, sofern er nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzuwenden trachtet. Eine solche Gefahr kann entweder

140

i) von anderen Personen ausgehen oder

141

ii) durch andere Umstände bedingt sein, die von ihm nicht zu vertreten sind.

142

In Betracht zu ziehen ist allenfalls eine Anwendung der Buchstaben c und d. Der Kläger verfolgte nach eigenen Angaben das Ziel, seinen Bruder aus einer als unrechtmäßig angesehenen Inhaftierung zu befreien, in deren Verlauf er Übergriffe bis hin zu Folter oder gar Tötung befürchtete. Damit wollte er eine – aus seiner Sicht – dem Bruder unmittelbar drohende Gefahr abwenden. Er hat aber nicht in einer im Sinne der genannten Vorschrift angemessenen Weise gehandelt, weil die meuchlerische Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten in keinem angemessenen Verhältnis zum Umfang der seinem Bruder drohenden Gefahr stand.

143

bb) Damit bedarf keiner Vertiefung, ob in der Geiselnahme des russischen Offiziers ebenfalls ein Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. c Nr. III IStGH-Statut zu sehen ist.

144

1.2.2. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet auch gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG aus, weil die Tötung oder Verwundung der beiden russischen Soldaten eine schwere nichtpolitische Straftat darstellt.

145

a) Ob einer Straftat das von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG geforderte Gewicht zukommt, bestimmt sich nach internationalen und nicht nach nationalen Maßstäben. Es muss sich um ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 47, m.w.N.).

146

Die vom Kläger begangene Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten und die Geiselnahme eines Offiziers sind schwere Straftaten in diesem Sinne, insbesondere weil sie nicht durch einen Kombattantenstatus legitimiert sind; etwas anderes könnte sich nur dann ergeben, wenn der Kläger nicht vorsätzlich gehandelt hätte oder sich auf Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe berufen könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 47). Dies ist nach den oben getroffenen Feststellungen nicht der Fall.

147

b) Die vom Kläger begangene Tat ist auch eine nichtpolitische gewesen.

148

Die Frage, ob eine Tat politisch oder nichtpolitisch ist, beurteilt sich nach dem Delikttypus sowie den der konkreten Tat zugrunde liegenden Motiven und den mit ihr verfolgten Zielen. Nichtpolitisch ist eine Tat, wenn sie überwiegend aus anderen Motiven, etwa aus persönlichen Beweggründen oder Gewinnstreben begangen wird. Besteht keine eindeutige Verbindung zwischen dem Verbrechen und dem angeblichen politischen Ziel oder ist die betreffende Handlung in Bezug zum behaupteten politischen Ziel unverhältnismäßig, überwiegen nichtpolitische Beweggründe und kennzeichnen die Tat damit insgesamt als nichtpolitisch (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 48; Urt. v. 24.11.2009, a.a.O., RdNr. 42).

149

Der Beweggrund des Klägers für die Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten und für die Geiselnahme des Offiziers lag nach seinem Vorbringen allein in der Befreiung seines Bruders aus der russischen Gefangenschaft. Er verfolgte damit ein persönliches und kein politisches Ziel. Für die politische Qualität der Straftat genügt es nicht, dass sich das Handeln des Klägers aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte (möglicherweise) als Engagement des Klägers für die „tschetschenisch-separatistische Sache" darstellte; vielmehr kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Motivation des Klägers an (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 49). Seinem Vorbringen lässt sich gerade nicht entnehmen, dass er Widerstandskämpfer war und die Aktion den Zielen des tschetschenischen Widerstands dienen sollte. Der Kläger gab vielmehr an, dass er nicht Mitglied der Widerstandskämpfer gewesen sei. Nach den Gründen des Revisionsurteils hat der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgehoben, dass sich der Kläger nicht mit den Zielen des tschetschenischen Widerstands identifiziere, sondern lediglich eine Einzelaktion mit deren Unterstützung durchgeführt habe. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 26.07.2012 hat der Kläger nochmals bestätigt, dass er seinen Bruder habe retten wollen und er zu anderen Gründen nichts weiter vorzutragen habe.

150

c) In seinem Urteil vom 09.11.2010 (C-57/09 und C-101/09, NVwZ 2011, 285) hat die Große Kammer des der EuGH nunmehr klargestellt, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach der mit § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG inhaltsgleichen Regelung des Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 nicht voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht und eine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt wurde.

151

2. Der Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf das Herkunftsland, den der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren hilfsweise gestellt hat, ist seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Asylprozess sachdienlich dahin auszulegen, dass in erster Linie die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG und für den Fall, dass die Klage insoweit keinen Erfolg hat, hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird. Diese Abschiebungsverbote beruhen auf Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG und bilden einen eigenständigen, vorrangig vor den verbleibenden nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfenden Streitgegenstand (BVerwG, Urt. v. 24.06.2008 – 10 C 43.07 –, BVerwGE 131, 198 [201], RdNr. 11 ff.; Urt. v. 14.07.2009 – 10 C 9.08 –, BVerwGE 134, 188 [191], RdNr. 9; Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09 –, BVerwGE 136, 360 [364 f.], RdNr. 16).

152

2.1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II 685) – EMRK – enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Bezug genommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 –, a.a.O., RdNr. 15). Dadurch soll die inhaltliche Orientierung an der EMRK für den subsidiären Schutz festgeschrieben werden, so dass die einschlägige Rechtsprechung des EGMR übernommen werden soll (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, A 1 § 60 RdNr. 107, m.w.N.).

153

2.1.1. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG scheidet nicht deshalb aus, weil der Kläger den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllt hat. Dieser Ausschlussgrund gilt nach dem eindeutigen Wortlaut nur für das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht hingegen für die sonstigen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 – 10 C 11.09 –, Buchholz 451.902 Europ Ausl- u Asylrecht Nr. 42, S. 181, RdNr. 13).

154

2.1.2. Unter Folter ist gemäß Art. 1 der UN-Anti-Folterkonvention jede Handlung zu verstehen, durch die jemandem vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u. a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgend einer anderen, auf irgend eine Art der Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht, und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlichen Bediensteten oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung, mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Als unmenschliche Behandlung ist die absichtliche Zufügung schwerer psychischer oder physischer Leiden anzusehen. Eine erniedrigende Behandlung ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst oder Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise den psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Die in Frage stehende Maßnahme muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um überhaupt in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu gelangen. Die Beurteilung dieses Minimums hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und erfordert eine wertende Betrachtung. Kriterien sind beispielsweise Art und Zusammenhang der Behandlung, Dauer und psychische Wirkungen. Wenn besondere Umstände vorliegen, kann es auch als erniedrigende Behandlung gewertet werden, wenn eine Kategorie von Personen auf Grund ihrer Rasse öffentlich ausgesondert und einer unterschiedlichen Behandlung unterworfen wird. Zwischen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird man nur nach der Schwere der einzelnen Maßnahme graduell unterscheiden können (vgl. zum Ganzen: Hailbronner, a.a.O., RdNr. 110 ff.).

155

Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, oder wenn eine Strafschärfung wegen der politischen Überzeugung des Betroffenen erfolgt. Danach können z. B. bestimmte Strafarten oder besonders harte Haftbedingungen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen (Hailbronner, a.a.O., RdNr. 114 f.).

156

2.1.3. Bei der anzustellenden Prognose, ob der Ausländer den in § 60 Abs. 2 AufenthG genannten Gefahren ausgesetzt ist, ist grundsätzlich der sog. Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 [382], RdNr. 18 ff., m.w.N.). Allerdings gilt gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u. a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a.a.O., RdNr. 20). Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind. Geht es um die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bei der Feststellung eines unionsrechtlich vorgezeichneten subsidiären Abschiebungsverbots, greift die Vermutung nach dieser Vorschrift ein, wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie erlitten hat oder unmittelbar von einem solchen Schaden bedroht war. Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, dass der Antragsteller „erneut von einem solchen Schaden bedroht wird", einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen oder damals drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. 07.09.2010, a.a.O., S. 182, RdNr. 15; Urt. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 –, NVwZ 2012, 454 [455], RdNr. 21).

157

2.1.4. Im konkreten Fall ist zunächst davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner Beteiligung an der Entführung und Tötung bzw. Verwundung russischer Militärangehöriger abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen vor seiner Ausreise aus Tschetschenien von Folter und unmenschlicher erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unmittelbar bedroht war, so dass dem Kläger die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute kommt.

158

Wie oben (1.1. a) bb)) bereits ausgeführt, gehörten Folter und Erzwingung von Ge-ständnissen bereits geraume Zeit vor der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation zu den üblichen Praktiken der russischen Sicherheitskräfte. Nach verschiedenen Auskünften wurde von zahlreichen menschenrechtswidrigen Übergriffen berichtet. In sog. Filtrationslagern, die dazu dienen sollten, tschetschenische Terroristen aufzuspüren, kam es im großen Stil, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, zu systematischen Folterungen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, Urt. v. 24.10.2007 – 11 B 03.30710 –, Juris, m. w. Nachw.).

159

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.05.2002 etwa wurden in Tschetschenien an verschiedenen Orten Gräber mit jeweils mehreren (nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen bis zu zweihundert) Leichen gefunden, die zum Teil Folterspuren aufwiesen. Internationale und russische Menschenrechtsorganisationen (z.B. Human Rights Watch-Bericht vom 18.02.2000, Amnesty International-Bericht vom 22.12.1999 sowie Nachforschungen der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial) berichten über die Einrichtung sog. Filtrationslager oder -punkte. Nach russischer Lesart dienten diese dem Zweck, tschetschenische Terroristen unter den Flüchtlingen aufzuspüren. Die genannten Menschenrechtsorganisationen gingen auf Grund von Augenzeugenberichten zunächst von dem Betreiben mindestens eines solchen russischen „Filtrationslagers" an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien aus. Dort soll es abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu Folterungen (z.B. Elektroschocks, Schläge u. a. auf den Kopf und den Rücken mit Metallhammer und Vergewaltigungen) durch russische Spezialkräfte gekommen sein. Auf Grund von Augenzeugenberichten und auch Filmaufnahmen wurde davon ausgegangen, dass es in und um Grosny weitere Filtrationslager gab, in denen auch systematisch gefoltert wurde, u. a. in dem Gefängnis Tschernokosowo nördlich von Grosny. Darüber hinaus wurde immer wieder über sogenannte „Filtrationspunkte" berichtet, die von russischen Sicherheitskräften und in vergleichbarer Art auch von tschetschenischen Rebellen unterhalten wurden. Damit gemeint war zum Beispiel, dass Gefangene glaubhaften Berichten zufolge in Erdlöchern gehalten werden sollten. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Inspektionsergebnisse des IKRK waren gar nicht und die des Anti-Folter-Ausschusses des Europarats weit überwiegend mangels erforderlicher Zustimmung der russischen Regierung nicht veröffentlicht worden. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erhob darüber hinaus den Vorwurf, dass sog. „Todesschwadronen", zusammengesetzt aus Angehörigen der russischen Sicherheitskräfte, in Tschetschenien operierten und massive Menschenrechtsverletzungen begingen.

160

Das Europäische Komitee für die Verhinderung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (CPT) besuchte vom 23. bis 29.5.2003 bereits zum sechsten Mal Tschetschenien und stellte fest, dass es dort weiterhin zu Rückgriff auf Folter und andere Formen von Misshandlung durch Sicherheitskräfte und föderale Truppen komme. Generell würden in Russland häufig Methoden der Folter und unmenschlicher Behandlung beim Vorgehen von Polizei und Sicherheitskräften angewandt. Gemäß Berichten von NROs, aber auch eingeräumt von offizieller Seite wie dem Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, kommt es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter sowie grausamer und erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden. Besonders kritisch sei die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der sog. „Operativen Ermittlungstätigkeit“: Dabei würden die Untersuchungsbehörden auch Methoden der Folter anwenden, um erste Informationen zu einem Verbrechen zu erhalten, bevor sie das offizielle Verfahren und weitere prozessrechtlich sanktionierte Untersuchungsschritte einleiteten. Der VN-Menschenrechtsausschuss (Schlussfolgerungen zum 5. Staatenbericht der RF zum Zivilpakt, November 2003) zeigte sich über die „wiederholten Berichte über die Anwendung von Folter und Misshandlung während informeller Befragungen in Polizeistationen“ besorgt. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass nur ein geringer Teil dieser Misshandlungen disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt werde. Dies, wie die auf allen Ebenen wahrgenommene Korruption, unterminiere auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafverfolgungsbehörden (vgl. zum Ganzen den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 26.03.2004).

161

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation befürchten musste, von den russischen Sicherheitskräften, wenn sie seiner habhaft geworden wären, gefoltert zu werden, um ggf. Widerstandskämpfer aufspüren zu können. Wegen der Beteiligung an der Befreiung seines bei den Widerstandskämpfern aktiven Bruders lag es aus Sicht der russischen Sicherheitskräfte nahe, dass der Klägers sich am tschetschenischen Widerstand beteiligte und/oder Kenntnisse über die Rebellenorganisation(en) hatte. Zudem musste er wegen der Tötung oder Verwundung der russischen Soldaten und der Geiselnahme des Offiziers mit Vergeltung durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, insbesondere körperliche Bestrafung, wenn nicht sogar mit seiner Tötung rechnen.

162

2.1.5. Es liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die dagegen sprechen könnten, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation erneut von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bedroht wird.

163

a) Ein stichhaltiger Grund ist insbesondere nicht darin zu erkennen, dass nach der Auskunft des Auswärtigen Amts an den Senat vom 21.04.2011 (Bl. 272 GA) laut Interpol Moskau nach dem Kläger in der Russischen Föderation nicht gefahndet werde und auch keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass Personen, welche nicht zur Fahndung ausgeschrieben seien, im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Teile der Russischen Föderation staatliche Maßnahmen drohen würden.

164

Das Auswärtige Amt hat im Lagebericht vom 07.03.2011 zur Behandlung von Rückkehrern ausgeführt (S. 35 ff.), solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst sei, sei davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Vor diesem Hintergrund spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation festgenommen wird, wenn den russischen Behörden die Schilderungen des Klägers in dem von ihm betriebenen Asylverfahren bekannt werden. Für Letzteres spricht die Publizität, die das Verfahren mittlerweile gewonnen hat. Es kann insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass die im Zweiten Tschetschenienkrieg begangenen Taten nicht mehr verfolgt werden. Die am 22.06.2006 von der Duma beschlossene Amnestieverordnung, erfasst keine schweren Verbrechen wie Mord und Geiselnahme (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.03.2011, S. 23).

165

b) Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass der Kläger im Fall seiner Festnahme nicht Gefahr läuft gefoltert oder zumindest unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden.

166

Zwar haben sich die Verhältnisse seit der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation verbessert. Trotz des gesetzlichen Verbots der Folter in der Russischen Föderation wurde jedoch wiederholt vom Menschenrechtsbeauftragten Lukin und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen vor allem bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft von Vorfällen berichtet, bei welchen dieses Verbot nicht eingehalten wurde (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amts an den Senat vom 21.04.2011). Insbesondere auch amnesty international hält in seiner Stellungnahme an den Senat vom 27.02.2012 eine Verhaftung für möglich und führt ergänzend aus, dass in diesem Fall die Gefahr der Folterung oder Misshandlung zur Erlangung eines Geständnisses sowie ein unfaires Verfahren mit einer unverhältnismäßig hohen Haftstrafe drohten.

167

In einem Bericht von Memorial von 2010 u. a. über Tschetschenen im Strafvollzug (S. 37 f.) heißt es unter Nennung verschiedener Referenzfälle, dass – wie bereits 2009 berichtet worden sei – die Lage von Tschetschenen in russischen Gefängnissen besonders schwer sei. Hauptgrund sei, dass in den Rechtsschutzorganen sehr viele Menschen tätig seien, die den Krieg in der Tschetschenischen Republik selbst mitgemacht hätten. Die meisten von ihnen brächten dann das, was sie dort anzuwenden gelernt hätten, mit. Sie seien selbst traumatisiert, voller Hass. Gefährlich seien sie vor allem für die, die sie noch vor kurzem als Feinde vor Ort bekämpft hatten. Memorial habe oft mit Fällen zu tun, in denen Bürger von Tschetschenien Verbrechen beschuldigt werden, für die sie schon einmal verurteilt und anschließend amnestiert worden seien. Es gebe sogar Fälle, in denen jemand für etwas zur Verantwortung gezogen werde, was sich vor mehreren Jahren ereignet habe. Während der Verbüßung ihrer Haftzeit drohe Tschetschenen ständig Verfolgung, sowohl durch die Angestellten des Strafvollzuges als auch durch die anderen Gefangenen. Beiden Gruppen seien xenophobe Emotionen nicht fremd. Schläge, grundlose Bestrafungen, eine Unterbringung in einem Gebäude für Tuberkulosekranke, all das drohe Tschetschenen in der Haft. Wenn die Haftzeit ihrem Ende zugehe, gäben sich die Mitarbeiter von Kolonien und Gefängnissen jede erdenkliche Mühe, um die Freilassung von Tschetschenen zu verhindern. Dafür erfänden sie die seltsamsten Beschuldigungen oder provozierten diese mit erniedrigendem Verhalten zum Übertreten der Vorschriften.

168

Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass der Kläger – für den Senat glaubhaft – geschildert hat, in welcher Weise er abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen an der Verwundung oder Tötung russischer Soldaten sowie der Geiselnahme eines Offiziers beteiligt war, lassen sich keine stichhaltigen Gründe für die Annahme finden, dem Kläger drohe im Fall seiner Verhaftung nicht erneut Folter oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Auch besteht der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem dem Kläger vor der Ausreise drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden.

169

2.2. Da dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren ist, muss nicht weiter untersucht werden, ob daneben auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 3 oder Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorliegen (vgl.BayVGH, Urt. v. 18.07.2011 – 9 B 10.30246 –, Juris). Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bildet einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (BVerwG, Urt. v. 08.09.2011 – 10 C 14.10 –, BVerwGE 140, 319 [326 f.], RdNr. 16 f.; Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., RdNr. 11).

170

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.

171

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11. 711 ZPO.

172

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.


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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

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(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulas

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(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteili

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Tatbestand 1 Der am 14.1.19.. in N. geborene Kläger zu 1. ist russischer Staatsangehöriger und tschetschenischer Volkszugehöriger aus Tschetschenien. Der Kläger reiste zusammen mit den Klägern des Verfahrens 3 A 78/13 MD als Familie am 21.11.2011

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.