Verwaltungsgericht Magdeburg Urteil, 28. Feb. 2013 - 3 A 335/11

ECLI:ECLI:DE:VGMAGDE:2013:0228.3A335.11.0A
bei uns veröffentlicht am28.02.2013

Tatbestand

1

Der am 14.1.19.. in N. geborene Kläger zu 1. ist russischer Staatsangehöriger und tschetschenischer Volkszugehöriger aus Tschetschenien. Der Kläger reiste zusammen mit den Klägern des Verfahrens 3 A 78/13 MD als Familie am 21.11.2011 illegal mit Hilfe eines bezahlten Schleppers für 3.000,- $ auf dem Landweg aus Polen nach Deutschland ein, meldete sich am 25.5.2011 in B-Stadt als asylsuchend und stellte am 31.5.2011 beim Bundesamt einen Asylantrag. Im Termin zur persönlichen Anhörung am 8.6.2011 trug der Kläger folgendes zur Begründung vor:

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Er habe seine Heiratsurkunde vom 11.5.2011 (Bl. 58 der Beiakte) mitgebracht. Dort sei die am 4.1.2008 (Bl. 43 der Beiakte) nach muslimischem Ritus ohne Urkunde geschlossene Ehe registriert worden. Außerdem habe er die Geburtsurkunde des Klägers zu 2. des Verfahrens 3 A 78/13 MD dabei. Sein Reisepass sei ihm an der weißrussisch-polnischen Grenze abgenommen worden. Er habe bis zur Ausreise am 17.5.2011 mit seiner Ehefrau und ihrem Kind in G. gelebt. In seiner Heimat lebten noch seine Mutter und 2 Schwestern mit Familien. Seit 2000 sei er arbeitslos. Die Eigentumswohnung seiner Frau habe er eine Woche vor der am 17.5.2011 erfolgten Ausreise mit Hilfe seiner Cousins an eine Freundin oder Bekannte seiner Frau verkauft. Die letzten 9 Jahre habe er illegal zu Hause gelebt. Seinen Reisepass habe er 2008 für 400 $ gekauft. Zu Behörden habe er nicht gehen können. Seinen Inlandspass, in dem seine Eheschließung vermerkt sei, habe er bei seinen Eltern hinterlegt. Den Inlandspass habe er auch nur über Bekannte erhalten. Er sei unter seiner eigenen Adresse in G. polizeilich gemeldet (registriert) gewesen. Seit der Heirat habe er nur einige Zeit in der Eigentumswohnung seiner Frau verbracht. Gelebt habe er von je her immer in G.. Das richtige Eheschließungsdatum sei der 4.1.2009. Davor sei er nacheinander bereits 3 Mal verheiratet gewesen. 1982 habe er ein Studium mit dem Diplom als …-Ingenieur abgeschlossen. Er habe in Russland eine gute Stelle gehabt. Bis 1992 habe er in Russland im Gebiet P. gelebt und sei dann, als Dudajew an die Macht gekommen und die Sowjetunion zerfallen sei, nach Tschetschenien gegangen. Bis … habe er in Tschetschenien beim Zoll gearbeitet. Als am 1.12.1994 der Krieg ausgebrochen sei, habe er auf Seiten von Dudajew daran teilgenommen. Danach habe er bis 1… in der Stadtadministration in G. gearbeitet. Der Bürgermeister von G. habe ihm die Stelle besorgt. 1992-96 sei er Mitglied in einer Volksdemokratischen Partei gewesen, die damals von seinem Verwandten geleitet worden sei. Nach Dudajews Tod sei sein Verwandter kurzzeitig … von Tschetschenien gewesen. 1…-… habe er, der Kläger, beim Personenschutz eines damaligen Ministers im Sicherheitsdienst gearbeitet. Im 2. Krieg habe er 1999 bis Ende 2002 wieder an militärischen Aktionen teilgenommen, und zwar auf seiten Maschadows. Damals habe er gegen die Wahhabiten gekämpft. Bei einer Aktion sei er verwundet worden. Daher sei er gezwungen gewesen, seine Beteiligung an Militäraktionen zu beenden. Er sei aus den Bergen herausgetragen und zu seinen Verwandten gebracht worden. Diese hätten ihn nach N. in Kabardino-Balkarien geschickt. Dort sei er bis … in medizinischer Behandlung gewesen. Dann sei er nach Tschetschenien zurückgekehrt. Er habe dann auch nicht mehr kämpfen wollen, auf keiner Seite. Nach seiner Rückkehr aus N. sei er von einem russischen Sonderkommando festgenommen und gefoltert worden. Sie hätten Informationen haben wollen, wo er gekämpft habe. Er sei 10 Tage festgehalten und misshandelt worden. Als sie vermutet hätten, er sei tot, sei er irgendwo ausgesetzt worden. Seither hätten ihn immer seine Verwandten mit Geld unterstützt, und er habe 9 Jahre nicht mehr gearbeitet. … habe ihn die Abteilung für organisierte Kriminalität in Tschetschenien festgenommen. Er sei 2 Wochen gefoltert und gedemütigt worden. Er habe unter schändlichen Drohungen ein geheimes Waffenlager verraten, habe aber gewusst, dass dort keine Waffen mehr gelagert seien. Danach sei man richtig wütend auf ihn gewesen und habe ihn immer wieder gefoltert. Seine Verwandtschaft habe dann Geld gesammelt und ihn freigekauft. Ein 3. Vorfall sei am … gewesen. In der Nacht seien maskierte Angehörige der Einheit Nr. 50 zu ihm gekommen. Seine damalige Ehefrau habe sich dazwischengestellt und sei von den Soldaten in den Bauch getreten und getötet worden. Die Soldaten hätten Informationen von ihm haben wollen. Ein weiterer Grund sei gewesen, dass er ein Verwandter des Z. A. sei, der kurzzeitig tschetschenischer … gewesen sei. Man habe ihn wiederum 10 Tage festgehalten, bedroht und gefoltert, bis er sein geheimes Waffenlager preisgegeben habe, eine Grube am Rande des Dorfes, in der sich Granaten und Kriegsgeräte befunden hätten. Danach sei er freigelassen worden. Bis April 2011 sei ihm dann nichts mehr zugestoßen. Eine frühere Ehefrau von ihm sei 1999/2000 …. ausgewandert und habe neu geheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn sei noch bis … bei ihm, d.h. eigentlich bei seiner, des Klägers, Mutter geblieben und dann seiner Mutter … gefolgt, nachdem ihm jemand eine Waffe an den Kopf gehalten und nach ihm, dem Kläger, gefragt habe. Am 21./22.4.2011, als er einmal bei seiner Ehefrau gewesen sei, seien in der Nacht bewaffnete Leute von der Einheit SEWER des Innenministeriums zu ihm gekommen. Sie hätten ihn zum Hauptgebäude der Sewer-Einheit gebracht. Sie hätten ihn gefoltert. Er habe zu seinen alten Kameraden gehen und Informationen weiterleiten sollen. Er habe einige Papiere unterschrieben, um freigelassen zu werden. In Tschetschenien gebe es ein ganzes Netz von Informanten und Spitzeln. Seine Ehefrau sei in den 2 ½ Jahren ihrer Ehe bereits mehrfach seinetwegen behelligt worden. Viele seiner ehemaligen Kameraden arbeiteten als Spitzel. Es gebe auch Wahhabiten, die zu Kadyrow übergelaufen seien, und es gebe illegalen Handel mit Kinderorganen, die in den Westen verkauft würden. Nicht nur von ihm würden die ihm angesonnenen Dinge verlangt. In Tschetschenien werde kolossal Druck ausgeübt, um für „diese Strukturen“ zu arbeiten. Er habe versucht, nach Russland auszuweichen. Aber dort werde man als Tschetschene sofort für einen Terroristen gehalten, bekomme keine Registrierung und keine Stelle. Er wolle nicht zurückkehren und sehe dort auch für seinen Sohn keine Zukunft.

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Die Klägerin des Verfahrens 3 A 78/12 MD gab an: Sie habe sich nicht politisch betätigt und selbst keine Probleme in Tschetschenien gehabt. Sie habe ihre Heiratsurkunde vom 11.5.2011 mitgebracht. Dort sei die am 4.1.2008 (Bl. 37 der Beiakte) nach muslimischem Ritus ohne Urkunde geschlossene Ehe registriert worden. Außerdem habe sie die Geburtsurkunde ihres Sohnes dabei. Ihr Reisepass, in dem auch das Kind eingetragen gewesen sei, sei ihr an der weißrussisch-polnischen Grenze abgenommen worden. Ihren Inlandspass habe sie zu Hause gelassen, d.h. bei ihren Eltern. Sie habe bis zur Ausreise am 17.5.2011 mit dem Kläger und ihrem Kind in G. gelebt. In ihrer Heimat lebten noch ihre Eltern, … Brüder mit Familien und … Schwestern. Sie seien am 25.5.2011 in B-Stadt angekommen. Von B-Stadt aus seien sie mit dem Taxi nach Halberstadt gefahren. Ihre Verwandtschaft aus R… und M… habe ihnen bei der Ausreise bzw. Finanzierung geholfen. Mitte April 2011 hätten sie ihre Eigentumswohnung in G. verkauft, in der sie mit dem Kläger seit der Hochzeit 3 Jahre lang gewohnt habe. Das richtige Heiratsdatum sei 4.1.2009. Den Reisepass habe sie im Februar 2011 beantragt und im März 2011 erhalten. Der Kläger sei ein Einzelkind. Seine Mutter habe deshalb die Familie finanziell unterstützt. Sie müsse ehrlich sagen, dass sie zum Überleben nur das staatliche Kindergeld gehabt hätten. Zwei Schwestern des Klägers lebten in Tschetschenien. In R… und M… hätten sie keine Verwandten. Ihre Verwandten hätten ihnen nur auf der Reise von G. nach R. geholfen. Ausgereist seien sie, weil der Kläger im April 2011 festgenommen worden sei. Sie seien des öfteren des Nachts maskiert gekommen. Eine ganze Woche habe sie nicht gewusst, wo er sei. Am 28.4.2011 hätten sie ihn frühmorgens auf einem Feld ausgesetzt. Er sei zu Fuß zu Verwandten nach … gelaufen. Von den Verwandten habe sie gehört, dass er freigekommen sei. Zuvor sei er schon mehrfach festgenommen worden, nach dem 13.1.2011. Begonnen habe das im Januar 2009. Bis Frühjahr 2009 hätten sie Ruhe gehabt. Es sei im Juni 2009, kurz vor der Geburt ihres Sohnes gewesen. Im Juli hätten sie von seiner neuen Adresse erfahren. Seither sei er ständig auf der Flucht gewesen. Und bei ihr sei sehr oft nach ihm gesucht worden. Die Maskierten hätten ihn geschlagen und drangsaliert und ihm eine Mitarbeit angeboten. Er habe sagen sollen, wo die Kämpfer seien. Damit seien wohl Wahhabiten gemeint. Der Kläger habe zu Hause nicht übernachtet. Die meiste Zeit sei er immer auf der Flucht gewesen. Aber an diesem Tag, dem 21. oder 22. April, habe er sie besucht. Und so habe sie sich entschieden, die Wohnung zu verkaufen. Der Kläger habe 1993/94 auf Seiten Maschadows als Kämpfer am 1. Krieg teilgenommen. Irgendwie sei er bei Maschadow gewesen. Und sie habe gehört, dass er einen weit entfernten Verwandten gehabt habe, der mit Familiennamen genauso heiße wie ihr Mann. Dieser sei bei irgendeiner Behörde ein Funktionär. Mit diesem Verwandten verstehe der Kläger sich nicht gut. Sie hoffe auf Sicherheit für ihren Sohn, und dass sie zusammenbleiben könnten. Zurückkehren wolle sie nicht.

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Mit Bescheid vom 4.10.2011 lehnte die Beklagte den Asylantrag für alle drei Personen verbunden mit einer fristgebundenen Abschiebungsandrohung hinsichtlich einer möglichen Abschiebung in die Russische Föderation ab und stellte fest, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG lägen nicht vor. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Antragsteller hätten eine Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Ihr Vorbringen sei vage, detailarm, unsubstantiiert und realitätsfremd. Sie hätten ihre Identität nicht belegt; der Name des Klägers sei in der Geburtsurkunde seines angeblichen Sohnes nicht eingetragen. Sie seien nicht ins Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte geraten. S… A… sei Vize… unter … gewesen und nie als offizieller … nach … ernannt worden. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen. Der Bescheid wurde am 7.10.2011 an den Kläger abgesandt.

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Am 10.10.2011 haben der Kläger und die Kläger des Verfahrens 3 A 78/13 MD Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren unter Wiederholung und Vertiefung des bisherigen Vorbringens und Ausführungen über die allgemeine Lage in ihrer Heimat weiterverfolgen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird gem. § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Schriftsätze vom 23.10.2011, 4.4.2012, 18.4.2012, 1.6.2012, 30.7.2012, 13.11.2012 und das Terminsprotokoll verwiesen. Das Gericht hat durch Beschluss vom 28.2.2013 das Verfahren bezüglich des Kindes M. M. und seiner Mutter abgetrennt.

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Der Kläger trägt vor: Er habe nicht ausschließlich gegen die Wahhabiten gekämpft, sondern im 2. Tschetschenienkrieg gegen die russischen Besatzer. 2004 habe ihn die berüchtigte 6. Abteilung, die dem Innenministerium der Russischen Föderation unterstellt sei, festgenommen. Bei der Einheit Nr. 50, die ihn 2008 festgenommen habe, handele es sich um ein Regiment (Übersetzungsfehler). Nach seiner Freilassung im April 2011, weil er sich zur Zusammenarbeit mit den Behörden verpflichtet habe, habe er sich bis zur Ausreise am 17.5.2011 bei seinen Verwandten in S… aufgehalten. Er habe keineswegs detailarm und realitätsfremd vorgetragen. Zu seinem entfernten Verwandten S. habe er kaum persönlichen Kontakt gehabt. Dennoch gebe es eine familiäre Loyalität, die auch für die tschetschenische Außenwelt von Bedeutung sei. A. sei nach D. Tod von April 19.. bis zur Wahl … … gewesen (vgl. Hassel, Der Krieg im Schatten, Rußland und Tschetschenien, Verlag Suhrkamp, 2003, Zeittafel S. 240, Bl. 30 der Gerichtsakte). Der Besitz von Waffen sei in Tschetschenien derart alltäglich, dass dies, auch wenn das im Widerspruch zum russischen Recht stehe, gerade kein Haftgrund sei. Die Geburtsurkunde des Kindes sei auf der Grundlage der Geburtsbescheinigung des Krankenhauses ausgefertigt worden. Bei der Ausstellung der Urkunde sei geschlampt worden. Der Vatersname I. sei dort richtig angegeben worden. Aus der Geburtsurkunde könnten keine Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit abgeleitet werden. Er sei insoweit bereit, sich einem Vaterschaftstest zu unterziehen. Der Familienname der Mutter werde immer in die Geburtsurkunde des Kindes eingetragen, wenn der Vater bei der Geburt nicht anwesend sei. In Tschetschenien mache es keinerlei Probleme, bei späteren Personaldokumenten den Familiennamen des Vaters aufzunehmen. Er, der Kläger, sei wegen PTBS und Depressivität auf psychotherapeutische Behandlung angewiesen, wie ihm ärztliche Stellungnahmen bescheinigten. Bei einer Abschiebung sei eine Retraumatisierung oder ein Suizid sehr wahrscheinlich. Der Tod seiner schwangeren Ehefrau im Jahr 2008 sei ein in ganz Tschetschenien sehr bekannter Skandal gewesen. Es habe eine große Zahl von Zeugen gegeben, und auch die Autonummern der Militärfahrzeuge seien identifiziert worden. Seine Verwandten hätten nach ihm, dem Kläger, gesucht. Die Militärs hätten wohl ebenfalls unter Druck gestanden und ihn vielleicht auch deshalb freigelassen. Er habe ihnen sein eigenes Waffenarsenal verraten und die Waffen auch übergeben, um freizukommen. Es habe sich um ein Maschinengewehr, Patronen, eine Pistole und etwa 10 Granaten gehandelt. Der Tod seiner damaligen Ehefrau habe auch Menschenrechtsorganisationen beschäftigt. Diese hätten versucht, seine Mutter davon zu überzeugen, Strafanzeige zu erstatten, gerade weil es sich um einen dokumentierten Vorfall gehandelt habe. Leider habe sie sich nicht dazu entschließen können. Wenn er, der Kläger, seiner unterzeichneten Verpflichtung zur Kollaboration nicht nachkomme, müsse er mit einem Strafverfahren wegen Unterstützung terroristischer Handlungen rechnen. Damit habe man ihm bereits während seiner Inhaftierung 2008 gedroht, als jedoch die Freilassung gelungen sei, weil ein großes, auch über die tschetschenischen Grenzen hinausgehendes öffentliches Interesse gedroht habe und er seine Waffen übergeben habe. Er, der Kläger, habe ein größeres Detailwissen über die Aktivitäten von S.; er wisse definitiv, dass sein Verwandter niemals direkte Verhandlungen mit J. geführt habe. Er sei lediglich als Begleiter M. zur Unterschrift des Vertrages nach M. gereist, der von anderen Personen aus dem Umkreis von J. und M. ausgehandelt worden sei. Über die Verwandtschaft könnten Zeugen benannt werden. Er, der Kläger, fürchte allerdings nicht politische Verfolgung wegen seiner Verwandtschaft mit S., sondern weil er sich der Zusammenarbeit mit den Kadyrovcy entzogen habe. Die Verwandtschaft zu S. sei insofern relevant, als er dadurch zusätzlich das Interesse der Behörden auf sich gezogen habe. Seine Situation sei dadurch charakterisiert, dass er trotz seiner Verwandtschaft mit S. bis zum Jahr 2011 in Tschetschenien habe leben können, aber wegen seiner Verwandtschaft mit A. und insbesondere auch wegen seiner eigenen Tätigkeit unter Maschadow bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder mit asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen überzogen worden sei. Der ehemalige … der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“, …, der ehemalige Minister und … der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“ … und der ehemalige Minister der „Tschetschenischen Republik Itschkeria“ …, die heute in B-Stadt lebten und die … Gesellschaft leiteten, hätten ihm am 5.11.2012 die Richtigkeit seines Asylvortrags schriftlich bestätigt (Bl. 67 der Gerichtsakte). Alle drei kennten ihn, den Kläger, aus Tschetschenien persönlich. Ein Verfahrensmangel liege darin, dass der Bescheid der Beklagten von einer Mitarbeiterin erstellt worden sei, die nicht die Anhörung durchgeführt habe, obwohl es entscheidend auf den persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit ankomme.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 4.10.2011 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, hilfsweise,

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dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG vorliegen,

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hilfsweise,

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die im Schriftsatz vom 13.11.2012 benannten Zeugen darüber zu vernehmen, dass er, der Kläger,

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aus dem Dorf S… stamme, mit S. verwandt sei, im 1. Tschetschenienkrieg unter A. gekämpft habe und sein Kommandeur A. gewesen sei, nach dem Krieg unter dem Bürgermeister L. und von 1998-99 im Sicherheitsdienst des Innenministeriums unter dem Vorgesetzten T. gearbeitet habe, im 2. Tschetschenienkrieg unter A. gekämpft habe, Kriegsverletzungen erlitten habe, in N. in einem Versteck medizinisch behandelt worden sei und dass seine schwangere 1. Frau, M., am ...2008 infolge von Misshandlungen verstorben sei.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung auf den ergangenen Bescheid und tritt dem Asylvorbringen aus individuellen Gründen in ihren Schriftsätzen vom 30.4.2012, 16.7.2012 und 23.11.2012 entgegen. Wie in dem vorgelegten Buchauszug richtig dargelegt, sei S. A. von der russischen Regierung als … eingesetzt worden, jedoch nie von den Tschetschenen als Nachfolger … anerkannt worden. Der Kläger stehe nicht im besonderen Verfolgungsinteresse der russischen Sicherheitskräfte in Tschetschenien und schon gar nicht landesweit.

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Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der durch Hinweis des Gerichts in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur politischen Situation in der Russischen Föderation Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.

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Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der diesem Anspruch entgegenstehende Bescheid der Beklagten war daher teilweise aufzuheben und die aus dem Tenor ersichtliche Entscheidung zu treffen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG verbietet die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Davon ist im Fall des Klägers hier auszugehen.

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Nach Auffassung des Gerichts ist der Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt, auf welchen unter Berücksichtigung des § 77 Abs. 1 AsylVfG abzustellen ist, im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger ist tschetschenischer Volkszugehöriger. Er ist nach seinem durchgängigen Vorbringen in Tschetschenien geboren, hat dort seit den 90er Jahren bis zu seiner Flucht gelebt und hat sich während beider Tschetschenienkriege als Kämpfer, in der Zeit dazwischen in ziviler Stellung und bis zu seinem Untertauchen nach der Kriegsverletzung aktiv für die tschetschenische Sache eingesetzt und ist aufgrund dessen vom heutigen, in den letzten 10 Jahren vorherrschenden System in Tschetschenien mehrfach in menschenrechtswidriger Weise misshandelt worden. Ihm droht in Tschetschenien und dem restlichen Gebiet der Russischen Föderation derzeit politische Verfolgung. Eine zumutbare inländische Fluchtalternative kann er nicht in Anspruch nehmen.

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Entgegen der Ansicht des Klägers ist der ergangene Bundesamtsbescheid nicht bereits wegen eines behaupteten formellen Fehlers aufzuheben. Das Gericht teilt für den hier konkret vorliegenden Fall insoweit nicht die vereinzelt gebliebenen Rechtsauffassungen des VG Frankfurt/Oder (Beschl. v. 23.3.2000, AuAS 2000, 126) und des VG Lüneburg (Beschl. v. 5.8.2009 - 6 B 25/09 -), wonach bereits die verfahrensrechtliche Trennung zwischen Anhörung und Entscheidung verfahrensfehlerhaft sei. Im Fall des VG Frankfurt lag dieser Bewertung zugrunde, dass Unterlagen (Videocassette, Fotos) fehlten, ein Schriftsatz nicht zur Akte gelangt war und Vortrag nicht in die Würdigung einbezogen wurde. Im Fall des VG Lüneburg ist das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts allein auf das Vorbringen des dortigen Antragstellers gestützt worden, er stamme aus Kirkuk, was wahrheitswidrig sei, weil er zweifelsfrei aus dem kurdisch verwalteten Gebiet Arbil stamme. Die Glaubwürdigkeitsbewertung des Bundesamts im vorliegenden Fall unterliegt derartigen Zweifeln nicht.

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Auch für das Gericht fällt auf, dass kein im Ganzen lückenlos widerspruchsfreier und in allen Details in sich stimmiger Asylvortrag gegeben ist. Insbesondere die Angaben des Klägers und der Klägerin des Verfahrens 3 A 78/13 MD weichen teils beträchtlich voneinander ab. Hierzu gehört zuvörderst das angebliche Heiratsdatum, das von beiden Partnern mit „4.1.2008“ angegeben wurde. Zwar haben es beide im späteren Verlauf der Anhörung auf den „4.1.2009“ vermeintlich korrigiert, ohne jedoch ihr Vorbringen zu ändern, sie hätten 3 Jahre lang ehelich vor der im Mai 2011 erfolgten Ausreise zusammengelebt. Warum ihnen vor dem 11.5.2011 keine Eheschließungspapiere vorgelegen hätten, vermochten die Partner nicht schlüssig zu erklären. Bezüglich der vorgelegten standesamtlichen Eheurkunde vom 11.5.2011 verbleiben beim Kläger daher auch deshalb Glaubwürdigkeitsmängel, als er selbst erklärt hat, er habe bereits zwei Mal offizielle Identitätsdokumente „gekauft“, nämlich seinen Reisepass und seinen Inlandspass. Unschlüssig ist auch das Vorbringen, es sei völlig unproblematisch, im Nachhinein den Kindesnamen auf den Vatersnamen zu ändern oder diesen in einer behördlichen Urkunde ändern zu lassen, wenn gerade hiervon jedoch abgesehen wurde. Widersprüchlich ist das Vorbringen der Klägerin des Verfahrens 3 A 78/13 MD, der Kläger sei Einzelkind, weshalb ihnen seine Mutter beim Lebensunterhalt geholfen habe, und kurz darauf, er habe 2 Schwestern. Völlig widersprüchlich sind auch ihre Ausführungen dazu, wann die behaupteten Nachstellungen ihr gegenüber begonnen hätten (Januar/ Frühjahr/ Juni 2009/ vor der Geburt ihres Sohnes im September 2009).

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Unsubstantiiert bleibt der Vortrag des Klägers, seine frühere (im gestellten Hilfsbeweisantrag als „erste“ Ehefrau bezeichnete) Frau (die nicht die 2000 …. ausgewanderte Ehefrau sein kann) sei am ...2008 von maskierten russischen Militärs getötet worden. Der Name der Frau „M.“ wird vom Kläger selbst nicht angegeben, sondern erscheint erstmals im von ihm vorgelegten Bestätigungsschreiben seiner Landsleute von der … Gesellschaft. Obwohl der Kläger ausgeführt hat, die Tötung habe in seiner Heimat viel öffentliches Aufsehen erregt, sei von Menschenrechtsorganisationen aufgegriffen worden, sei überall bekannt gewesen und habe durch den dadurch verursachten Druck mit zu seiner Freilassung nach der Verhaftungsaktion am ...2008 beigetragen, hat er dazu nicht einen einzigen Beleg beigebracht oder eine Quelle benannt. Eine Internetrecherche nach dem Namen der Frau blieb ohne Ergebnis. Der Jahresbericht 2009 amnesty international (S. 379 ff.), in dem namentlich Einzelfälle willkürlicher Tötungen bei russischen Polizei- und Militäraktionen in Tschetschenien aufgeführt sind, enthält hierauf ebenfalls keinen Hinweis. Die insoweit gegebene Bestätigung der … Gesellschaft vom 5.11.2012, dass „der Tod der schwangeren Frau A., M., am ...2008 durch Misshandlungen … in Tschetschenien bekannt“ sei, wäre insoweit ein ungeeignetes Beweismittel und lässt erst recht nicht erkennen, dass die Unterzeichner Kenntnisse aus erster Hand beitragen könnten.

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Zweifel bezüglich seines berühmten Verwandten vermochte der Kläger nicht auszuräumen. Weder er selbst noch die Unterzeichner des Schreibens vom 5.11.2012 (Bl. 67 der Gerichtsakte) bezeichnen das genaue Verwandtschaftsverhältnis. Die Schreibweise des Namens (… usw.) variiert erheblich, was sich nicht immer mit der Wiedergabe eines russischen Namens in lateinischen Buchstaben erklären lässt. Dem Kläger ist zuzugestehen, dass die Ausführungen der Beklagten im ergangenen Bescheid (S. 9), Z. sei „nie als offizieller … nach D. ernannt worden“, zumindest missverständlich sind. Die Beklagte hat später eingeräumt, dass Z. nach D. bis zur Wahl M. amtierender … war. … ist als vormaliger … nach … Ermordung im April … von den Russen eingesetzt worden und blieb als Unterlegener bei der Wahl … nur für eine Übergangszeit bis zum Februar … im Amt. Dass er selbst … getötet wurde, erwähnte bei seiner Anhörung weder der Kläger noch die Klägerin des Verfahrens 3 A 78/13 MD, die am 8.6.2011 angab, ihr Mann verstehe sich mit seinem genannten Verwandten nicht gut. Ein schlüssiges Vorbringen dazu, dass der Kläger etwa wegen dieses angeblichen Verwandten bzw. dessen Einsatz für die tschetschenische Sache festgenommen und gefoltert oder sonst verfolgt worden sei, ist der Kläger schuldig geblieben, zumal die Verbreitung des Namens A. (oder ähnlich) in Tschetschenien nicht eben selten ist.

25

Wenngleich das Gericht die aufgezeigten Merkwürdigkeiten nicht verkennt, liegen sie doch eher am Rande des im Kern ausführlich, substantiiert und insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, glaubhaft geschilderten Verfolgungsschicksals. Zu diesem Kern zählen die folgenden Fakten, die vom Kläger durchgängig und schlüssig als Fluchtgründe geschildert worden sind:

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- seine Teilnahme als Kämpfer gegen Wahhabiten und Russen im 1. und 2. Tschetschenienkrieg auf seiten Dudajews und Maschadows

27

- sein Ausscheiden aus den Kämpfen nach erlittener Verwundung

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- nach Rückkehr aus der Krankenbehandlung in N. 2003 Festnahme und Folterung durch ein russisches Sonderkommando, um Informationen über die Kämpfe(r) preiszugeben

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- 2004 und 2008 weitere Festnahmen und Foltern im Zusammenhang mit auszuliefernden Waffen

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- 21./22.4.2011 Verschleppung und Folter durch die Einheit Sewer mit dem Ziel der Anwerbung als Spitzel gegen (ehemalige) Kämpfer.

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Der Kläger erweist sich zur Auffassung des Gerichts durch seine Erklärungen als politisch denkender und für ihre nationale Sache eingestellter Tschetschene. Als studierter Ingenieur und in der tschetschenischen Verwaltung Tätiger (1992-94 beim …, 1996/97 Stadtverwaltung G., 1998/99 Personenschutz beim …) sowie waffenerprobter Konfliktteilnehmer verfügte der Kläger über Kenntnisse, die für die in Tschetschenien herrschenden Machthaber von erheblichem Interesse sind. Bereits die aus konkretem Anlass erfolgte 1. Festnahme 2003 lässt mit drastischen Schilderungen der durchgemachten Torturen nachvollziehbar erscheinen, dass der Kläger es seither vorzog, im Untergrund zu leben. Dabei vermag das Bundesamt dem Kläger nicht entgegenzuhalten, die Folterer wüssten, ob jemand tot sei oder nicht und hätten nicht, als sie geglaubt hätten, er sei tot, von ihm abgelassen und ihn irgendwo ausgesetzt. Das Ausmaß der Gewalt in Tschetschenien sowohl seitens der russischen als auch der tschetschenischen Militäreinheiten als auch der Rebellengruppen charakterisiert sich dadurch, dass das Leben nichts zählt und niemand fürchtet, für die begangenen Gräuel zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die im einzelnen geschilderten psychischen und körperlichen Foltermethoden decken sich mit Berichten über die Lage in Tschetschenien, gehen aber beim Kläger auch darüber hinaus. Soweit der Kläger als Moslem hierbei von sich aus auch auf besondere Schambereiche und Ehrbegriffe abzielende Misshandlungen eingegangen ist, macht ihn dies nach Auffassung des Gerichts zusätzlich glaubwürdig. Sein Vortrag erschöpft sich mithin keineswegs im Aufzählen selbst nicht erlebter, gängiger Misshandlungsmethoden. Gegen seine Glaubwürdigkeit spricht nach Auffassung des Gerichts nicht, dass er letztlich angab, die Folterer hätten sich 2004, 2008 und 2011 schließlich doch mit Freikaufsgeld, Waffenauslieferung und einer Informanten-Verpflichtungserklärung zufriedengegeben. All dies widerspricht nicht per se der in Tschetschenien herrschenden Interessenlage.

32

Der Kläger hat hinreichend deutlich gemacht, dass er ins Visier der tschetschenischen Machthaber geraten ist. Er gehört damit einer typischen Risikogruppe (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 24.4.2008 - 3 UE 410/06.A -, zit. nach juris; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 5.12.2011 - 2 L 136/11-, Beschl. v. 1.3.2012 - 2 L 170/11 -) an, deren Mitglieder bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht hinreichend sicher sind vor schwersten Menschenrechtsverletzungen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 26.7.2012 - 2 L 68/10 -). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 6.7.2012 (S. 14 ff.) ist die Sicherheitslage in Tschetschenien weiterhin schlecht. Es gebe täglich gewaltsame Vorfälle mit Toten und zahlreichen Verletzten. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt drehe sich weiter. Es herrsche ein Klima der Straflosigkeit bei schwersten Gesetzesbrüchen der Sicherheitskräfte. Korruption und harte Repressionen seien an der Tagesordnung. Bei Verfolgten handele es sich keineswegs immer um Aufständische, und häufig werde mit ihnen einfach kurzer Prozess gemacht.

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Der Kläger hat vor dem Hintergrund der feststehenden Tatsache, dass Opfer häufig nicht erkennen können, wer die Täter sind (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 13.2.2007 - A 11 K 11438/05 -, Rn. 26), geschildert, dass er wiederholt gesucht und aufgespürt worden sei. Auch sind Verschleppungen von Personen, die verdächtigt werden, Kontakte zu Rebellen bzw. separatistischen oder terroristischen Kreisen zu unterhalten, in Tschetschenien an der Tagesordnung (vgl. SZ v. 2.2.2005: Maschadow-Clan entführt; FR v. 1.9.2006: Elina Ersenojeva gekidnappt). Als besonders rückkehrgefährdet werden dabei sowohl vom UNHCR als auch von Menschenrechtsorganisationen u.a. Asylsuchende angesehen, die möglicherweise für ihre vor der Flucht erfolgte Unterstützung der Rebellentruppen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten (vgl. HessVGH, Urt. v. 24.4.2008 - 3 UE 410/06.A -, Rn. 61, 65 m.w.N., zit. nach juris). Das trifft aufgrund seiner Bildung und seiner Fachkenntnisse auf den Kläger zu.

34

Auch hierbei entspricht es der Erkenntnislage, dass die russischen Sicherheitskräfte mit allen – auch überzogenen – Mitteln gegen vermutete Terrorverdächtige und ihre Helfer vorgehen (vgl. NZZ v. 6.2.2007: Hearing ausländischer Juristen in Moskau - Kritik an Russlands Terrorbekämpfung). Der Kläger ist damit nach seiner überzeugenden Einlassung für den Fall seiner Abschiebung in die Russische Föderation nicht hinreichend sicher vor einer ihm drohenden illegalen Festnahme (vgl. NZZ v. 11.5.2007: EGMR – Russland verurteilt wegen gewaltsamen Todes eines Tschetschenen nach illegaler Festnahme), fingierten bzw. gefälschten Beweisen (vgl. AA, Lageberichte v. 18.8.2006, S. 10, und v. 17.3.2007, S. 12) sowie Folter (vgl. AA, Lagebericht v. 17.3.2007, S. 25; NZZ v. 14.11.2006: Human Rights Watch – neue Berichte über Folter; FR v. 27.11.2006: UN-Ausschuss wirft Russland Folter vor). Überdies besteht für den Kläger in Anbetracht der grassierenden Willkür in seiner Heimat keine hinreichende Sicherheit davor, dass man ihn - wie zahlreiche tschetschenische Volkszugehörige, die in das Fadenkreuz der Terrorbekämpfung gelangt sind - ohne reguläre Inhaftierung verschwinden lässt (vgl. Die Zeit v. 22.3.2005: Die „verschwundenen“ Tschetschenen; FR v. 3.3.2007: Wahlfarce in Tschetschenien – Tausende Verschwundene). Da er überdies nach seinen plausiblen Erklärungen bei seiner zweiten Verhaftung 2004 schwer geschlagen und gefoltert wurde, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass diese menschenrechtswidrige Behandlung allein deshalb erfolgt sein soll, um seine Angehörigen zum Freikauf zu veranlassen und den Milizangehörigen zu Geldeinnahmen zu verhelfen, wie der Bundesamtsbescheid mutmaßt. Bei dieser Sachlage kommt dem Kläger zugute, dass er ohne Übertreibungen vorträgt, er sei bei seiner letzten Verhaftung nicht derart malträtiert worden. In diesem Zusammenhang ist ohne Belang, ob der Kläger auch auf einer Fahndungsliste steht.

35

Der Kläger kann auch nicht auf eine hinreichend sichere inländische Fluchtalternative verwiesen werden, weil diese für ihn im vorliegenden Einzelfall (zur generellen Situation vgl. OVG Niedersachsen, Beschl. v. 16.1.2007 - 13 LA 67/06 -; OVG NRW, Urt. v. 12.7.2005 - 11 A 2307/03.A -; BayVGH, Urt. v. 24.4.2007 - 11 B 03.30133 -) nicht besteht. Ist der Kläger nämlich, wie dargelegt, namentlich im Zusammenhang mit seinen Festnahmen identifiziert worden, bestünden die oben aufgezeigten Gefahren für ihn auch bei einer Abschiebung nach Moskau oder einer - die Möglichkeit hierzu einmal unterstellt - Rückkehr in andere, etwa südrussische oder kaukasische Regionen, in denen größere tschetschenische Bevölkerungsanteile bestehen. Der Kläger würde aufgrund des „langen Arms des Regimes von Ramsan Kadyrow“ (so Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 6.7.2012, S. 18) unweigerlich erneut in das Blickfeld der Sicherheitskräfte in der Russischen Föderation gelangen. Ein interner Schutz i.S.v. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (ABl. der EU v. 30.9.2004, L 304/12) kommt dem Kläger unter diesen Umständen nicht zugute, denn eine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht aufgrund der Erkenntnislage für den Kläger auch in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation (vgl. BayVGH, Urt. v. 15.10.2007 - 11 B 06.30875 -; HessVGH, Urt. v. 24.4.2008 - 3 UE 410/06.A -, jew. zit. nach juris).

36

Angesichts des nach Auffassung des Gerichtes bestehenden Anspruchs i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG war der streitbefangene Bescheid der Beklagten teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen, ohne dass es noch auf den Hilfsantrag des Klägers ankommt.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

38

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gesetz über den Lastenausgleich


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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 117


(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgr

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Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 26. Juli 2012 - 2 L 68/10

bei uns veröffentlicht am 26.07.2012

Tatbestand 1 Der am (…) 1978 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Am 04.11.2002 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung

Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 13. Feb. 2007 - A 11 K 11438/05

bei uns veröffentlicht am 13.02.2007

Tenor 1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31.08.2005 wird aufgehoben, soweit mit ihm nicht der Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte abgelehnt wird. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass d

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgrund vom Vorsitzenden oder, wenn er verhindert ist, vom dienstältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht.

(2) Das Urteil enthält

1.
die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren,
2.
die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben,
3.
die Urteilsformel,
4.
den Tatbestand,
5.
die Entscheidungsgründe,
6.
die Rechtsmittelbelehrung.

(3) Im Tatbestand ist der Sach- und Streitstand unter Hervorhebung der gestellten Anträge seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt darzustellen. Wegen der Einzelheiten soll auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt.

(4) Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war, ist vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übermitteln. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übermitteln; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln.

(5) Das Gericht kann von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(6) Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat auf dem Urteil den Tag der Zustellung und im Falle des § 116 Abs. 1 Satz 1 den Tag der Verkündung zu vermerken und diesen Vermerk zu unterschreiben. Werden die Akten elektronisch geführt, hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle den Vermerk in einem gesonderten Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Urteil untrennbar zu verbinden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Der am (…) 1978 geborene Kläger ist russischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Am 04.11.2002 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt gab er u. a. an, er habe zuletzt in Vedeno in dem Dorf O. im Gebiet von Vedenski gelebt. Einen Beruf habe er nicht erlernt. Er habe bis 1999 als Angestellter der Maschadow-Regierung gearbeitet und Ölanlagen bewacht. Im Mai 2002 habe er gemeinsam mit einem Freund zwei Personen erschossen und einen russischen Offizier festgenommen, um seinen bei einer „Säuberungsaktion“ festgenommenen Bruder durch einen Austausch freizubekommen. Danach hätten sich alle drei auf der Flucht befunden, zunächst aber keine Möglichkeit gehabt, das Land zu verlassen. Mit Hilfe eines Schleppers seien sie Ende Oktober 2002 mit einem LKW nach Deutschland gebracht worden.

2

Mit Bescheid vom 25.04.2003 lehnte die Beklagte den Asylantrag ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung führte sie u. a. aus, der Kläger habe das von ihm vorgetragene Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft gemacht. Seine Schilderungen der vermeintlich die Flucht auslösenden Vorfälle seien insgesamt zu unpräzise, ausweichend, allgemein gehalten und teilweise lebensfremd.

3

Am 12.05.2003 hat der Kläger Klage erhoben und ergänzend vorgetragen, die Entführung des russischen Offiziers habe um die Mittagszeit auf dem Markt der Stadt Vedeno stattgefunden. Die russischen Militärangehörigen seien im Zentrum der Stadt mit einem russischen Geländewagen (UASIK) unterwegs gewesen und hätten auf dem Markt einkaufen wollen. Kurz nachdem die Russen aus ihrem Wagen ausgestiegen seien, sei es zu einer Schießerei gekommen, in deren Verlauf zwei russische Soldaten ums Leben gekommen seien. Der etwa 45-jährige russische Offizier habe sofort einsehen müssen, dass jeglicher Widerstand unsinnig sei und für ihn den Tod bedeuten würde. Er habe sich sofort festnehmen lassen und sei schnell ins Auto gebracht worden, das einem seiner (des Klägers) Freunde gehört habe. Dieser sei auch gleichzeitig der Fahrer des Wagens gewesen. Der festgenommene Offizier sei in ein Waldstück in den Bergen unweit von Vedeno gebracht worden, wo er ca. zwei Monate bis zu seinem Umtausch in einer unterirdischen Befestigung festgehalten worden sei. Am Umtausch des russischen Offiziers gegen seinen Bruder hätten auf der tschetschenischen Seite ca. 10 Leute teilgenommen. Die Operation habe unweit der georgischen Grenze stattgefunden. Die Vertreter der russischen Seite seien auf Panzern angefahren und hätten seinen Bruder mitgebracht.

4

Nach dem erzwungenen Umtausch hätten sich weder er selbst noch sein Bruder vor der Verfolgung durch russische Organe sicher sein können. Die russischen Behörden verfügten insgesamt über ein gutes Informationssystem, bei dem sie sich auch auf tschetschenische Informanten stützen könnten. Es liege nahe, dass nach solchen Personen, die sich der Begehung von Kapitalverbrechen verdächtig gemacht hätten, überall in der Russischen Föderation gefahndet werde. Es sei ihm auch nicht zuzumuten, sich in der Russischen Föderation einem rechtsstaatlichen Prozess zu stellen, wie dies ihm in der Anhörung vor dem Bundesamt nahe gelegt worden sei. Es sei allgemein bekannt, dass die russischen Ermittlungs- und Justizbehörden gegen bestimmte Kreise und Gruppen rigoros vorgingen.

5

Sowohl auf Grund der Gesamtsituation der Tschetschenen in der Russischen Föderation als auch wegen der geschilderten Ereignisse bestehe auch keine inländische Fluchtalternative.

6

Der Kläger hat (sinngemäß) beantragt,

7

den Bescheid der Beklagten vom 25.04.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG vorliegen.

8

Die Beklagte hat beantragt,

9

die Klage abzuweisen.

10

Mit Urteil vom 15.06.2005 hat das Verwaltungsgericht Magdeburg die Beklagte verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in die Russische Föderation festzustellen, und den angefochtenen Bescheid aufgehoben, soweit er dem Verpflichtungsanspruch entgegensteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt:

11

Der Kläger sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung ausgesetzt. Nach Überzeugung des Gerichts sei der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger und habe in Tschetschenien gelebt. Ihm drohe sowohl in Tschetschenien als auch im gesamten übrigen Gebiet der Russischen Föderation derzeit politische Verfolgung. Eine staatlicherseits betriebene oder geduldete gruppengerichtete Verfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien sei zwar nicht feststellbar, da die Zahl der feststellbaren Verfolgungsfälle in ihrer Dichte nicht ausreiche, um die hohen Anforderungen der Rechtsprechung an eine staatliche Gruppenverfolgung anzunehmen. Es fehlten auch hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm.

12

Unabhängig davon, ob der Kläger vorverfolgt aus seiner Heimat ausgereist sei, drohe ihm aber deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil die durch das Föderationsgesetz theoretisch auch für tschetschenische Volkszugehörige gegebene Freizügigkeit in der Praxis außerhalb Tschetscheniens stark eingeschränkt werde. Dem Kläger stehe innerhalb der Russischen Föderation auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

13

Die vom Senat zugelassene Berufung hat der Beteiligte wie folgt begründet: Bei der Ermittlung der Verfolgungsdichte dürften nicht einfach alle Übergriffe, egal von welcher Seite und mit welcher zu vermutenden Zielrichtung undifferenziert einbezogen werden. Bei Aktionen tschetschenischer Widerstandskämpfer, Guerillas oder schlichten Räuberbanden sei nicht ersichtlich, dass diese auf asyl- oder flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter und Eigenschaften ihrer Opfer, insbesondere die ethnische Zugehörigkeit zur tschetschenischen Bevölkerungsmehrheit abzielten. § 60 Abs. 1 AufenthG diene nur dem Schutz vor politischer Verfolgung und habe nicht die Aufgabe, vor den Unglücksfolgen allgemeiner Kriegszustände und -wirren oder schlicht vor allgemein verbreiteter Gewaltkriminalität oder Terror zu bewahren. Zudem komme eine hier allenfalls mögliche örtlich begrenzte Gruppenverfolgung nur bei denjenigen Tschetschenen in Betracht, die in Tschetschenien leben. Wer hingegen – wie der Kläger – vor 2004 die russische Föderation verlassen habe und nunmehr aus dem Ausland zurückkehre, gehöre nicht zur verfolgungsgefährdeten Gruppe. Anderes gelte nur für denjenigen, der sein Heimatland vorverfolgt verlassen habe. Dafür bestünden aber im Fall des Klägers mangels Glaubhaftmachung keine Anhaltspunkte.

14

Der Beteiligte hat beantragt,

15

das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 15. Juni 2005 – 3 A 216/03 MD – zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

16

Der Kläger hat beantragt,

17

die Berufung zurückzuweisen.

18

Mit Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat die Berufung des Beteiligten zurückgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

19

Dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Er habe die Russische Föderation vorverfolgt verlassen. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise sei er von politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG unmittelbar bedroht gewesen. Die unmittelbare Bedrohung durch russische Sicherheitskräfte habe sich aus der tschetschenischen Volkszugehörigkeit des Klägers in Verbindung mit der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft mit Hilfe tschetschenischer Widerstandskämpfer ergeben, was sich aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-separatistische Sache dargestellt habe. Der Kläger habe im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen können, dass er im Rahmen des Zweiten Tschetschenienkrieges an der Seite der Tschetschenen und gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft habe, indem er an der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft maßgeblich beteiligt gewesen sei. Bei einer Gefangennahme eines russischen Offiziers und der Tötung von russischen Soldaten könne davon ausgegangen werden, dass die russische Armee spätestens nach der Austauschaktion Kenntnis darüber erlangte, dass der Kläger hinter dieser Gefangennahme gestanden habe und dies die Einleitung einer landesweiten Fahndung gegen beide Brüder zur Folge gehabt hätte. Die dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende (Straf-)Verfolgung sei auch asylerheblich, insbesondere liege darin nicht nur die Ahndung kriminellen Unrechts. Eine Strafverfolgung des Klägers wegen der von ihm geschilderten Ereignisse hätte – jedenfalls auch – politischen Charakter gehabt. Auf Grund der anzunehmenden landesweiten Fahndung gegen den Kläger sei auch das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative bzw. die Möglichkeit internen Schutzes nach Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im Oktober 2002 zu verneinen. Auch außerhalb Tschetscheniens hätte der Kläger aus asylerheblichen Gründen keinen fairen Strafprozess erwarten können, er wäre vielmehr auf Grund der ihm vorgeworfenen Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer in Verbindung mit seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit auch dort einer politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen. Es lägen keine stichhaltigen Gründe vor, die angesichts der Vorverfolgung des Klägers eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien ausschlössen. Die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG sei auch nicht gemäß § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen.

20

Mit Urteil vom 16.02.2010 (BVerwG 10 C 7.09) hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Senats aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Es hat beanstandet, das Berufungsgericht habe nicht festgestellt, ob die Voraussetzungen der in Art. 8 Abs. 2 des Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs geregelten Tatbestände erfüllt seien, die für die Einordnung von Handlungen als Kriegsverbrechen im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG maßgebend seien. Zudem habe das Berufungsgericht den Ausschlussgrund der schweren nichtpolitischen Straftat im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG auf zu schmaler Tatsachengrundlage verneint.

21

Der Beteiligte hat ergänzend zur Berufungsbegründung vorgetragen: Aus seiner Sicht spreche Überwiegendes gegen die Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Klägers. Insbesondere liege nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 21.04.2011 weiterhin kein feststellbares Fahndungsersuchen vor. Jedenfalls liege ein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylVfG vor, weil der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen habe. Auch könne dem Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe keine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, auch weil für ihn eine inländische Ausweichmöglichkeit bestehe.

22

Der Beteiligte beantragt (weiterhin),

23

das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 15. Juni 2005 – 3 A 216/03 MD – zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

24

Der Kläger beantragt,

25

die Berufung zurückzuweisen.

26

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

27

I. Die zulässige Berufung ist teilweise begründet.

28

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil zu Unrecht verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl I S. 162) – AufenthG – erfüllt sind und insoweit zu Unrecht den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu (1.). Er hat aber einen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG besteht (2.).

29

1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 2 des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008 (BGBl I S. 1798) – AsylVfG – sowie § 60 Abs. 1 und Abs. 8 Satz 2 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG ist ein Ausländer jedoch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er (1.) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, (2.) vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder (3.) den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat. Dies gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

30

1.1. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Eine Verfolgung liegt vor, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an eines der genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (siehe grundsätzlich: BVerfG, Urt. v. 10.07.1989 – 2 BvR 502, 1000 und 961/86 –, BVerfGE 80, 315, 5. 339). Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind (nunmehr) für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ergänzend anzuwenden.

31

Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG gelten als Verfolgung im Sinne des Artikels 1A der Genfer Flüchtlingskonvention Handlungen, die

32

a) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder

33

b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.

34

Die asylerheblichen Merkmale werden als Verfolgungsgründe in Art. 10 der Richtlinie definiert.

35

Hat der Ausländer sein Heimatland individuell vorverfolgt verlassen oder war er vor seiner Ausreise unmittelbar von solcher Verfolgung bedroht, kommt ihm für die Verfolgungsprognose die Beweiserleichterung des gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG (ergänzend) anzuwendenden Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute. Danach stellt der Umstand, dass der Schutz suchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG) erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 05.05.2009 – 10 C 21.08 –, NVwZ 2009, 1308 [1309], RdNr. 19). Eine Vorverfolgung kann nicht mehr wegen einer zum Zeitpunkt der Ausreise bestehenden Fluchtalternative in einem anderen Teil des Herkunftsstaates verneint werden; dies bedeutet, dass im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung die Beweiserleichterung auch dann gilt, wenn im Zeitpunkt der Ausreise keine landesweit ausweglose Lage bestand (BVerwG, Urt. v. 24.11.2009 – 10 C 24.08 –, BVerwGE 135, 252 [259], RdNr. 18).

36

a) Der Kläger hat die Russische Föderation vorverfolgt verlassen. Er war zum Zeitpunkt seiner Ausreise von politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 QRL unmittelbar bedroht. Die unmittelbare Bedrohung durch politische Verfolgung seitens der russischen Sicherheitskräfte ergab sich aus der tschetschenischen Volkszugehörigkeit des Klägers in Verbindung mit der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft mit Hilfe eines Freundes und tschetschenischer Widerstandskämpfer, was sich aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte als Engagement für die tschetschenisch-separatistische Sache darstellte.

37

aa) In seinem Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat die vom Kläger gegebene Schilderung der Ereignisse, die eine Vorverfolgung begründen, als glaubhaft bewertet und dazu ausgeführt:

38

„Der Senat ist zunächst davon überzeugt, dass der Kläger tschetschenischer Volkszugehöriger ist. Seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung erfolgte in tschetschenischer Sprache.

39

Der Kläger hat ferner im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen können, dass er im Rahmen des Zweiten Tschetschenienkrieges an der Seite der Tschetschenen und gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft hat, indem er an der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders aus russischer Haft maßgeblich beteiligt war. Seine Aussagen vor dem Bundesamt waren zwar noch sehr allgemein gehalten. Einzelheiten zu der Festnahme seines Bruders im Zuge der „Säuberungsaktion“, zu der Gefangennahme des russischen Offiziers sowie insbesondere zu der Austauschaktion im Mai 2002 schilderte er dort nicht. In der mündlichen Verhandlung hat er jedoch detailreich und ohne Widersprüche zu seinem bisherigen Vortrag und den Ausführungen in der Klagebegründung nähere Angaben zu den behaupteten Ereignissen gemacht. Er hat geschildert, warum sein Bruder festgenommen worden war, wie die Gefangennahme des russischen Offiziers vorbereitet wurde, wie diese ablief und wie es möglich war, dass sie zu zweit drei bewaffnete Militärangehörige überwältigen konnten. Er hat ferner überzeugend dargestellt, wo der Offizier gefangen gehalten wurde, wie genau der Austausch ausgehandelt wurde und wie dieser ablief. Auf die Sitzungsniederschrift wird insoweit verwiesen.

40

Soweit vermeintliche Widersprüche aufgetreten sind, konnte der Kläger sie auf Vorhalt entkräften. Dies gilt beispielsweise für die Dauer der Gefangennahme des russischen Offiziers. Während er in der Klagebegründung ausgeführt hat, zwischen der Festnahme des russischen Offiziers im Mai 2002 und dem Austausch habe ein Zeitraum von etwa 2 Monaten gelegen, hat er bei der Befragung in der mündlichen Verhandlung zunächst angegeben, der Austausch habe (bereits) im Juni 2002 stattgefunden. Auf entsprechenden Vorhalt hat er bekundet, er habe mit der Zeitangabe in der Klagebegründung einen Zeitraum von etwa 1½ Monaten gemeint. Da er bei seinen früheren Befragungen keine genauen Datumsangaben gemacht hatte, hat der Senat letztlich keinen die Glaubhaftigkeit der Aussage in Frage stellenden Widerspruch feststellen können. Auch hinsichtlich der Angabe des Orts, an dem der Austausch stattfand, ist es dem Kläger gelungen, eine vermeintliche Ungereimtheit zu klären. In der mündlichen Verhandlung hat er auf Nachfrage zunächst angegeben, der Gefangenenaustausch habe in dem Gebiet von Shatoy stattgefunden. Auf den Vorhalt, nach seinen Angaben in der Klagebegründung, diese Operation habe unweit der georgischen Grenze stattgefunden, hat er dem Gericht nachvollziehbar erläutert, dass Teile des Gebiets von Shatoy zu Grenzregion zu Georgien zählten. Die Stadt Shatoy liegt (nur) etwa 40 bis 50 km von der georgischen Grenze entfernt. Die Region Shatoiskij grenzt an Georgien an.

41

Für die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers spricht ferner, dass sein Bruder im Rahmen seines Asylverfahrens ein Verfolgungsschicksal geschildert hat, das mit den vom Kläger gemachten Angaben übereinstimmt. Der Umstand, dass der Bruder des Klägers – nach kurzer Überlegung – von zwei ausgetauschten Offizieren gesprochen hatte, während der Kläger auch auf Nachfrage erklärt hat, dass nur ein Offizier ausgetauscht worden sei, steht dem nicht entgegen. Der Kläger konnte dies nachvollziehbar damit erklären, dass seinem Bruder vor der Übergabe ein Sack über den Kopf gestülpt worden sei, so dass er bei dem Austausch möglicherweise nur schwer erfassen konnte, wie viele der anwesenden Offiziere Gegenstand des Austauschs waren.

42

Die Angaben des Klägers stehen auch nicht in Widerspruch zu der vom Senat eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 10.09.2008. Danach kann ein im Jahr 2002 erfolgter Gefangenenaustausch von inhaftierten Tschetschenen gegen festgenommene russische Offiziere nicht ausgeschlossen werden. Während der Kriegshandlungen sei es, wenn auch selten, zu derartigen Austauschaktionen gekommen. Zwar wird darin einschränkend weiter ausgeführt, dass, sofern in der Vergangenheit ein Gefangenenaustausch bekannt geworden sei, es sich um Gruppen von Gefangenen gehandelt habe, die nach einer langen Prüfung durch die russische Armeeführung ausgetauscht worden seien. Da der Offizier etwa 1 bis 2 Monate festgehalten wurde, erscheint eine ausführliche Prüfung jedenfalls nicht ausgeschlossen. Im Übrigen kann, da nach den Angaben des Auswärtigen Amts eine offizielle Anfrage bei der russischen Armee nicht möglich ist und das Auswärtige Amt nur auf der Grundlage der ihm bekannt gewordenen Fällen Auskunft geben kann, nicht ausgeschlossen werden, dass während des Kriegsgeschehens in Einzelfällen auch einzelne Gefangene durch Militäreinheiten vor Ort ausgetauscht wurden.“

43

Der Senat hält die vom Kläger vor dem Bundesamt, im erstinstanzlichen Verfahren und in der ersten mündlichen Verhandlung des Senats vom 28.11.2008 gegebene Darstellung dieser Ereignisse auch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 weiterhin für glaubhaft. Zwar hat der Kläger bei seiner informatorischen Befragung am 26.07.2012 Einzelheiten der Tötung oder Verwundung der beiden russischen Soldaten teilweise anders geschildert als bisher. So hat er nunmehr zunächst erklärt, dass er und sein Freund die Waffen zunächst offen am Gürtel getragen hätten, während er bei seiner ersten Befragung noch angegeben hatte, auf dem Markt (offener Basar) habe man mit versteckten Waffen herumlaufen können, und die von ihm verwendete AKM 45 habe man leicht unter der Jacke verstecken können. Nachdem er auf diesen Widerspruch hingewiesen worden ist, erklärte der Kläger, dass er sich an Details nicht mehr erinnern könne und er nicht mehr wisse, ob sie die Waffen offen oder versteckt getragen hätten. Auf die Frage, ob die russischen Soldaten sich zur Wehr gesetzt hätten, hat er ausgeführt, die Soldaten hätten zwar schießen wollen, er aber sei schneller gewesen. In der mündlichen Verhandlung am 28.11.2008 hatte er noch vorgetragen, als Erster habe der Widerstandkämpfer und danach er selbst geschossen, die Soldaten seien getroffen worden, hätten aber trotzdem noch zurückgeschossen. Diese Widersprüche lassen sich indes damit erklären, dass der Kläger ersichtlich den Versuch hat unternehmen wollen, den möglichen, im Revisionsverfahren zur Sprache gekommenen Vorwurf zu entkräften, die beiden russischen Soldaten „meuchlerisch“ getötet zu haben und deshalb Kriegsverbrecher im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG zu sein.

44

bb) Der Senat geht weiter davon aus, dass dem Kläger auf Grund der Tötung oder zumindest schweren Verletzung der russischen Soldaten und der Entführung des russischen Offiziers politische Verfolgung unmittelbar drohte. Bereits im Urteil vom 28.11.2008 hat der Senat ausgeführt:

45

„Nach der bereits erwähnten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 10.09.2008 kann bei einer Gefangennahme eines russischen Offiziers und der Tötung von russischen Soldaten davon ausgegangen werden, dass die russische Armee spätestens nach der Austauschaktion Kenntnis darüber erlangte, dass der Kläger hinter dieser Gefangennahme stand, um seinen inhaftierten Bruder frei zu bekommen. Der Auskunft lässt sich weiter entnehmen, dass dies die Einleitung einer landesweiten Fahndung gegen beide Brüder zur Folge gehabt hätte.

46

Die dem Kläger im Zeitpunkt der Ausreise drohende (Straf-)Verfolgung wegen der Tötung von zwei russischen Soldaten, der Entführung eines russischen Offiziers und der Freipressung seines Bruders während des Zweiten Tschetschenienkrieges ist auch asylerheblich, insbesondere liegt darin nicht nur die Ahndung kriminellen Unrechts.

47

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 27.04.2004 – 2 BvR 1318/03 –, NvWZ-RR 2004, 613) ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Dies gilt allerdings nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Das Asylgrundrecht gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass insbesondere die Anwendung von Folter als schärfste Form der Ausgrenzung aus der staatlichen Friedensordnung ein Indiz für die asylerhebliche Zielrichtung der staatlichen Maßnahme darstellen kann. Die staatliche Verfolgung kriminellen Unrechts, also von Straftaten, die sich gegen die Rechtsgüter anderer Bürger richten, ist keine „politische" Verfolgung, und zwar auch dann nicht, wenn die Straftaten aus einer politischen Überzeugung heraus begangen worden sind. Politische Verfolgung liegt auch dann nicht vor, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass die Verfolgung einer sich gegen ein politisches Rechtsgut richtenden Tat nicht der mit dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solcher gilt, sondern einer in ihm zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit der Staatenpraxis geläufig ist. Auch hier kann aber politische Verfolgung zu bejahen sein, wenn der Betroffene eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher – nicht politischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche (BVerfG, Beschl. v. 20.12.1989 – 2 BvR 958/86 – BVerfGE 81, 42 [151]). Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung können dann als asylerhebliche Vorverfolgung zu bewerten sein, wenn zusätzliche Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene jedenfalls auch wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Nicht Asyl begründend sind staatliche Maßnahmen also nur dann, wenn sie nach Art und Intensität Abwehrcharakter haben und den Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der damit zusammenhängenden Straftaten nicht verlassen. Wird darüber hinaus der politische Gegner – in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal – verfolgt, kommt den dabei eingesetzten staatlichen Maßnahmen Asyl begründende Wirkung zu. Extralegale Handlungen und gravierende Menschenrechtsverletzungen werfen auch im Rahmen einer unnachsichtigen Bekämpfung des Terrors durch den Staat stets die Frage auf, ob damit nicht zumindest auch asylerhebliche Ziele verfolgt werden. Ein Umschlagen in eine asylerhebliche Verfolgung liegt dementsprechend dann nahe, wenn die staatlichen Maßnahmen das der reinen Terrorismusbekämpfung angemessene Maß überschreiten, insbesondere wenn sie mit erheblichen körperlichen Misshandlungen einhergehen; aber auch bei einer übermäßig langen Freiheitsentziehung kann dies anzunehmen sein. In solchen Fällen spricht eine Vermutung dafür, dass sie den Einzelnen zumindest auch wegen seiner asylerheblichen Merkmale treffen und deshalb politische Verfolgung darstellen. Hierbei sind auch die jeweilige Rechtslage und deren Beachtung in der Rechtswirklichkeit in den Blick zu nehmen. Welche Abwehrmaßnahmen im Einzelnen bei objektiver, wertender Betrachtung noch als „legitim" und dem Rechtsgüterschutz dienend anzuerkennen sind mit der Folge, dass sie nach ihrem äußeren Erscheinungsbild aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen, entzieht sich einer abstrakten Festlegung. Diese Frage kann letztlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles, vor allem unter Berücksichtigung der jeweiligen Sicherheitslage und der allgemeinen Verhältnisse in dem betreffenden Staat beurteilt werden (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. vom 25.07.2000 – 9 C 28.99 –, BVerwGE 111, 334 [338]).

48

Aus der QRL, insbesondere deren Art. 9 Abs. 2 Buchstabe c) und Art. 10 Abs. 1 Buchstabe e), ergeben sich keine höheren Anforderungen an den Schutz vor einer Strafverfolgung im Heimatland. Auch Art. 9 Abs. 2 Buchstabe c) QRL bestimmt, dass eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention sein kann.

49

In Anwendung dieser Grundsätze hätte eine Strafverfolgung des Klägers wegen der von ihm geschilderten Ereignisse – jedenfalls auch – politischen Charakter gehabt.

50

Dass Folter und Erzwingung von Geständnissen bereits lange Zeit vor der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation zu den üblichen Praktiken der russischen Sicherheitskräfte gehörten, ist durch zahlreiche Quellen belegt. Nach verschiedenen Auskünften wurde von zahlreichen menschenrechtswidrigen Übergriffen berichtet. In sog. Filtrationslagern, die dazu dienen sollten, tschetschenische Terroristen aufzuspüren, kam es im großen Stil abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu systematischen Folterungen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, Urt. v. 24.10.2007 – 11 B 03.30710 –, Juris, m. w. Nachw.). Auch noch nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 22.11.2008 (S. 11) berichten Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig über zahlreiche Strafprozesse gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, vor allem Tschetschenen, die auf Grund von – auch – unter Folter erlangten Geständnissen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien. Beim Kläger ist für eine – zumindest auch – politische Zielgerichtetheit von Verfolgungsmaßnahmen der russischen Sicherheitskräfte von entscheidender Bedeutung, dass er auf Grund der Zusammenarbeit mit tschetschenischen Widerstandskämpfern während des Zweiten Tschetschenienkrieges im Verdacht stand, deren politische Ansichten zu teilen und mit Waffengewalt zu unterstützen bereit ist; zumal seinem – freigepressten – Bruder nach den glaubhaften Darstellungen sowohl des Klägers als auch seines Bruders in dessen Asylverfahren von russischer Seite vorgeworfen wurde, an Militäraktionen beteiligt gewesen zu sein. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers in großer Zahl zu menschenrechtswidrigen Übergriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Terroristen gekommen ist, die von Seiten der russischen Verantwortlichen weder gesühnt noch sonst irgendwie geahndet wurden; vielmehr gehörte es offensichtlich zu der Einschüchterungspolitik der russischen Sicherheitskräfte, dem russischen Militär bzw. den vor Ort tätigen Sicherheitskräften freie Hand zu lassen und Übergriffe gerade und besonders auch gegenüber unter Terrorismusverdacht festgenommenen Personen letztendlich durch die völlige Straflosigkeit der jeweiligen Täter zu befördern, wenn nicht gar als gezieltes Mittel zur Einschüchterung zu benutzen (vgl. HessVGH, Urt. v. 24.04.2008 – 3 UE 410/06.A –, Juris).

51

An dieser Bewertung hält der Senat fest. Es liegen keine neuen Erkenntnismittel vor, die die seinerzeit vorgenommene Einschätzung in Frage stellen.

52

b) Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe vor, die angesichts der Vorverfolgung des Klägers eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien ausschließen. Hierzu hat der Senat im Urteil vom 28.11.2008 festgestellt:

53

„Die Lage in Tschetschenien hat sich zwar mittlerweile entscheidend verändert. Sie ist dadurch geprägt, dass die von dem ehemaligen Präsidenten der Russischen Föderation Putin verfolgte und betriebene Politik der „Tschetschenisierung" des Tschetschenienkonflikts aufgegangen zu sein scheint. Mit der Wahl des tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene „politische Prozess" zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen. Der ehemalige Präsident Putin erklärte bereits im Januar 2006 zum wiederholten Male die „antiterroristische Operation", d. h. den Krieg, für beendet. Wenngleich seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows in Tschetschenien Zeichen der Normalisierung festzustellen sind, finden auch heute noch kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt. Die aktiven Rebellen weichen immer mehr in die Nachbarrepubliken, insbesondere Inguschetien und Dagestan, aus, wobei die Lage im Nordkaukasus außerordentlich instabil bleibt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008). Trotz der Tötung der Separatistenführer Aslan Maschadow im März 2005 und Abdelchalim Sadullajew im Juni 2006 sowie des „Topterroristen" Schamil Bassajew im Juli 2006 gibt es laut Schätzungen der lokalen tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin einige Hunderte Rebellen in den Bergregionen Tschetscheniens, die vor allem Anschläge auf Sicherheitskräfte verüben. Der russische Armeegeneral Krivonos nannte am 11.05.2007 eine Zahl von noch 300 aktiven Kämpfern. Eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist somit noch nicht eingetreten. Die Aktivitäten der tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte gegen die Rebellen, insbesondere in den tschetschenischen Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken, wurden auch 2007 fortgesetzt. Seit 1999 forderte der Konflikt erhebliche Opfer: 10.000 bis 20.000 getötete Zivilisten (Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial"), 5000 bis 7000 getötete und 18.000 verletzte Angehörige der Sicherheitskräfte (Zahlen des Verteidigungsministeriums, die teilweise widersprüchlich sind) (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 13.01.2008).

54

Die von Ramsan Kadyrow im Schatten der autoritären Herrschaft Putins in Tschetschenien aufgerichtete Präsidialdiktatur bricht vollständig mit jenen Prinzipien, nach denen die Tschetschenen als Volk bis zu Präsident Maschadow vor allem auf dem Lande gelebt haben und nach denen ihre Gesellschaft organisiert war. Es war dies eine vormoderne, patriarchalisch und zugleich demokratisch aufgebaute Ordnung von Sippen (tejp) und Sippenverbänden (tuchkum). In ihr spielten Statusfreiheiten und demokratische Mechanismen eine wichtige Rolle, weil die Tschetschenen – im Unterschied zu den Nachbarvölkern – niemals einen Grundadel mit feudaler Herrschaft und Leibeigenschaft hervorgebracht hatten. Die russisch-sowjetische Fremdherrschaft hat zwar tief in die traditionelle Ordnung der Tschetschenen eingegriffen, aber kraft ihrer starken kollektivistischen Elemente und Institutionen in Partei und Staat (Sowjets) der patriarchalischen tejp-Ordnung elastische Anpassungs- und dadurch wirksame Überlebensmöglichkeiten geboten (vgl. Prof. Dr. Luchterhandt an HessVGH vom 08.08.2007, a. a. O.). Die von dem gerade erst 30 Jahre alten Präsidenten Kadyrow mit Moskauer Hilfe und Garantie errichtete, mit wachsender Einseitigkeit ausgestaltete und rücksichtslos durchgesetzte diktatorische politische Ordnung in der Republik setzt sich über alle vom tschetschenischen Gewohnheitsrecht (adat) geheiligten Grundsätze hinweg: Anerkennung für den Vorrang und die Würde des Alters, demokratische Konsensstrukturen, Achtung der tejp-Ordnung. Zwar ist auch die Herrschaft Ramsan Kadyrows im Ansatz die eines Clans, da sie im Kern auf dem Tejp benoj beruht, der im Raum von Gudermes-Dorf Centoroj wurzelt, aber sie ist in sich wesentlich anders strukturiert. Insbesondere werden wichtige Repräsentanten und Akteure des Kadyrow-Clans sowie weiterer mit ihm verbündeter Gruppen von Motiven gesteuert, die den Bruch mit einer weiteren festen Institution des tschetschenischen adat bedeuten, nämlich der Blutrache. Die von Kadyrow befehligten Verbände sind im Kern aus Bündnissen von Personen hervorgegangen, die – da sie wegen krimineller Handlungen der Blutrache verfallen waren – sich zusammenfanden, um gemeinsam als sogenannte Krovniki stärker als die Rächer der geschädigten tejps zu sein, ja, mehr als das, jene mit den überlegenen russischen Sicherheitskräften im Rücken zu unterdrücken und zu erniedrigen, zu verfolgen und ggfs. auch zu vernichten. Der durch eine solche „Politik" der Machthaber bewirkte Zuzug zum tschetschenischen Untergrund von Seiten verbitterter, verzweifelter Menschen ist eine ihrer Folgen. Ein anderer Aspekt ist die Unberechenbarkeit des von kriminellen, zu allem fähigen Gewalttätern beherrschten Kadyrow-Regimes. Angefangen von Ramsan Kadyrow selbst, von dem bekannt ist, dass er – wie etwa Saddam Hussein – sich an den Qualen seiner Opfer in der „privaten" Gefängnisanlage seines Heimatdorfes und Machtzentrums Centoroj weidet und sich bisweilen selbst an Folterungen beteiligt, sind all zu viele Vertreter dieses Regimes von kriminellen Leidenschaften, von Allmachtsgefühlen und Mordlust, von Habgier und Hass gesteuert. Dem Kadyrow-Regime ist daher im Alltag ein starker Zug zu „privat" gesteuerten, daher unberechenbaren Gewaltaktionen und Ausbrüchen, kurz zur Irrationalität eigen. Nicht zuletzt dies erzeugt in weiten Teilen der Gesellschaft, vor allem bei Angehörigen der älteren und mittleren Generation, ein ausgeprägtes Gefühl der Unsicherheit und Schutzlosigkeit. Davon betroffen sind keineswegs nur die Rückkehrer aus den Nachbarregionen, sondern im Prinzip alle Einwohner der Republik. Gleichwohl stellen sich für die Rückkehrer einige spezifische Sicherheitsfragen (vgl. zum Ganzen: Prof. Dr. Luchterhandt an HessVGH vom 08.08.2007, a. a. O.).

55

Vor diesem Hintergrund einer sowohl in autoritären als auch willkürlichen Machtstrukturen gefangenen Gesellschaft wird die Sicherheitslage insbesondere zurückkehrender Tschetschenen von sachkundigen bzw. sachverständigen Stellen nicht einheitlich bewertet:

56

Das Auswärtige Amt kommt in seiner Stellungnahme an den HessVGH vom 06.08.2007 in deutlicher Abweichung zu der noch in seinem Lagebericht vom 17.03.2007 geäußerten Einschätzung zu dem Ergebnis, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in der tschetschenischen Republik im Wesentlichen normalisiert und die Zahl illegaler Verhaftungen und Entführungen von Personen stark abgenommen habe. So genannte „Säuberungen" seien schon seit mehreren Monaten nicht mehr durchgeführt worden. Tschetschenische Volkszugehörige, die nach Abschluss der Kampfhandlungen in die tschetschenische Republik zurückgekehrt seien, lebten in der Regel ein normales Leben, wobei sich „normales Leben" nicht am deutschen Standard, sondern an dem Standard Tschetscheniens von noch vor einem Jahr orientiere. Anfeindungen von Seiten der tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte, aber auch von Nachbarn aus möglichen Neidmotiven, seien im Einzelfall nicht auszuschließen. Über Drangsalierungen durch tschetschenische Rebellen lägen keine Erkenntnisse vor. Die Rückkehr in ein normales Leben sei allerdings nur für Personen möglich, die nicht aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen hätten. Russische oder tschetschenische Sicherheitskräfte stellten derzeit keine Gefahrenquelle für die männlichen Jugendlichen dar, da sie unter Berücksichtigung des Alters, in dem sie die tschetschenische Republik verlassen hätten, nicht in dem Verdacht stünden, zu Kämpfern zu werden. Traditionell hätten sie zudem bei Verlust des Vaters eine wichtige Rolle innerhalb des Familienverbands zu übernehmen. Von möglichem Interesse sei allerdings diese Altersgruppe für die tschetschenischen Kämpfer, die durch agitatorische Arbeit unter Jugendlichen versuchten, ihnen ihre ideologischen Wertvorstellungen zu vermitteln und sie auf ihre Seite zu ziehen. Tschetschenen würden seit 2001 auf freiwilliger Basis in die russische Armee aufgenommen, aber bislang nur in geringer Zahl und in Spezialfunktionen in Tschetschenien eingesetzt. Soweit es gleichwohl zu Übergriffen komme, könnten diese in Erpressung von Geld, Drohungen, im Einzelfall aber auch in Entführung oder Folter bestehen. Eine geschlechtsspezifische Unterscheidung der Übergriffsmethoden und Intensität lasse sich nicht feststellen. Im Übrigen gebe es in der tschetschenischen Republik kaum allein stehende Frauen, da sie auch als Witwen in der Familie der Verwandten lebten. Personen, die Opfer von Übergriffen von russischen oder tschetschenischen Sicherheitskräften geworden seien, könnten sich an die zuständigen Rechtsschutzorgane und Gerichte wenden, jedoch seien die Erfolgsaussichten immer noch gering.

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Amnesty international (vgl. Auskunft an den HessVGH vom 27.04.2007) ist der Auffassung, von einer Normalisierung der Situation in Tschetschenien könne nach wie vor keine Rede sein, es komme im geringen Umfang weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen russischen und tschetschenischen Sicherheitskräften auf der einen und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite. Diese Zusammenstöße fänden vorwiegend nur noch in den südlichen Regionen der Republik statt, aber durchaus auch ab und an in anderen Teilen Tschetscheniens und sogar in der Hauptstadt Grosny. Regelmäßige Luftangriffe und Artilleriebeschuss durch die föderalen russischen Kräfte, von denen frühere Phasen des zweiten Tschetschenienkonflikts geprägt waren, fänden in dem damaligen Ausmaß nicht mehr statt. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergingen, dauerten jedoch fort. Für Tschetschenen, die während des zweiten Tschetschenienkrieges ihre Heimatregion verlassen haben und jetzt nach Tschetschenien zurückkehren, könne sich die Sicherheitslage vielfach noch schlechter darstellen als für diejenigen, die in den letzten Jahren in Tschetschenien verblieben seien. Die Sicherheitslage insbesondere junger männlicher Tschetschenen sei sehr schlecht, da diese generell verdächtigt würden, mit den Widerstandskämpfern unter einer Decke zu stecken. Rückkehrer seien danach mehr bedroht, unrechtmäßig festgenommen, gefoltert und misshandelt zu werden oder „zu verschwinden".

58

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist ebenfalls der Ansicht, dass Rückkehrern eine erhöhte Gefahr drohe. Sie würden oft Opfer von Erpressungen. Von offiziellen tschetschenischen Stellen würden sie beschuldigt, bei den Rebellen gewesen zu sein, wobei ihnen angeboten werde, diese Beschuldigungen gegen auch wiederholte oder regelmäßige Geldzahlungen fallen zu lassen (vgl. Auskunft der Heinrich-Böll-Stiftung an HessVGH vom 20.04.2007).

59

Gleich lautend kommt Frau Svetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Memorial", in ihrer Auskunft an den HessVGH vom 17.05.2007 zu dem Ergebnis, dass Rückkehrer nach Tschetschenien besonders gefährdet seien, da man sie verdächtige, bei den Aufständischen gewesen zu sein. Außerdem würden sie Opfer von Erpressungsversuchen, da man davon ausgehe, dass sie über Geld verfügten. Jeder, der nach Tschetschenien reise, begebe sich in Lebensgefahr, wobei rückkehrgefährdet insbesondere junge Männer seien, die man verdächtige, sich bewaffneten Banden angeschlossen zu haben. Wer auch nur zur Passbeantragung nach Tschetschenien zurückkehre, könne sich den Terrorismusvorwurf einhandeln. Wer altersbedingt noch keinen Pass habe oder wer seinen sowjetischen Pass verloren habe, könne auf keinen Fall nach Tschetschenien reisen. Bei jedem Versuch, einen der Checkpoints zu passieren, werde er unweigerlich festgenommen. In der tschetschenischen Republik gebe es nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit, Menschen würden auch weiterhin unter fabrizierten Vorwürfen angeklagt und verurteilt, Folter sei ein übliches Mittel, um Geständnisse und Beschuldigungen zu erzwingen.

60

Dies einschränkend wird im Bericht von „Memorial" von Oktober 2007 (Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007) allerdings beschrieben, dass sich in dem Berichtszeitraum von August 2006 bis Oktober 2007 für die Menschen der Republik bedeutsame Veränderungen ergeben hätten. So hätten die Entführungen und Morde bis Ende 2006 schrittweise abgenommen, seit Januar 2007 sogar stark. Dabei vermute man, dass Ramsan Kadyrow den Chefs der ihm unterstehenden Strukturen klar gesagt habe, dass Entführungen nicht mehr geduldet würden. Besorgnis erregend bleibe jedoch, dass Strafprozesse mit fabrizierten Anschuldigungen geführt würden, wobei zentraler Bestandteil der Beweislage Geständnisse seien, wie sie aus der Stalinzeit als „Königin der Beweise" bekannt seien. Allerdings bleibt „Memorial" bei seiner Einschätzung, dass besonders gefährdet Rückkehrer aus dem Ausland seien, da man bei ihnen viel Geld vermute.

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Nach der Auskunft des UNHCR an den Hess. VGH vom 08.10.07 hat sich die Sicherheitslage in Tschetschenien graduell verbessert, unrechtmäßige Handlungen und Gewaltakte stellten jedoch weiterhin eine Bedrohung für die ortsansässige Bevölkerung dar. Von lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen würden insbesondere die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen und das Versagen der Behörden bei der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beklagt, außerdem die Anwendung von Folter und unrechtmäßiger Inhaftierung sowie die Nichtbeachtung des Prinzips der Rechtmäßigkeit durch die Exekutivorgane sowie die fehlende Unabhängigkeit der Rechtsprechungsorgane. Entführungen und das „Verschwindenlassen" von Personen seien weiterhin zu verzeichnen, auch wenn solche Ereignisse im Vergleich zu den früheren Jahren stark abgenommen hätten. Nach den von „Memorial“ gesammelten Daten seien im Jahr 2006 195 Personen in Tschetschenien entführt worden, 98 von ihnen seien nach Zahlung eines Lösegeldes freigelassen, 15 Personen getötet worden. 15 Fälle würden derzeit noch untersucht, während der Verbleib von 69 Personen weiterhin ungeklärt sei. Für die ersten 7 Monate des Jahres 2007 sei über die Entführung von 24 Personen berichtet worden, 15 Personen seien freigelassen oder freigekauft worden und eine Person sei tot aufgefunden worden. 6 Fälle würden derzeit noch untersucht, während der Verbleib von 2 Personen weiterhin ungeklärt sei. Die Zahlen, die von den Behörden für die genannten Zeiträume angegeben worden seien, seien wesentlich geringer. Für Rückkehrer lägen dem UNHCR keine umfassenden Untersuchungen vor, es lägen allerdings Berichte vor, wonach der föderale Sicherheitsgeheimdienst (FSB) Rückkehrer aus dem Ausland unter Beobachtung stelle und diese zu Befragungen einbestelle. Es sei bekannt, dass Rückkehrer aus Georgien zu den FSB-Büros gebracht und dort befragt würden. Es lägen jedoch keine Berichte darüber vor, dass Rückkehrer neben der Befragung zusätzlichen Problemen ausgesetzt seien. Vielmehr scheine es so, dass die Probleme, denen Rückkehrer möglicherweise ausgesetzt seien, eher davon abhingen, ob sie eine „saubere" Akte hätten als von der Tatsache, dass sie für einige Jahre in einem GUS-Staat gelebt hätten. Junge männliche Rückkehrer, die dem Rekrutierungsalter nahe seien, könnten allerdings von den Behörden als potenzielle Gefahr für die Regierung angesehen werden, wenn sie Rebellenkämpfer unter ihren Familienangehörigen (im weiten Sinne) hätten bzw. gehabt hätten. Allein stehende Frauen ohne männlichen Schutz oder Schutz durch ihre Familie seien potenziell stärker gefährdet, geschlechtsspezifischer Gewalt durch die Gemeinschaft oder im häuslichen Bereich ausgesetzt zu sein. Dies gelte besonders für nichttschetschenische Frauen, da Tschetscheninnen möglicherweise bis zu einem gewissen Grad von ihrer „Großfamilie" Schutz erhielten, auch wenn sie keine direkten männlichen Familienangehörigen (mehr) haben. Als besonders rückkehrgefährdet seien (frühere) Mitglieder illegaler, bewaffneter Formationen und deren Angehörige einzuschätzen sowie Personen, die offizielle (auch sehr niedrige) Positionen im Regime Maschadow inne gehabt hätten, Personen, die offensichtlich von den Positionen der gegenwärtigen Regierung abweichende politische Ansichten hätten sowie Personen, die möglicherweise für ihre vor der Flucht erfolgte, nichtmilitärische Unterstützung der Rebellentruppen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten.

62

Prof. Dr. Luchterhandt kommt in seiner Stellungnahme an den HessVGH vom 08.08.2007 zu dem Ergebnis, dass die heutige Lage im Vergleich zu den Verhältnissen, die bis etwa 2005 auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, also zunächst nach 1999 unter der direkten Herrschaft der föderalen Sicherheits- bzw. Streitkräfte, dann ab etwa 2004 unter dem immer mächtiger hervortretenden Ramsan Kadyrow in Tschetschenien geherrscht haben, wenige Monate nach der Erhebung Ramsan Kadyrows zum Präsidenten der Republik (02.03.2007) – bei allen Vorbehalten – eine deutlich andere, d. h. bessere sei. Nach übereinstimmender Einschätzung aller Beobachter Tschetscheniens unter Einschluss auch der Menschenrechtsorganisationen seien die Fälle von Mord, Folterungen, Misshandlungen, Menschenraub und Freiheitsberaubung signifikant zurückgegangen. Halte dieser Zustand an, werde man bald von einer auch qualitativ neuen Lage der inneren Verhältnisse Tschetscheniens sprechen können.

63

Auch jüngere Presseberichte deuten darauf hin, dass sich die Lage für Tschetschenen in Tschetschenien erkennbar verbessert hat.

64

In einem Artikel von „Spiegel Online“ vom 01.03.2008 („Geld gewinnt die Schlacht um Grosny“) heißt es, acht Jahre nach dem russischen Einmarsch komme der Wiederaufbau voran. In Grosny, der von zwei Kriegen zerstörten Hauptstadt Tschetscheniens, kündeten nur noch Überreste zerschossener Gebäude von den Schrecken der Vergangenheit. Grosny wachse. Die staatliche tschetschenische Universität zähle heute wieder 16.000 Studenten. Ihre Dozenten bereiteten sie auf rund 70 verschiedene Berufe vor. Acht Jahre nach Kriegsbeginn scheine Russland heute im einst so aufsässigen Tschetschenien einen späten Sieg davon getragen zu haben. Nur noch versprengte Guerilla-Trupps widersetzten sich Moskaus Statthalter in der Kaukasusrepublik, Präsident Ramsan Kadyrow. Ihre Zahl werde auf wenige Hundert geschätzt. Kadyrow, auf Russlands Seite gewechselter ehemaliger Rebell, habe sie erfolgreich dezimiert. Viele der ehemaligen Kämpfer dienten heute in seiner Privatarmee. Wen der 31-Jährige nicht auf seine Seite ziehen könne, den machten seine Schwadronen nieder. Die verbliebenen Widerständler hätten sich inzwischen in verfeindete Islamisten und Nationalisten gespalten. Die verbesserte Sicherheitslage lasse die Menschen in Grosny aufatmen. Der Wiederaufbau gelinge in Rekordzeit. Es sei ein merkwürdiger Aufbruch in Tschetschenien, gespeist von Erschöpfung. Den Wiederaufbau trieben enorme Zuwendungen aus Moskau. Die neue „Stabilität“ fuße auf der Kriegmüdigkeit der Menschen – und auf Angst. Wenige wagten heute noch, in aller Öffentlichkeit Präsident Ramsan Kadyrow zu kritisieren. Der Frieden im Kaukasus habe seinen Preis. Moskaus Establishment umarme Kadyrow, weil dessen eiserne Faust endlich für ein Mindestmaß an Ruhe sorge. Dafür sei Russland auch bereit, weitgehende Zugeständnisse zu machen. Sicherheitskräfte der russischen Zentralmacht rückten kaum mehr aus ihren Kasernen in Grosny aus. Stück für Stück sicherten sich Kadyrows ergebene Einheiten immer größeren Einfluss.

65

In einem Artikel in „tagesschau.de“ vom 28.02.2008 („Wir sind alle kriegsmüde“) heißt es, Tschetschenien scheine heute, auch wenn der zweite Tschetschenienkrieg den Widerstand der Separatisten nicht gebrochen habe, befriedet. Doch der Preis dafür sei hoch gewesen. Die meisten Menschen wollten einfach Frieden, keiner mehr „in die Berge“. Der Prospekt Pobjeda (zu deutsch: “Sieg“) sei wieder eine breite Einkaufsstraße mit Läden, Cafés und der größten Moschee Europas, die noch in Bau sei. Überall werde in Grosny gebaut. Tschetschenische Milizen bewachten den Wiederaufbau, unübersehbar stünden sie schwer bewaffnet auf Straßen und Plätzen. Auf fast allen Baustellen des Landes arbeiteten Bauarbeiter aus der Türkei, aus Dagestan oder aus anderen Republiken; die Tschetschenen seien noch unausgebildet. Ruinen oder Einschusslöcher seien nur noch selten zu sehen, mehr am Stadtrand, wo auch noch Warnschilder auf Minenfelder hinwiesen. Doch der Alltag sei friedlich, meine die Journalistin Sura, die weiter geäußert habe, sie lebten schon viel besser, die Kindergärten, die Schulen, die Universität arbeiten, wenn auch das Niveau der Ausbildung noch nicht sehr hoch sei. Freie Meinungsäußerung und freie Wahlen seien allerdings tabu. Präsident Kadyrow sei allgegenwärtig, jede zentrale Hauswand trage sein Porträt oder das seines Vaters. Auch in den Köpfen sei Kadyrow angekommen.

66

Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen e. V.“ stellt in ihrem Bericht aus dem Jahr 2007 fest, dass Zehntausende Vertriebene, die in die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan geflohen waren, nach Tschetschenien zurückgekehrt seien. Große Anstrengungen würden unternommen, um den Wiederaufbau der vor weniger als einem Jahrzehnt von schweren Bombardements zerstörten Hauptstadt Grosny voranzubringen. Dennoch müsse die Kaukasusregion weiterhin als ein Pulverfass bezeichnet werden. Außerhalb Tschetscheniens seien die Kämpfe wieder aufgeflackert, und die gesamte Region sei nach wie vor von hoher Militärpräsenz geprägt. Entführungen, Morde, das Verschwinden von Personen und Bombenanschläge seien vor allem in Inguschetien, Nordossetien und Dagestan auf der Tagesordnung. Auch im Inneren Tschetscheniens sei die Lage für die Zivilbevölkerung noch immer angespannt. Ebenso leicht könne man in einen sporadischen Schusswechsel geraten wie in einen Autounfall mit schweren Militärfahrzeugen verwickelt werden.

67

Die Organisation „Cap Anamur“ (Boris Dieckow) berichtet unter Datum vom 18.02.2008, wer jetzt nach Grosny fahre, werde auf den ersten Blick Schwierigkeiten haben, Indizien dafür zu finden, dass hier ein Krieg stattgefunden habe. Vor allem in den letzten zwei Jahren habe in Grosny und in ganz Tschetschenien ein massiver Wiederaufbau stattgefunden. Die hinlänglich bekannten Bilder des zerstörten Zentrums von Grosny seien Geschichte. Das „System Kadyrow" funktioniere. 60.000 russische Soldaten seien in den Kasernen, aber im Alltagsbild nicht mehr sichtbar. Kadyrow sichere den Menschen in Tschetschenien eine Stabilität, die sie seit 15 Jahren nicht hatten. Wer die Extreme einer Diktatur nicht erfahre, richte sich ein.

68

Die Gesellschaft für bedrohte Völker betont in ihrer Stellungnahme an den HessVGH vom 18.06.2007, bei den jüngst veröffentlichten Statistiken, nach denen sich in den Städten die Lage verbessert habe und die Zahl der Gewaltverbrechen zurückgegangen sein solle, sei zu berücksichtigen, dass sich viele Menschen aus Angst vor Repressalien davor fürchteten, eine Anzeige über Gewaltverbrechen durch die tschetschenischen Sicherheitskräfte zu erstatten.

69

Auch Prof. Dr. Luchterhandt weist in seiner Auskunft an den HessVGH vom 08.08.2007 darauf hin, dass vor allem zwei Faktoren, welche die Einschätzung der Sicherheitslage wesentlich erschwerten, zu benennen seien, nämlich erstens die tief sitzende Furcht und Angst einer durch die beiden Tschetschenienkriege traumatisierten Bevölkerung und zweitens die Diskrepanz zwischen öffentlich – durchaus von verschiedenen Seiten, staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen – verbreiteten Zahlen über schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen und deren Opfer.

70

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Klaus Amman) führt in ihrem Bericht vom Januar 2007 (S. 6) aus, während insbesondere in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny wieder gebaut werde, verschwänden nach wie vor Menschen. Es werde immer noch gemordet und gefoltert. Als Täter verdächtigten Menschenrechtsaktivist(inn)en immer häufiger Kadyrowzy. Deutlich verschlechtert habe sich die Sicherheitslage in den schwer zugänglichen Bergregionen. Dorthin habe sich in den letzten Monaten und Jahren die Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und Widerstandskämpfern verlagert. Die lokale Bevölkerung werde verdächtigt, Widerstandskämpfer zu unterstützen, und leide deshalb besonders unter den Übergriffen durch die Sicherheitskräfte. Um die Menschenrechte stehe es in Tschetschenien ähnlich wie um die Bausubstanz seiner Häuser: Vordergründig verbessere sich die Lage, die Menschenrechtsorganisationen meldeten einen deutlichen Rückgang der Gewaltverbrechen in Tschetschenien:

71

Laut Memorial sei die Zahl der Morde und Verschleppungen zwischen Herbst 2005 und Herbst 2006 um ein Drittel auf 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen zurückgegangen. Im Jahr zuvor seien es noch 310 Morde und 418 Verschleppungen gewesen. Allerdings sei anzumerken, dass das Memorial-Monitoring nur ein Drittel des tschetschenischen Territoriums umfasse und dass Daten insbesondere über die Bergregionen, in denen die Gewalt zugenommen habe, in der jüngsten Statistik fehlten. Außerdem gäben Menschenrechtsaktivist(inn)en zu bedenken, dass unter Kadyrows Regime viele Menschenrechtsverletzungen aus Angst vor Repressalien erst gar nicht mehr angezeigt würden. Gewisse Verbesserungen seien auch bezüglich der humanitären und soziökonomischen Lage in Tschetschenien unübersehbar. So nehme die Zahl der Geschäfte und Cafés in den Städten stetig zu. Straßen und Gebäude würden renoviert. Ministerpräsident Kadyrow übergebe Familien vor laufenden Kameras die Schlüssel zur frisch erstellten Wohnung. Allerdings seien diese Fortschritte nicht nur auf die massiven Gelder zurückzuführen, die Moskau jährlich überweise und von denen nach wie vor große Summen veruntreut würden. Der Wiederaufbau werde gemäß Angaben von MenschenrechtsaktivistInnen dadurch finanziert, dass Kadyrow von allen Bediensteten eine „freiwillige“ Spende abpresse. Diese Gelder flössen in den so genannten „Kadyrow-Fonds“, aus dem wiederum der Aufbau von Schulen, Sportstätten und anderen öffentlichen Einrichtungen finanziert werde.

72

Sowohl amnesty international (Auskunft an den HessVGH vom 27.04.07) als auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (Auskunft an des HessVGH vom 18.06.07) gehen in Übereinstimmung mit Memorial davon aus, dass die Sicherheitslage insbesondere junger männlicher Tschetschenen sehr schlecht ist, da diese generell verdächtigt würden, mit den Widerstandskämpfern unter einer Decke zu stecken. Rückkehrer seien danach mehr bedroht, unrechtmäßig festgenommen, gefoltert und misshandelt zu werden oder „zu verschwinden".

73

Laut Auskunft des UNHCR an den HessVGH vom 08.10.2007 gibt es keine Hinweise darauf, dass zurückkehrende Personen bei ihrer Rückkehr allein auf Grund der Tatsache verfolgt werden, dass sie im Ausland gelebt haben, oder deshalb, weil sie einer ethnischen Minderheit angehörten. Maßgeblich für eine Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr sei insbesondere die tatsächliche oder unterstellte – frühere – Mitwirkung bzw. Einbindung bei den Rebellengruppen oder im Regime Maschadow. In diesem Zusammenhang verweist UNHCR auch auf die bereits oben benannten besonders gefährdeten Rückkehrergruppen.

74

Nach der Auskunft von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007 ist die Gefahr, Opfer von russischen Sicherheitseinheiten, sei es von Soldaten oder russischen Milizverbänden mit Sonderaufgaben des föderalen Innenministeriums zu werden, für die Bevölkerung zwar weiterhin vorhanden, aber aus den genannten Gründen – Tschetschenisierung des Tschetschenenkonflikts und quantitativ begrenzte Einsätze – nur noch als gering einzustufen. Anders verhalte es sich jedoch mit den föderalen Verbänden tschetschenischer Sicherheitskräfte, also mit den Kadyrovcy, Jamadaevcy, Kakivci, wobei die beiden zuletzt genannten nicht der Kommandogewalt von Ramsan Kadyrow unterstünden. Hier sei die Gefahr, Opfer schwerer Angriffe auf Freiheit, Leben und Leib zu werden, noch immer als relativ hoch einzuschätzen, obgleich sie im Vergleich zu früheren Jahren deutlich geringer geworden sei. Dabei lägen keine Angaben über Fälle vor, welche Rückschlüsse auf eine höhere Gefährdung oder gar Sonderbehandlung von Rückkehrern zuließen. So habe im Oktober 2006 der Leiter des tschetschenischen Memorialbüros unter Berufung auf Anna Politkovskaja festgestellt, dass 85 % der Entführungen in Tschetschenien auf das Konto der Ramsan Kadyrow unterstehenden Verbände gingen. Dieser Prozentsatz könne auf die Verantwortlichkeit für menschenrechtswidrige Repressionsmaßnahmen der Sicherheitskräfte im Allgemeinen ausgedehnt werden. Abstrakt betrachtet sei es nicht nur wahrscheinlich, sondern selbstverständlich, dass bekannte oder gar prominente Funktionäre oder Parteigänger Präsident Maschadows und der „tschetschenischen Republik Ickerija" im Falle ihrer Rückkehr aus der Diaspora nach Russland und speziell nach Tschetschenien nicht – nur – routinemäßig behandelt, sondern angefangen bei den Einreiseformalitäten von dem in solchen Fällen zuständigkeitshalber eingeschalteten FSB, also dem Inlandsgeheimdienst, einer sorgfältigen Überprüfung und Kontrolle unterzogen würden. Gewöhnliche Tschetschenen, die auf dem Höhepunkt der „antiterroristischen Operation" (2000) Tschetschenien verlassen hätten, um irgendwo ungefährdet in Ruhe leben zu können, dürften wahrscheinlich bei ihrer Rückkehr keiner größeren Gefährdung ausgesetzt sein als andere Tschetschenen auch. Dabei bleibe festzuhalten, dass die einen wie die anderen Sicherheitskräfte menschenverachtend, wahl- und rücksichtslos bei den „antiterroristischen" Aktionen (auch) gegen die Zivilbevölkerung vorgingen und „Kollateralschäden" bedenkenlos in Kauf nähmen. Bombardements und Beschießungen von Gebäudegruppen, von Siedlungen sowie ganzer Dörfer sowie großräumige „Säuberungen" bis in die jüngste Zeit sprächen, wenngleich sie deutlich seltener geworden seien, eine beredte Sprache. Allerdings sei die Gefährdung durch föderale – russische und tschetschenische – Sicherheitskräfte beeinträchtigt zu werden, 2007 gegenüber 2006 und 2005 noch einmal messbar geringer geworden. Darauf, dass sich dieser Trend bald umkehren könnte, deute gegenwärtig nichts hin.

75

Betroffene Personen haben zwar theoretisch die Möglichkeit, sich im Fall von Übergriffen erfolgreich durch Inanspruchnahme staatlicher Stellen zur Wehr zu setzen, indem sie sich an die zuständigen Rechtsschutzorgane und Gerichte wenden (Auskunft des Auswärtigen Amts an den HessVGH vom 06.08.2007). Viele lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen äußern jedoch weiterhin erhebliche Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtssituation in der tschetschenischen Republik; deren Berichte heben besonders die Sorge über die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen und das Versagen der Behörden bei der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, über die Anwendung von Folter und unrechtmäßiger Inhaftierung sowie über die Nichtbeachtung des Prinzips der Rechtmäßigkeit durch die Exekutivorgane und die fehlende Unabhängigkeit der Rechtsprechungsorgane und die übermäßige Macht der Exekutive hervor (Auskunft des UNHCR an den HessVGH vom 08.10.2007). Gegenüber dem schon von vornherein geschwächten Rechtsschutz des Bürgers gegenüber Sicherheitsorganen in Russland erfährt die Lage in Tschetschenien dabei in mehrfacher Hinsicht noch eine weitere Schwächung, und zwar zunächst dadurch, dass in der Republik de facto ein Sonder- bzw. Notstandsregime gilt bzw. angewendet wird, das von den Grund- und Menschenrechten der föderalen Verfassung nicht einmal mehr ein Schatten übrig lässt (Gutachten von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007). Die staatliche Praxis wird dadurch bestimmt, dass Präsident Kadyrow nicht nur die republikanische Exekutive, sondern über seine kadyrovcy auch die beiden Kammern des Parlaments und die in der Republik judizierenden Gerichte beherrscht. In aller Regel werden Ermittlungsverfahren nach einiger Zeit mit der stereotypen Formel eingestellt, man habe die Täter nicht feststellen können, und das selbst dann, wenn die Beweislage noch so klar und erdrückend ist. Immer breiter ist infolgedessen in den letzten Jahren der Strom der Beschwerden zum EGMR geworden, wobei die Beschwerdeführer unisono die völlige Unwirksamkeit des Rechtsschutzverfahrens in Tschetschenien und höheren Orts in Moskau feststellen und beklagen. Die ausbleibende Bestrafung der Übeltäter ist deshalb auch zum geflügelten Wort, zur kürzesten Formel für die Beschreibung der in Tschetschenien auf dem Gebiet von Justiz und Rechtsschutz herrschenden Verhältnisse geworden (Gutachten von Prof. Dr. Luchterhandt an den HessVGH vom 08.08.2007.

76

Unter Würdigung dieser Erkenntnismittel ist der Senat in seinem Urteil vom 31.07.2008 (2 L 23/06 –, Juris) zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der anzustellenden Gefährdungsprognose im Rahmen der Rückausschlussklausel des Art. 4 Abs. 4 a. E. QRL entscheidend ist, ob der Rückkehrer zu einer der besonders gefährdeten Personengruppen gehört, wobei hierzu insbesondere Personen zählen, die selbst oder in ihrem familiären Umfeld von Seiten der tschetschenischen Sicherheitskräfte mit ehemaligen oder derzeitigen Mitgliedern der Rebellenorganisation in Zusammenhang gebracht werden. Bestehen hierfür Anhaltspunkte, bleibt es bei dem „ernsthaften Hinweis" des Art. 4 Abs. 4 QRL und der darin enthaltenen Vermutungsregel, da dieser Personenkreis mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen, die bis hin zu Folterungen und Verschwindenlassen führen können, bei Rückkehr zu rechnen hat und daher keine stichhaltigen Gründe dagegen sprechen, dass er nicht erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht ist (HessVGH, Urt. v. 21.02.2008, a. a. O.). Auch der BayVGH (vgl. Urt. v. 24.10.2007, a. a. O.) geht davon aus, dass von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen solche Personen betroffen sind, die einer bestimmten Risikogruppe angehören, so insbesondere Personen, die selbst der Kooperation mit den Separatisten verdächtig sind.

77

Hiernach ist zu befürchten, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Tschetschenien flüchtlingsrelevanten Gefährdungen ausgesetzt sein wird. Er gehört als jemand, der mit Hilfe tschetschenischer Rebellen die Entführung eines russischen Offiziers und die Freilassung seines Bruders erzwungen hat, dieser Risikogruppe an.

78

Dem Kläger steht auch im übrigen Gebiet der russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß Art. 8 Abs. 1 QRL können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Es spricht indes eine mehr als nur entfernte Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger auf Grund seiner Beteiligung an der „Befreiungsaktion“ seines Bruders und der deshalb bestehenden landesweiten Fahndung auch in anderen Gebieten seines Heimatstaates als Tschetschenien Maßnahmen der Staatsgewalt ausgesetzt sein wird, die als Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG und Art. 9 f. QRL zu werten sind. Generell auf die Russische Föderation bezogen wird von dem Menschenrechtsbeauftragten Lukin moniert, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden kommt. Besonders kritisch sieht der Menschenrechtsbeauftragte die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der so genannten „operativen Ermittlungstätigkeit" (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008 [S. 23] und vom 22.11.2008 [S. 21]). Bei Hinzutreten eines unterstellten oder vermuteten Terrorismusverdachts besteht die Gefahr erneuter Folter und menschenrechtswidriger Übergriffe (vgl. HessVGH, Urt. v. 24.04.2008, a. a. O.).

79

An dieser Würdigung ist festzuhalten. Es liegen auch insoweit keine neuen Erkenntnisse vor, die diese Würdigung in Frage stellen.

80

Im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.03.2011 heißt es vielmehr zur Lage in Tschetschenien (Abschnitt 3.1, S. 21 ff.) u. a.:

81

„In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramsan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert…Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 bis 2010 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wird von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (im gesamten Nordkaukasus soll es nach nicht verifizierbaren Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben)…Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für 2009 in Tschetschenien 93 Entführungsfälle gegenüber 42 im Vorjahr registriert. Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial – auch außerhalb Tschetscheniens – regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

82

Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung. Hierein fügen sich auch die Angriffe u. a. mit Farbpistolen auf tschetschenische Mädchen und Frauen im Herbst 2010, welche nach Meinung der Machthaber in der Öffentlichkeit nicht züchtig gekleidet erschienen. Kadyrow selbst hatte die Übergriffe öffentlich begrüßt.

83

Am 22. Juni 2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13. Dezember 1999 und dem 23. September 2006 im Nordkaukasus begangen wurden. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen („Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen“, sofern sie bis zum 15. Januar 2007 die Waffen niederlegten) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u. a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben.

84

Im Bericht des Menschenrechtszentrums „Memorial“ von 2011 (S. 7) heißt es, es sei darauf hinzuweisen, dass in Tschetschenien alle gefährdet seien, die nach einer langen Abwesenheit nach Tschetschenien zurückkehrten. Es werden zwei Referenzfälle angeführt, in denen die Rückkehrer verdächtigt bzw. beschuldigt wurden, die Aufständischen zu unterstützen. In einem der Fälle sei auch gefoltert worden.

85

c) Es ist schließlich weiterhin davon auszugehen, dass dem Kläger keine Möglichkeit internen Schutzes in anderen Regionen der Russischen Föderation offen steht.

86

Zwar hat das Auswärtige Amt in seiner Auskunft an den Senat vom 21.04.2011 mitgeteilt, dass laut Auskunft von Interpol Moskau nach dem Kläger in der Russischen Föderation nicht gefahndet werde. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Personen, welche nicht zur Fahndung ausgeschrieben seien, im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Teile der Russischen Föderation staatliche Maßnahmen drohen würden. Allerdings hat das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 07.03.2001 zur Behandlung von Rückkehrern ausgeführt (S. 35 ff.), solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst sei, sei davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Sollte den russischen Behörden bekannt werden, dass der Kläger die von ihm im Asylverfahren geschilderten Straftaten begangen hat, droht ihm auch landesweite Verfolgung. Amnesty international hält in seiner Stellungnahme an den Senat vom 27.02.2012 eine Verhaftung für möglich und führt ergänzend aus, dass in diesem Fall die Gefahr der Folterung oder Misshandlung zur Erlangung eines Geständnisses sowie ein unfaires Verfahren mit einer unverhältnismäßig hohen Haftstrafe drohten.

87

1.2. Die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG und eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet jedoch gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2, Satz 2 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG aus. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist ein Ausländer u. a. dann nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er (1.) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, (2.) vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden. Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG gilt Satz 1 auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

88

1.2.1. Der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG liegt in der Person des Klägers vor.

89

Die Frage, ob Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG vorliegen, bestimmt sich gegenwärtig in erster Linie nach den im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.07.1998 (BGBl 2000 II S. 1394, [IStGH-Statut]) ausgeformten Tatbeständen dieser Delikte. In Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut werden Kriegsverbrechen differenzierend zwischen Taten in internationalen (Buchst. a und b) und innerstaatlichen (Buchst. c bis f) bewaffneten Konflikten definiert. Für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt knüpft Buchst. c an schwere Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte vom 12.08.1949 an. Er stellt u. a. Angriffe auf Leib und Leben sowie die Geiselnahme von Personen unter Strafe, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Angehörigen der Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die durch Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder eine andere Ursache außer Gefecht befindlich sind. Die Vorschrift wertet danach auch Handlungen als Kriegsverbrechen, die gegen Soldaten gerichtet sind. Buchst. e erfasst andere schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze und Gebräuche im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. So erstreckt sich Buchst. e Nr. IX - XI auf den Schutz gegnerischer Kombattanten im Falle meuchlerischer Tötung oder Verwundung, der Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird sowie der körperlichen Verstümmelung von Personen, die sich in der Gewalt einer anderen Konfliktpartei befinden (vgl. zum Ganzen das Revisionsurteil des BVerwG vom 16.02.2010 – 10 C 7.09 –, BVerwGE 136, 89 [97], RdNr. 26 ff.).

90

a) Bei dem Zweiten Tschetschenienkrieg, in dessen Verlauf der Kläger die von ihm geschilderten Taten beging, handelte es sich um einen innerstaatlichen Konflikt.

91

aa) Art. 8 Abs. 2 Buchst. d und f IStGH-Statut grenzen innerstaatliche bewaffnete Konflikte ab gegenüber Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder anderen ähnlichen Handlungen. Buchst. f setzt zudem voraus, dass zwischen staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht. Diese Regelungen markieren die untere völkerrechtliche Relevanzschwelle für einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Verlangt wird ein gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts, um den Eingriff in die Souveränität des betroffenen Staates zu rechtfertigen (BVerwG, Urt. v. 24.11.2009, a.a.O., S. 265, RdNr. 33).

92

bb) Nach diesem Maßstab ist der Zweite Tschetschenienkrieg als innerstaatlicher Konflikt einzuordnen. Diese Bewertung ergibt sich vor folgenden Hintergründen, die im Internet-Lexikon wikipedia wie folgt dargestellt sind:

93

1921/1922 wurde Tschetschenien Teil der Sowjetunion. Am 01.11.1991 erklärte der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew einseitig die Unabhängigkeit seines Landes und lehnte auch einen Föderationsvertrag mit Russland ab. Es begann eine „Tschetschenisierung“ sämtlicher Lebensbereiche, die die massenhafte Flucht der russischsprachigen Bevölkerungsteile nach sich zog. Die russische Regierung in Moskau unterstützte in der Folge zunächst die politischen Gegner Dudajews und verstärkte ihre Truppen an den Grenzen zu Tschetschenien. Bis zum Jahr 1994 kam es zu einem Massenexodus der nicht-tschetschenischen Bevölkerung aus der Republik (ca. 200.000 bis 300.000 Menschen).

94

Am 29.11.1994 beschloss der Sicherheitsrat der Russischen Föderation unter seinem Ersten Sekretär Oleg Lobow ohne Konsultation der übrigen Institutionen den Angriff auf Tschetschenien. Am 11.12.1994 erteilte der russische Präsident Boris Jelzin schließlich den Befehl zur militärischen Intervention (Erster Tschetschenienkrieg). Der tschetschenische Rebellenchef Dudajew wurde am Abend des 21.04.1996 in der Nähe des Dorfes Gechi-Tschu getötet. Offiziellen Stellungnahmen zufolge wurde er während eines Telefonats durch einen gezielten Angriff mit einer Rakete tödlich verletzt. Allerdings gab es auch Spekulationen darüber, dass Dudajew innertschetschenischen Machtkämpfen zum Opfer gefallen sei oder gar überlebt habe. Vor den russischen Präsidentschaftswahlen am 16.06.1996 einigte man sich auf ein Waffenstillstandsabkommen, das aber zunächst von beiden Seiten nicht eingehalten wurde. Im August 1996 handelte dann der russische General Alexander Lebed mit dem Chef der tschetschenischen Übergangsregierung Aslan Maschadow ein neues Waffenstillstandsabkommen aus, das auch den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien beinhaltete (Abkommen von Chassawjurt). Maschadow hatte im August 1996 die von der russischen Armee kontrollierte Stadt Grosny mit etwa 5.000 tschetschenischen Separatisten zurückerobert. Der Krieg hatte damit für die russische Seite eine überraschende und niederschmetternde Wende genommen. Anfang Januar 1997 war der Abzug der russischen Truppen abgeschlossen. Ende Januar fanden in Tschetschenien Parlaments- und Präsidentenwahlen statt, aus denen Maschadow als Staatschef hervorging; am 12.05.1997 unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen formellen Friedensvertrag. Der umstrittene politische Status Tschetscheniens wurde allerdings in diesem Vertrag nicht geklärt, sondern auf den 31.12.2001 verschoben.

95

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Chassawjurt 1996 wurde Tschetschenien de facto, allerdings nicht de jure, eine unabhängige Republik. Die Macht rissen jedoch bald die intensiv aus dem Ausland unterstützten islamistischen Gruppierungen an sich. Der 1997 noch demokratisch gewählte Präsident Aslan Maschadow musste schon bald einwilligen, die Scharia einzuführen, und seine Macht mit den Kriegsherren und ihren wahabitischen Mentoren aus dem arabischen Raum teilen. Dem Aufbau der staatlichen Exekutivstrukturen widersetzten sich kriminelle Clans. Bis zum Jahr 1999 verwandelte sich Tschetschenien auf diese Weise in ein sicheres Rückzugsgebiet für Mitglieder mafiaähnlicher Vereinigungen, die im ganzen GUS-Raum-Raum operierten. Parallel dazu fanden eine erzwungene Islamisierung des öffentlichen Lebens, Übergriffe auf nicht-muslimische Minderheiten und ihr Exodus statt.

96

Rund 400 tschetschenische Freischärler unter der Führung von Schamil Bassajew und Ibn al-Chattab griffen am 07.08.1999 das Nachbarland Dagestan im Bezirk Botlichinskij an. In Kämpfen bis zum 26.08.1999 kamen rund 73 russische Soldaten ums Leben und 259 wurden verwundet. Am 05.09.1999 griffen diesmal rund 2.000 Kämpfer den dagestanischen Bezirk Nowolakskij bis 15.09. an und töteten mehrere hundert Menschen. Am 01.10.1999 marschierte die russische Armee erneut in Tschetschenien ein, um die aus der Sicht Russlands kriminelle und die Rebellen unterstützende Regierung von Aslan Maschadow von der Macht zu entfernen. Schon bald eroberte die Armee den Großteil des tschetschenischen Flachlandes und die Hauptstadt Grosny (Zweiter Tschetschenienkrieg).

97

Maschadow und die islamistischen Gruppierungen tauchten in den Untergrund ab und versuchten sich in die schwer zugänglichen südlichen Gebirgsregionen zurückzuziehen, wo sie sich vor der russischen Armee sicher glaubten. Nachdrängende russische Truppen schlossen jedoch einen Großteil der flüchtenden Rebellen südlich von Grosny ein. Während der überwiegende Teil von ihnen nach der Schlacht um Höhe 776 der Umschließung entkam, wurde ein weiterer Großverband unter dem Kommando von Ruslan Gelaew bei Komsomolskie von Föderationstruppen aufgerieben.

98

Die eigentliche militärische Phase der russischen Invasion endete demzufolge bereits im Frühjahr 2000. Ihre Truppen blieben jedoch vor Ort stationiert, um eine Rückkehr der Rebellen zu verhindern und sie, wenn möglich, gänzlich aus ihren Rückzugsgebieten zu vertreiben. Die verbliebenen tschetschenischen Verbände, unter denen sich auch internationale Dschihad-Kämpfer befanden, gingen in der Folge zu einer Guerilla-Taktik über, indem sie kleine Kampfeinheiten (10 bis 50 Mann) bildeten und auf überfallartige Angriffe und Anschläge gegenüber der russischen Armee setzten, bei denen oft auch tschetschenische Zivilisten starben. Ab 2000 traten auch erstmals weibliche Selbstmordattentäter, die so genannten „Schwarzen Witwen“, in Erscheinung. Von Beobachtern werden ausländische Geldgeber als Finanziers der Rebellen vermutet, wobei Georgien auf Grund seiner Lage als Operationsbasis vermutet wird.

99

2001 startete Russland eine breit angelegte so genannte „Antiterror-Operation“ mit dem Ziel der Zerschlagung des tschetschenischen Widerstandes. In ihrem Verlauf gelang es den Russen nach und nach, wichtige Führungspersonen des tschetschenischen Widerstandes auszuschalten, darunter tschetschenische und internationale Größen wie Ibn al-Chatab, Abu al-Walid, Salman Radujew, Ruslan Gelajew und Aslan Maschadow. Ein Erfolg bei der Auffindung des wohl gefährlichsten Terroristen Schamil Bassajew blieb lange aus, am 10.07.2006 wurde sein Tod gemeldet. Diesen Nachrichten zufolge wurde er durch eine russische Geheimdienstaktion getötet.

100

Am 26.09.2002 griffen die tschetschenischen Freischärler unter dem Anführer Ruslan Gelajew die kleine russische Republik Inguschetien an und töteten in dem Dorf Galschki 14 russische Soldaten und 17 Bürger.

101

Bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater vom 23.10. bis 26.10. 2002 nahmen tschetschenische Selbstmordattentäter, darunter auch mehrere Frauen, unter Führung von Mowsar Barajew etwa 700 Geiseln und forderten die Beendigung des Krieges und den sofortigen Abzug des russischen Militärs. Zur Beendigung des Dramas setzten die russischen Behörden ein zuvor ungetestetes Betäubungsgas ein. Dabei starben alle 41 Geiselnehmer sowie 129 Geiseln: Die bewusstlosen Geiselnehmer durch Genickschüsse der russischen Einsatzkommandos, die Theaterbesucher überwiegend auf Grund der Betäubungsmittelüberdosis und der unzureichenden medizinischen Versorgung nach ihrer Befreiung.

102

Ein Bombenanschlag auf das tschetschenische Regierungsgebäude in Grosny am 27.12.2002 forderte 72 Todesopfer. Im Februar 2003 erließen die USA Sanktionen gegen tschetschenische Rebellengruppen und setzten sie auf ihre Liste terroristischer Organisationen, unter anderem infolge der Bombenattentate in Moskau. Außerdem wurden Bankkonten eingefroren. Bei einer Volksbefragung in Tschetschenien am 23.03.2003 stimmten laut offiziellem Ergebnis 95,5 % der Bevölkerung für den Verbleib in der Russischen Föderation. Beobachter bezweifelten allerdings die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses.

103

Am 05.10.2003 fanden in Tschetschenien Präsidentenwahlen statt. Russlands Präsident Wladimir Putin, der diese Wahlen angeordnet hatte, gelang es, seinen Kandidaten Achmad Kadyrow, den Chef der Verwaltungsbehörde, durchzusetzen, indem er erwirkte, dass alle Kandidaten, die in Umfragen vor Kadyrow lagen, nicht kandidierten. Aslambek Alsachanow bekam als Gegenleistung für den Rückzug seiner Kandidatur einen Posten als Putins Beauftragter in Tschetschenien-Fragen, Malik Saidullajews Kandidatur wurde vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt. Die Wahl, zu der die OSZE nach offiziellen Angaben aus Sicherheitsgründen keine Beobachter entsandt hatte, wurde sowohl von westlichen Politikern als auch von Menschenrechtsorganisationen als Farce bezeichnet. Kadyrow kündigte an, noch härter gegen seine Gegner vorzugehen.

104

Sieben Monate später, am 09.05.2004, wurde Kadyrow bei einem Bombenanschlag getötet. Putin ernannte daraufhin den tschetschenischen Regierungschef Sergej Abramow zum provisorischen Präsidenten.

105

Nach einem Radiointerview des von Moskau nicht anerkannten, im Untergrund lebenden Präsidenten Aslan Maschadow im Juni 2004, in dem er eine Taktikänderung bei den Separatisten ankündigte, griffen am 22.06.2004 (am Jahrestag des deutschen Russlandfeldzugs) tschetschenische Rebellen erneut die Nachbarrepublik Inguschetien an. Nach Augenzeugenberichten umzingelten etwa 200 schwer bewaffnete Rebellen mehrere Polizeistationen, Posten der Verkehrspolizei und eine Kaserne von Grenzsoldaten und erschossen alle anwesenden Polizisten, Soldaten sowie Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und des Inlandsgeheimdienstes FSB. In dem Blutbad starben 90 Menschen, darunter 62 lokale Sicherheitskräfte, der inguschetische Innenminister Abukar Kostojew, einer seiner Stellvertreter und der Gesundheitsminister.

106

Im September 2004 starben bei der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan nach offiziellen Angaben 338 Zivilisten und Sicherheitskräfte sowie die etwa 30 Geiselnehmer. Das Kommando hatte am Einschulungstag eine große Anzahl von Schülern, Lehrern und Eltern in ihre Gewalt gebracht und drohte mit der Sprengung der Turnhalle, in der sie sich mit den Geiseln aufhielten, falls Russland sich nicht aus Tschetschenien zurückzöge. Der Aktion waren die Entführung und spätere Sprengung zweier russischer Passagiermaschinen mit etwa 90 Menschen an Bord sowie ein Anschlag auf eine Station der Moskauer Metro mit 12 Todesopfern vorausgegangen. Die Verantwortung übernahm jeweils der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew.

107

Am 08.03.2005 gelang es den Russen, den nicht anerkannten Rebellen-Präsidenten Maschadow bei Tolstoj-Jurt zu stellen und im Verlauf der nicht näher aufgeklärten Operation zu töten. Während im Westen in diesem Zusammenhang Warnungen vor einer Radikalisierung des tschetschenischen Widerstandes geäußert wurden, gingen viele russische Beobachter, denen Maschadow als Drahtzieher und Mitorganisator zahlreicher Anschläge galt, von einer Minderung der Zahl der Terrorakte und einer Stabilisierung der Lage aus. Tatsächlich zogen sich die wenigen verbliebenen Rebellen mehr und mehr aus dem Vorhaben eines Krieges gegen Russland zurück. Ihre Zahl wurde je nach Quelle auf etwa 100–200 Mann geschätzt, die in kleinen Gruppen von 2–4 und höchstens 10–15 Mann operieren. Um ihr eigenes Fortbestehen zu finanzieren, sind die Gruppen vermehrt zum Drogenhandel übergegangen.

108

Am 16.04.2009 wurde auf Anweisung des russischen Präsidenten Dimitir Medwedew Tschetscheniens Status einer „Zone der Ausführung antiterroristischer Operationen" aufgehoben. Mit dem Abzug etwa 20.000 russischer Militärangehöriger liegt die Regierungsgewalt verstärkt beim 2007 vereidigten Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow.

109

cc) Da der Konflikt innerhalb des Staates der Russischen Föderation in der Teilrepublik Tschetschenien stattfand und sich die Russischen Streitkräfte einerseits und (wenn auch teilweise vom Ausland unterstützte) tschetschenische Rebellen andererseits gegenüberstanden, war der Konflikt innerstaatlich. Angesichts des oben dargestellten Ausmaßes der Kampfhandlungen kann auch nicht von bloßen „inneren Unruhen oder Spannungen wie Tumulten, vereinzelt auftretenden Gewalttaten oder anderen ähnlichen Handlungen“ gesprochen werden. Zwischen den staatlichen russischen Behörden und organisierten bewaffneten tschetschenischen Rebellen bestand vielmehr ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt. Wie bereits das BVerwG im Revisionsurteil ausgeführt hat, sind auch die Beteiligten in der dortigen mündlichen Verhandlung vom Vorliegen eines solchen (aus Sicht des Revisionsgerichts naheliegenden) innerstaatlichen Konflikts ausgegangen.

110

b) Der Umstand, dass der Kläger nach seinen Schilderungen nicht Mitglied der organisierten bewaffneten tschetschenischen Rebellen war und damit als Zivilperson anzusehen sein dürfte, schließt nicht aus, dass er Täter eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut sein kann (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 30).

111

aa) Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut definiert nur, welche Handlungen Kriegsverbrechen darstellen und wer geeignetes Opfer sein kann, grenzt jedoch den Täterkreis selbst nicht ein. Nach der Rechtsprechung internationaler Strafgerichtshöfe und nach der völkerstrafrechtlichen Literatur kann grundsätzlich auch eine Zivilperson Täter eines Kriegsverbrechens sein, nicht nur ein Kämpfer der sich gegenüberstehenden Konfliktparteien; es muss aber ein funktionaler Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt bestehen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 31, m.w.N.).

112

Der funktionale Zusammenhang erfordert eine Verbindung zwischen der Tat und dem bewaffneten Konflikt, nicht zwischen dem Täter und einer der Konfliktparteien. Eine Verbindung des Täters zu einer der Konfliktparteien ist zwar ein Indiz für den funktionalen Zusammenhang zwischen Tat und Konflikt, aber keine zwingende Voraussetzung. Das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts muss für die Fähigkeit des Täters, das Verbrechen zu begehen, für seine Entscheidung zur Tatbegehung, für die Art und Weise der Begehung oder für den Zweck der Tat von wesentlicher Bedeutung sein. Für einen funktionalen Zusammenhang spricht es, wenn bestimmte Taten unter Ausnutzung der durch den bewaffneten Konflikt geschaffenen Situation begangen werden. Dies gilt aber nicht für Taten, die nur bei Gelegenheit des gleichzeitigen bewaffneten Konflikts und unabhängig von diesem begangen werden. Zu prüfen ist insoweit, ob die Tat in Friedenszeiten ebenso hätte begangen werden können oder ob die Situation des bewaffneten Konflikts die Tatbegehung erleichtert und die Opfersituation verschlechtert hat. Die persönliche Motivation des Täters ist unerheblich (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 32, m.w.N.).

113

bb) Der hiernach notwendige Zusammenhang zwischen der vom Kläger verübten Tat und dem innerstaatlichen Konflikt ist gegeben.

114

Der Zweite Tschetschenienkrieg war jedenfalls für seine Entscheidung zur Tatbegehung von wesentlicher Bedeutung. Nur auf Grund der Tatsache, dass sein Bruder als Mitglied der bewaffneten Rebellen festgenommen worden war, entschloss sich der Kläger, zur Befreiung seines Bruders einen russischen Offizier zu entführen und dabei die ihn begleitenden Soldaten kampfunfähig zu machen, also zu verwunden oder gar zu töten.

115

Dem funktionalen Zusammenhang steht auch nicht entgegen, dass die Aktion abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen auf einem Markt durchgeführt wurde; denn die Aktion war gegen eine der Konfliktparteien gerichtet. Sie wurde mit Hilfe der gegnerischen Konfliktpartei realisiert. Die persönliche Motivation des Klägers, seinen Bruder aus russischer Haft zu befreien, steht dem nicht entgegen, da die spezifische Gefährdungssituation des bewaffneten Konflikts die Tat erst ermöglichte (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 33).

116

c) Auch sind die beiden getöteten oder verwundeten russischen Soldaten als Opfer eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut anzusehen.

117

aa) Der Kläger hat den Tatbestand der „meuchlerischen Tötung“ der beiden russischen Soldaten nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut erfüllt.

118

a) Die meuchlerische Tötung und Verwundung feindlicher Kombattanten (sog. Perfidieverbot) wird seit der Verabschiedung von Art. 23 Buchst. b der Haager Landkriegsordnung von 1907 (RGBl 1910, 132) als Kriegsverbrechen angesehen. Während dieses Kriegsverbrechen im internationalen bewaffneten Konflikt auch gegenüber Zivilpersonen begangen werden kann (vgl. Art. 8 Abs. 2 Buchst. b Nr. XI IStGH-Statut), sind taugliche Opfer im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt nur Kämpfer der gegnerischen Partei (Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut) (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 37). Da die beiden Personen, an deren Tötung der Kläger beteiligt war, russische Soldaten waren, kommt der Kläger als Täter einer „meuchlerischen Tötung“ in Betracht.

119

ß) Im Einzelfall sind verbotene Perfidie und erlaubte Kriegslist schwer voneinander abzugrenzen. Zur näheren Bestimmung der Voraussetzungen der „meuchlerischen Tötung" kann auf das Verbot der Heimtücke im internationalen bewaffneten Konflikt nach Art. 37 Abs. 1 des am 08.06.1977 unterzeichneten Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Zusatzprotokoll I - BGBl 1990 II S. 1551) zurückgegriffen werden, das auch für den innerstaatlichen bewaffneten Konflikt gilt (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 38). Diese Bestimmung lautet:

120

"Art. 37 Verbot der Heimtücke

121

(1) Es ist verboten, einen Gegner unter Anwendung von Heimtücke zu töten, zu verwunden oder gefangen zu nehmen. Als Heimtücke gelten Handlungen, durch die ein Gegner in der Absicht, sein Vertrauen zu missbrauchen, verleitet wird, darauf zu vertrauen, dass er nach den Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Völkerrechts Anspruch auf Schutz hat oder verpflichtet ist, Schutz zu gewähren. Folgende Handlungen sind Beispiele für Heimtücke:

122

a) das Vortäuschen der Absicht, unter einer Parlamentärflagge zu verhandeln oder sich zu ergeben;

123

b) das Vortäuschen von Kampfunfähigkeit infolge Verwundung oder Krankheit;

124

c) das Vortäuschen eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus;

125

d) das Vortäuschen eines geschützten Status durch Benutzung von Abzeichen, Emblemen oder Uniformen der Vereinten Nationen oder neutraler oder anderer nicht am Konflikt beteiligter Staaten."

126

Völkerrechtswidrig ist danach nicht jede Irreführung des Gegners, sondern nur die Ausnutzung eines durch spezifische – insbesondere in Art. 37 Abs. 1 Zusatzprotokoll I beschriebene – Handlungen geschaffenen Vertrauenstatbestandes. Entscheidend ist, dass der Täter den Gegner gerade über das Bestehen einer völkerrechtlichen Schutzlage getäuscht hat. Das gilt auch im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass es für Guerilla- bzw. Widerstandskämpfer keine völkerrechtliche Pflicht zum Tragen einer Uniform gibt. Mithin ist der Tatbestand des Vortäuschens eines zivilen oder Nichtkombattantenstatus nur unter besonderen Voraussetzungen erfüllt. Für Widerstandskämpfer im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt besteht jedoch die Pflicht zum offenen Tragen der Waffe als Unterscheidungsmerkmal zwischen Kämpfern und Zivilpersonen. Das lässt sich aus der Vorschrift des Art. 44 Abs. 3 Zusatzprotokoll I ableiten, wonach Kombattanten nicht gegen das Verbot perfiden Verhaltens verstoßen, wenn sie ihre Waffen bei jeder militärischen Handlung einschließlich der Vorbereitung von Angriffen offen tragen. Diese Wertung ist auch für die Anwendung des Perfidieverbots im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zu berücksichtigen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 39 f., m.w.N.).

127

?) Der Kläger hat im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchst. e Nr. IX IStGH-Statut „meuchlerisch“ gehandelt, in dem er den getöteten oder verwundeten Soldaten einen zivilen bzw. Nichtkombattantenstatus vortäuschte.

128

(1) Der Kläger hat bei seiner Befragung im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 erklärt, dass er und sein Freund bei der Entführung des russischen Offiziers Zivilkleidung trugen.

129

(2) Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Kläger und sein Freund die Waffen, mit denen sie die Soldaten töteten oder verwundeten, vor Abgabe des ersten Schusses, verdeckt trugen und die die russischen Soldaten darüber täuschten, dass sie von ihnen keinen Angriff zu erwarten hatten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.11.2008 (Bl. 92 GA) hat der Kläger angegeben, auf dem Markt (offener Basar) habe man mit versteckten Waffen herumlaufen können, und die von ihm verwendete AKM 45 habe man leicht unter der Jacke verstecken können. Dies kann zur Überzeugung des Senats nur so verstanden werden, dass der Kläger und der Mittäter die Waffen vor Abgabe des ersten Schusses versteckt trugen. Zwar hat der Kläger bei der zweiten informatorischen Befragung am 26.07.2012 zunächst erklärt, er und sein Freund hätten die Waffen offen am Gürtel getragen. Diese Darstellung hält der Senat aber nicht für glaubhaft. Nachdem der Kläger auf den Widerspruch zu seiner früheren Schilderung hingewiesen worden ist, hat er erklärt, dass er sich an Details nicht mehr erinnern könne und er nicht mehr wisse, ob sie die Waffen offen oder versteckt getragen hätten. Ein offenes Tragen der Waffen erschiene indes wenig plausibel, da dies einen Erfolg der geplanten Entführung eines bewaffneten Offiziers und seiner beiden bewaffneten Begleiter durch nur zwei Personen wesentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte. Der Senat ist – wie bereits oben dargelegt – davon überzeugt, dass der Kläger mit seiner in der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2012 zunächst vorgetragenen Darstellung, er und sein Freund hätten die Waffen offen getragen, ersichtlich den Versuch hat unternehmen wollen, den im Revisionsverfahren zur Sprache gekommenen Vorwurf zu entkräften, die beiden russischen Soldaten „meuchlerisch“ getötet zu haben und deshalb Kriegsverbrecher im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG zu sein.

130

(3) Dem Kläger ist auch ein vorsätzliches und wissentliches Verhalten im Sinne von Art. 30 IStGH-Statut vorzuhalten.

131

Gemäß § 30 Abs. 1 IStGH-Satut ist, sofern nichts anderes bestimmt ist, eine Person für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen nur dann strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wenn die objektiven Tatbestandsmerkmale vorsätzlich und wissentlich verwirklicht werden. Gemäß § 30 Abs. 2 IStGH-Statut liegt „Vorsatz“ im Sinne dieses Artikels vor, wenn die betreffende Person a) im Hinblick auf ein Verhalten dieses Verhalten setzen will, b) im Hinblick auf die Folgen diese Folgen herbeiführen will oder ihr bewusst ist, dass diese im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eintreten werden. „Wissen" im Sinne dieses Artikels bedeutet gemäß § 30 Abs. 3 StGH-Statut das Bewusstsein, dass ein Umstand vorliegt oder dass im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse eine Folge eintreten wird; „wissentlich" und „Wissen" sind entsprechend auszulegen.

132

Der Kläger handelte hiernach in Bezug auf die Tatbestandsmerkmale „Tötung“ bzw. „Verwundung“ und „meuchlerisch“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e Nr. IX IStGH-Statut vorsätzlich.

133

Er und sein Freund schossen nach seinen eigenen Angaben mit Waffen, die er als „moderne Form der Kalaschnikow" bezeichnet hat, gezielt auf die Soldaten, um sie kampfunfähig zu machen und die Entführung des Offiziers als Austauschperson für seinen Bruder durchführen zu können. Das Verhalten, das Abgeben von Schüssen auf die Soldaten, wollte der Kläger damit ersichtlich setzen. Ihm war auch bewusst, dass als Folge der gezielten Schüsse im gewöhnlichen Verlauf die Soldaten verwundet werden und sie ihren Verletzungen – möglicherweise oder wahrscheinlich – erliegen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 28.11.2008 gab er zwar an (Bl. 93 GA), er habe keine Tötungsabsicht gehabt, er habe aber die russischen Soldaten außer Gefecht setzen müssen, um seinen Bruder zu befreien. Tötungsabsicht setzt Art. 30 IStGH-Statut indes nicht voraus. Da der Kläger und sein Freund aus einer Entfernung von ca. 5 bis 6 m gezielte Schüsse abgaben, musste der Kläger allerdings davon ausgehen, dass diese für die Soldaten tödlich sein werden. Zudem bejahte er im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt die Frage, ob er zur Rettung seines Bruders „zum Mörder geworden" sei, was gegen ein bloß fahrlässiges Handeln spricht (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 42). Im Übrigen genügt gemäß Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e Nr. IX IStGH-Statut auch die bloße „meuchlerische Verwundung“ des Kombattanten für die Annahme eines Kriegsverbrechens. Vorsatz ist auch in Bezug auf die „meuchlerische“ Form der Tötung oder Verwundung zu bejahen. Denn durch das verdeckte Tragen der Waffen wollte der Kläger bei den Soldaten, die sich auf dem Markt in keiner unmittelbaren Bedrohungssituation sahen, keinen Argwohn wecken und sie durch einen überraschenden Angriff kampfunfähig machen.

134

(4) Der Kläger kann sich ferner nicht – strafausschließend – darauf berufen, dass er mit der Verwundung bzw. der (in Kauf genommenen) Tötung der Soldaten (letzten Endes) die Befreiung seines Bruders habe erreichen wollen, dem unmittelbar Gewalt gedroht habe. Strafausschließungsgründe sind am Maßstab von Art. 31 Abs. 1 IStGH-Statut zu messen (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 43).

135

Nach dieser Vorschrift ist neben anderen in diesem Statut vorgesehenen Gründen für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit strafrechtlich nicht verantwortlich, wer zur Zeit des fraglichen Verhaltens

136

a) wegen einer seelischen Krankheit oder Störung unfähig ist, die Rechtswidrigkeit oder Art seines Verhaltens zu erkennen oder dieses so zu steuern, dass es den gesetzlichen Anforderungen entspricht;

137

b) wegen eines Rauschzustands unfähig ist, die Rechtswidrigkeit oder Art seines Verhaltens zu erkennen oder dieses so zu steuern, dass es den gesetzlichen Anforderungen entspricht, sofern er sich nicht freiwillig und unter solchen Umständen berauscht hat, unter denen er wusste oder in Kauf nahm, dass er sich infolge des Rausches wahrscheinlich so verhält, dass der Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt wird;

138

c) in angemessener Weise handelt, um sich oder einen anderen oder, im Fall von Kriegsverbrechen, für sich oder einen anderen lebensnotwendiges oder für die Ausführung eines militärischen Einsatzes unverzichtbares Eigentum, vor einer unmittelbar drohenden und rechtswidrigen Anwendung von Gewalt in einer Weise zu verteidigen, die in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang der ihm, dem anderen oder dem geschützten Eigentum drohenden Gefahr steht. Die Teilnahme an einem von Truppen durchgeführten Verteidigungseinsatz stellt für sich genommen keinen Grund für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Buchstaben dar;

139

d) wegen einer ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder unmittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens zu einem Verhalten genötigt ist, das angeblich den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt, und in notwendiger und angemessener Weise handelt, um diese Gefahr abzuwenden, sofern er nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzuwenden trachtet. Eine solche Gefahr kann entweder

140

i) von anderen Personen ausgehen oder

141

ii) durch andere Umstände bedingt sein, die von ihm nicht zu vertreten sind.

142

In Betracht zu ziehen ist allenfalls eine Anwendung der Buchstaben c und d. Der Kläger verfolgte nach eigenen Angaben das Ziel, seinen Bruder aus einer als unrechtmäßig angesehenen Inhaftierung zu befreien, in deren Verlauf er Übergriffe bis hin zu Folter oder gar Tötung befürchtete. Damit wollte er eine – aus seiner Sicht – dem Bruder unmittelbar drohende Gefahr abwenden. Er hat aber nicht in einer im Sinne der genannten Vorschrift angemessenen Weise gehandelt, weil die meuchlerische Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten in keinem angemessenen Verhältnis zum Umfang der seinem Bruder drohenden Gefahr stand.

143

bb) Damit bedarf keiner Vertiefung, ob in der Geiselnahme des russischen Offiziers ebenfalls ein Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. c Nr. III IStGH-Statut zu sehen ist.

144

1.2.2. Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet auch gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG aus, weil die Tötung oder Verwundung der beiden russischen Soldaten eine schwere nichtpolitische Straftat darstellt.

145

a) Ob einer Straftat das von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG geforderte Gewicht zukommt, bestimmt sich nach internationalen und nicht nach nationalen Maßstäben. Es muss sich um ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 47, m.w.N.).

146

Die vom Kläger begangene Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten und die Geiselnahme eines Offiziers sind schwere Straftaten in diesem Sinne, insbesondere weil sie nicht durch einen Kombattantenstatus legitimiert sind; etwas anderes könnte sich nur dann ergeben, wenn der Kläger nicht vorsätzlich gehandelt hätte oder sich auf Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe berufen könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 47). Dies ist nach den oben getroffenen Feststellungen nicht der Fall.

147

b) Die vom Kläger begangene Tat ist auch eine nichtpolitische gewesen.

148

Die Frage, ob eine Tat politisch oder nichtpolitisch ist, beurteilt sich nach dem Delikttypus sowie den der konkreten Tat zugrunde liegenden Motiven und den mit ihr verfolgten Zielen. Nichtpolitisch ist eine Tat, wenn sie überwiegend aus anderen Motiven, etwa aus persönlichen Beweggründen oder Gewinnstreben begangen wird. Besteht keine eindeutige Verbindung zwischen dem Verbrechen und dem angeblichen politischen Ziel oder ist die betreffende Handlung in Bezug zum behaupteten politischen Ziel unverhältnismäßig, überwiegen nichtpolitische Beweggründe und kennzeichnen die Tat damit insgesamt als nichtpolitisch (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 48; Urt. v. 24.11.2009, a.a.O., RdNr. 42).

149

Der Beweggrund des Klägers für die Tötung oder Verwundung der beiden Soldaten und für die Geiselnahme des Offiziers lag nach seinem Vorbringen allein in der Befreiung seines Bruders aus der russischen Gefangenschaft. Er verfolgte damit ein persönliches und kein politisches Ziel. Für die politische Qualität der Straftat genügt es nicht, dass sich das Handeln des Klägers aus der Sicht der russischen Sicherheitskräfte (möglicherweise) als Engagement des Klägers für die „tschetschenisch-separatistische Sache" darstellte; vielmehr kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Motivation des Klägers an (BVerwG, Urt. v. 16.02.2010, a.a.O., RdNr. 49). Seinem Vorbringen lässt sich gerade nicht entnehmen, dass er Widerstandskämpfer war und die Aktion den Zielen des tschetschenischen Widerstands dienen sollte. Der Kläger gab vielmehr an, dass er nicht Mitglied der Widerstandskämpfer gewesen sei. Nach den Gründen des Revisionsurteils hat der Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgehoben, dass sich der Kläger nicht mit den Zielen des tschetschenischen Widerstands identifiziere, sondern lediglich eine Einzelaktion mit deren Unterstützung durchgeführt habe. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 26.07.2012 hat der Kläger nochmals bestätigt, dass er seinen Bruder habe retten wollen und er zu anderen Gründen nichts weiter vorzutragen habe.

150

c) In seinem Urteil vom 09.11.2010 (C-57/09 und C-101/09, NVwZ 2011, 285) hat die Große Kammer des der EuGH nunmehr klargestellt, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nach der mit § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG inhaltsgleichen Regelung des Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 nicht voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht und eine auf den Einzelfall bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt wurde.

151

2. Der Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf das Herkunftsland, den der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren hilfsweise gestellt hat, ist seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Asylprozess sachdienlich dahin auszulegen, dass in erster Linie die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG und für den Fall, dass die Klage insoweit keinen Erfolg hat, hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG begehrt wird. Diese Abschiebungsverbote beruhen auf Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG und bilden einen eigenständigen, vorrangig vor den verbleibenden nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfenden Streitgegenstand (BVerwG, Urt. v. 24.06.2008 – 10 C 43.07 –, BVerwGE 131, 198 [201], RdNr. 11 ff.; Urt. v. 14.07.2009 – 10 C 9.08 –, BVerwGE 134, 188 [191], RdNr. 9; Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09 –, BVerwGE 136, 360 [364 f.], RdNr. 16).

152

2.1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegt. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II 685) – EMRK – enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Bezug genommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 –, a.a.O., RdNr. 15). Dadurch soll die inhaltliche Orientierung an der EMRK für den subsidiären Schutz festgeschrieben werden, so dass die einschlägige Rechtsprechung des EGMR übernommen werden soll (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, A 1 § 60 RdNr. 107, m.w.N.).

153

2.1.1. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG scheidet nicht deshalb aus, weil der Kläger den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 AsylVfG erfüllt hat. Dieser Ausschlussgrund gilt nach dem eindeutigen Wortlaut nur für das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG, nicht hingegen für die sonstigen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 – 10 C 11.09 –, Buchholz 451.902 Europ Ausl- u Asylrecht Nr. 42, S. 181, RdNr. 13).

154

2.1.2. Unter Folter ist gemäß Art. 1 der UN-Anti-Folterkonvention jede Handlung zu verstehen, durch die jemandem vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen zugefügt werden, sofern dies u. a. in der Absicht, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgend einer anderen, auf irgend eine Art der Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht, und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlichen Bediensteten oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung, mit deren Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Als unmenschliche Behandlung ist die absichtliche Zufügung schwerer psychischer oder physischer Leiden anzusehen. Eine erniedrigende Behandlung ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst oder Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise den psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Die in Frage stehende Maßnahme muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um überhaupt in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu gelangen. Die Beurteilung dieses Minimums hängt von den Umständen des Einzelfalles ab und erfordert eine wertende Betrachtung. Kriterien sind beispielsweise Art und Zusammenhang der Behandlung, Dauer und psychische Wirkungen. Wenn besondere Umstände vorliegen, kann es auch als erniedrigende Behandlung gewertet werden, wenn eine Kategorie von Personen auf Grund ihrer Rasse öffentlich ausgesondert und einer unterschiedlichen Behandlung unterworfen wird. Zwischen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird man nur nach der Schwere der einzelnen Maßnahme graduell unterscheiden können (vgl. zum Ganzen: Hailbronner, a.a.O., RdNr. 110 ff.).

155

Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, oder wenn eine Strafschärfung wegen der politischen Überzeugung des Betroffenen erfolgt. Danach können z. B. bestimmte Strafarten oder besonders harte Haftbedingungen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen (Hailbronner, a.a.O., RdNr. 114 f.).

156

2.1.3. Bei der anzustellenden Prognose, ob der Ausländer den in § 60 Abs. 2 AufenthG genannten Gefahren ausgesetzt ist, ist grundsätzlich der sog. Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 [382], RdNr. 18 ff., m.w.N.). Allerdings gilt gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u. a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010, a.a.O., RdNr. 20). Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchem Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind. Geht es um die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie bei der Feststellung eines unionsrechtlich vorgezeichneten subsidiären Abschiebungsverbots, greift die Vermutung nach dieser Vorschrift ein, wenn der Antragsteller vor seiner Ausreise aus dem Heimatland einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie erlitten hat oder unmittelbar von einem solchen Schaden bedroht war. Eine Vorverfolgung im flüchtlingsrechtlichen Sinne reicht für das Eingreifen der Vermutung im Rahmen des subsidiären Schutzes daher nur dann aus, wenn in ihr zugleich ein ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie liegt, etwa wenn die Verfolgungsmaßnahme in Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht. Außerdem setzt die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie, dass der Antragsteller „erneut von einem solchen Schaden bedroht wird", einen inneren Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen oder damals drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. 07.09.2010, a.a.O., S. 182, RdNr. 15; Urt. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 –, NVwZ 2012, 454 [455], RdNr. 21).

157

2.1.4. Im konkreten Fall ist zunächst davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner Beteiligung an der Entführung und Tötung bzw. Verwundung russischer Militärangehöriger abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen vor seiner Ausreise aus Tschetschenien von Folter und unmenschlicher erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unmittelbar bedroht war, so dass dem Kläger die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute kommt.

158

Wie oben (1.1. a) bb)) bereits ausgeführt, gehörten Folter und Erzwingung von Ge-ständnissen bereits geraume Zeit vor der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation zu den üblichen Praktiken der russischen Sicherheitskräfte. Nach verschiedenen Auskünften wurde von zahlreichen menschenrechtswidrigen Übergriffen berichtet. In sog. Filtrationslagern, die dazu dienen sollten, tschetschenische Terroristen aufzuspüren, kam es im großen Stil, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, zu systematischen Folterungen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, Urt. v. 24.10.2007 – 11 B 03.30710 –, Juris, m. w. Nachw.).

159

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.05.2002 etwa wurden in Tschetschenien an verschiedenen Orten Gräber mit jeweils mehreren (nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen bis zu zweihundert) Leichen gefunden, die zum Teil Folterspuren aufwiesen. Internationale und russische Menschenrechtsorganisationen (z.B. Human Rights Watch-Bericht vom 18.02.2000, Amnesty International-Bericht vom 22.12.1999 sowie Nachforschungen der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial) berichten über die Einrichtung sog. Filtrationslager oder -punkte. Nach russischer Lesart dienten diese dem Zweck, tschetschenische Terroristen unter den Flüchtlingen aufzuspüren. Die genannten Menschenrechtsorganisationen gingen auf Grund von Augenzeugenberichten zunächst von dem Betreiben mindestens eines solchen russischen „Filtrationslagers" an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien aus. Dort soll es abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu Folterungen (z.B. Elektroschocks, Schläge u. a. auf den Kopf und den Rücken mit Metallhammer und Vergewaltigungen) durch russische Spezialkräfte gekommen sein. Auf Grund von Augenzeugenberichten und auch Filmaufnahmen wurde davon ausgegangen, dass es in und um Grosny weitere Filtrationslager gab, in denen auch systematisch gefoltert wurde, u. a. in dem Gefängnis Tschernokosowo nördlich von Grosny. Darüber hinaus wurde immer wieder über sogenannte „Filtrationspunkte" berichtet, die von russischen Sicherheitskräften und in vergleichbarer Art auch von tschetschenischen Rebellen unterhalten wurden. Damit gemeint war zum Beispiel, dass Gefangene glaubhaften Berichten zufolge in Erdlöchern gehalten werden sollten. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Inspektionsergebnisse des IKRK waren gar nicht und die des Anti-Folter-Ausschusses des Europarats weit überwiegend mangels erforderlicher Zustimmung der russischen Regierung nicht veröffentlicht worden. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erhob darüber hinaus den Vorwurf, dass sog. „Todesschwadronen", zusammengesetzt aus Angehörigen der russischen Sicherheitskräfte, in Tschetschenien operierten und massive Menschenrechtsverletzungen begingen.

160

Das Europäische Komitee für die Verhinderung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (CPT) besuchte vom 23. bis 29.5.2003 bereits zum sechsten Mal Tschetschenien und stellte fest, dass es dort weiterhin zu Rückgriff auf Folter und andere Formen von Misshandlung durch Sicherheitskräfte und föderale Truppen komme. Generell würden in Russland häufig Methoden der Folter und unmenschlicher Behandlung beim Vorgehen von Polizei und Sicherheitskräften angewandt. Gemäß Berichten von NROs, aber auch eingeräumt von offizieller Seite wie dem Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, kommt es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter sowie grausamer und erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden. Besonders kritisch sei die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der sog. „Operativen Ermittlungstätigkeit“: Dabei würden die Untersuchungsbehörden auch Methoden der Folter anwenden, um erste Informationen zu einem Verbrechen zu erhalten, bevor sie das offizielle Verfahren und weitere prozessrechtlich sanktionierte Untersuchungsschritte einleiteten. Der VN-Menschenrechtsausschuss (Schlussfolgerungen zum 5. Staatenbericht der RF zum Zivilpakt, November 2003) zeigte sich über die „wiederholten Berichte über die Anwendung von Folter und Misshandlung während informeller Befragungen in Polizeistationen“ besorgt. Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass nur ein geringer Teil dieser Misshandlungen disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt werde. Dies, wie die auf allen Ebenen wahrgenommene Korruption, unterminiere auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafverfolgungsbehörden (vgl. zum Ganzen den Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 26.03.2004).

161

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation befürchten musste, von den russischen Sicherheitskräften, wenn sie seiner habhaft geworden wären, gefoltert zu werden, um ggf. Widerstandskämpfer aufspüren zu können. Wegen der Beteiligung an der Befreiung seines bei den Widerstandskämpfern aktiven Bruders lag es aus Sicht der russischen Sicherheitskräfte nahe, dass der Klägers sich am tschetschenischen Widerstand beteiligte und/oder Kenntnisse über die Rebellenorganisation(en) hatte. Zudem musste er wegen der Tötung oder Verwundung der russischen Soldaten und der Geiselnahme des Offiziers mit Vergeltung durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, insbesondere körperliche Bestrafung, wenn nicht sogar mit seiner Tötung rechnen.

162

2.1.5. Es liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die dagegen sprechen könnten, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation erneut von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bedroht wird.

163

a) Ein stichhaltiger Grund ist insbesondere nicht darin zu erkennen, dass nach der Auskunft des Auswärtigen Amts an den Senat vom 21.04.2011 (Bl. 272 GA) laut Interpol Moskau nach dem Kläger in der Russischen Föderation nicht gefahndet werde und auch keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass Personen, welche nicht zur Fahndung ausgeschrieben seien, im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Teile der Russischen Föderation staatliche Maßnahmen drohen würden.

164

Das Auswärtige Amt hat im Lagebericht vom 07.03.2011 zur Behandlung von Rückkehrern ausgeführt (S. 35 ff.), solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst sei, sei davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erführen. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Vor diesem Hintergrund spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation festgenommen wird, wenn den russischen Behörden die Schilderungen des Klägers in dem von ihm betriebenen Asylverfahren bekannt werden. Für Letzteres spricht die Publizität, die das Verfahren mittlerweile gewonnen hat. Es kann insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass die im Zweiten Tschetschenienkrieg begangenen Taten nicht mehr verfolgt werden. Die am 22.06.2006 von der Duma beschlossene Amnestieverordnung, erfasst keine schweren Verbrechen wie Mord und Geiselnahme (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 07.03.2011, S. 23).

165

b) Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass der Kläger im Fall seiner Festnahme nicht Gefahr läuft gefoltert oder zumindest unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden.

166

Zwar haben sich die Verhältnisse seit der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation verbessert. Trotz des gesetzlichen Verbots der Folter in der Russischen Föderation wurde jedoch wiederholt vom Menschenrechtsbeauftragten Lukin und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen vor allem bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft von Vorfällen berichtet, bei welchen dieses Verbot nicht eingehalten wurde (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amts an den Senat vom 21.04.2011). Insbesondere auch amnesty international hält in seiner Stellungnahme an den Senat vom 27.02.2012 eine Verhaftung für möglich und führt ergänzend aus, dass in diesem Fall die Gefahr der Folterung oder Misshandlung zur Erlangung eines Geständnisses sowie ein unfaires Verfahren mit einer unverhältnismäßig hohen Haftstrafe drohten.

167

In einem Bericht von Memorial von 2010 u. a. über Tschetschenen im Strafvollzug (S. 37 f.) heißt es unter Nennung verschiedener Referenzfälle, dass – wie bereits 2009 berichtet worden sei – die Lage von Tschetschenen in russischen Gefängnissen besonders schwer sei. Hauptgrund sei, dass in den Rechtsschutzorganen sehr viele Menschen tätig seien, die den Krieg in der Tschetschenischen Republik selbst mitgemacht hätten. Die meisten von ihnen brächten dann das, was sie dort anzuwenden gelernt hätten, mit. Sie seien selbst traumatisiert, voller Hass. Gefährlich seien sie vor allem für die, die sie noch vor kurzem als Feinde vor Ort bekämpft hatten. Memorial habe oft mit Fällen zu tun, in denen Bürger von Tschetschenien Verbrechen beschuldigt werden, für die sie schon einmal verurteilt und anschließend amnestiert worden seien. Es gebe sogar Fälle, in denen jemand für etwas zur Verantwortung gezogen werde, was sich vor mehreren Jahren ereignet habe. Während der Verbüßung ihrer Haftzeit drohe Tschetschenen ständig Verfolgung, sowohl durch die Angestellten des Strafvollzuges als auch durch die anderen Gefangenen. Beiden Gruppen seien xenophobe Emotionen nicht fremd. Schläge, grundlose Bestrafungen, eine Unterbringung in einem Gebäude für Tuberkulosekranke, all das drohe Tschetschenen in der Haft. Wenn die Haftzeit ihrem Ende zugehe, gäben sich die Mitarbeiter von Kolonien und Gefängnissen jede erdenkliche Mühe, um die Freilassung von Tschetschenen zu verhindern. Dafür erfänden sie die seltsamsten Beschuldigungen oder provozierten diese mit erniedrigendem Verhalten zum Übertreten der Vorschriften.

168

Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass der Kläger – für den Senat glaubhaft – geschildert hat, in welcher Weise er abseits vom allgemeinen Kampfgeschehen an der Verwundung oder Tötung russischer Soldaten sowie der Geiselnahme eines Offiziers beteiligt war, lassen sich keine stichhaltigen Gründe für die Annahme finden, dem Kläger drohe im Fall seiner Verhaftung nicht erneut Folter oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Auch besteht der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem dem Kläger vor der Ausreise drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden.

169

2.2. Da dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren ist, muss nicht weiter untersucht werden, ob daneben auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 3 oder Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorliegen (vgl.BayVGH, Urt. v. 18.07.2011 – 9 B 10.30246 –, Juris). Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines auf Unionsrecht beruhenden Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bildet einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (BVerwG, Urt. v. 08.09.2011 – 10 C 14.10 –, BVerwGE 140, 319 [326 f.], RdNr. 16 f.; Urt. v. 17.11.2011, a.a.O., RdNr. 11).

170

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.

171

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11. 711 ZPO.

172

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.


Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31.08.2005 wird aufgehoben, soweit mit ihm nicht der Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte abgelehnt wird. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Klägerin, nach eigenen Angaben russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit ohne Ausweispapiere, reiste, ebenfalls nach eigenen Angaben, am 26.04.2005 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl.
Bei ihrer Anhörung gab sie am 19.05.2005 im Wesentlichen an, in Georgien geboren zu sein und dort ihre Kindheit verbracht zu haben. 1982 sei sie mit ihrer Familie nach Grosny gezogen. Nach dem 1. Krieg habe sie an Meetings teilgenommen. Einmal sei sie mitgenommen worden. Im 2. Krieg sei ein Halbbruder umgekommen. Im August 1996 habe sie etwa zwei Wochen lang Verletzten in den Kellern des Krankenhauses geholfen, was den Föderalen nicht verborgen geblieben sein könne. Im August 2004 hätten sechs Föderale das Haus durchsucht und die Klägerin und die anderen anwesenden Familienmitglieder verhört. Sie hätten ihnen vorgeworfen, den Kämpfern zu helfen und sie aufgefordert, deren Aufenthalt mitzuteilen. Im September 2004 seien wieder 30 bis 40 Leute in das Haus ihres Cousins gekommen, wo sie sich gerade aufgehalten habe. Sie seien gezwungen worden, sich auf den Boden zu legen, und grob behandelt worden. Die Föderalen hätten das Haus durchsucht und den Anwesenden vorgeworfen, den Kämpfern zu helfen. Sie habe sich dann bis zu ihrer Ausreise bei verschiedenen Verwandten aufgehalten. Eine Cousine, ..., habe den Flüchtlingen geholfen und sei deshalb in Stari Atagi festgenommen und nach internationalen Proteste und Einschaltung einer nationalen Menschenrechtsorganisation nach ein paar Tagen wieder freigelassen worden. Sie selbst habe Angst gehabt, festgenommen zu werden, weil sie zu dieser Familie gehöre und an Demonstrationen teilgenommen habe. Im Jahr 1995 habe es viele Demonstrationen gegeben. Einmal sei sie bei einer solchen Demonstration festgenommen und nach Zahlung von 500 Dollar nach ein paar Stunden wieder freigelassen worden. Am 15.04.2005 sei sie auf Anraten ihrer Verwandten mit einem weißen Übergangsausweis mit dem Zug über Rostow/Don nach Moskau gefahren, von wo aus sie am 24.04.2005 mit einem Kleinbus weiter in die Bundesrepublik gefahren sei.
Mit Bescheid vom 31.08.2005 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen und drohte der Klägerin die Abschiebung in die Russische Föderation an. Das Vorbringen zu ihrem politischen Engagement in Tschetschenien habe die Klägerin nicht durch einen fundierten und nachvollziehbaren Sachvortrag glaubhaft gemacht. Es scheine daher nicht glaubwürdig, dass die Sicherheitskräfte nach einer Rückkehr an ihr ein herausgehobenes Interesse haben könnten. Vor diesem Hintergrund habe sie außerhalb Tschetscheniens und den umliegenden Republiken eine inländische Fluchtalternative.
Mit ihrer am 15.09.2005 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie habe bei der Anhörung wiederholt erfolglos darauf bestanden, dass diese in tschetschenischer Sprache erfolge, da sie die russische Sprache nicht so gut beherrsche. Zudem habe sie auf ihre gravierenden Gedächtnisprobleme hingewiesen. Mit ihrer Cousine ... und einer weiteren Freundin habe sie seit Anfang 1999 sehr häufig, d.h. ein- bis zweimal im Monat, tschetschenischen Kämpfern bei der Flucht nach Georgien geholfen. Das sei falsch protokolliert worden. Bei der ersten Hausdurchsuchung im August 2004 sei ihr dies vorgehalten worden. Nach der ersten Hausdurchsuchung sei auch ihre Cousine ... festgenommen worden, die nach ihrer Freilassung geflohen worden sei. Bei der zweiten Hausdurchsuchung habe man sie nicht identifizieren können, da sie einen anderen Namen angegeben und keinen Ausweis dabei gehabt habe. Etwa im August 2004 sei sie inhaftiert worden. Nach ihrer Freilassung habe sie nicht über ihre Inhaftierung sprechen können. Sie sei nicht über Moskau ausgereist, sondern Ende November 2004 aus Tschetschenien geflohen. Wie ein ärztlicher Befundbericht vom 04.04.2006 belege, leide sie an einer depressiven Verstimmung im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie sei zuletzt im Jahr 2005 medikamentös behandelt worden. Sie beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 31.08.2005 zu verpflichten festzustellen, dass die Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die dem Gericht vorgelegte Verwaltungsakte und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 13.02.2007 verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
Das Gericht konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten über die Klage verhandeln und entscheiden, denn die Beklagte wurde bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
10 
Die Klage ist nach dem erkennbaren Begehren der Klägerin (§ 88 VwGO) im Hauptantrag gerichtet auf Aufhebung des Bescheides mit Ausnahme von Ziff. 1 und Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind. Sie ist zulässig und begründet.
11 
Der Bescheid des Bundesamtes vom 31.08.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit festgestellt wird, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2); die Klägerin hat nach den Gegebenheiten zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylVfG) einen Anspruch auf die gegenteilige Feststellung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
12 
Gemäß § 60 Abs.1 AufenthG, bei dessen Auslegung nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (ABl. v. 30.09.2004, L 304/12 - Qualifikationsrichtlinie -) zu berücksichtigen ist, darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI. 1953 II S. 559 - GFK -) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <344>; zur Motivation vgl. BVerwG, Urt. v. 19.05.1987, BVerwGE 77, 258). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 18.02.1986, BVerwGE 74, 31).
13 
Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, Urt. v. 03.12.1985, NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, DVBl. 1994, 524, 525). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat er nur dann einen Asylanspruch, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, Beschl. v. 26.11.1986, BVerfGE 74, 51 <64>; BVerwG, Urt. v. 20.11.1990, BVerwGE 87, 152). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 25.09.1984, BVerwGE 70, 169). Dies setzt eine mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es im Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird (BVerwG, Urt. v. 31.03.1981, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Nach diesem (herabgestuften) Maßstab wird andererseits nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist eine Rückkehr unzumutbar, wenn über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urt. v. 08.09.1992, NVwZ 1993, 191); es müssen mindestens ernsthafte Zweifel an der künftigen Sicherheit des Betroffenen vor erneuter Verfolgung bestehen (BVerwG, Urt. v. 01.10.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 37). Dies entspricht auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach eine Vorverfolgung des Antragstellers einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass dessen Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.
14 
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Urt. v. 08.05.1984, NVwZ 1985, 36) und insbesondere auch den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, Urt. v. 23.11.1982, BVerwGE 66, 237).
15 
Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Schutzsuchende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsmöglichkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Zu einer in diesem Sinne verfolgungsbetroffenen Gruppe gehören alle Personen, die der Verfolger für seine Verfolgungsmaßnahmen in den Blick nimmt; dies können entweder sämtliche Träger eines zur Verfolgung Anlass gebenden Merkmals - etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion - sein oder nur diejenigen von ihnen, die zusätzlich (mindestens) ein weiteres Kriterium erfüllen, beispielsweise in einem bestimmten Gebiet leben oder ein bestimmtes Lebensalter aufweisen; solchenfalls handelt es sich um eine entsprechend – örtlich, sachlich oder persönlich - begrenzte Gruppenverfolgung (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204). Kennzeichen einer "regionalen" oder "örtlich begrenzten" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein Kennzeichen oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <207> m.w.N.; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A).
16 
Die Annahme einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds rechtfertigt; hierfür ist die Gefahr einer so großen Zahl von Eingriffshandlungen in relevante Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine bloße Vielzahl solcher Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Gebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so um sich greifen, dass dort für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139; Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 01.02.2007 – 1 C 24.06 -). Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. 01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123; Beschl. v. 23.12.2002, Buchholz 11 Art. 16a GG, Nr. 49). Allerdings reicht eine lediglich statistisch-quantitative Betrachtung nicht aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen, die die Schwere, Anzahl, Zeit und Häufigkeit der festgestellten einzelnen Verfolgungsschläge ebenso einbezieht wie die Größe der betroffenen Gruppe. Mithin bedarf es wie bei der Individualverfolgung letztlich einer wertenden Gesamtbetrachtung, weil auch insoweit die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Heimatstaat das für die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr vorrangige qualitative Kriterium bildet (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Der Feststellung der Verfolgungsdichte bedarf es nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder bevorsteht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. "Referenzfälle politischer Verfolgung" sowie ein "Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200).
17 
Wenn der Staat in einer Bürgerkriegssituation die effektive Gebietsgewalt in gewissen Teilbereichen des Konfliktgebietes innehat und dabei im Gegenzug zu den Aktionen des Bürgerkriegsgegners die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung durch Gegenterror unter den Druck brutaler Gewalt setzt, liegt ebenfalls politische Verfolgung vor (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.05.1993, NVwZ 1993, 1210 ). Eine solche Vorgehensweise in einer Bürgerkriegssituation kann sich als gruppengerichtete Verfolgung der der Gegenseite zugerechneten Zivilbevölkerung darstellen. Die Maßnahmen eines Staates, der faktisch die Rolle einer Bürgerkriegspartei einnimmt und in den umkämpften Bereichen seines Hoheitsgebietes nicht mehr als übergreifende, effektive Ordnungsmacht besteht, sind zwar dann keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne, wenn sie ein typisch militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung des Gebietes dienen, das zwar (noch) zum eigenen Staatsgebiet gehört, über das der Staat jedoch faktisch die Gebietsgewalt an den bekämpften Gegner verloren hat. Denn die Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners durch staatliche Kräfte ist im Allgemeinen nicht politische Verfolgung. Führen allerdings die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise, der auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, liegt politische Verfolgung vor. Dies gilt erst recht, wenn die staatlichen Maßnahmen in die Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315; BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105). Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Wenn ein Staat einer ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt sich auch die Frage, ob die Verfolgungsmaßnahmen - objektiv gesehen - auf die Volkszugehörigkeit gerichtet sind und an diese anknüpfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123). Nach dieser Rechtsprechung setzt zwar auch die Annahme einer politischen Gruppenverfolgung durch "Gegenterror" im Bürgerkrieg grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Die Feststellungen zur Verfolgungsdichte bei einem überschießenden militärischen Vorgehen, welches als Gegenterror qualifiziert werden kann, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Qualität und Quantität der Verfolgungsschläge typischerweise nicht unerheblich von solchen zu einem Verfolgungsgeschehen, welches punktuell nur einzelne Mitglieder einer Gruppe betrifft. Mit Rücksicht hierauf kann die Feststellung einer Vielzahl von militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, der wahllosen Bombardierung von Zivilobjekten, oder von häufigen Bombardierungen mit zahlreichen Opfern die erforderliche Verfolgungsdichte aus tatrichterlicher Sicht eher belegen als etwa die Feststellung lediglich häufiger Übergriffe auf Einzelpersonen bei anderen Formen der Gruppenverfolgung ( BVerwG, Urt. v. 15.07.1997, ZAR 1998, 136).
18 
Gehört der zwar persönlich unverfolgt ausgereiste Ausländer einer Gruppe an, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt werden, ist ebenfalls der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt; denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen. Voraussetzung für die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs auf unverfolgt ausgereiste Ausländer ist freilich stets, dass der Betroffene tatsächlich alle Kriterien erfüllt, an die der Verfolgerstaat die Anwendung von Verfolgungsmaßnahmen knüpft, anderenfalls ist er von der kollektiven Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Als unverfolgt Ausgereistem ist ihm die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihm dort nach dem allgemeinen Prognosemaßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208 f.>).
19 
Bisweilen erstreckt sich die politische Verfolgung nicht auf das ganze Land, sondern nur auf einen Landesteil, so dass der Betroffene in anderen Landesteilen Schutz finden kann. Eine solche Möglichkeit internen Schutzes (vgl. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie) schließt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG aus. Für maßgeblich hält das Gericht dabei nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie nur interne Schutzmöglichkeiten im Zeitpunkt der Entscheidung, d.h. eine zum Zeitpunkt der nach Beginn der Gruppenverfolgung erfolgten Ausreise nicht wahrgenommene interne Schutzmöglichkeit schließt die Annahme einer Vorverfolgung nicht aus (s.a. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 121). Von einer internen Schutzmöglichkeit ist auszugehen, sofern in einem Teil des Landes keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht und von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie). Sie kommt mithin nur dort in Betracht, wo der Betroffene vor Verfolgung "hinreichend sicher" ist (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208>) und wo ihm keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <343>). Die Einschränkung bei einer am Herkunftsort vergleichbaren Lage besteht nach Überzeugung des Gerichts auch unter Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie. Zwar nimmt die Norm unmittelbar nur auf die Situation in den möglicherweise Schutz bietenden Gebieten Bezug. Ein Ausweichen auf einen verfolgungssicheren Landesteil kann vom Antragsteller aber auch dann i.S.v. Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie vernünftigerweise erwarten werden, wenn dort keine im Vergleich zur Situation am Herkunftsort neue existentielle Gefährdung droht (vgl. The House of Lords, Urt. v. 15.02.2006, zit. nach Dörig, Flüchtlingsschutz in Großbritannien, ZAR 2006, 272 <275 f.>). Zu diesen existentiellen Gefährdungen können vor allem die nicht mögliche Wahrung eines religiösen oder wirtschaftlichen Existenzminimums gehören (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139). Es kommt darauf an, ob der Betroffene an dem Ort der internen Schutzalternative auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich Tod führt (BVerwG, Urt. v. 08.02.1989, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104). Abzustellen ist dabei auf die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag (Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie). So kann eine interne Schutzalternative beispielsweise zu verneinen sein, wenn für den Betroffenen dort wegen in seiner Person liegender Merkmale wie etwa Behinderung oder hohes Alter das wirtschaftliche Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Sie kann auch dann zu verneinen sein, wenn der Ausländer am Ort der Schutzalternative keine Verwandten oder Freunde hat, bei denen er Obdach oder Unterstützung finden könnte, und ohne eine solche Unterstützung dort kein Leben über dem Existenzminimum möglich ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166).
20 
Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin aufgrund ihrer Angaben vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ihrer Angaben im Klageverfahren sowie aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
21 
Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel geht das Gericht aber mit den Oberverwaltungsgerichten der Freien Hansestadt Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 30.03.2005 - 2 A 114/03.A; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -) und des Landes Sachsen-Anhalt (Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -, aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24.06 -) und dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -, s. dazu BVerwG, Beschl. v. 05.01.2007 - 1 B 121/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -) und in Abweichung zu seiner früheren Kammerrechtsprechung (vgl. Urt. v. 10.03.2004 - A 11 12494/03 und A 11 12230/03 -) davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige seit Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 in Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten politischen Verfolgung ausgesetzt sind (s.a. OVG Schl.-H., Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 - für den Entscheidungszeitpunkt; VG Berlin, Urt. v. 25.10.2006 - VG 33 X 83.02 – www.asyl.net; offen gelassen von VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -; Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; Urt. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -; Urt. v. 03.11.2005 - 1 LB 211/01 und 1 LB 259/01 -; OVG Saarl., Beschl. v. 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; Urt. v. 23.06.2005 - 2 R 17/03 -; OVG Nds., Beschl. v. 24.01.2006 - 13 LA 398/05 -; Beschl. v. 09.07.2003 - 13 LA 118/03 -; Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -; ablehnend nur Thür. OVG, Urt. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -; OVG Nds., Beschl. v. 10.11.2005 - 13 LA 117/05 -).
22 
Eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit Ausbruch des zweiten Krieges im September 1999 ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den ihm vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel. Danach stellt sich die Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit September 1999 wie folgt dar:
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Aus Anlass des Einfalls tschetschenischer Rebellengruppen in Dagestan und der Ausrufung eines islamischen Staates dort sowie Bombenattentaten in Moskau, die von Seiten der russischen Regierung tschetschenischen Rebellen zugeschrieben wurden, setzte die Führung der Russischen Föderation ab September 1999 Bodentruppen, Artillerie und Luftstreitkräfte in Tschetschenien mit dem erklärten Ziel ein, die tschetschenischen Rebellengruppen zu vernichten, die das Ziel der Unabhängigkeit Tschetscheniens und die Errichtung eines islamischen Staates anstrebten. Im Verlauf der Kämpfe brachte die russische Armee Anfang des Jahres 2000 Grosny und im Frühjahr des Jahres 2000 große Teile Tschetscheniens unter ihre Kontrolle. Die Rebellengruppen zogen sich in die südlichen Bergregionen zurück und begannen einen bis heute andauernden Guerillakrieg und terroristische Anschläge (vgl. Auswärtiges Amt , Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001; UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Armee ihrerseits ging unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung mit äußerster Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien vor, die zum damaligen Zeitpunkt nach Schätzungen bereits im Wesentlichen aus tschetschenischen Volkszugehörigen bestand (vgl. UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Luftwaffe führte im Dauereinsatz Flächenbombardements gegen zahlreiche tschetschenische Städte und Ortschaften durch (amnesty international , RF: Tschetschenien, 22.12.1999; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.). Spitäler, Sanitätspersonal, andere Zivilisten und immer wieder Flüchtlingstrecks wurden vom Boden und aus der Luft durch russische Streitkräfte beschossen. Schon zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges kam es zu großen Fluchtbewegungen. Aufgrund des Einmarsches der russischen Armeeeinheiten und der Bombardierung der Städte flohen große Teile der Bevölkerung aus ihren Wohnorten in Tschetschenien. Die russische Armee hinderte die Flüchtlinge zum Teil bereits am Verlassen des Kampfgebietes, teilweise am Übertritt in die Nachbarrepubliken wie Inguschetien (AA, Ad hoc-Berichte v. 15.02.2000 und 15.11.2000). Dabei wurden auch Flüchtlingstrecks von der russischen Luftwaffe angegriffen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass von den zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges in Tschetschenien lebenden 450.000 Einwohnern 350.000 gewaltsam aus ihren Wohnorten vertrieben worden sind, davon 160.000 an andere Orte in Tschetschenien und die übrigen in andere Teile der Russischen Föderation und das Ausland (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russischen Armeeeinheiten haben, wie schon im ersten Tschetschenienkrieg, an mehreren Orten in Tschetschenien sog. Filtrationslager eingerichtet. In diese Lager wurden wahllos tschetschenische Einwohner gebracht, wo nach den Erklärungen der russischen Stellen Terroristen aufgespürt werden sollten. In den Lagern wurden die tschetschenischen Volkszugehörigen durch russische Spezialkräfte systematisch misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und getötet (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001; Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Lage in Tschetschenien vom 08.03.2001). Der bis zum 31. März 2006 amtierende Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Foltervorwürfe konnten dadurch nicht widerlegt werden (vgl. AA, Lagebericht v. 22.05.2000). Auf der Suche nach Terroristen überfielen russische Militäreinheiten ganze Dörfer, nahmen deren Bewohner willkürlich fest und misshandelten sie (ai v. 20.02.2002 an VG Braunschweig). Gespräche mit Flüchtlingen in den Lagern Inguschetiens haben die Gräueltaten der russischen Armee bestätigt. Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen waren gravierend. Es kam zu willkürlichen Racheakten an der Zivilbevölkerung. Bei einer Explosion auf einem belebten Markt in Grosny am 21.10.1999 kamen nach Augenzeugenberichten 140 Menschen ums Leben, 400 wurden zum Teil schwer verletzt. Widersprüchliche Angaben gibt es über die Täter und deren Motive. Recherchen von internationalen Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch, Bericht v. 20.01.2000) und Äußerungen von Angehörigen russischer Spezialkräfte legen die Vermutung sehr nahe, dass es sich bei dieser Tat um eine „Sonderkommandoaktion" russischer Spezialkräfte handelte, die auf dem Marktplatz Waffen und Sprengstoff tschetschenischer Rebellen vermuteten. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Bei den Massakern russischer Verbände in Alkhan-Yurt südwestlich von Grosny im Dezember 1999 und in den Bezirken Grosnys Novje Aldi und Staropromyslowskij kam es zu Massenexekutionen von über 130 Zivilisten und darüber hinaus zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandstiftungen. Anders als die meisten Übergriffe, über die berichtet wurde, war das Massaker in Alkhan-Yurt Gegenstand einer russischen Untersuchung, die allerdings nicht in ein Strafverfahren einmündete (AA, Ad hoc-Bericht v. 15.11.2000, Lagebericht v. 22.05.2000).
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Auch nach dem von Präsident Putin erklärten Ende des zweiten Tschetschenienkriegs im Jahr 2000 oder dem Beginn des politischen Prozesses im Jahr 2003 änderte sich die Vorgehensweise gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung nicht grundlegend. Gezielt und systematisch durchgeführte Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch russische Streitkräfte - Folter, Misshandlungen, Plünderungen, extralegale Verhaftungen und willkürliche Tötungen sowie „Verschwindenlassen“ vor allem während sog. „Säuberungsaktionen“ und in Hafteinrichtungen - hielten nach den Berichten internationaler und russischer Menschenrechtsorganisationen an und stellten nach wie vor eine reale Bedrohung für die Bevölkerung Tschetscheniens dar (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001). Bestand der Verdacht, dass sich in einem Dorf Rebellen versteckt halten, fanden Säuberungsaktionen durch russische Soldaten statt. Die Männer wurden auf körperliche Spuren von Kampfhandlungen untersucht, die eroberten Häuser geplündert und in Brand gesteckt, oftmals kam es zu Gewaltanwendungen gegenüber der Bevölkerung, zahllose tschetschenische Frauen wurden von russischen Soldaten vergewaltigt, es wurden willkürlich Zivilisten verhaftet (vgl. Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Amnesty international berichtet (Stellungnahme v. 08.10.2001) über mehrere Operationen russischer Soldaten gegen tschetschenische Zivilisten im Juni/Juli 2001 in verschiedenen Dörfern, in denen Tschetschenen zusammengetrieben, geschlagen, misshandelt, gefoltert, gequält und einige Zeit festgehalten worden seien, wobei mehrere Inhaftierte anschließend verschwunden blieben. Zwar habe der Kommandant der Streitkräfte im Nordkaukasus am 11.07.2001 öffentlich eingeräumt, dass bei den Razzien in Srnowodosk und Assinowskaja in großem Umfang Verbrechen gegen Zivilisten begangen worden seien und es habe der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation zwei Ermittlungsteams nach Tschetschenien entsandt, um die Aktivitäten des Militärs untersuchen zu lassen. Dennoch sei es danach weiter zu „Säuberungsaktionen“ und schweren Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch Angehörige der russischen Armee gekommen. Auch im August und im September 2001 habe amnesty international Berichte von „Säuberungsaktionen“ in Tschetschenien erhalten. Kriegsverbrechen und Massaker blieben ungesühnt, da die russische Führung kein Interesse an einer Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung zeigte (Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Nach den Berichten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben die russischen Streitkräfte Zehntausende Tschetschenen inhaftiert. Basierend auf den Aussagen ehemaliger Insassen der Haftanstalten von Tschernokosowa sowie von weiteren Haftanstalten in Tschetschenien (in Tolstoy-Yurt, Chankala und Urs-Martan ) als auch in der Provinz Stavropol und in Mosdok stellte Human Rights Watch in seinem Worldreport 2001 fest, dass seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Oktober 1999 Tausende Tschetschenen an Kontrollposten sowie anlässlich von Eroberungen und Razzien von russischen Organen festgenommen worden seien. Die Verhaftungen seien zumeist mit fadenscheiniger Begründung erfolgt. Viele seien inhaftiert worden, weil sie nicht an ihrer offiziell registrierten Adresse vorgefunden worden seien, weil ihre Dokumente unvollständig gewesen seien und weil sie den gleichen Nachnamen wie ein Rebellenführer getragen hätten, weil ihr ursprünglich gesuchter Verwandter abwesend gewesen sei oder weil sie ausgesehen hätten wie Kämpfer. Während der Haft seien Männer und Frauen z. T. zu Tode geschlagen und vergewaltigt worden. Oft wären sie nur gegen Lösegeldzahlung freigekommen. Die Täter könnten damit rechnen, dass ihnen keine Strafen drohten. Unabhängige Beobachter seien sich darin einig, dass die von der russischen Regierung eingesetzten Organe zu eingehenden und unparteiischen Untersuchungen aller Menschenrechtsverletzungen und der Verurteilung der Täter bisher versagt hätten (vgl. Nachw. bei OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Der Verbleib von vielen in „Filtrationslagern“ und sonstigen teils provisorischen und geheimen Hafteinrichtungen (Eisenbahnwagen, Erdlöcher in der Nähe von Militärstützpunkten) inhaftierten Personen bleibe ungeklärt. Jüngste Schätzungen über die nach Festnahmen durch russische Kräfte „verschwundenen“ Personen variierten zwischen 400 Personen, einer von offizieller russischer Seite genannten Zahl, und 18.000 Personen, einer vom Europarat genannten Zahl. Es sei erforderlich darauf hinzuweisen, dass auch in Hafteinrichtungen und „Filtrationslagern“ immer wieder Vergewaltigungen durch einen oder mehrere Täter stattfänden. Diesen Vergewaltigungen fielen auch Kinder und Jugendliche zum Opfer. An den Grenzkontrollstellen komme es regelmäßig und willkürlich zu Menschenrechtsverletzungen. Flüchtlinge, Personen, die regelmäßig zwischen den Regionen hin und her reisten, und Tschetschenen, die aus Inguschetien kommend die Grenze überschreiten wollten, um in Tschetschenien nach Verwandten zu suchen, würden von den russischen Soldaten zusammengeschlagen, angeschossen oder erschossen (ai, Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.).
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In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater „Nord-Ost" (Oktober 2002) hatte der russische Verteidigungsminister umgehend breit angelegte, harte „Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien angekündigt. Es wurden systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften umstellt und durchsucht. Wenige Tage nach Beginn der Operation wurden Argun, Berkart-Yurt sowie zahlreiche kleinere Ortschaften in den Bezirken Grosny, Schalinskij und Wedenskij von Sicherheitskräften umstellt, durchsucht und bereits über 5.000 „Verdächtige" zeitweise interniert. Nach welchen Kriterien die vereinigten Kräftegruppierungen diese Internierung vornahmen, ist nicht bekannt. Es gab Hinweise auf insgesamt 60 parallel ablaufende Operationen in 45 Ortschaften (AA, Lagebericht 30.08.2005). Am 09.04.2004 wurden in der Nähe von Sershen-Jurt im Bezirk Schali/Tschetschenien die Leichen von neun Tschetschenen gefunden, die Folterspuren und Schussverletzungen aufwiesen. Acht der Männer waren nach einer gezielten "Säuberungsaktion" von Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden des 27.03.2004, der neunte in der Nacht zum 02.04.2004 spurlos "verschwunden". Am 04.06.2005 wurden bei einer von ca. 200-400 Sicherheitskräften im tschetschenischen Dorf Borozdinovskaja durchgeführten Säuberungsaktion elf Dorfbewohner wegen angeblicher Unterstützung von Rebellen festgenommen. Vier Häuser wurden niedergebrannt. In einem dieser Häuser wurde später die Leiche eines Dorfbewohners gefunden (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Am 18.04.2005 kündigten die Sicherheitsbehörden den Beginn einer groß angelegten Spezialoperation mit 2000 Mann in den Bergen des Distrikts Vedeno an. Nachdem wiederholt Hubschrauber in der Nähe von Militärstützpunkten abgeschossen wurden, wurden nach der Moskauer Geiselnahme in Tschetschenien - ohne Koordination mit zivilen Verwaltungsstellen - Häuser gesprengt, die möglicherweise Deckung für den Abschuss von tragbaren Flugabwehrraketen bilden könnten. Tschetschenen, die in diesen Häusern lebten, wurden als Unterstützer von „Terroristen" verhaftet, weil sie nicht aktiv an der Verhinderung von Anschlägen mitgewirkt hätten (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005). Menschenrechtler kritisieren, dass die Behörden wahllos Flüchtlinge unter Druck gesetzt und kriminalisiert hätten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
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Mit der Wahl eine tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene „politische Prozess“ zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen; Präsident Putin erklärte bei seiner Jahrespressekonferenz am 31.01.2006 die „antiterroristische Operation“ zum wiederholten Male für beendet (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Gleichwohl ist nach vor die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien nicht gewährleistet. Der Konflikt ist nicht gelöst, sondern lediglich „tschetschenisiert“: Die russischen Streitkräfte überlassen das Feld immer mehr ihren tschetschenischen Verbündeten. Vor allem die Truppen des Vizepräsidenten Ramsan Kadyrow, die sog. Kadyrowski , haben sich einen zweifelhaften Ruf zugelegt (Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Sie sind von der Bevölkerung noch stärker gefürchtet als die russischen Sicherheitskräfte (SFH v. 24.05.2004). Sie dürften inzwischen die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst haben (so Human Rights Watch, vgl. AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Laut Memorial (Zur Situation der Bürger Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Juni 2004 bis Juni 2005) finden deren Einsätze mit Unterstützung, Mitwirkung oder zumindest Billigung der föderalen Truppen statt. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (dies betrifft mit Ausnahme der schwer zugänglichen Gebirgsregionen das gesamte Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, „Säuberungsaktionen“, Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppen von Ramsan Kadyrow und andererseits unter Guerillaaktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen (AA, Lagebericht v. 15.02.2006; s.a. Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Zu den erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte zählen insbesondere willkürliche Festnahmen, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). An die Stelle flächendeckender "Säuberungsaktionen" sind gezielte "Säuberungsaktionen" getreten. Angaben von russischer Seite, dass die fortgesetzten Entführungen ausschließlich auf das Konto von als Soldaten verkleideten Rebellen oder der persönlichen Sicherheitskräfte des Leiters der tschetschenischen Verwaltung Kadyrow gingen, sind unglaubwürdig. Fest steht, dass die Opfer häufig nicht erkennen können, wer die Täter sind (vgl. auch Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006). Massive Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro russische tschetschenische Sicherheitskräfte räumen auch offizielle russische Vertreter ein, wenn auch mit Hinweis auf Verbesserungen. Diesen Eindruck teilen die Nichtregierungsorganisationen nicht. Ihren Angaben zufolge ist die Zahl von Rechtsverletzungen (willkürliche Festnahme, Entführungen, Verschwinden von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen, Diebstähle) jedenfalls nicht deutlich gesunken (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Bedenklich ist weiterhin - so die Nichtregierungsorganisationen, kritische Beobachter und Presseberichte - die sich fortsetzende weitgehende Straflosigkeit nach Übergriffen durch die Sicherheitskräfte (vgl. AA, Lagerberichte v. 30.08.2005 und 15.02.2006 m.w.N.). Zahlreich sind nach wie vor Fälle des "Verschwindenlassens" von Zivilisten (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Die Menschenrechtsorganisation Memorial dokumentierte 447 Entführungsfälle im Jahr 2004 (Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37) Behördenvertreter und Politiker Tschetscheniens gehen für den gleichen Zeitraum von 175, 281 bzw. 500 Entführungsopfern aus (AA, Lagebericht 30.08.2005). Im Jahr 2005 wurden nach Memorial 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 ist es nach Memorial zu weiteren 103 Entführungen gekommen, von den Entführten seien 50 befreit und sechs getötet worden. 38 seien noch verschwunden. Aufgrund der Tatsache, dass Memorial nur etwa 25 bis 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. Entführungen werden sowohl den russischen und den pro russischen tschetschenischen Truppen als auch den Rebellen angelastet. Eine Liste der Menschenrechtsorganisation „Mütter Tschetscheniens“, deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet russische und tschetschenische Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen an die Behörden hat es bisher einen positiven Bescheid gegeben, in keinem Fall ist es bisher gelungen, eine vermisste Person lebend wiederzufinden. Menschenrechtsorganisationen wie Memorial oder die Moskauer Helsinkigruppe gehen von monatlich 50 bis 80 bei „Säuberungen“ verschwundenen Personen aus (vgl. AA, Lagebericht 30.08.2005).
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Aus alledem ergibt sich, dass die russische Armee und die mit ihr verbundenen pro-russischen tschetschenischen Kräfte seit September 1999 den Bürgerkrieg gegen die tschetschenischen Separatisten in einer Weise führen, die sich als Gegenterror gegen die dort lebende tschetschenische Zivilbevölkerung darstellt. Angesichts der oben geschilderten Sachlage geht das Gericht davon aus, dass der russische Staat seit dem zweiten Tschetschenienkrieg die ganze Bevölkerungsgruppe der Tschetschenen pauschal verdächtigt, die Rebellen zu unterstützen und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten mit Mitteln bekämpft, die über die erforderliche staatliche Gegenwehr zur Rückeroberung bzw. Behauptung der effektiven Gebietsgewalt und Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinausgehen, so dass sich dies als eine sowohl an die vermutete politische Überzeugung als auch an die Ethnie anknüpfende Verfolgung der gesamten Volksgruppe der Tschetschenen darstellt. Die erkennbare Gerichtetheit der Maßnahmen der russischen Streitkräfte und der mit ihnen verbundenen tschetschenischen Kräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung hat die Regierung der Russischen Föderation zumindest stillschweigend hingenommen, weshalb ihr diese Maßnahmen zuzurechnen sind. Der russische Staat lässt es zu, dass seine Militärkräfte auf eine die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit asylrechtlich relevanten Übergriffen aussetzenden Art und Weise operieren.
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Angesichts des in vielen Einzelheiten dokumentierten Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien und der dabei erfolgenden massenhaften und massiven Verletzung asylrechtlich geschützter Rechtsgüter ist davon auszugehen, dass tschetschenische Volkszugehörige in Tschetschenien unabhängig davon, ob bei ihnen der konkrete Verdacht der Unterstützung von separatistischen Gruppierungen bestand, unmittelbar und jederzeit damit rechnen mussten und müssen, selbst Opfer der Übergriffe der russischen Armeeeinheiten oder der verbündeten tschetschenischen Kräfte zu werden. Dabei hat das OVG Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -) zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zahl der von den asylerheblichen Eingriffen der genannten Art in Tschetschenien Betroffenen nicht exakt beziffert werden kann. Aufgrund der weitgehenden Behinderung einer unabhängigen Berichterstattung über die Situation in Tschetschenien durch die russische Behörden seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges es nur sehr eingeschränkt möglich ist, zuverlässige und verifizierbare Informationen aus und über Tschetschenien zu erhalten (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002), so dass die in den bezeichneten Berichten mitgeteilten zahlreichen Referenzfälle das wirkliche Ausmaß des Verfolgungsgeschehens in Tschetschenien nicht abschließend wiederzugeben vermögen und die Dunkelziffer über weitere asylerhebliche Verfolgungsfälle beträchtlich ist. Das Gericht geht davon aus, dass eine Vielzahl weiterer Fälle aufgrund der Beschränkungen in der Berichterstattung und der von Memorial beobachteten Zurückhaltung vieler Betroffener, Menschenrechtsorganisationen von Übergriffen zu berichten (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37), keinen Eingang in die Erkenntnismaterialien gefunden hat. Die demnach anzunehmende Intensität und Häufigkeit der Verfolgungshandlungen rechtfertigen auch in Bezug auf die Größe der betroffenen Gruppe die Annahme einer Gruppenverfolgung. Bei der Volkszählung 1998 wurden in der noch ungeteilten Republik 734.000 Tschetschenen gezählt (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Anfang 2002 lebten wegen des nur durch eine dreijährige Pause unterbrochenen jahrelangen Krieges in Tschetschenien schon aus der Zeit vor dem neuerlichen Tschetschenienkrieg ca. 600.000 der insgesamt 1.000.000 Tschetschenen nicht in Tschetschenien, sondern in anderen russischen Regionen bzw. GUS-Staaten (vgl. AA, Ad hoc-Bericht vom 07.05.2002). Die Volkszählung im Oktober 2002 ergab nach offiziellen Angaben zwar eine Zahl von über 1.000.000 Tschetschenen in Tschetschenien, der aber nicht gefolgt werden kann, nachdem unabhängige Beobachter und Nichtregierungsorganisationen diesem Ergebnis sehr kritisch gegenüberstehen und teilweise von einer Mehrfachregistrierung von Personen ausgehen, deren Gründe in finanziellen Anreizen der Registrierung und in der Furcht vor Säuberungsaktionen bei einer zu geringer Zahl von Tschetschenen in Tschetschenien liegen könnten. Vorherige Schätzungen waren von einer durch Flüchtlinge, Auswanderung und Kriegsopfer erheblich gesunkenen Einwohnerzahl für Tschetschenien ausgegangen und hatten zwischen 450.000 bis 800.000 Tschetschenen in Tschetschenien geschwankt (vgl. AA, Lageberichte v. 27.11.2002, 16.02.2004, 13.12.2004, 30.08.2005, 15.02.2006; OVG Bremen, Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -). Nach der geschätzten Bevölkerungsentwicklung in Tschetschenien und unter Abzug der von den Eingriffen nicht betroffenen jüngeren Kinder dürfte sich die Zahl der potentiell Betroffenen nunmehr auf ca. 400.000 Personen belaufen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -).
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Dies alles rechtfertigt die Annahme einer andauernden Gruppenverfolgung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in der Teilrepublik Tschetschenien.
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Es kann dahinstehen, ob der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand, da sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht auf interne Schutzmöglichkeiten in anderen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden kann.
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Nach den allgemeinen Gegebenheiten in den als interne Schutzalternativen in Frage kommenden Gebieten und den persönlichen Umständen der Klägerin kann es von dieser nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in diese Gebiete zu begeben, da ihr dort andere existentielle Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und die in Tschetschenien so nicht bestünden.
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Die Klägerin kann von vornherein nicht auf interne Schutzmöglichkeiten im Nordkaukasus verwiesen werden. Der ungelöste Tschetschenienkonflikt greift immer mehr auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus über und destabilisiert inzwischen die gesamte Region. Nach Tschetschenien am meisten betroffen sind Inguschetien und Dagestan. In Dagestan finden verstärkt seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen allen voran willkürliche Festnahmen und Folter. In Inguschetien ist dieselbe Tendenz zu beobachten. Die Sicherheitslage dort wird inzwischen von internationalen Organisationen (u. a. den Vereinten Nationen) als ebenso brisant wie in Tschetschenien eingeschätzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Inguschetien zu schweren Menschenrechtsverletzungen, verübt durch russische wie einheimische Sicherheitskräfte und tschetschenische Rebellen, denen sich immer mehr Inguschen anschließen. Die Geiselnahme von Beslan 2004 und die Kämpfe in Naltschik im September 2005 zeigen, dass die vormals eher ruhigen Republiken wie Kabardino-Balkarien und Nordossetien zunehmend in die Gewaltspirale einbezogen werden. Urheber der Anschläge sind verschiedene untereinander vernetzte islamische Gruppierungen. Der von russischen und einheimischen Sicherheitskräften geführte Kampf gegen den Terrorismus nimmt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen immer brutalere Formen an. Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und Mord an „Terrorverdächtigen“ sind nach übereinstimmenden Angaben aller Beobachter im gesamten Nordkaukasus an der Tagesordnung (vgl. zu allem AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
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Die übrigen Gebiete in der Russischen Föderation sind für die Klägerin ebenfalls keine zumutbaren Zufluchtsgebiete, da sie dort aufgrund ihrer persönlichen Umstände nicht in der Lage wäre, innerhalb eines absehbaren Zeitraums eine Registrierung zu erlangen, und ohne eine solche Registrierung existentiellen Gefahren ausgesetzt wäre.
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Tschetschenen aus Tschetschenien steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltsrechts in der Russischen Föderation zu (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Durch das Föderationsgesetz Nr. 52421 vom 25.06.1993 wurde ein Registrierungssystem eingeführt, bei dem die Bürger den örtlichen Dienststellen des Innenministeriums ihren Wohnort (sog. „dauerhafte Registrierung“) oder falls davon abweichend ihren Aufenthaltsort (sog. „vorübergehende Registrierung“) melden, im Gegensatz zu dem früher geltenden „Propiska“-System, das die Polizeibehörden ermächtigte, den Bürgern den Aufenthalt oder die Niederlassung an einem bestimmten Ort zu gestatten oder zu verwehren (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003; AA, Auskunft v. 12.11.2003, jew. an den Bay. VGH). Nur wer die Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt, und die Registrierung am Wohnort ist Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich gefördertem Wohnraum, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zu den Bildungseinrichtungen und zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005; UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH). Wer nicht registriert ist, läuft Gefahr, verhaftet oder mit einer Geldstrafe belegt zu werden. Personen, denen die Registrierung verwehrt wird, versuchen ihr Überleben unter Vorenthaltung elementarer sozialer Rechte sicherzustellen. Sie sind bei Kontrollen zudem der Willkür staatlicher Bediensteter ausgeliefert (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH) und daher auf ein Leben in der Illegalität verwiesen.
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An vielen Orten ist der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Tschetschenen haben erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. In einem Sonderbericht vom Oktober 2000 kritisierte der Ombudsmann der Russischen Föderation die regionalen Vorschriften, die im Widerspruch zu den nationalen Vorschriften stehen, sowie rechtswidrige Vollzugspraktiken. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen häufig die Registrierung verweigert wird. Während in bestimmten Orten und Regionen eine Registrierung für Tschetschenien nur unter ganz besonders erschwerten Bedingungen möglich ist - abgesehen von den bereits als Schutzalternative ausgeschlossenen Gegenden sind dies insbesondere Moskau, St. Petersburg und die Regionen Krasnodar und Stawropol (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A) - ist eine Registrierung in anderen Gebieten abhängig von der individuellen Durchsetzungsfähigkeit und den Möglichkeiten des Schutzsuchenden sowie seiner persönlichen Beziehungen und Anknüpfungspunkte außerhalb der tschetschenischen Republik im Einzelfall auch durchsetzbar. Dies rechtfertigt es nicht, ohne weiteres das Bestehen einer inländischen Schutzalternative für jeden tschetschenischen Asylsuchenden zu bejahen. Eine solche inländische Schutzalternative kann auch nicht mit dem pauschalen Hinweis angenommen werden, dass - entgegen der Einschätzung von Memorial, wonach die Registrierung für Tschetschenen immer ein großes Problem ist (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 27) - in nicht näher zu bezeichnenden anderen Gebieten der Russischen Föderation möglicherweise eine Registrierung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen problemlos zu erlangen ist, denn grundsätzlich kann von einer in ihrer Heimatregion verfolgten Person nicht verlangt werden, in ihrem Herkunftsland ohne weitere Orientierung "herumzuvagabundieren", bis sie schließlich, ggfs. nach mehreren erfolglosen Versuchen, einen sicheren Ort ausfindig macht (so zutreffend Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A). Es ist vielmehr im Einzelfall zu klären, ob davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene trotz zu erwartender Schwierigkeiten auch in den übrigen Landesteilen der Russischen Föderation bei der Registrierung sich innerhalb eines ihm nach seiner individuellen Situation zuzumutenden Zeitraums erfolgreich gegen unrechtmäßige Behinderungen wird zur Wehr setzen können. Selbst wenn hiervon im Einzelfall nicht auszugehen ist, steht dies der Annahme interner Schutzmöglichkeiten nur dann entgegen, wenn ein Leben in der Illegalität von dem Betroffenen nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, weil es mit existentiellen Gefahren verbunden wäre. Besonderes Gewicht kommt hinsichtlich beider Fragestellungen regelmäßig den vorhandenen Beziehungen des Schutzsuchenden zu außerhalb von Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation lebenden Personen, seinen persönlichen Fähigkeiten, seiner individuellen familiären Situation und seinen finanziellen Mitteln zu (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005).
36 
Nach diesen Maßstäben ist davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Umstände ohne eine Registrierung nur vorübergehend in den Gebieten der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien existieren kann. Nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin keine Angehörige in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, auf deren Hilfe sie zurückgreifen könnte. Es gibt auch keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach tschetschenische Landsleute in der Diaspora einander helfen, auch wenn sie nicht miteinander bekannt oder verwandt sind. Auch sonstige Anknüpfungspunkte der Klägerin zu diesen Gebieten sind nicht erkennbar. Die Klägerin hat nie außerhalb ihres Familienverbandes und nie in anderen Gebieten der Russischen Föderation gelebt. Gänzlich auf sich allein gestellt vermag sie zur Überzeugung der Kammer ohne die mit einer Registrierung verbundenen elementaren sozialen Rechte nicht auf längere Sicht ihr Existenzminimum zu sichern.
37 
Eine solche Registrierung kann die Klägerin nicht erlangen, da es ihr bereits nicht zuzumuten ist, sich einen für eine Registrierung unabdingbaren gültigen russischen Inlandspass zu beschaffen, den sie zur Überzeugung der Kammer nicht besitzt. Auf die Frage, ob sich die Klägerin sodann innerhalb einer ihr individuell zumutbaren Zeit erfolgreich gegen eine unrechtmäßige Verwehrung einer Registrierung zur Wehr setzen können wird, kommt es daher nicht an.
38 
Der Umtausch der alten sowjetischen Inlandspässe, deren Gültigkeit ursprünglich bis zum 31.12.2003 begrenzt war, verlief so zögerlich, dass die Umtauschfrist durch Verordnung der russischen Regierung nochmals bis zum 30.06.2004 verlängert wurde. Für diejenigen russischen Staatsangehörigen, die seit dem 01.07.2004 kein gültiges Personaldokument vorweisen können, gelten die üblichen Vorschriften: Sie müssen eine Geldstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Nach Aufhebung des Befehls des Innenministeriums Nr. 347 vom 24. Mai 2003, nach dem es Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens aufhielten, möglich war, ihren Inlandspass auch am Ort des vorübergehenden Aufenthaltes umzutauschen, ist dieser Personenkreis nunmehr wieder gezwungen, an den registrierten Wohnort zurückzukehren, um Passpapiere zu erhalten (vgl. AA, Auskunft v. 22.11.2005 an das VG Berlin). Nicht offiziell mit ständigem Wohnsitz im Ausland lebende russische Staatsangehörige müssen daher an ihren registrierten Wohnort zurückkehren, der sich selbst nach jahrelanger Abwesenheit nicht ändert, da es in der Russischen Föderation keine Abmeldung von Amts wegen gibt.
39 
Von der Klägerin kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, auch nur vorübergehend zum Zwecke der Passbeschaffung nach Tschetschenien zurückzukehren, da jedenfalls aufgrund individueller Umstände nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass sie dort asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird. Es kommt mithin nicht darauf an, ob unabhängig von Besonderheiten des Einzelfalls tschetschenischen Volkszugehörigen generell eine kurzzeitige Rückkehr nach Tschetschenien gegenwärtig nicht zuzumuten ist (so Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; a.A. Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -). Der Erlass Nr. 828 sieht eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen für die Ausstellung eines Inlandspasses vor, die auch in Tschetschenien regelmäßig eingehalten wird. Da die Ausstellung eines Rückreisedokuments für passlose russische Staatsangehörige eine Identitätsprüfung durch die russischen Innenbehörden voraussetzt, ist davon auszugehen, dass bei der Beantragung des Inlandspasses in Tschetschenien die für die Ausstellung eines Inlandspasses benötigten Unterlagen vorliegen (AA, Auskunft v. 03.03.2006 an den Bay. VGH).
40 
Trotz der demnach nur geringen Zeit, die die Klägerin in Tschetschenien verbringen müsste, und die sie durch eine zwischenzeitliche Ausreise weiter verkürzen könnte, ist der Klägerin die Passbeschaffung nicht zumutbar. Die Sicherheitslage in Tschetschenien ist nicht nur im Hinblick auf die dargestellten Übergriffe russischer und pro-russischer tschetschenischer Sicherheitskräfte besorgniserregend. Die tschetschenische Zivilbevölkerung ist darüber hinaus Übergriffen durch die in Tschetschenien ansässigen Rebellengruppen oder sonstige marodierende Banden ausgesetzt. Selbst wenn man gleichwohl annehmen wollte, während eines derart kurzen Aufenthalts in Tschetschenien bestünde lediglich die theoretische, nicht aber die reale Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, sind vorliegend objektive Anhaltspunkte gegeben, die einen Übergriff auf die Klägerin als nicht ganz entfernt, sondern als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen.
41 
Dies ergibt sich allerdings nicht aus der von der Zeugin geschilderten Tätigkeit der Klägerin in der 5. Klinik nach 1996 bis zum Jahr 2000. Das Gericht konnte nach den nur detailarmen Ausführungen der Zeugin nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin tatsächlich in dieser Zeit Verwundeten geholfen hat, zumal eine solche Tätigkeit von der Klägerin selbst nicht behauptet wurde. Zudem ist nicht erkennbar, warum eine solche ausschließlich Zivilisten zuteil werdende medizinische Hilfe durch die Klägerin sie in eine besondere Gefahr bringen sollte, Übergriffen seitens der russischen oder pro-russischen Milizen oder seitens der Rebellen ausgesetzt zu sein. Die Klägerin hat auch nicht glaubhaft dargetan, Flüchtlingen geholfen und sich deshalb einer besonderen Gefahr ausgesetzt zu haben. Eine solche Betätigung hat die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt nicht geschildert. Selbst wenn es bei der Anhörung, wie die Klägerin behauptet, Verständigungsprobleme gegeben haben sollte, könnte dies möglicherweise einzelne Unrichtigkeiten erklären, nicht aber, dass ein solches Geschehen gänzlich unerwähnt bleibt. Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin nur auf Nachfrage geschildert, "nach 1996 einige Male" Flüchtlingen geholfen zu haben, nach Georgien zu gelangen. Nach alledem kann offenbleiben, ob die behauptete Betätigung relevant für eine Gefährdung der Klägerin in Tschetschenien wäre.
42 
Eine erhöhte Gefährdung der Klägerin ergibt sich aber aus ihrer familiären Herkunft. Ohne dass es auf die genauen verwandtschaftlichen Beziehungen ankäme, besteht die begründete Besorgnis, dass die Klägerin bereits wegen der Namensgleichheit mit ihrer "Cousine" ... ein erhöhtes Risiko trägt, Opfer eines Übergriffs zu werden. ... arbeitete nach den Auskünften von Memorial für eine humanitäre Flüchtlingshilfsorganisation, wurde am 09.01.2004 entführt und nach Protestaktionen am 12.01.2004 mit verbundenen Händen und einem Sack über dem Kopf in der Stadt Argun freigelassen (Bewohner Tschetscheniens in der RF, Juni 2003 - Mai 2004, S. 81 f.). Nach dem Vorbringen der Klägerin vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung ist auch davon auszugehen, dass russische Streitkräfte die Familie der Klägerin insgesamt der Unterstützung separatistischer Gruppierungen verdächtigen. Insoweit hält das Gericht das Vorbringen der Klägerin zu den Vorfällen im August und September 2004 für glaubhaft. Ob die russischen Milizen dabei der Klägerin die von ihr geschilderten Vorhaltungen gemacht, sie mitgenommen und misshandelt haben, kann dahingestellt bleiben.
43 
Neben dem aufgrund dieser Umstände erhöhten Risiko der Klägerin, im Falle einer auch nur kurzzeitigen Rückkehr nach Tschetschenien Übergriffen russischer oder pro-russischer tschetschenischer Streitkräfte ausgesetzt zu sein, ist der Klägerin zur Überzeugung der Kammer ein vorübergehender Aufenthalt in Tschetschenien auch aufgrund ihrer Erlebnisse im Jahr 1996 nicht zuzumuten. Die Klägerin hat glaubhaft geschildert, im Jahr 1996, in welchem ihr Bruder an seinen kriegsbedingten Verletzungen gestorben und auch ihr Vater bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sei, für nicht ganz zwei Wochen in den Kellern des 5. Hospitals Verwundete versorgt zu haben. Die Art und Weise der Schilderung in der mündlichen Verhandlung, insbesondere die mit ihr unverkennbar verbundene emotionale Belastung der Klägerin, die auch dem Protokoll der Anhörung vor dem Bundesamt zu entnehmen ist, gibt dem Gericht die Gewissheit, dass eine Konfrontation mit den Ereignissen im Jahr 1996, die bei einer Rückkehr der Klägerin nach Tschetschenien unausweichlich wäre, die Klägerin in ihrer psychischen Gesundheit derart unzumutbar beeinträchtigen würde, dass eine Rückkehr von ihr gegenwärtig nicht vernünftigerweise erwartet werden kann. Für diese Einschätzung bedarf das Gericht, das sich durch den vorgelegten ärztlichen Befundbericht vom 04.04.2006 bestätigt sieht, nicht der Hinzuziehung weiteren medizinischen Sachverstandes.
44 
Die existenziellen Gefährdungen, denen die Klägerin derzeit in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation ausgesetzt wäre, bestünden so für die Klägerin in Tschetschenien nicht. Die Bevölkerung in Tschetschenien lebt zwar gegenwärtig unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung insbesondere in Grosny mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft. Die Lieferung von Nahrungsmitteln durch internationale Hilfsorganisationen in das Krisengebiet ist nur sehr begrenzt und punktuell möglich. Die Infrastruktur (Strom, fließendes Wasser, Heizung etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement und Korruption verhindern allerdings in vielen Fällen, dass die Gelder für die vorgesehenen Projekte verwendet werden. Etwa 50 % des Wohnraumes ist seit dem ersten Krieg (1994 bis 1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80 % (russischer Durchschnitt: 7,5 % im November 2005). Das reale pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa 1/10 des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum. Die medizinische Grundversorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch den Krieg waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionsträchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Trotz dieser im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechteren ökonomischen Lage in Tschetschenien wären die Möglichkeiten zum physischen Überleben für die Klägerin bei einer Rückkehr dorthin vergleichsweise besser, weil ihr in ihrem Herkunftsgebiet das unabdingbare soziale Beziehungsgeflecht zur Verfügung stünde, das ihr zum Überleben ohne Registrierung in der übrigen Russischen Föderation fehlt. In Tschetschenien könnte die Klägerin in ihr früheres familiäres Umfeld zurückkehren. Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie in Grosny bei ihrer Stiefmutter, ihren zahlreichen Geschwistern oder ihrer Cousine Aufnahme finden würde. Mit Unterstützung dieses Familienverbandes wäre sie zur Überzeugung der Kammer in der Lage, ihr Existenzminimum in Tschetschenien zu sichern.
45 
Nach allem sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Klägerin gegeben.
46 
Besteht somit kein Anlass für eine Entscheidung über das Vorliegen weiterer ausländerrechtlicher Abschiebungshindernisse (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG), ist auch die Entscheidung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3), aufzuheben. Zwar spricht der Wortlaut des Gesetzes für ein Ermessen der Behörde, von einer Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abzusehen. Indes muss Berücksichtigung finden, dass bei einer Asylanerkennung oder dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG eine Bejahung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht geeignet ist, dem Ausländer im Verhältnis zu den für ihn positiven Entscheidungen in Bezug auf seine Anerkennung und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG irgendeinen Vorteil zu bringen. Von daher ist regelmäßig das Ermessen der Beklagten in den Fällen des § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG dahin reduziert, dass aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung von einer Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG abzusehen ist. Schließlich ist auch die Abschiebungsandrohung (Ziff. 4) aufzuheben. Sie ist rechtswidrig, da sie die Russische Föderation nicht als den Staat bezeichnet, in den die Klägerin nicht abgeschoben werden darf (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, § 60 Abs. X Satz 2 AufenthG). Eine auf die Benennung der Russischen Föderation als Zielstaat einer Abschiebung beschränkte Teilaufhebung der Abschiebungsandrohung kommt daher nicht in Betracht.
47 
Über den gestellten Hilfsantrag bedarf es keiner Entscheidung mehr.
48 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b Abs. 1 AsylVfG).

Gründe

 
Das Gericht konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten über die Klage verhandeln und entscheiden, denn die Beklagte wurde bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
10 
Die Klage ist nach dem erkennbaren Begehren der Klägerin (§ 88 VwGO) im Hauptantrag gerichtet auf Aufhebung des Bescheides mit Ausnahme von Ziff. 1 und Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind. Sie ist zulässig und begründet.
11 
Der Bescheid des Bundesamtes vom 31.08.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit festgestellt wird, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2); die Klägerin hat nach den Gegebenheiten zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylVfG) einen Anspruch auf die gegenteilige Feststellung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
12 
Gemäß § 60 Abs.1 AufenthG, bei dessen Auslegung nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (ABl. v. 30.09.2004, L 304/12 - Qualifikationsrichtlinie -) zu berücksichtigen ist, darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI. 1953 II S. 559 - GFK -) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <344>; zur Motivation vgl. BVerwG, Urt. v. 19.05.1987, BVerwGE 77, 258). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 18.02.1986, BVerwGE 74, 31).
13 
Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, Urt. v. 03.12.1985, NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, DVBl. 1994, 524, 525). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat er nur dann einen Asylanspruch, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, Beschl. v. 26.11.1986, BVerfGE 74, 51 <64>; BVerwG, Urt. v. 20.11.1990, BVerwGE 87, 152). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 25.09.1984, BVerwGE 70, 169). Dies setzt eine mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es im Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird (BVerwG, Urt. v. 31.03.1981, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Nach diesem (herabgestuften) Maßstab wird andererseits nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist eine Rückkehr unzumutbar, wenn über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urt. v. 08.09.1992, NVwZ 1993, 191); es müssen mindestens ernsthafte Zweifel an der künftigen Sicherheit des Betroffenen vor erneuter Verfolgung bestehen (BVerwG, Urt. v. 01.10.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 37). Dies entspricht auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach eine Vorverfolgung des Antragstellers einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass dessen Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.
14 
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Urt. v. 08.05.1984, NVwZ 1985, 36) und insbesondere auch den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, Urt. v. 23.11.1982, BVerwGE 66, 237).
15 
Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Schutzsuchende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsmöglichkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Zu einer in diesem Sinne verfolgungsbetroffenen Gruppe gehören alle Personen, die der Verfolger für seine Verfolgungsmaßnahmen in den Blick nimmt; dies können entweder sämtliche Träger eines zur Verfolgung Anlass gebenden Merkmals - etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion - sein oder nur diejenigen von ihnen, die zusätzlich (mindestens) ein weiteres Kriterium erfüllen, beispielsweise in einem bestimmten Gebiet leben oder ein bestimmtes Lebensalter aufweisen; solchenfalls handelt es sich um eine entsprechend – örtlich, sachlich oder persönlich - begrenzte Gruppenverfolgung (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204). Kennzeichen einer "regionalen" oder "örtlich begrenzten" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein Kennzeichen oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <207> m.w.N.; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A).
16 
Die Annahme einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds rechtfertigt; hierfür ist die Gefahr einer so großen Zahl von Eingriffshandlungen in relevante Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine bloße Vielzahl solcher Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Gebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so um sich greifen, dass dort für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139; Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 01.02.2007 – 1 C 24.06 -). Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. 01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123; Beschl. v. 23.12.2002, Buchholz 11 Art. 16a GG, Nr. 49). Allerdings reicht eine lediglich statistisch-quantitative Betrachtung nicht aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen, die die Schwere, Anzahl, Zeit und Häufigkeit der festgestellten einzelnen Verfolgungsschläge ebenso einbezieht wie die Größe der betroffenen Gruppe. Mithin bedarf es wie bei der Individualverfolgung letztlich einer wertenden Gesamtbetrachtung, weil auch insoweit die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Heimatstaat das für die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr vorrangige qualitative Kriterium bildet (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Der Feststellung der Verfolgungsdichte bedarf es nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder bevorsteht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. "Referenzfälle politischer Verfolgung" sowie ein "Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200).
17 
Wenn der Staat in einer Bürgerkriegssituation die effektive Gebietsgewalt in gewissen Teilbereichen des Konfliktgebietes innehat und dabei im Gegenzug zu den Aktionen des Bürgerkriegsgegners die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung durch Gegenterror unter den Druck brutaler Gewalt setzt, liegt ebenfalls politische Verfolgung vor (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.05.1993, NVwZ 1993, 1210 ). Eine solche Vorgehensweise in einer Bürgerkriegssituation kann sich als gruppengerichtete Verfolgung der der Gegenseite zugerechneten Zivilbevölkerung darstellen. Die Maßnahmen eines Staates, der faktisch die Rolle einer Bürgerkriegspartei einnimmt und in den umkämpften Bereichen seines Hoheitsgebietes nicht mehr als übergreifende, effektive Ordnungsmacht besteht, sind zwar dann keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne, wenn sie ein typisch militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung des Gebietes dienen, das zwar (noch) zum eigenen Staatsgebiet gehört, über das der Staat jedoch faktisch die Gebietsgewalt an den bekämpften Gegner verloren hat. Denn die Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners durch staatliche Kräfte ist im Allgemeinen nicht politische Verfolgung. Führen allerdings die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise, der auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, liegt politische Verfolgung vor. Dies gilt erst recht, wenn die staatlichen Maßnahmen in die Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315; BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105). Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Wenn ein Staat einer ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt sich auch die Frage, ob die Verfolgungsmaßnahmen - objektiv gesehen - auf die Volkszugehörigkeit gerichtet sind und an diese anknüpfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123). Nach dieser Rechtsprechung setzt zwar auch die Annahme einer politischen Gruppenverfolgung durch "Gegenterror" im Bürgerkrieg grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Die Feststellungen zur Verfolgungsdichte bei einem überschießenden militärischen Vorgehen, welches als Gegenterror qualifiziert werden kann, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Qualität und Quantität der Verfolgungsschläge typischerweise nicht unerheblich von solchen zu einem Verfolgungsgeschehen, welches punktuell nur einzelne Mitglieder einer Gruppe betrifft. Mit Rücksicht hierauf kann die Feststellung einer Vielzahl von militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, der wahllosen Bombardierung von Zivilobjekten, oder von häufigen Bombardierungen mit zahlreichen Opfern die erforderliche Verfolgungsdichte aus tatrichterlicher Sicht eher belegen als etwa die Feststellung lediglich häufiger Übergriffe auf Einzelpersonen bei anderen Formen der Gruppenverfolgung ( BVerwG, Urt. v. 15.07.1997, ZAR 1998, 136).
18 
Gehört der zwar persönlich unverfolgt ausgereiste Ausländer einer Gruppe an, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt werden, ist ebenfalls der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt; denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen. Voraussetzung für die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs auf unverfolgt ausgereiste Ausländer ist freilich stets, dass der Betroffene tatsächlich alle Kriterien erfüllt, an die der Verfolgerstaat die Anwendung von Verfolgungsmaßnahmen knüpft, anderenfalls ist er von der kollektiven Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Als unverfolgt Ausgereistem ist ihm die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihm dort nach dem allgemeinen Prognosemaßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208 f.>).
19 
Bisweilen erstreckt sich die politische Verfolgung nicht auf das ganze Land, sondern nur auf einen Landesteil, so dass der Betroffene in anderen Landesteilen Schutz finden kann. Eine solche Möglichkeit internen Schutzes (vgl. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie) schließt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG aus. Für maßgeblich hält das Gericht dabei nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie nur interne Schutzmöglichkeiten im Zeitpunkt der Entscheidung, d.h. eine zum Zeitpunkt der nach Beginn der Gruppenverfolgung erfolgten Ausreise nicht wahrgenommene interne Schutzmöglichkeit schließt die Annahme einer Vorverfolgung nicht aus (s.a. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 121). Von einer internen Schutzmöglichkeit ist auszugehen, sofern in einem Teil des Landes keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht und von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie). Sie kommt mithin nur dort in Betracht, wo der Betroffene vor Verfolgung "hinreichend sicher" ist (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208>) und wo ihm keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <343>). Die Einschränkung bei einer am Herkunftsort vergleichbaren Lage besteht nach Überzeugung des Gerichts auch unter Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie. Zwar nimmt die Norm unmittelbar nur auf die Situation in den möglicherweise Schutz bietenden Gebieten Bezug. Ein Ausweichen auf einen verfolgungssicheren Landesteil kann vom Antragsteller aber auch dann i.S.v. Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie vernünftigerweise erwarten werden, wenn dort keine im Vergleich zur Situation am Herkunftsort neue existentielle Gefährdung droht (vgl. The House of Lords, Urt. v. 15.02.2006, zit. nach Dörig, Flüchtlingsschutz in Großbritannien, ZAR 2006, 272 <275 f.>). Zu diesen existentiellen Gefährdungen können vor allem die nicht mögliche Wahrung eines religiösen oder wirtschaftlichen Existenzminimums gehören (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139). Es kommt darauf an, ob der Betroffene an dem Ort der internen Schutzalternative auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich Tod führt (BVerwG, Urt. v. 08.02.1989, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104). Abzustellen ist dabei auf die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag (Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie). So kann eine interne Schutzalternative beispielsweise zu verneinen sein, wenn für den Betroffenen dort wegen in seiner Person liegender Merkmale wie etwa Behinderung oder hohes Alter das wirtschaftliche Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Sie kann auch dann zu verneinen sein, wenn der Ausländer am Ort der Schutzalternative keine Verwandten oder Freunde hat, bei denen er Obdach oder Unterstützung finden könnte, und ohne eine solche Unterstützung dort kein Leben über dem Existenzminimum möglich ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166).
20 
Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin aufgrund ihrer Angaben vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ihrer Angaben im Klageverfahren sowie aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
21 
Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel geht das Gericht aber mit den Oberverwaltungsgerichten der Freien Hansestadt Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 30.03.2005 - 2 A 114/03.A; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -) und des Landes Sachsen-Anhalt (Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -, aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24.06 -) und dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -, s. dazu BVerwG, Beschl. v. 05.01.2007 - 1 B 121/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -) und in Abweichung zu seiner früheren Kammerrechtsprechung (vgl. Urt. v. 10.03.2004 - A 11 12494/03 und A 11 12230/03 -) davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige seit Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 in Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten politischen Verfolgung ausgesetzt sind (s.a. OVG Schl.-H., Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 - für den Entscheidungszeitpunkt; VG Berlin, Urt. v. 25.10.2006 - VG 33 X 83.02 – www.asyl.net; offen gelassen von VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -; Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; Urt. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -; Urt. v. 03.11.2005 - 1 LB 211/01 und 1 LB 259/01 -; OVG Saarl., Beschl. v. 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; Urt. v. 23.06.2005 - 2 R 17/03 -; OVG Nds., Beschl. v. 24.01.2006 - 13 LA 398/05 -; Beschl. v. 09.07.2003 - 13 LA 118/03 -; Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -; ablehnend nur Thür. OVG, Urt. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -; OVG Nds., Beschl. v. 10.11.2005 - 13 LA 117/05 -).
22 
Eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit Ausbruch des zweiten Krieges im September 1999 ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den ihm vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel. Danach stellt sich die Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit September 1999 wie folgt dar:
23 
Aus Anlass des Einfalls tschetschenischer Rebellengruppen in Dagestan und der Ausrufung eines islamischen Staates dort sowie Bombenattentaten in Moskau, die von Seiten der russischen Regierung tschetschenischen Rebellen zugeschrieben wurden, setzte die Führung der Russischen Föderation ab September 1999 Bodentruppen, Artillerie und Luftstreitkräfte in Tschetschenien mit dem erklärten Ziel ein, die tschetschenischen Rebellengruppen zu vernichten, die das Ziel der Unabhängigkeit Tschetscheniens und die Errichtung eines islamischen Staates anstrebten. Im Verlauf der Kämpfe brachte die russische Armee Anfang des Jahres 2000 Grosny und im Frühjahr des Jahres 2000 große Teile Tschetscheniens unter ihre Kontrolle. Die Rebellengruppen zogen sich in die südlichen Bergregionen zurück und begannen einen bis heute andauernden Guerillakrieg und terroristische Anschläge (vgl. Auswärtiges Amt , Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001; UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Armee ihrerseits ging unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung mit äußerster Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien vor, die zum damaligen Zeitpunkt nach Schätzungen bereits im Wesentlichen aus tschetschenischen Volkszugehörigen bestand (vgl. UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Luftwaffe führte im Dauereinsatz Flächenbombardements gegen zahlreiche tschetschenische Städte und Ortschaften durch (amnesty international , RF: Tschetschenien, 22.12.1999; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.). Spitäler, Sanitätspersonal, andere Zivilisten und immer wieder Flüchtlingstrecks wurden vom Boden und aus der Luft durch russische Streitkräfte beschossen. Schon zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges kam es zu großen Fluchtbewegungen. Aufgrund des Einmarsches der russischen Armeeeinheiten und der Bombardierung der Städte flohen große Teile der Bevölkerung aus ihren Wohnorten in Tschetschenien. Die russische Armee hinderte die Flüchtlinge zum Teil bereits am Verlassen des Kampfgebietes, teilweise am Übertritt in die Nachbarrepubliken wie Inguschetien (AA, Ad hoc-Berichte v. 15.02.2000 und 15.11.2000). Dabei wurden auch Flüchtlingstrecks von der russischen Luftwaffe angegriffen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass von den zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges in Tschetschenien lebenden 450.000 Einwohnern 350.000 gewaltsam aus ihren Wohnorten vertrieben worden sind, davon 160.000 an andere Orte in Tschetschenien und die übrigen in andere Teile der Russischen Föderation und das Ausland (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russischen Armeeeinheiten haben, wie schon im ersten Tschetschenienkrieg, an mehreren Orten in Tschetschenien sog. Filtrationslager eingerichtet. In diese Lager wurden wahllos tschetschenische Einwohner gebracht, wo nach den Erklärungen der russischen Stellen Terroristen aufgespürt werden sollten. In den Lagern wurden die tschetschenischen Volkszugehörigen durch russische Spezialkräfte systematisch misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und getötet (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001; Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Lage in Tschetschenien vom 08.03.2001). Der bis zum 31. März 2006 amtierende Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Foltervorwürfe konnten dadurch nicht widerlegt werden (vgl. AA, Lagebericht v. 22.05.2000). Auf der Suche nach Terroristen überfielen russische Militäreinheiten ganze Dörfer, nahmen deren Bewohner willkürlich fest und misshandelten sie (ai v. 20.02.2002 an VG Braunschweig). Gespräche mit Flüchtlingen in den Lagern Inguschetiens haben die Gräueltaten der russischen Armee bestätigt. Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen waren gravierend. Es kam zu willkürlichen Racheakten an der Zivilbevölkerung. Bei einer Explosion auf einem belebten Markt in Grosny am 21.10.1999 kamen nach Augenzeugenberichten 140 Menschen ums Leben, 400 wurden zum Teil schwer verletzt. Widersprüchliche Angaben gibt es über die Täter und deren Motive. Recherchen von internationalen Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch, Bericht v. 20.01.2000) und Äußerungen von Angehörigen russischer Spezialkräfte legen die Vermutung sehr nahe, dass es sich bei dieser Tat um eine „Sonderkommandoaktion" russischer Spezialkräfte handelte, die auf dem Marktplatz Waffen und Sprengstoff tschetschenischer Rebellen vermuteten. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Bei den Massakern russischer Verbände in Alkhan-Yurt südwestlich von Grosny im Dezember 1999 und in den Bezirken Grosnys Novje Aldi und Staropromyslowskij kam es zu Massenexekutionen von über 130 Zivilisten und darüber hinaus zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandstiftungen. Anders als die meisten Übergriffe, über die berichtet wurde, war das Massaker in Alkhan-Yurt Gegenstand einer russischen Untersuchung, die allerdings nicht in ein Strafverfahren einmündete (AA, Ad hoc-Bericht v. 15.11.2000, Lagebericht v. 22.05.2000).
24 
Auch nach dem von Präsident Putin erklärten Ende des zweiten Tschetschenienkriegs im Jahr 2000 oder dem Beginn des politischen Prozesses im Jahr 2003 änderte sich die Vorgehensweise gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung nicht grundlegend. Gezielt und systematisch durchgeführte Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch russische Streitkräfte - Folter, Misshandlungen, Plünderungen, extralegale Verhaftungen und willkürliche Tötungen sowie „Verschwindenlassen“ vor allem während sog. „Säuberungsaktionen“ und in Hafteinrichtungen - hielten nach den Berichten internationaler und russischer Menschenrechtsorganisationen an und stellten nach wie vor eine reale Bedrohung für die Bevölkerung Tschetscheniens dar (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001). Bestand der Verdacht, dass sich in einem Dorf Rebellen versteckt halten, fanden Säuberungsaktionen durch russische Soldaten statt. Die Männer wurden auf körperliche Spuren von Kampfhandlungen untersucht, die eroberten Häuser geplündert und in Brand gesteckt, oftmals kam es zu Gewaltanwendungen gegenüber der Bevölkerung, zahllose tschetschenische Frauen wurden von russischen Soldaten vergewaltigt, es wurden willkürlich Zivilisten verhaftet (vgl. Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Amnesty international berichtet (Stellungnahme v. 08.10.2001) über mehrere Operationen russischer Soldaten gegen tschetschenische Zivilisten im Juni/Juli 2001 in verschiedenen Dörfern, in denen Tschetschenen zusammengetrieben, geschlagen, misshandelt, gefoltert, gequält und einige Zeit festgehalten worden seien, wobei mehrere Inhaftierte anschließend verschwunden blieben. Zwar habe der Kommandant der Streitkräfte im Nordkaukasus am 11.07.2001 öffentlich eingeräumt, dass bei den Razzien in Srnowodosk und Assinowskaja in großem Umfang Verbrechen gegen Zivilisten begangen worden seien und es habe der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation zwei Ermittlungsteams nach Tschetschenien entsandt, um die Aktivitäten des Militärs untersuchen zu lassen. Dennoch sei es danach weiter zu „Säuberungsaktionen“ und schweren Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch Angehörige der russischen Armee gekommen. Auch im August und im September 2001 habe amnesty international Berichte von „Säuberungsaktionen“ in Tschetschenien erhalten. Kriegsverbrechen und Massaker blieben ungesühnt, da die russische Führung kein Interesse an einer Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung zeigte (Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Nach den Berichten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben die russischen Streitkräfte Zehntausende Tschetschenen inhaftiert. Basierend auf den Aussagen ehemaliger Insassen der Haftanstalten von Tschernokosowa sowie von weiteren Haftanstalten in Tschetschenien (in Tolstoy-Yurt, Chankala und Urs-Martan ) als auch in der Provinz Stavropol und in Mosdok stellte Human Rights Watch in seinem Worldreport 2001 fest, dass seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Oktober 1999 Tausende Tschetschenen an Kontrollposten sowie anlässlich von Eroberungen und Razzien von russischen Organen festgenommen worden seien. Die Verhaftungen seien zumeist mit fadenscheiniger Begründung erfolgt. Viele seien inhaftiert worden, weil sie nicht an ihrer offiziell registrierten Adresse vorgefunden worden seien, weil ihre Dokumente unvollständig gewesen seien und weil sie den gleichen Nachnamen wie ein Rebellenführer getragen hätten, weil ihr ursprünglich gesuchter Verwandter abwesend gewesen sei oder weil sie ausgesehen hätten wie Kämpfer. Während der Haft seien Männer und Frauen z. T. zu Tode geschlagen und vergewaltigt worden. Oft wären sie nur gegen Lösegeldzahlung freigekommen. Die Täter könnten damit rechnen, dass ihnen keine Strafen drohten. Unabhängige Beobachter seien sich darin einig, dass die von der russischen Regierung eingesetzten Organe zu eingehenden und unparteiischen Untersuchungen aller Menschenrechtsverletzungen und der Verurteilung der Täter bisher versagt hätten (vgl. Nachw. bei OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Der Verbleib von vielen in „Filtrationslagern“ und sonstigen teils provisorischen und geheimen Hafteinrichtungen (Eisenbahnwagen, Erdlöcher in der Nähe von Militärstützpunkten) inhaftierten Personen bleibe ungeklärt. Jüngste Schätzungen über die nach Festnahmen durch russische Kräfte „verschwundenen“ Personen variierten zwischen 400 Personen, einer von offizieller russischer Seite genannten Zahl, und 18.000 Personen, einer vom Europarat genannten Zahl. Es sei erforderlich darauf hinzuweisen, dass auch in Hafteinrichtungen und „Filtrationslagern“ immer wieder Vergewaltigungen durch einen oder mehrere Täter stattfänden. Diesen Vergewaltigungen fielen auch Kinder und Jugendliche zum Opfer. An den Grenzkontrollstellen komme es regelmäßig und willkürlich zu Menschenrechtsverletzungen. Flüchtlinge, Personen, die regelmäßig zwischen den Regionen hin und her reisten, und Tschetschenen, die aus Inguschetien kommend die Grenze überschreiten wollten, um in Tschetschenien nach Verwandten zu suchen, würden von den russischen Soldaten zusammengeschlagen, angeschossen oder erschossen (ai, Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.).
25 
In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater „Nord-Ost" (Oktober 2002) hatte der russische Verteidigungsminister umgehend breit angelegte, harte „Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien angekündigt. Es wurden systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften umstellt und durchsucht. Wenige Tage nach Beginn der Operation wurden Argun, Berkart-Yurt sowie zahlreiche kleinere Ortschaften in den Bezirken Grosny, Schalinskij und Wedenskij von Sicherheitskräften umstellt, durchsucht und bereits über 5.000 „Verdächtige" zeitweise interniert. Nach welchen Kriterien die vereinigten Kräftegruppierungen diese Internierung vornahmen, ist nicht bekannt. Es gab Hinweise auf insgesamt 60 parallel ablaufende Operationen in 45 Ortschaften (AA, Lagebericht 30.08.2005). Am 09.04.2004 wurden in der Nähe von Sershen-Jurt im Bezirk Schali/Tschetschenien die Leichen von neun Tschetschenen gefunden, die Folterspuren und Schussverletzungen aufwiesen. Acht der Männer waren nach einer gezielten "Säuberungsaktion" von Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden des 27.03.2004, der neunte in der Nacht zum 02.04.2004 spurlos "verschwunden". Am 04.06.2005 wurden bei einer von ca. 200-400 Sicherheitskräften im tschetschenischen Dorf Borozdinovskaja durchgeführten Säuberungsaktion elf Dorfbewohner wegen angeblicher Unterstützung von Rebellen festgenommen. Vier Häuser wurden niedergebrannt. In einem dieser Häuser wurde später die Leiche eines Dorfbewohners gefunden (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Am 18.04.2005 kündigten die Sicherheitsbehörden den Beginn einer groß angelegten Spezialoperation mit 2000 Mann in den Bergen des Distrikts Vedeno an. Nachdem wiederholt Hubschrauber in der Nähe von Militärstützpunkten abgeschossen wurden, wurden nach der Moskauer Geiselnahme in Tschetschenien - ohne Koordination mit zivilen Verwaltungsstellen - Häuser gesprengt, die möglicherweise Deckung für den Abschuss von tragbaren Flugabwehrraketen bilden könnten. Tschetschenen, die in diesen Häusern lebten, wurden als Unterstützer von „Terroristen" verhaftet, weil sie nicht aktiv an der Verhinderung von Anschlägen mitgewirkt hätten (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005). Menschenrechtler kritisieren, dass die Behörden wahllos Flüchtlinge unter Druck gesetzt und kriminalisiert hätten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
26 
Mit der Wahl eine tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene „politische Prozess“ zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen; Präsident Putin erklärte bei seiner Jahrespressekonferenz am 31.01.2006 die „antiterroristische Operation“ zum wiederholten Male für beendet (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Gleichwohl ist nach vor die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien nicht gewährleistet. Der Konflikt ist nicht gelöst, sondern lediglich „tschetschenisiert“: Die russischen Streitkräfte überlassen das Feld immer mehr ihren tschetschenischen Verbündeten. Vor allem die Truppen des Vizepräsidenten Ramsan Kadyrow, die sog. Kadyrowski , haben sich einen zweifelhaften Ruf zugelegt (Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Sie sind von der Bevölkerung noch stärker gefürchtet als die russischen Sicherheitskräfte (SFH v. 24.05.2004). Sie dürften inzwischen die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst haben (so Human Rights Watch, vgl. AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Laut Memorial (Zur Situation der Bürger Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Juni 2004 bis Juni 2005) finden deren Einsätze mit Unterstützung, Mitwirkung oder zumindest Billigung der föderalen Truppen statt. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (dies betrifft mit Ausnahme der schwer zugänglichen Gebirgsregionen das gesamte Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, „Säuberungsaktionen“, Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppen von Ramsan Kadyrow und andererseits unter Guerillaaktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen (AA, Lagebericht v. 15.02.2006; s.a. Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Zu den erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte zählen insbesondere willkürliche Festnahmen, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). An die Stelle flächendeckender "Säuberungsaktionen" sind gezielte "Säuberungsaktionen" getreten. Angaben von russischer Seite, dass die fortgesetzten Entführungen ausschließlich auf das Konto von als Soldaten verkleideten Rebellen oder der persönlichen Sicherheitskräfte des Leiters der tschetschenischen Verwaltung Kadyrow gingen, sind unglaubwürdig. Fest steht, dass die Opfer häufig nicht erkennen können, wer die Täter sind (vgl. auch Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006). Massive Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro russische tschetschenische Sicherheitskräfte räumen auch offizielle russische Vertreter ein, wenn auch mit Hinweis auf Verbesserungen. Diesen Eindruck teilen die Nichtregierungsorganisationen nicht. Ihren Angaben zufolge ist die Zahl von Rechtsverletzungen (willkürliche Festnahme, Entführungen, Verschwinden von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen, Diebstähle) jedenfalls nicht deutlich gesunken (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Bedenklich ist weiterhin - so die Nichtregierungsorganisationen, kritische Beobachter und Presseberichte - die sich fortsetzende weitgehende Straflosigkeit nach Übergriffen durch die Sicherheitskräfte (vgl. AA, Lagerberichte v. 30.08.2005 und 15.02.2006 m.w.N.). Zahlreich sind nach wie vor Fälle des "Verschwindenlassens" von Zivilisten (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Die Menschenrechtsorganisation Memorial dokumentierte 447 Entführungsfälle im Jahr 2004 (Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37) Behördenvertreter und Politiker Tschetscheniens gehen für den gleichen Zeitraum von 175, 281 bzw. 500 Entführungsopfern aus (AA, Lagebericht 30.08.2005). Im Jahr 2005 wurden nach Memorial 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 ist es nach Memorial zu weiteren 103 Entführungen gekommen, von den Entführten seien 50 befreit und sechs getötet worden. 38 seien noch verschwunden. Aufgrund der Tatsache, dass Memorial nur etwa 25 bis 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. Entführungen werden sowohl den russischen und den pro russischen tschetschenischen Truppen als auch den Rebellen angelastet. Eine Liste der Menschenrechtsorganisation „Mütter Tschetscheniens“, deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet russische und tschetschenische Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen an die Behörden hat es bisher einen positiven Bescheid gegeben, in keinem Fall ist es bisher gelungen, eine vermisste Person lebend wiederzufinden. Menschenrechtsorganisationen wie Memorial oder die Moskauer Helsinkigruppe gehen von monatlich 50 bis 80 bei „Säuberungen“ verschwundenen Personen aus (vgl. AA, Lagebericht 30.08.2005).
27 
Aus alledem ergibt sich, dass die russische Armee und die mit ihr verbundenen pro-russischen tschetschenischen Kräfte seit September 1999 den Bürgerkrieg gegen die tschetschenischen Separatisten in einer Weise führen, die sich als Gegenterror gegen die dort lebende tschetschenische Zivilbevölkerung darstellt. Angesichts der oben geschilderten Sachlage geht das Gericht davon aus, dass der russische Staat seit dem zweiten Tschetschenienkrieg die ganze Bevölkerungsgruppe der Tschetschenen pauschal verdächtigt, die Rebellen zu unterstützen und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten mit Mitteln bekämpft, die über die erforderliche staatliche Gegenwehr zur Rückeroberung bzw. Behauptung der effektiven Gebietsgewalt und Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinausgehen, so dass sich dies als eine sowohl an die vermutete politische Überzeugung als auch an die Ethnie anknüpfende Verfolgung der gesamten Volksgruppe der Tschetschenen darstellt. Die erkennbare Gerichtetheit der Maßnahmen der russischen Streitkräfte und der mit ihnen verbundenen tschetschenischen Kräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung hat die Regierung der Russischen Föderation zumindest stillschweigend hingenommen, weshalb ihr diese Maßnahmen zuzurechnen sind. Der russische Staat lässt es zu, dass seine Militärkräfte auf eine die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit asylrechtlich relevanten Übergriffen aussetzenden Art und Weise operieren.
28 
Angesichts des in vielen Einzelheiten dokumentierten Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien und der dabei erfolgenden massenhaften und massiven Verletzung asylrechtlich geschützter Rechtsgüter ist davon auszugehen, dass tschetschenische Volkszugehörige in Tschetschenien unabhängig davon, ob bei ihnen der konkrete Verdacht der Unterstützung von separatistischen Gruppierungen bestand, unmittelbar und jederzeit damit rechnen mussten und müssen, selbst Opfer der Übergriffe der russischen Armeeeinheiten oder der verbündeten tschetschenischen Kräfte zu werden. Dabei hat das OVG Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -) zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zahl der von den asylerheblichen Eingriffen der genannten Art in Tschetschenien Betroffenen nicht exakt beziffert werden kann. Aufgrund der weitgehenden Behinderung einer unabhängigen Berichterstattung über die Situation in Tschetschenien durch die russische Behörden seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges es nur sehr eingeschränkt möglich ist, zuverlässige und verifizierbare Informationen aus und über Tschetschenien zu erhalten (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002), so dass die in den bezeichneten Berichten mitgeteilten zahlreichen Referenzfälle das wirkliche Ausmaß des Verfolgungsgeschehens in Tschetschenien nicht abschließend wiederzugeben vermögen und die Dunkelziffer über weitere asylerhebliche Verfolgungsfälle beträchtlich ist. Das Gericht geht davon aus, dass eine Vielzahl weiterer Fälle aufgrund der Beschränkungen in der Berichterstattung und der von Memorial beobachteten Zurückhaltung vieler Betroffener, Menschenrechtsorganisationen von Übergriffen zu berichten (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37), keinen Eingang in die Erkenntnismaterialien gefunden hat. Die demnach anzunehmende Intensität und Häufigkeit der Verfolgungshandlungen rechtfertigen auch in Bezug auf die Größe der betroffenen Gruppe die Annahme einer Gruppenverfolgung. Bei der Volkszählung 1998 wurden in der noch ungeteilten Republik 734.000 Tschetschenen gezählt (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Anfang 2002 lebten wegen des nur durch eine dreijährige Pause unterbrochenen jahrelangen Krieges in Tschetschenien schon aus der Zeit vor dem neuerlichen Tschetschenienkrieg ca. 600.000 der insgesamt 1.000.000 Tschetschenen nicht in Tschetschenien, sondern in anderen russischen Regionen bzw. GUS-Staaten (vgl. AA, Ad hoc-Bericht vom 07.05.2002). Die Volkszählung im Oktober 2002 ergab nach offiziellen Angaben zwar eine Zahl von über 1.000.000 Tschetschenen in Tschetschenien, der aber nicht gefolgt werden kann, nachdem unabhängige Beobachter und Nichtregierungsorganisationen diesem Ergebnis sehr kritisch gegenüberstehen und teilweise von einer Mehrfachregistrierung von Personen ausgehen, deren Gründe in finanziellen Anreizen der Registrierung und in der Furcht vor Säuberungsaktionen bei einer zu geringer Zahl von Tschetschenen in Tschetschenien liegen könnten. Vorherige Schätzungen waren von einer durch Flüchtlinge, Auswanderung und Kriegsopfer erheblich gesunkenen Einwohnerzahl für Tschetschenien ausgegangen und hatten zwischen 450.000 bis 800.000 Tschetschenen in Tschetschenien geschwankt (vgl. AA, Lageberichte v. 27.11.2002, 16.02.2004, 13.12.2004, 30.08.2005, 15.02.2006; OVG Bremen, Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -). Nach der geschätzten Bevölkerungsentwicklung in Tschetschenien und unter Abzug der von den Eingriffen nicht betroffenen jüngeren Kinder dürfte sich die Zahl der potentiell Betroffenen nunmehr auf ca. 400.000 Personen belaufen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -).
29 
Dies alles rechtfertigt die Annahme einer andauernden Gruppenverfolgung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in der Teilrepublik Tschetschenien.
30 
Es kann dahinstehen, ob der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand, da sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht auf interne Schutzmöglichkeiten in anderen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden kann.
31 
Nach den allgemeinen Gegebenheiten in den als interne Schutzalternativen in Frage kommenden Gebieten und den persönlichen Umständen der Klägerin kann es von dieser nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in diese Gebiete zu begeben, da ihr dort andere existentielle Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und die in Tschetschenien so nicht bestünden.
32 
Die Klägerin kann von vornherein nicht auf interne Schutzmöglichkeiten im Nordkaukasus verwiesen werden. Der ungelöste Tschetschenienkonflikt greift immer mehr auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus über und destabilisiert inzwischen die gesamte Region. Nach Tschetschenien am meisten betroffen sind Inguschetien und Dagestan. In Dagestan finden verstärkt seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen allen voran willkürliche Festnahmen und Folter. In Inguschetien ist dieselbe Tendenz zu beobachten. Die Sicherheitslage dort wird inzwischen von internationalen Organisationen (u. a. den Vereinten Nationen) als ebenso brisant wie in Tschetschenien eingeschätzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Inguschetien zu schweren Menschenrechtsverletzungen, verübt durch russische wie einheimische Sicherheitskräfte und tschetschenische Rebellen, denen sich immer mehr Inguschen anschließen. Die Geiselnahme von Beslan 2004 und die Kämpfe in Naltschik im September 2005 zeigen, dass die vormals eher ruhigen Republiken wie Kabardino-Balkarien und Nordossetien zunehmend in die Gewaltspirale einbezogen werden. Urheber der Anschläge sind verschiedene untereinander vernetzte islamische Gruppierungen. Der von russischen und einheimischen Sicherheitskräften geführte Kampf gegen den Terrorismus nimmt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen immer brutalere Formen an. Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und Mord an „Terrorverdächtigen“ sind nach übereinstimmenden Angaben aller Beobachter im gesamten Nordkaukasus an der Tagesordnung (vgl. zu allem AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
33 
Die übrigen Gebiete in der Russischen Föderation sind für die Klägerin ebenfalls keine zumutbaren Zufluchtsgebiete, da sie dort aufgrund ihrer persönlichen Umstände nicht in der Lage wäre, innerhalb eines absehbaren Zeitraums eine Registrierung zu erlangen, und ohne eine solche Registrierung existentiellen Gefahren ausgesetzt wäre.
34 
Tschetschenen aus Tschetschenien steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltsrechts in der Russischen Föderation zu (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Durch das Föderationsgesetz Nr. 52421 vom 25.06.1993 wurde ein Registrierungssystem eingeführt, bei dem die Bürger den örtlichen Dienststellen des Innenministeriums ihren Wohnort (sog. „dauerhafte Registrierung“) oder falls davon abweichend ihren Aufenthaltsort (sog. „vorübergehende Registrierung“) melden, im Gegensatz zu dem früher geltenden „Propiska“-System, das die Polizeibehörden ermächtigte, den Bürgern den Aufenthalt oder die Niederlassung an einem bestimmten Ort zu gestatten oder zu verwehren (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003; AA, Auskunft v. 12.11.2003, jew. an den Bay. VGH). Nur wer die Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt, und die Registrierung am Wohnort ist Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich gefördertem Wohnraum, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zu den Bildungseinrichtungen und zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005; UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH). Wer nicht registriert ist, läuft Gefahr, verhaftet oder mit einer Geldstrafe belegt zu werden. Personen, denen die Registrierung verwehrt wird, versuchen ihr Überleben unter Vorenthaltung elementarer sozialer Rechte sicherzustellen. Sie sind bei Kontrollen zudem der Willkür staatlicher Bediensteter ausgeliefert (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH) und daher auf ein Leben in der Illegalität verwiesen.
35 
An vielen Orten ist der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Tschetschenen haben erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. In einem Sonderbericht vom Oktober 2000 kritisierte der Ombudsmann der Russischen Föderation die regionalen Vorschriften, die im Widerspruch zu den nationalen Vorschriften stehen, sowie rechtswidrige Vollzugspraktiken. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen häufig die Registrierung verweigert wird. Während in bestimmten Orten und Regionen eine Registrierung für Tschetschenien nur unter ganz besonders erschwerten Bedingungen möglich ist - abgesehen von den bereits als Schutzalternative ausgeschlossenen Gegenden sind dies insbesondere Moskau, St. Petersburg und die Regionen Krasnodar und Stawropol (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A) - ist eine Registrierung in anderen Gebieten abhängig von der individuellen Durchsetzungsfähigkeit und den Möglichkeiten des Schutzsuchenden sowie seiner persönlichen Beziehungen und Anknüpfungspunkte außerhalb der tschetschenischen Republik im Einzelfall auch durchsetzbar. Dies rechtfertigt es nicht, ohne weiteres das Bestehen einer inländischen Schutzalternative für jeden tschetschenischen Asylsuchenden zu bejahen. Eine solche inländische Schutzalternative kann auch nicht mit dem pauschalen Hinweis angenommen werden, dass - entgegen der Einschätzung von Memorial, wonach die Registrierung für Tschetschenen immer ein großes Problem ist (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 27) - in nicht näher zu bezeichnenden anderen Gebieten der Russischen Föderation möglicherweise eine Registrierung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen problemlos zu erlangen ist, denn grundsätzlich kann von einer in ihrer Heimatregion verfolgten Person nicht verlangt werden, in ihrem Herkunftsland ohne weitere Orientierung "herumzuvagabundieren", bis sie schließlich, ggfs. nach mehreren erfolglosen Versuchen, einen sicheren Ort ausfindig macht (so zutreffend Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A). Es ist vielmehr im Einzelfall zu klären, ob davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene trotz zu erwartender Schwierigkeiten auch in den übrigen Landesteilen der Russischen Föderation bei der Registrierung sich innerhalb eines ihm nach seiner individuellen Situation zuzumutenden Zeitraums erfolgreich gegen unrechtmäßige Behinderungen wird zur Wehr setzen können. Selbst wenn hiervon im Einzelfall nicht auszugehen ist, steht dies der Annahme interner Schutzmöglichkeiten nur dann entgegen, wenn ein Leben in der Illegalität von dem Betroffenen nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, weil es mit existentiellen Gefahren verbunden wäre. Besonderes Gewicht kommt hinsichtlich beider Fragestellungen regelmäßig den vorhandenen Beziehungen des Schutzsuchenden zu außerhalb von Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation lebenden Personen, seinen persönlichen Fähigkeiten, seiner individuellen familiären Situation und seinen finanziellen Mitteln zu (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005).
36 
Nach diesen Maßstäben ist davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Umstände ohne eine Registrierung nur vorübergehend in den Gebieten der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien existieren kann. Nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin keine Angehörige in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, auf deren Hilfe sie zurückgreifen könnte. Es gibt auch keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach tschetschenische Landsleute in der Diaspora einander helfen, auch wenn sie nicht miteinander bekannt oder verwandt sind. Auch sonstige Anknüpfungspunkte der Klägerin zu diesen Gebieten sind nicht erkennbar. Die Klägerin hat nie außerhalb ihres Familienverbandes und nie in anderen Gebieten der Russischen Föderation gelebt. Gänzlich auf sich allein gestellt vermag sie zur Überzeugung der Kammer ohne die mit einer Registrierung verbundenen elementaren sozialen Rechte nicht auf längere Sicht ihr Existenzminimum zu sichern.
37 
Eine solche Registrierung kann die Klägerin nicht erlangen, da es ihr bereits nicht zuzumuten ist, sich einen für eine Registrierung unabdingbaren gültigen russischen Inlandspass zu beschaffen, den sie zur Überzeugung der Kammer nicht besitzt. Auf die Frage, ob sich die Klägerin sodann innerhalb einer ihr individuell zumutbaren Zeit erfolgreich gegen eine unrechtmäßige Verwehrung einer Registrierung zur Wehr setzen können wird, kommt es daher nicht an.
38 
Der Umtausch der alten sowjetischen Inlandspässe, deren Gültigkeit ursprünglich bis zum 31.12.2003 begrenzt war, verlief so zögerlich, dass die Umtauschfrist durch Verordnung der russischen Regierung nochmals bis zum 30.06.2004 verlängert wurde. Für diejenigen russischen Staatsangehörigen, die seit dem 01.07.2004 kein gültiges Personaldokument vorweisen können, gelten die üblichen Vorschriften: Sie müssen eine Geldstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Nach Aufhebung des Befehls des Innenministeriums Nr. 347 vom 24. Mai 2003, nach dem es Tschetschenen, die sich außerhalb Tschetscheniens aufhielten, möglich war, ihren Inlandspass auch am Ort des vorübergehenden Aufenthaltes umzutauschen, ist dieser Personenkreis nunmehr wieder gezwungen, an den registrierten Wohnort zurückzukehren, um Passpapiere zu erhalten (vgl. AA, Auskunft v. 22.11.2005 an das VG Berlin). Nicht offiziell mit ständigem Wohnsitz im Ausland lebende russische Staatsangehörige müssen daher an ihren registrierten Wohnort zurückkehren, der sich selbst nach jahrelanger Abwesenheit nicht ändert, da es in der Russischen Föderation keine Abmeldung von Amts wegen gibt.
39 
Von der Klägerin kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, auch nur vorübergehend zum Zwecke der Passbeschaffung nach Tschetschenien zurückzukehren, da jedenfalls aufgrund individueller Umstände nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass sie dort asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird. Es kommt mithin nicht darauf an, ob unabhängig von Besonderheiten des Einzelfalls tschetschenischen Volkszugehörigen generell eine kurzzeitige Rückkehr nach Tschetschenien gegenwärtig nicht zuzumuten ist (so Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; a.A. Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -). Der Erlass Nr. 828 sieht eine maximale Bearbeitungsdauer von zehn Tagen für die Ausstellung eines Inlandspasses vor, die auch in Tschetschenien regelmäßig eingehalten wird. Da die Ausstellung eines Rückreisedokuments für passlose russische Staatsangehörige eine Identitätsprüfung durch die russischen Innenbehörden voraussetzt, ist davon auszugehen, dass bei der Beantragung des Inlandspasses in Tschetschenien die für die Ausstellung eines Inlandspasses benötigten Unterlagen vorliegen (AA, Auskunft v. 03.03.2006 an den Bay. VGH).
40 
Trotz der demnach nur geringen Zeit, die die Klägerin in Tschetschenien verbringen müsste, und die sie durch eine zwischenzeitliche Ausreise weiter verkürzen könnte, ist der Klägerin die Passbeschaffung nicht zumutbar. Die Sicherheitslage in Tschetschenien ist nicht nur im Hinblick auf die dargestellten Übergriffe russischer und pro-russischer tschetschenischer Sicherheitskräfte besorgniserregend. Die tschetschenische Zivilbevölkerung ist darüber hinaus Übergriffen durch die in Tschetschenien ansässigen Rebellengruppen oder sonstige marodierende Banden ausgesetzt. Selbst wenn man gleichwohl annehmen wollte, während eines derart kurzen Aufenthalts in Tschetschenien bestünde lediglich die theoretische, nicht aber die reale Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, sind vorliegend objektive Anhaltspunkte gegeben, die einen Übergriff auf die Klägerin als nicht ganz entfernt, sondern als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen.
41 
Dies ergibt sich allerdings nicht aus der von der Zeugin geschilderten Tätigkeit der Klägerin in der 5. Klinik nach 1996 bis zum Jahr 2000. Das Gericht konnte nach den nur detailarmen Ausführungen der Zeugin nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin tatsächlich in dieser Zeit Verwundeten geholfen hat, zumal eine solche Tätigkeit von der Klägerin selbst nicht behauptet wurde. Zudem ist nicht erkennbar, warum eine solche ausschließlich Zivilisten zuteil werdende medizinische Hilfe durch die Klägerin sie in eine besondere Gefahr bringen sollte, Übergriffen seitens der russischen oder pro-russischen Milizen oder seitens der Rebellen ausgesetzt zu sein. Die Klägerin hat auch nicht glaubhaft dargetan, Flüchtlingen geholfen und sich deshalb einer besonderen Gefahr ausgesetzt zu haben. Eine solche Betätigung hat die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt nicht geschildert. Selbst wenn es bei der Anhörung, wie die Klägerin behauptet, Verständigungsprobleme gegeben haben sollte, könnte dies möglicherweise einzelne Unrichtigkeiten erklären, nicht aber, dass ein solches Geschehen gänzlich unerwähnt bleibt. Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin nur auf Nachfrage geschildert, "nach 1996 einige Male" Flüchtlingen geholfen zu haben, nach Georgien zu gelangen. Nach alledem kann offenbleiben, ob die behauptete Betätigung relevant für eine Gefährdung der Klägerin in Tschetschenien wäre.
42 
Eine erhöhte Gefährdung der Klägerin ergibt sich aber aus ihrer familiären Herkunft. Ohne dass es auf die genauen verwandtschaftlichen Beziehungen ankäme, besteht die begründete Besorgnis, dass die Klägerin bereits wegen der Namensgleichheit mit ihrer "Cousine" ... ein erhöhtes Risiko trägt, Opfer eines Übergriffs zu werden. ... arbeitete nach den Auskünften von Memorial für eine humanitäre Flüchtlingshilfsorganisation, wurde am 09.01.2004 entführt und nach Protestaktionen am 12.01.2004 mit verbundenen Händen und einem Sack über dem Kopf in der Stadt Argun freigelassen (Bewohner Tschetscheniens in der RF, Juni 2003 - Mai 2004, S. 81 f.). Nach dem Vorbringen der Klägerin vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung ist auch davon auszugehen, dass russische Streitkräfte die Familie der Klägerin insgesamt der Unterstützung separatistischer Gruppierungen verdächtigen. Insoweit hält das Gericht das Vorbringen der Klägerin zu den Vorfällen im August und September 2004 für glaubhaft. Ob die russischen Milizen dabei der Klägerin die von ihr geschilderten Vorhaltungen gemacht, sie mitgenommen und misshandelt haben, kann dahingestellt bleiben.
43 
Neben dem aufgrund dieser Umstände erhöhten Risiko der Klägerin, im Falle einer auch nur kurzzeitigen Rückkehr nach Tschetschenien Übergriffen russischer oder pro-russischer tschetschenischer Streitkräfte ausgesetzt zu sein, ist der Klägerin zur Überzeugung der Kammer ein vorübergehender Aufenthalt in Tschetschenien auch aufgrund ihrer Erlebnisse im Jahr 1996 nicht zuzumuten. Die Klägerin hat glaubhaft geschildert, im Jahr 1996, in welchem ihr Bruder an seinen kriegsbedingten Verletzungen gestorben und auch ihr Vater bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sei, für nicht ganz zwei Wochen in den Kellern des 5. Hospitals Verwundete versorgt zu haben. Die Art und Weise der Schilderung in der mündlichen Verhandlung, insbesondere die mit ihr unverkennbar verbundene emotionale Belastung der Klägerin, die auch dem Protokoll der Anhörung vor dem Bundesamt zu entnehmen ist, gibt dem Gericht die Gewissheit, dass eine Konfrontation mit den Ereignissen im Jahr 1996, die bei einer Rückkehr der Klägerin nach Tschetschenien unausweichlich wäre, die Klägerin in ihrer psychischen Gesundheit derart unzumutbar beeinträchtigen würde, dass eine Rückkehr von ihr gegenwärtig nicht vernünftigerweise erwartet werden kann. Für diese Einschätzung bedarf das Gericht, das sich durch den vorgelegten ärztlichen Befundbericht vom 04.04.2006 bestätigt sieht, nicht der Hinzuziehung weiteren medizinischen Sachverstandes.
44 
Die existenziellen Gefährdungen, denen die Klägerin derzeit in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation ausgesetzt wäre, bestünden so für die Klägerin in Tschetschenien nicht. Die Bevölkerung in Tschetschenien lebt zwar gegenwärtig unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung insbesondere in Grosny mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft. Die Lieferung von Nahrungsmitteln durch internationale Hilfsorganisationen in das Krisengebiet ist nur sehr begrenzt und punktuell möglich. Die Infrastruktur (Strom, fließendes Wasser, Heizung etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement und Korruption verhindern allerdings in vielen Fällen, dass die Gelder für die vorgesehenen Projekte verwendet werden. Etwa 50 % des Wohnraumes ist seit dem ersten Krieg (1994 bis 1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80 % (russischer Durchschnitt: 7,5 % im November 2005). Das reale pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa 1/10 des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum. Die medizinische Grundversorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch den Krieg waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionsträchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Trotz dieser im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechteren ökonomischen Lage in Tschetschenien wären die Möglichkeiten zum physischen Überleben für die Klägerin bei einer Rückkehr dorthin vergleichsweise besser, weil ihr in ihrem Herkunftsgebiet das unabdingbare soziale Beziehungsgeflecht zur Verfügung stünde, das ihr zum Überleben ohne Registrierung in der übrigen Russischen Föderation fehlt. In Tschetschenien könnte die Klägerin in ihr früheres familiäres Umfeld zurückkehren. Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie in Grosny bei ihrer Stiefmutter, ihren zahlreichen Geschwistern oder ihrer Cousine Aufnahme finden würde. Mit Unterstützung dieses Familienverbandes wäre sie zur Überzeugung der Kammer in der Lage, ihr Existenzminimum in Tschetschenien zu sichern.
45 
Nach allem sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Klägerin gegeben.
46 
Besteht somit kein Anlass für eine Entscheidung über das Vorliegen weiterer ausländerrechtlicher Abschiebungshindernisse (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG), ist auch die Entscheidung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3), aufzuheben. Zwar spricht der Wortlaut des Gesetzes für ein Ermessen der Behörde, von einer Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abzusehen. Indes muss Berücksichtigung finden, dass bei einer Asylanerkennung oder dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG eine Bejahung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht geeignet ist, dem Ausländer im Verhältnis zu den für ihn positiven Entscheidungen in Bezug auf seine Anerkennung und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG irgendeinen Vorteil zu bringen. Von daher ist regelmäßig das Ermessen der Beklagten in den Fällen des § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG dahin reduziert, dass aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung von einer Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG abzusehen ist. Schließlich ist auch die Abschiebungsandrohung (Ziff. 4) aufzuheben. Sie ist rechtswidrig, da sie die Russische Föderation nicht als den Staat bezeichnet, in den die Klägerin nicht abgeschoben werden darf (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, § 60 Abs. X Satz 2 AufenthG). Eine auf die Benennung der Russischen Föderation als Zielstaat einer Abschiebung beschränkte Teilaufhebung der Abschiebungsandrohung kommt daher nicht in Betracht.
47 
Über den gestellten Hilfsantrag bedarf es keiner Entscheidung mehr.
48 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b Abs. 1 AsylVfG).

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.