Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 13. Mai 2015 - 7 B 352/15
Gericht
Tenor
Der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 5. März 2015 wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage - 10 K 3895/14 - gegen den Rücknahmebescheid vom 18. August 2014 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Wert des Streitgegenstands wird für beide Instanzen auf jeweils 9.000,00 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Sie führt zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
3Das Verwaltungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, die Interessenabwägung gehe zulasten des Antragstellers, da der sofort vollziehbare Rücknahmebescheid rechtmäßig sei; die den Betrieb der Aussengastronomie bewilligende Baugenehmigung vom 31. Januar 2014 sei mangels Nachweises, dass das Vorhaben unter Lärmgesichtspunkten dem Gebot der Rücksichtnahme entspreche, von Beginn an rechtswidrig gewesen.
4Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen führt zu dem Ergebnis, dass die Abwägung der Interessen gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu Lasten der Antragsgegnerin ausfällt.
5In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann. Ist es nicht möglich, die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache wenigstens summarisch zu beurteilen, so sind allein die einander gegenüber stehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einerseits und deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. März 2010 - 7 VR 1.10 -, juris.
7Ob der angegriffene Rücknahmebescheid rechtswidrig ist, erweist sich nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung als offen. Die danach maßgebliche folgenorientierte Interessensabwägung fällt in dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zugunsten des Antragstellers aus.
8Ob die Baugenehmigung vom 31. Januar 2014 im Hinblick auf die vorhabenbedingten Lärmeinwirkungen zum Nachteil der Anwohner gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt, wird erst im Hauptsacheverfahren festzustellen sein.
9Dies gilt zunächst für die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage der Wirksamkeit der Kerngebietsfestsetzung im Bebauungsplan der Antragsgegnerin und die dann ggf. notwendige Einschätzung, ob die maßgebliche nähere Umgebung einer (anderen) Gebietsart entspricht.
10Weiterhin wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein, in welchem Umfang Lärmeinwirkungen durch außengastronomische Betriebe oder Betriebsteile hinzunehmen sind. Dies ist in der Rechtsprechung bisher nicht abschließend geklärt. Für gemischte Betriebe, die - wie der Betrieb des Antragstellers - keine (reine) Freiluftgaststätte i. S. v. Nr. 1 Satz 2 Buchst. b TA Lärm darstellen, ist zunächst zu prüfen, inwieweit die im Freien befindlichen Betriebsteile der TA Lärm unterliegen.
11Vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 3. August 2010 - 4 B 9.10 -, BRS 76 Nr. 188.
12Geht man davon aus, dass die TA Lärm für außengastronomische Betriebsteile keine oder zumindest keine hinreichenden Vorgaben enthält, stellt sich die vom Verwaltungsgericht hier offen gelassene Frage, ob diese Betriebsteile ggf. einer - gemessen an der TA Lärm - strengeren Beurteilung unterliegen,
13in diesem Sinne das Senatsurteil vom 13. November 2009 - 7 A 146/08 -, BRS 74 Nr. 183, sowie OVG NRW, Beschluss vom 25. Juni 2008 - 10 A 2525/07 ‑, juris,
14oder ob die Prüfung vielmehr anhand der nordrhein-westfälischen Freizeitlärmrichtlinie (Messung, Beurteilung und Verminderung von Geräuschimmissionen bei Freizeitanlagen – RdErl. d. Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbrauchschutz – V-5-8827.5- (VNr.) v. 16.09.2009) vorzunehmen ist, die auf eine Erleichterung des Betriebs von Außengastronomie in den späten Abendstunden gerichtet ist.
15Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. August 2013- 7 B 314/13 -, juris; sowie Schröder/Broshinski, Gaststätten und Gaststättenlärm unter besonderer Betrachtung der Außengastronomie - Verfahren, Nachbarschutz, Lärmbeurteilung, NwVBl. 2013, 125.
16Zudem bedarf es dann - anhand des einschlägigen Regelwerks - einer Klärung im Hauptsacheverfahren, ob die vom genehmigten Betrieb der Außenterrasse mit 16,05 m² Grundfläche bei voller Auslastung ausgehenden Immissionen überhaupt geeignet sind, Nachbarrechte in relevanter Weise zu beeinträchtigen.
17Schließlich wird zu prüfen sein, ob die Ermessensbetätigung der Antragsgegnerin den gesetzlichen Anforderungen entspricht.
18Die danach vorzunehmende Interessenabwägung, die von offenen Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren ausgeht, ergibt, dass das Suspensivinteresse des Antragstellers das für die Vollziehung des Rücknahmebescheids sprechende Vollzugsinteresse überwiegt. Diese allgemeine Interessenabwägung orientiert sich an der grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers. Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Von dieser Wertung abzuweichen, sieht der Senat keine genügende Veranlassung. Dabei berücksichtigt der Senat die Vorgaben der Baugenehmigung vom 31. Januar 2014 als auch die Regelungen der Gaststättenerlaubnis vom 3. Februar 2014. Danach ist die Betriebszeit auf 8:00 Uhr bis 22:00 Uhr beschränkt, Musikdarbietungen in der Außengastronomie sind verboten und der Antragsteller hat für die Einhaltung eines Immissionsrichtwertes von 60 dB(A) Sorge zu tragen; auch eine Grillanlage im Freien ist nach dem Akteninhalt nicht zulässig. Es obliegt der Antragsgegnerin, die Einhaltung dieser Betriebsbedingungen in angemessener Weise zu überwachen.
19Hinreichende Anzeichen dafür, dass durch den so geführten Betrieb der Bereich gesundheitsschädlichen Lärms erreicht sein könnte, der bei Mittelungspegeln von mehr als 70 dB (A) tags und 60 dB(A) nachts beginnt,
20vgl. Senatsurteil vom 19. Dezember 2011 - 7 D 34/10.NE - m.w.N.
21vermag der Senat nach dem derzeitigen Sachstand - und unter Berücksichtigung der Schallmessung der Ingenieurgesellschaft X. und T. vom 8. Oktober 2014 - nicht zu erkennen.
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, § 63 Abs. 3 GKG.
23Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.
(2) Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5 000 Euro anzunehmen.
(3) Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend. Hat der Antrag des Klägers offensichtlich absehbare Auswirkungen auf künftige Geldleistungen oder auf noch zu erlassende, auf derartige Geldleistungen bezogene Verwaltungsakte, ist die Höhe des sich aus Satz 1 ergebenden Streitwerts um den Betrag der offensichtlich absehbaren zukünftigen Auswirkungen für den Kläger anzuheben, wobei die Summe das Dreifache des Werts nach Satz 1 nicht übersteigen darf. In Verfahren in Kindergeldangelegenheiten vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit ist § 42 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 entsprechend anzuwenden; an die Stelle des dreifachen Jahresbetrags tritt der einfache Jahresbetrag.
(4) In Verfahren
- 1.
vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit, mit Ausnahme der Verfahren nach § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung und der Verfahren in Kindergeldangelegenheiten, darf der Streitwert nicht unter 1 500 Euro, - 2.
vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und bei Rechtsstreitigkeiten nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht über 2 500 000 Euro, - 3.
vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit über Ansprüche nach dem Vermögensgesetz nicht über 500 000 Euro und - 4.
bei Rechtsstreitigkeiten nach § 36 Absatz 6 Satz 1 des Pflegeberufegesetzes nicht über 1 500 000 Euro
(5) Solange in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit der Wert nicht festgesetzt ist und sich der nach den Absätzen 3 und 4 Nummer 1 maßgebende Wert auch nicht unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten ergibt, sind die Gebühren vorläufig nach dem in Absatz 4 Nummer 1 bestimmten Mindestwert zu bemessen.
(6) In Verfahren, die die Begründung, die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses betreffen, ist Streitwert
- 1.
die Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Dienst- oder Amtsverhältnis auf Lebenszeit ist, - 2.
im Übrigen die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.
(7) Ist mit einem in Verfahren nach Absatz 6 verfolgten Klagebegehren ein aus ihm hergeleiteter vermögensrechtlicher Anspruch verbunden, ist nur ein Klagebegehren, und zwar das wertmäßig höhere, maßgebend.
(8) Dem Kläger steht gleich, wer sonst das Verfahren des ersten Rechtszugs beantragt hat.
(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anhörung der Parteien durch Beschluss vorläufig fest, wenn Gegenstand des Verfahrens nicht eine bestimmte Geldsumme in Euro ist oder gesetzlich kein fester Wert bestimmt ist. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Werts können nur im Verfahren über die Beschwerde gegen den Beschluss, durch den die Tätigkeit des Gerichts aufgrund dieses Gesetzes von der vorherigen Zahlung von Kosten abhängig gemacht wird, geltend gemacht werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.
(2) Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt. In Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen oder der Finanzgerichtsbarkeit gilt dies nur dann, wenn ein Beteiligter oder die Staatskasse die Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.
(3) Die Festsetzung kann von Amts wegen geändert werden
Die Änderung ist nur innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat.