Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 29. Okt. 2018 - 7/17

ECLI:ECLI:DE:LVGSH:2018:1029.1LV7.17.00
bei uns veröffentlicht am29.10.2018

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe

A.

1
1

Gegenstand der Wahlprüfung ist die Beschwerde eines Wahlberechtigten gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 13. Oktober 2017 über die Gültigkeit der Wahl zum 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 7. Mai 2017 (PlPr 19/12 zu Landtags-Drucksache Nr. 19/260).

I.

2
2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauteten zum Zeitpunkt der Landtagswahl:

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Artikel 4

4

Wahlen und Abstimmungen

5

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.

6

(2) […]

7

(3) Die Wahlprüfung und die Abstimmungsprüfung stehen den Volksvertretungen jeweils für ihr Wahlgebiet zu. Ihre Entscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung.

8

(4) Das Nähere regelt ein Gesetz.

9

Artikel 16

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Funktionen und Zusammensetzung des Landtages

11

(1) […]

12

(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

3
13

2. Das Wahlgesetz für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz - LWahlG) in der Fassung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. Dezember 2016 (GVOBl S. 999) regelte zum Zeitpunkt der Landtagswahl in § 1 LWahlG die Zusammensetzung des Landtages und das Wahlsystem in Schleswig-Holstein. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 LWahlG werden 35 Abgeordnete durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen (vgl. § 2 LWahlG), die übrigen – grundsätzlich – 34 Abgeordneten durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der Parteien auf der Grundlage der im Land abgegebenen Zweitstimmen und unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber gewählt.

4
14

Das weitere Verfahren zur Verteilung der auf die Landeslisten entfallenden Sitze war in § 3 LWahlG wie folgt geregelt:

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§ 3 LWahlG

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Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

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(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v. H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

18

(2) Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1) werden die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber einer Partei, für die keine Landesliste zugelassen oder die nicht nach Absatz 1 zu berücksichtigen ist, sowie die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen parteilosen Einzelbewerberinnen und Einzelbewerber (§ 24 Abs. 1) abgezogen.

19

(3) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste einer am Verhältnisausgleich teilnehmenden Partei abgegebenen gültigen Zweitstimmen zusammengezählt. Anhand der Gesamtstimmenzahl wird für jede ausgleichsberechtigte Partei nach der Reihenfolge der Höchstzahlen, die sich durch Teilung durch 0,5 - 1,5 - 2,5 usw. ergibt (Höchstzahlverfahren), festgestellt, wie viele der nach Absatz 2 verbleibenden Sitze auf sie entfallen (verhältnismäßiger Sitzanteil). Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das von der Landeswahlleiterin oder dem Landeswahlleiter zu ziehende Los.

20

(4) – (6) [...]

21

(7) Aus der Landesliste scheiden aus:

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1. Bewerberinnen und Bewerber, die in einem Wahlkreis unmittelbar gewählt sind,

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2. Bewerberinnen und Bewerber, die nach der Aufstellung der Landesliste einer Partei aus dieser ausgeschieden oder einer anderen Partei beigetreten sind.

5
24

3. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 7. Mai 2017 (Bekanntmachung des Landeswahlleiters vom 19. Mai 2017, ABl Nr. 24, S. 955 ff. <963>) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

25

auf die CDU

32,0 %,

auf die SPD

27,3 %,

auf BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN

12,9 %,

auf die FDP

11,5 %,

auf die PIRATEN

  1,2 %,

auf den SSW

  3,3 %,

auf die LINKE

  3,8 %,

auf die FAMILIE

  0,6 %,

auf die FREIEN WÄHLER

  0,6 %,

auf die AfD

  5,9 %,

auf die LKR

  0,2 %,

auf die PARTEI

  0,6 % und

auf die Z.SH

  0,3 %.

6
26

An der Verteilung der Sitze aus den Landeslisten nach § 3 Abs. 1 LWahlG nahmen die CDU, die SPD, die FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der SSW und die AfD teil.

7
27

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG aufgrund des Zweitstimmenergebnisses (ohne Mehrsitze nach § 3 Abs. 5 LWahlG)

28

auf die CDU

24 Sitze,

auf die SPD

20 Sitze,

auf BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN

10 Sitze,

auf die FDP

  9 Sitze,

auf den SSW

  2 Sitze und

auf die AfD

  4 Sitze.

8
29

Sämtliche der von der CDU und zehn der von der SPD errungenen Sitze wurden als Direktmandate besetzt und nach § 3 Abs. 4 LWahlG auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet. Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), die entstehen und verbleiben, wenn die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, fielen mit einem Sitz für die CDU an. Weitere Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG) fielen mit einem Sitz für die SPD, einem Sitz für den SSW und einem weiteren Sitz für die AfD an.

9
30

Keine Bewerberin und kein Bewerber, die oder der auf einer der Landeslisten der an der Wahl teilnehmenden Parteien stand, ist zuvor nach Aufstellung der Landesliste aus dieser Partei ausgeschieden oder einer anderen Partei beigetreten (§ 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG).

10
31

Mit Schreiben vom 19. Mai 2017, welches beim Landeswahlleiter am 23. Mai 2017 einging, erhob der Beschwerdeführer Einspruch gegen die Landtagswahl 2017. Er begründete seinen Einspruch damit, dass § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG insgesamt sowie die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG gegen die Landesverfassung beziehungsweise das Grundgesetz verstießen und insofern verfassungswidrig seien. Zudem machte er geltend, dass das Einspruchsverfahren beim Schleswig-Holsteinischen Landtag für Einsprüche gegen die Landtagswahl, die die Verfassungswidrigkeit von Wahlvorschriften behaupteten, subjektive Verfahrensrechte verletze.

11
32

Der Schleswig-Holsteinische Landtag wies – der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses (Landtags-Drucksache 19/250-B – 17/2, dort Anlage 2) folgend – den Einspruch mit Beschluss vom 13. Oktober 2017 zurück. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 25. Oktober 2017 zugestellt.

II.

12
33

Gegen den Beschluss des Landtages hat der wahlberechtigte Beschwerdeführer mit einer beim Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgericht am 18. Oktober 2017 eingegangenen Beschwerdeschrift und erneut mit einem beim Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgericht am 26. Oktober 2017 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde erhoben.

13
34

Der Beschwerdeführer beanstandet bereits das Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag in den Fällen, in denen die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften gerügt wird. Er ist der Auffassung, dass § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG verfassungswidrig sei, da die in dieser Norm enthaltene „5 %-Sperrklausel“ und die dort ebenfalls enthaltene „Grundmandatsklausel“ bisher nicht erkannte „widersinnige Wahleffekte“ ermöglichten und so die Grundsätze der Unmittelbarkeit, der Freiheit und der Gleichheit der Wahl verletzten, die in Art. 3 sowie Art. 28 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG), Art. 4 Abs. 1 LV und Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert seien.

14
35

Zur 5 %-Sperrklausel trägt der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten „negativen Stimmgewicht“ (Urteile vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 -, BVerfGE 121, 266 ff.; und vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 -, BVerfGE 131, 316 ff.; jeweils auch veröffentlicht bei Juris) vor, dass die Sperrklausel zu einem negativen Stimmgewicht führe und so die Unmittelbarkeit, Freiheit und Gleichheit der Wahl verletze. Er begründet dies anhand eines hinsichtlich der verglichenen Sitzverteilung allgemeinen Beispiels, anhand des Ergebnisses der Bundestagswahl 2013 und anhand der schleswig-holsteinischen Landtagswahl 1987. Dabei bezieht er sich auf die Definition eines die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzenden Stimmgewichts durch das Bundesverfassungsgericht in dessen Urteilen zu § 7 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 4 und 5 Bundeswahlgesetz (BWahlG) a.F. beziehungsweise § 6 Abs. 1 Satz 1 BWahlG a.F. Danach sei die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzt, wenn eine Zweitstimmenabgabe an eine Partei A erfolge, die weniger als 5 % der Zweitstimmen erzielt habe, und diese Stimmabgabe dazu führe, dass eine weitere Partei B aufgrund einer Erhöhung der Gesamtzweitstimmenzahl ebenfalls weniger als 5 % der Zweitstimmen auf sich vereinige und somit ebenfalls nicht an der Sitzzuteilung partizipiere, und so alle am Sitzzuteilungsverfahren partizipierenden Parteien mehr Sitze zugewiesen bekämen als ohne die Stimmabgabe für die Partei A. Die Wählerinnen und Wähler einer an der Sperrklausel scheiternden Partei würden in einem solchen Fall „erwartungswidrig“ zum Wahlerfolg einer anderen Partei durch Erhöhung der Anzahl der errungenen Sitze beitragen. Andererseits, so der Beschwerdeführer, könne das (gezielte) Fernbleiben der Wählerinnen und Wähler einer Partei von der Wahl durch die damit einhergehende Verringerung der Gesamtzahl der Zweitstimmen dazu führen, dass eine andere Partei deshalb nicht an der Sperrklausel scheitere. Aufgrund dessen sei es für die Wählerinnen und Wähler nicht absehbar, wie sich ihr Stimmverhalten auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und Wahlbewerber auswirken werde.

15
36

Auch die Grundmandatsklausel sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht verfassungswidrig. Ungeachtet dessen, dass bei der angefochtenen Wahl keine Partei aufgrund eines Grundmandates am Sitzzuteilungsverfahren teilgenommen habe, führe dies zu einem Wahlfehler mit Mandatsrelevanz; dies gelte insbesondere auch deshalb, weil ein taktisches Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler nicht ausgeschlossen werden könne.

16
37

Der Beschwerdeführer ist darüber hinaus der Ansicht, dass § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl verletzt. Diese Vorschrift missachte, dass Wählerinnen und Wähler mit ihrer Zweitstimme keine Partei, sondern den Wahlvorschlag einer Partei wählten. Eine Anwendung dieser Vorschrift könne dazu führen, dass ausgerechnet eine Wahlbewerberin beziehungsweise ein Wahlbewerber ausscheide, die beziehungsweise der für die Vergabe der Zweitstimme einer Wählerin oder eines Wählers ausschlaggebend gewesen sei. Auch dies führe zu einem Wahlfehler mit Mandatsrelevanz. Denn wenn im Laufe der Wahlperiode eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter ausscheide und die potentielle Nachrückerin beziehungsweise der potentielle Nachrücker inzwischen aus der betreffenden Partei ausgeschieden sei, könne die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG noch zur Anwendung gelangen.

17
38

Der Beschwerdeführer beantragt,

39

1. die Entscheidung des Landtages aufzuheben,

40

2. festzustellen, dass § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG (5 %-Sperrklausel und Grundmandatsklausel) bisher nicht erkannte widersinnige Wahleffekte ermöglicht und so die Grundsätze der Unmittelbarkeit der Wahl, der Freiheit der Wahl und der Gleichheit der Wahl verletzt, die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 4 Abs. 1 LV, Art. 3 GG und Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK verankert sind,

41

3. § 3 Abs. 1 LWahlG für nichtig zu erklären,

42

4. die Landtagswahl 2017 für ungültig zu erklären und gemäß § 46 LWahlG eine Wiederholungswahl anzuordnen,

43

5. § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG für verfassungswidrig und nichtig zu erklären und

44

6. festzustellen, dass das vorgeschriebene Einspruchsverfahren beim Landtag für Wahleinsprüche, die die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsvorschriften behaupten, absurd ist und gegen Europäisches Recht verstößt, da der Landtag entsprechende Einsprüche nicht überprüft. Das Ziel jeden Einspruchs, die gesetzlich richtige Zusammensetzung des Parlaments herzustellen, wird durch diese Verfahrensverzögerung sabotiert.

III.

18
45

1. Der Landtag hält die Wahlprüfungsbeschwerde – mit Ausnahme des Antrages zu Nr. 6, den er bereits für unzulässig hält – für unbegründet.

19
46

Nach seiner Auffassung ist § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG nicht verfassungswidrig. Der Beschwerdeführer interpretiere die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht falsch. Er übersehe, dass diese zum Sitzzuteilungsverfahren ergangen seien. Die Fragen der Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel beziehungsweise einer Grundmandatsklausel seien dem Sitzzuteilungsverfahren vorgelagerte Fragen; eine Verletzung der Grundsätze der Unmittelbarkeit, Gleichheit beziehungsweise Freiheit der Wahl sei insoweit nicht erkennbar.

20
47

Die von dem Beschwerdeführer dargestellten tatsächlichen Folgen der Sperrklausel seien zwar gegeben, der damit verbundene Effekt aber nicht widersinnig. Der Beschwerdeführer verkenne den Aussagegehalt der Vergabe einer Zweitstimme für eine Partei. Wie sich die Stimmabgabe einer Wählerin oder eines Wählers auf andere Parteien auswirke, sei nicht vorhersehbar und nicht vom Wahlrecht geschützt.

21
48

Soweit der Beschwerdeführer die Grundmandatsklausel angreife, führe dies nicht zu einem Erfolg der Wahlprüfungsbeschwerde, da bereits kein Wahlfehler mit Mandatsrelevanz erkennbar sei. Bei der Landtagswahl 2017 sei kein Grundmandat verteilt worden. Im Übrigen würde die Grundmandatsklausel auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Unbedenklich sei auch der vom Beschwerdeführer insoweit bemängelte Losentscheid.

22
49

Schließlich sei die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG nicht verfassungswidrig. Die Norm verletzte weder die Gleichheit noch die Unmittelbarkeit der Wahl. Da diese Regelung bei der Landtagswahl 2017 nicht zur Anwendung gelangt sei, bestehe auch keine Mandatsrelevanz.

23
50

2. Der Landeswahlleiter macht Bedenken gegen die Zulässigkeit der Wahlprüfungsbeschwerde nicht geltend, meint aber, dass sie in der Sache keinen Erfolg haben könne.

24
51

Die 5 %-Sperrklausel und auch die Grundmandatsklausel verstießen nicht gegen die Grundsätze der Unmittelbarkeit, Freiheit und Gleichheit der Wahl. Die Erwartungen der Wählerinnen und Wähler seien rechtlich nur insoweit relevant, als sie die Auswirkungen ihrer Stimmabgabe auf die von ihnen gewählte Partei beträfen.

25
52

Im Weiteren verletze auch die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG weder den Grundsatz der Unmittelbarkeit noch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Insbesondere der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl werde nicht verletzt, weil der Ausschluss einer Bewerberin beziehungsweise eines Bewerbers von einer Berücksichtigung im Sitzzuteilungsverfahren allein auf deren beziehungsweise dessen eigenem Willen beruhe.

26
53

Schließlich weist der Landeswahlleiter darauf hin, dass bei der angefochtenen Wahl weder die Grundmandatsklausel noch die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG zur Anwendung gekommen sei.

B.

27
54

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 13. Oktober 2017 über die Gültigkeit der Landtagswahl vom 7. Mai 2017 ist gemäß Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und Art. 51 Abs. 2 Nr. 6 LV, § 3 Nr. 5 Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG) die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben.

I.

28
55

Gegenstand der Wahlprüfung ist die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und Art. 51 Abs. 2 Nr. 6 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG)

56

(vgl. dazu bereits: Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, LVerfGE 24, 467 ff. = SchlHA 2013, 396 ff. = NordÖR 2013, 461 ff. und NordÖR 2014, 175 ff. = LSK 2013, 440643 = BeckRS 2013, 55851, Juris Rn. 36).

29
57

Etwaige formelle Mängel im Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag vermögen weder zur Annahme eines entscheidungserheblichen Wahlfehlers noch zur Zurückverweisung an den Landtag zu führen. In der Wahlprüfung ist der Streitgegenstand der Beschwerde nach § 43 Abs. 2 LWahlG vom Grundsatz her auf die Sachentscheidung des Landtages beschränkt. Sollten dem Landtag im Rahmen der Wahlprüfung Verfahrensfehler unterlaufen sein, wäre die Gültigkeit der Wahl grundsätzlich nicht betroffen. Dessen ungeachtet wären Mängel in dem durch den Landtag durchgeführten Verfahren der Wahlprüfung allenfalls dann beachtlich, wenn sie wesentlich wären und dem angegriffenen Landtagsbeschluss so seine Grundlage entzögen

58

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - Rn. 29 ff., SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff. = BeckRS 2010, 52268, Juris Rn. 33 ff.).

30
59

Entsprechende Verfahrensmängel sind nicht ersichtlich. Insbesondere stellt der offenbar mit dem Antrag zu 6. gerügte Umstand, dass der Landtag die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen nicht prüft, keinen Verfahrensmangel dar

60

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - Rn. 43 m.w.N., a.a.O., Juris Rn. 47 m.w.N.),

61

abgesehen davon, dass die weiteren in dem Antrag sinngemäß behaupteten Rechtsverletzungen weder vorliegen

62

(siehe zum Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag allgemein: Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - Rn. 34 ff., a.a.O., Juris Rn. 38 ff.)

63

noch Gegenstand einer Wahlprüfungsbeschwerde sein können.

31
64

Materieller Prüfgegenstand ist gemäß Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und Art. 51 Abs. 2 Nr. 6 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG die „Gültigkeit“ der Wahl. Das Wahlprüfungsverfahren ist dazu bestimmt, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Landtages zu gewährleisten. Eine Beschwerde nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 6 LV kann daher nur dann Erfolg haben, wenn sie auf Wahlfehler gestützt wird, die auf die Sitzverteilung von Einfluss sind oder sein können (Mandatsrelevanz). Dabei darf es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handeln; sie muss vielmehr eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende sein; Vermutungen oder rein spekulative Annahmen genügen nicht

65

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - Rn. 45 m.w.N., a.a.O., Juris Rn. 49 m.w.N.; Beschluss vom 20. Juni 2013 - LVerfG 6/12 - Rn. 8 m.w.N., SchlHA 2013, 375 ff. = BeckRS 2013, 53456, Juris Rn. 9 m.w.N.).

32
66

Das Landesverfassungsgericht prüft dabei allerdings nicht nur die richtige Anwendung des formellen und des materiellen Wahlrechts, sondern auch die Vereinbarkeit des Wahlrechts mit der Landesverfassung. Denn Voraussetzung einer gesetzmäßig durchgeführten Wahl ist auch, dass sich die für die Wahl maßgeblichen Bestimmungen selbst als verfassungsgemäß erweisen

67

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - Rn 77 m.w.N., a.a.O., Juris Rn. 81 m.w.N.).

33
68

Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Wahlprüfungsbeschwerde unzulässig (II.). Unabhängig davon wäre sie hinsichtlich der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG auch offensichtlich unbegründet (III.), so dass sie durch Beschluss zu verwerfen war, § 21 Satz 1 LVerfGG.

II.

34
69

1. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 LWahlG (Grundmandatsklausel) sowie des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG rügt. Zwar ist sie als fristgerecht eingelegte Beschwerde gegen die Entscheidung des Landtages vom 13. Oktober 2017 über die Gültigkeit der Landtagswahl vom 7. Mai 2017 statthaft und der Beschwerdeführer ist auch als Wahlberechtigter gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG beschwerdeberechtigt. Die Wahlprüfungsbeschwerde genügt insoweit jedoch nicht den Anforderungen, die nach § 49 Abs. 2 LVerfGG an ihre Begründung zu stellen sind.

35
70

Gemäß § 49 Abs. 2 LVerfGG sind Wahlprüfungsbeschwerden innerhalb der dort genannten Frist zu begründen. Eine ordnungsgemäße Begründung verlangt eine hinreichend substantiierte, mit Tatsachen unterlegte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus der erkennbar wird, worin ein Wahlfehler liegen soll

71

(Beschluss vom 23. März 2018 - LVerfG 8/17 - Rn. 5).

36
72

Im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde hat ein Beschwerdeführer nicht nur die Möglichkeit eines Wahlfehlers, sondern auch dessen Mandatsrelevanz substantiiert darzulegen. Es muss die nicht nur theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Rechtsverletzung und dem Ergebnis der angefochtenen Wahl dargelegt werden

73

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 - 2 BvC 46/14 -, NVwZ 2018, 648 ff., Juris Rn. 40).

37
74

Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht gerecht. Weder die Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 LWahlG (Grundmandatsklausel) noch die Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG ist im Zusammenhang mit der Landtagswahl 2017 zur Anwendung gelangt. Das behauptet der Beschwerdeführer auch nicht. Er trägt aber auch keine tatsächlichen Umstände vor, die die hinreichende Annahme einer nicht nur theoretischen Möglichkeit rechtfertigen würden, dass aufgrund der Anwendung der genannten wahlrechtlichen Regelungen ein anderes Wahlergebnis zustande gekommen wäre.

38
75

Im Hinblick auf § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 LWahlG genügt insbesondere die pauschale Behauptung, dass die Regelung einer Grundmandatsklausel ein taktisches Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler bedingt haben könnte, dem Begründungserfordernis nicht. Konkrete Anhaltspunkte hierfür trägt der Beschwerdeführer nicht vor. Vielmehr stellt er unter Hinweis auf die tatsächlichen Wahlergebnisse bloße Vermutungen zum Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler an. Seine weiteren Ausführungen zu den Gründen dafür, warum auch kleine Parteien gegebenenfalls Wahlkreiskandidatinnen oder -kandidaten aufstellen, sind hypothetisch und ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Wahlfehler mit tatsächlicher Mandatsrelevanz.

39
76

Auch hinsichtlich der Regelung des § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG erschöpft sich der Vortrag des Beschwerdeführers in dem Hinweis auf die rein theoretische Möglichkeit einer zukünftigen Anwendung dieser Regelung. Dies genügt nicht, um einen Wahlfehler mit Mandatsrelevanz in einer den Anforderungen des § 49 Abs. 2 LVerfGG entsprechenden Weise zu begründen.

40
77

2. Soweit mit der Wahlprüfungsbeschwerde unter Hinweis auf eine Verfassungswidrigkeit des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG (Sperrklausel) ein Wahlfehler gerügt wird, ist die Beschwerde ebenfalls unzulässig. Die Darlegungen des Beschwerdeführers genügen auch insoweit nicht den Anforderungen an eine hinreichende Begründung im Sinne des § 49 Abs. 2 LVerfGG.

41
78

Dies folgt daraus, dass die von dem Beschwerdeführer angegriffene Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG unverändert seit dem Jahr 2007 Bestand hat und sich das Landesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 - mit der Regelung einer 5 %-Sperrklausel sowie deren Auswirkungen befasst und diese für verfassungsgemäß gehalten hat

79

(Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, LVerfGE 24, 467 ff. = SchlHA 2013, 396 ff. = NordÖR 2013, 461 ff. und NordÖR 2014, 175 ff. = LSK 2013, 440643 = BeckRS 2013, 55851, Juris Rn. 77 ff.).

42
80

Vor diesem Hintergrund wäre eine Auseinandersetzung mit diesem Urteil erforderlich gewesen. Sind in einer Entscheidung des Landesverfassungsgerichts bereits alle wesentlichen Aspekte einer Rechtsfrage gewürdigt worden sind, ist es einem Beschwerdeführer zwar grundsätzlich unbenommen, in seinem Verfahren eine Überprüfung dieser Würdigung zu begehren, dafür muss er aber vernünftige und gewichtige Gründe anführen können. Daran fehlt es hier. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung lässt das Vorbringen des Beschwerdeführers gänzlich missen. Seine pauschal gehaltene Mutmaßung, dass das Landesverfassungsgericht die von ihm – dem Beschwerdeführer – als „widersinnig“ bezeichneten Effekte nicht erkannt habe (Beschwerdeschrift S. 19), genügt nicht. Das Landesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 - bereits berücksichtigt, dass die Sperrklausel Auswirkungen auf das Wahlverhalten und das Sitzzuteilungsverfahren haben kann

81

(vgl. dazu: Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, a.a.O. Rn. 83).

III.

43
82

Unabhängig von der Unzulässigkeit ist die Wahlprüfungsbeschwerde insoweit jedenfalls auch offensichtlich unbegründet.

44
83

1. Die Anwendung der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG bei der Landtagswahl 2017 führt zu keinem Wahlfehler. Die 5 %-Sperrklausel ist mit der Landesverfassung vereinbar, insbesondere führt die Regelung nicht zu einer Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit sowie der Unmittelbarkeit der Wahl.

45
84

Die Wahlgrundsätze in Art. 4 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestag gelten. Auf sie ist das Land nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Deshalb kann für die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden, soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG einen autonomen Spielraum. Die Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlgesetz gestaltet nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 LV das Nähere des in Art. 16 Abs. 2 Satz 1 LV als personalisierte Verhältniswahl festgelegten Wahlsystems aus. Dabei müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben. Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die in Art. 4 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen. Aus der Chancengleichheit der Parteien folgt für Verhältniswahlen, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind und dass jeder Partei und Wählergruppe grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden

85

(Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, LVerfGE 24, 467 ff. = SchlHA 2013, 396 ff. = NordÖR 2013, 461 ff. und NordÖR 2014, 175 ff. = LSK 2013, 440643 = BeckRS 2013, 55851, Juris Rn. 78 ff. m.w.N.).

46
86

Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Wahlverfahren, bei dem die Wählerin beziehungsweise der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Mandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und -bewerber auswirken kann; jede Stimme muss bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerberinnen oder -bewerbern zugerechnet werden. Für den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ist nicht entscheidend, dass die Stimme tatsächlich die von der Wählerin oder dem Wähler beabsichtigte Wirkung entfaltet; ausreichend ist die Möglichkeit einer positiven Beeinflussung des Wahlergebnisses

87

(vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 126).

47
88

Das Landesverfassungsgericht hat bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung die in § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG geregelte 5 %-Sperrklausel für vereinbar mit der Landesverfassung erachtet und ausdrücklich festgestellt, dass diese Klausel weder die Gleichheit der Wahl, noch die Chancengleichheit der Parteien verletzt. Sie findet ihre Rechtfertigung im verfassungslegitimen Ziel, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern

89

(Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, a.a.O. Juris Rn. 90 ff. m.w.N.).

90

Diese Rechtsprechung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Bundes- und Landtagswahlen

91

(vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 - 2 BvC 46/14 -, NVwZ 2018, 648 ff., Juris Rn. 67 m.w.N.).

48
92

Die Ausführungen des Beschwerdeführers – insbesondere zum sogenannten „negativen Stimmgewicht“ – geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel – auch im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer gerügten Effekte im Sitzzuteilungsverfahren

93

(vgl. hierzu: Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, a.a.O. Rn. 82 ff.) –

94

abzuweichen.

49
95

Der vom Beschwerdeführer zur Begründung der Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Wahl angeführte Umstand, dass die an sich auf eine an der Sperrklausel gescheiterten Partei entfallenden Sitze unter den in den Landtag einziehenden Parteien verteilt wird, ist weder ein neuer, bisher übersehener Effekt der Sperrklausel, noch begründet er die gerügte Verletzung. Die Rechtfertigung der Sperrklausel ist im Grundsatz unabhängig davon, wie viele Parteien mit welchem Ergebnis an der Sperrklausel scheitern. Es ist – soweit die Integrationsfunktion der Wahl nicht betroffen ist – nicht relevant, ob wenige Parteien knapp, viele Parteien deutlich oder einige deutlich und andere knapp an der Sperrklausel scheitern

96

(so im Hinblick auf die bundesrechtliche Lage: BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 - 2 BvC 46/14 -, NVwZ 2018, 648 ff., Juris Rn. 69).

50
97

Der vom Beschwerdeführer angesprochene Effekt ist eine Nebenfolge des Umstandes, dass im Verhältnisausgleichsverfahren gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG die vorhandenen Sitze unter den an dem Sitzzuteilungsverfahren teilnehmenden Parteien verteilt werden. Tatsächlich kann diese Nebenfolge den vom Beschwerdeführer gerügten Effekt haben, der hinzunehmen ist, solange die Sperrklausel verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Das ist der Fall.

51
98

Eine für die verfassungsrechtliche Beurteilung der in § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG geregelten 5 %-Sperrklausel relevante Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse ist nicht erkennbar. Dies gilt auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten „negativen Stimmgewicht“. Auf die vom Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bedarf es keines weiteren Eingehens. Das Urteil vom 3. Juli 2008  -- 2 BvC 1/07 u.a. - (a.a.O.) betraf die damals geltenden § 7 Abs. 3 und § 6 Abs. 4 und 5 BWahlG und stellte die Verfassungswidrigkeit dieser Normen im Hinblick auf den Effekt des negativen Stimmgewichts im Zusammenhang mit Überhangmandaten und der Möglichkeiten von Listenverbindungen fest. Das ebenfalls vom Beschwerdeführer zitierte Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 - (BVerfGE 131, 316 ff., Juris) betraf die Verfassungswidrigkeit des damals geltenden § 6 Abs. 1 BWahlG durch die Bildung von Ländersitzkontingenten nach Wählerzahl und den dadurch ermöglichten Effekt des negativen Stimmgewichts. Keine der genannten Regelungen des Bundeswahlgesetzes ist mit der Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG vergleichbar. Maßgeblich ist bei den den oben genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegenden Fallkonstellationen gewesen, dass die beabsichtigten positiven Wirkungen der Stimmabgabe in ihr Gegenteil verkehrt worden sind. Die rechtlichen Schlussfolgerungen des Bundesverfassungsgerichts in diesen Entscheidungen haben für die schleswig-holsteinischen Vorschriften und die diesbezügliche Entscheidung daher keine Relevanz; insbesondere stellen sie die nachfolgend ergangenen Feststellungen des Landesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 - (a.a.O.) nicht in Frage.

52
99

Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung der 5 %-Sperrklausel des § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 LWahlG könnte möglicherweise geboten sein, wenn der durch die Sperrklausel bedingte Ausfall von Stimmen einen Umfang erreichen würde, der zu einer Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl führen könnte

100

(vgl. BVerfG, Beschluss 19. September 2017 - 2 BvC 46/14 -, a.a.O. Rn. 71).

53
101

Um die Funktion der Wahl als einen Vorgang der Integration der politischen Kräfte sicherzustellen, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5 %-Sperrklausel zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat

102

(Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, LVerfGE 24, 467 ff. = SchlHA 2013, 396 ff. = NordÖR 2013, 461 ff. und NordÖR 2014, 175 ff. = LSK 2013, 440643 = BeckRS 2013, 55851, Juris Rn. 110 m.w.N.).

54
103

Dies ist auch bei der Ausgestaltung und Anwendung der Sperrklausel zu beachten. Eine Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl wird aber weder vom Beschwerdeführer substantiiert behauptet, noch ist sie in sonstiger Weise erkennbar.

55
104

2. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die Verfassungsgemäßheit von § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 LWahlG sowie § 3 Abs. 7 Nr. 2 LWahlG wendet, ist die Wahlprüfungsbeschwerde bereits deshalb offensichtlich unbegründet, weil die beiden Vorschriften im Zusammenhang mit der angefochtenen Wahl nicht zur Anwendung gelangt sind und keine nicht nur theoretische Möglichkeit besteht, dass diese Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt haben könnten.

IV.

56
105

Das Verfahren ist kostenfrei, außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 33 Abs. 1 und 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).


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(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Ni

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 28


(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben,

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(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) W

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Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Urteil, 30. Aug. 2010 - LVerfG 1/10

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Tenor § 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637), zuletzt geä

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(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Verfahrens sind die Beschwerden mehrerer Wahlberechtigter gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Wahl vom 6. Mai 2012 (Landtags-Drucksache 18/163, PlPr 18/7, S. 427 <429>).

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauteten zum Zeitpunkt der Landtagswahl:

3

Artikel 3

Wahlen und Abstimmungen

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.
(2) […]
(3) Die Wahlprüfung und die Abstimmungsprüfung stehen den Volksvertretungen jeweils für ihr Wahlgebiet zu. Ihre Entscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung.
(4) […]
4

Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung. Der Landtag wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Er übt die gesetzgebende Gewalt aus und kontrolliert die vollziehende Gewalt. Er behandelt öffentliche Angelegenheiten.
(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
5

Artikel 5

Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.
6

2. § 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz – LWahlG –) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) bestimmt:

§ 3

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) - (7) […]

7

3. Bereits die Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 (GVOBl 1950 S. 3) enthielt die seither unveränderte Regelung des heutigen Art. 5 Abs. 1 LV. Mit Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) ist Art. 5 Abs. 2 LV im Rahmen der Verfassungsreform auf Empfehlung des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ aufgenommen worden.

8

Die Vorschriften zur dänischen Minderheit in Art. 5 LV und in § 3 Abs. 1 LWahlG haben ihren Ursprung in der von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung mit Billigung des Schleswig-Holsteinischen Landtages abgegebenen Kieler Erklärung vom 26. September 1949 (GVOBl S. 183) und den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4). Letztere waren das Ergebnis von Beratungen der Dänischen Regierung und der deutschen Bundesregierung und bestanden aus je einer Erklärung der Bundesregierung im Einvernehmen mit der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung und der Dänischen Regierung. Der Deutsche Bundestag, der Schleswig-Holsteinische Landtag und das dänische Folketing haben diesen Erklärungen zugestimmt

(vgl. dazu im Einzelnen: Abdruck bei Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945, Frankfurt am Main, Berlin 1959, S. 71 ff.).

9

Sowohl die Kieler Erklärung als auch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen wurden mit dem Ziel abgegeben,

das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung beiderseits der deutsch-dänischen Grenze und damit auch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark allgemein zu fördern.

Sie bekräftigen, dass die Angehörigen der dänischen Minderheit wie alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 garantierten Rechte genießen. Schon in der Kieler Erklärung war unter anderem festgestellt worden, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist und von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden darf (a.a.O., S. 184, II. Nr. 1). Dieser Grundsatz wurde in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen übernommen (a.a.O., S. 5).

10

Der Gesetzgeber nahm erstmals mit § 3 Abs. 1 LWahlG vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) die Grundmandatsklausel, die 5%-Klausel sowie eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten in das Wahlrecht auf. Letztere beschränkte sich darauf, dass bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war.

11

Mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) wurden die Vorschrift über Parteien nationaler Minderheiten aufgehoben und die Sperrklausel auf 7,5% angehoben. Diese 7,5%-Klausel erklärte das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) für verfassungswidrig

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.).

Daraufhin wurde in § 3 Abs. 1 LWahlG vom 5. November 1952 (GVOBl S. 175) die bis heute geltende 5%-Klausel verankert.

12

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurden mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) die Parteien der dänischen Minderheit durch Einfügung des bis heute geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG von der 5%-Klausel ausgenommen.

13

Durch die Wahlrechtsänderung im Jahre 1997 (vgl. Gesetz zur Änderung des LWahlG vom 27. Oktober 1997, GVOBl S. 462) wurde die Zweitstimme bei Landtagswahlen eingeführt. § 3 Abs. 1 LWahlG ist im Wesentlichen unverändert geblieben; lediglich das Wort „Stimmen“ wurde durch „Zweitstimmen“ ersetzt.

14

4. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 6. Mai 2012 (Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

auf die CDU

        

30,8 %,

auf die SPD

        

30,4 %,

auf die FDP

        

 8,2 %,

auf die GRÜNEN

        

13,2 %,

auf die LINKE

        

 2,3 %,

auf den SSW

        

 4,6 %,

auf die PIRATEN

        

 8,2 %,

auf die FREIEN WÄHLER

        

0,6 %,

auf die NPD

        

 0,7 %,

auf die FAMILIE

        

 1,0 %

und auf die MUD

        

 0,1 %.

15

An der Verteilung der Sitze aus den Landeslisten nach § 3 Abs. 1 LWahlG nahmen die CDU, die SPD, die FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der SSW und die PIRATEN teil.

16

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG aufgrund des Zweitstimmenergebnisses

auf die CDU

        

22 Sitze,

auf die SPD

        

22 Sitze,

auf die FDP

        

 6 Sitze,

auf die GRÜNEN

        

 10 Sitze,

auf den SSW

        

 3 Sitze

und auf die PIRATEN

        

 6 Sitze.

17

Sämtliche der von der CDU und 13 der von der SPD errungenen Sitze wurden als Direktmandate besetzt und nach § 3 Abs. 4 LWahlG auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet. Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), die entstehen und verbleiben, wenn die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, fielen nicht an.

18

Gegen das bekanntgemachte Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 gingen bei der Landeswahlleiterin 35 Einsprüche ein, die überwiegend – mit unterschiedlicher Begründung – die Teilnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) an der Sitzverteilung für rechtswidrig hielten. Nach entsprechender Vorprüfung leitete die Landeswahlleiterin die Einsprüche zur Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Landtag an dessen Innen- und Rechtsausschuss als Wahlprüfungsausschuss weiter. Die Landeswahlleiterin teilte weder die in den Einsprüchen geltend gemachten Zweifel daran, dass der SSW eine Partei der dänischen Minderheit sei, noch diejenigen an der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 LWahlG. Zudem wies sie darauf hin, dass allein das Landesverfassungsgericht das Landeswahlgesetz verfassungsrechtlich überprüfen kann (Vorprüfungsbericht vom 13. Juli 2012, Landtags-Umdruck 18/45).

19

Am 5. September 2012 empfahl der Wahlprüfungsausschuss dem Landtag, die Einsprüche zurückzuweisen und das vom Landeswahlausschuss festgestellte und von der Landeswahlleiterin bekannt gegebene Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 6. Mai 2012 zu bestätigen (Landtags-Drucksache 18/163). Am 26. September 2012 beschloss der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, FDP, SSW und zwei Stimmen aus der Fraktion der PIRATEN, diese Empfehlung anzunehmen (PlPr 18/7, S. 427 <429>). Dies teilte der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages den Einspruchführenden jeweils mit Bescheid vom 27. September 2012 mit.

II.

20

Gegen den Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 haben die wahlberechtigte Beschwerdeführerin und die wahlberechtigten Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben, die das Gericht mit Beschluss vom 8. März 2013 unter dem Aktenzeichen LVerfG 9/12 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat. Sie begehren eine Aufhebung des Landtagsbeschlusses mit dem Ziel, die Landtagswahl zu wiederholen; die Beschwerdeführerin verlangt vorrangig eine Änderung des Beschlusses und eine Neufeststellung des Wahlergebnisses, bei der nur diejenigen Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5% der Zweitstimmen erzielt haben.

21

Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer sind der Auffassung, es sei schon zweifelhaft, ob überhaupt eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein existiere, weil Angehörige der dänischen Minderheit nicht erkennbar seien und eine Assimilation stattgefunden habe, bzw. die Anzahl der Angehörigen nicht nachgewiesen sei. Darüber hinaus machen sie geltend, der SSW sei jedenfalls keine Partei der dänischen Minderheit mehr, so dass die Befreiung von der 5%-Klausel nach § 3 Abs. 1 LWahlG nicht auf ihn anwendbar sei. Ob die überwiegende Zahl der Mitglieder des SSW der dänischen Minderheit angehöre, sei nicht bekannt, zumal selbst der Vorsitzende des SSW im Landtag Friese sei. Ein besonderer Einsatz für dänische Belange sei nicht mehr erkennbar, der SSW decke vielmehr alle Politikfelder ab und unterscheide sich nicht von anderen Parteien. Dies zeige die angestrebte und realisierte Regierungsbeteiligung. Der hohe Anteil an Zweitstimmen, die der SSW außerhalb seines ursprünglichen Tätigkeitsbereichs erzielt habe, belege, dass der SSW keine Partei der dänischen Minderheit mehr sei.

22

Darüber hinaus halten die Beschwerdeführer § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungswidrig. Der Grundsatz der Wahlgleichheit in seiner Ausprägung als Erfolgswertgleichheit sowie der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien würden durch die Befreiung von Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verletzt; seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts seien diese überprivilegiert. Ein zwingender Grund, der eine Differenzierung rechtfertigen kann, sei nicht gegeben. Weder könne ein solcher aus der Landesverfassung noch aus den Bonn-Kopenhagener Erklärungen hergeleitet werden. Ein Teil der Beschwerdeführer meint zudem, § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch gegen Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen seiner Abstammung oder Sprache bevorzugt oder benachteiligt werden darf.

III.

23

1. Der Landtag und die Landesregierung haben Stellung genommen. Sie halten übereinstimmend die Wahlprüfungsbeschwerden für unbegründet. Sie sind der Auffassung, dass der SSW gegenwärtig unverändert eine Partei der dänischen Minderheit ist. Der SSW trete auf vielfältige Weise für Ziele und Interessen der dänischen Minderheit ein, was sich aus seiner Satzung und seinem Programm ergebe. Gegen seine Einstufung als Minderheitenpartei spreche nicht, dass der SSW sämtliche Politikfelder abdecke. Er habe seit jeher zu allen Feldern der Landespolitik Stellung bezogen. Dass er nun auch außerhalb seines satzungsmäßigen Tätigkeitsgebiets Südschleswig und Helgoland wählbar ist, beeinträchtige nicht seine unverändert fortbestehende Verwurzelung in der dänischen Minderheit.

24

Nach Auffassung des Landtages und der Landesregierung sind sowohl die 5%-Klausel selbst als auch die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verfassungsmäßig. Beide verweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich das Landesverfassungsgericht zu eigen gemacht habe. Danach könnten „zwingende“ bzw. „zureichende“ Gründe eine Abweichung von der Gleichbehandlung der Wählerstimmen rechtfertigen.

25

Der Landtag stellt hierzu heraus, dass die 5%-Klausel gerechtfertigt sei, um die Funktionsfähigkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung zu sichern und zu stärken. Es genüge insoweit, wenn ohne Sperrklausel die Integrationswirkung der Wahl gefährdet werde und eine Funktionsstörung des Landtages durch Zersplitterung des Parteienspektrums wahrscheinlich sei. Dies sei heute ebenso gegeben wie bei der Einführung der 5%-Klausel. Eine Sperrklausel sei geeignet, schwere politische Krisen zu verhindern oder zumindest deren Folgen abzumildern. Dies betreffe sowohl die Regierungsbildung als auch die Gesetzgebung und die Aufstellung des Haushaltes. Diese Einschätzung werde durch den internationalen Vergleich mit Ländern mit niedrigerer oder ohne Sperrklausel bestätigt: Dort sei die Regierungsbildung häufig schwierig und langwierig.

26

Die Landesregierung hält die 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ebenfalls für verfassungsmäßig. Sie meint, es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Funktionsfähigkeit des Parlaments als zwingenden Grund für Sperrklauseln gegen parlamentarische Splitterparteien anzusehen. Es gehe insoweit um die Fähigkeit des Parlaments, seine Aufgaben der Gesetzgebung und der Regierungsbildung zu erfüllen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts zu Kommunal- und Europawahlen seien auf die Landtagswahl nicht übertragbar, weil der Landtag die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten wähle, die oder der auf das fortlaufende Vertrauen einer Mehrheit des Landtages angewiesen sei. Angesichts der tatsächlichen politischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein drohten eine Zersplitterung des Parlaments und dadurch eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, was sich anhand der Wahlergebnisse aus den Landtagswahlen von 2009 und 2012 belegen lasse.

27

Der Landtag und die Landesregierung halten die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungsgemäß. Der Landtag macht insoweit geltend, dass das verfassungsrechtlich legitime Ziel die politische Integration der dänischen Minderheit sei, die nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung hat. Da nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen unter dem Schutz des Landes steht, sei das Land zumindest berechtigt, wenn nicht verpflichtet, Parteien der dänischen Minderheit die Wahl in den Landtag als Mittel der politischen Mitwirkung zu erleichtern.

28

§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG stelle keine Privilegierung der dänischen Minderheit dar, sondern gleiche den Nachteil aus, dass dieser Teil der Wählerschaft nicht groß genug sei, um mit Sicherheit die 5%-Hürde zu überwinden. Die Sorge um gute Beziehungen Deutschlands und Schleswig-Holsteins zum Nachbarstaat Dänemark habe den Gesetzgeber bewogen, die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel auszunehmen. Zudem habe er durch die Einbeziehung der dänischen Minderheit in die politische Willensbildung Spannungen abbauen wollen, die auf Grund der besonderen Lage im Grenzgebiet entstanden seien und jederzeit wieder entstehen könnten. Dadurch habe der Gesetzgeber einen wesentlichen Teil seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV erfüllt. Die Integration der dänischen Minderheit in die Landespolitik komme im Sinne eines gutnachbarlichen, vertrauensvollen Verhältnisses der Volksgruppen zueinander und störungsfreier Beziehungen zu Dänemark allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes zugute.

29

Nach Auffassung des Landtages werden Parteien der dänischen Minderheit auch nicht dadurch übermäßig begünstigt, dass sie in den landesweiten Verhältnisausgleich einbezogen werden. Dies sei vielmehr Folge des schleswig-holsteinischen Zweistimmenwahlrechts, das im gesamten Landesgebiet einheitlich und uneingeschränkt gilt.

30

Die Landesregierung betont, dass der Landesgesetzgeber im Rahmen der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG einen autonomen Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems habe, so dass er das Teilgebot der Erfolgswertgleichheit in begrenzter Weise ausgestalten dürfe. Hier ergebe sich ein zwingender Grund für die wahlrechtliche Sonderregelung für Parteien der dänischen Minderheit zunächst aus Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, aber auch unmittelbar aus bundesrechtlichen Erwägungen. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der im Wahlrecht nicht gelte. Unabhängig davon wäre das Benachteiligungsverbot wegen der Abstammung aber auch tatbestandlich nicht einschlägig, weil die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht aus der Familiengeschichte der Person folge, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit.

31

2. Die Landeswahlleiterin vertritt in ihrer Stellungnahme – wie bereits im Vorprüfungsverfahren – die Auffassung, dass kein Anlass bestehe, die Anerkennung des SSW als Partei der dänischen Minderheit in Frage zu stellen. Sie meint, sowohl die Regelung über die 5%-Klausel als auch die Ausnahme hiervon für Parteien der dänischen Minderheit seien nicht verfassungswidrig.

32

3. Auch nach Auffassung des SSW im Landtag ist die Wahlprüfungsbeschwerde unbegründet. Er macht geltend, dass er weiterhin als Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen eine Partei der dänischen Minderheit sei und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Sperrklausel erfülle. Insbesondere führten weder die Befassung mit allgemeinen Themen noch seine Regierungsbeteiligung dazu, dass er die Eigenschaft einer Partei der dänischen Minderheit verloren habe. Dies folge schon aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Aufgabenspektrum einer Partei und dem Umfang des Mandats von Abgeordneten. Er trägt anhand seiner Programme und Aktivitäten im Landtag seit der 1. Wahlperiode vor, dass er seit jeher zu allen Politikfeldern Stellung bezogen habe. Darüber hinaus sei seine Verflechtung mit den Institutionen der dänischen Minderheit evident.

33

Nach Ansicht des SSW im Landtag hält § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Die Befreiung von der 5%-Klausel greife nicht in die Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien ein, sondern sei gerechtfertigt, um einen Nachteil auszugleichen. Hierzu verweist er auf mathematische Berechnungen. Der SSW sei keine Splitterpartei. Als legitime Gründe für seine Befreiung von der 5%-Hürde seien unter anderem Art. 5 Abs. 2 LV, die Integrationsfunktion der Wahlen und die Bindung der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins an die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen anzuführen. Gleich geeignete und weniger einschneidende Mittel, die angestrebten Zwecke zu erreichen, gebe es nicht. Die Gründe für die Befreiung von der 5%-Klausel überwögen den verhältnismäßig geringen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit.

34

4. Die FDP-Landtagsfraktion ist der Auffassung, dass eine Mandatszuteilung zugunsten des SSW nur mit einem Sitz erfolgen dürfe. Hierzu verweist sie auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten (Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungs-rechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013). Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV gewährleiste noch eindringlicher als das Grundgesetz den Grundgedanken der Wahlgleichheit. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei eine Rückausnahme von einer Einschränkung des wahlrechtlichen Gleichheits-grundsatzes (der 5%-Klausel) und müsse im Zusammenhang mit dieser beurteilt werden. Parteien der dänischen Minderheit würden durch die Regelung gegenüber anderen Parteien begünstigt. Eine solche Ungleichbehandlung könne nicht allgemein mit der Integrationsfunktion der Wahl begründet werden. Die Integration nationaler Minderheiten sei zwar ein legitimes Ziel der schleswig-holsteinischen Wahlgesetzgebung, jedoch nach Art. 5 Abs. 2 LV nicht geboten. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei geeignet, das legitime Ziel zu erreichen, jedoch nicht erforderlich. Eine auf Südschleswig beschränkte regionalisierte Regelung wäre ein milderes Mittel. Ebenso wäre es möglich, bei Unterschreiten der 5%-Klausel durch eine Partei der dänischen Minderheit diese nur mit der ersten Person auf der Landesliste am Verhältnisausgleich teilnehmen zu lassen. Die dänische Minderheit sei nicht wegen ihrer Stimmenzahl, sondern auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bezugspersonen wesentlich. Ihre Integration werde nicht weiter dadurch gestärkt, dass sie mit mehreren Abgeordneten vertreten sei.

35

5. Nach Auffassung der Piratenfraktion im Landtag ist die 5%-Klausel nicht mehr zu rechtfertigen, weil die Bildung von Regierungskoalitionen auch ohne 5%-Sperrklausel möglich bleibe. Dies bewiesen die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten, in denen die Sperrklausel nicht gelte. Dann wäre auch die Sonderregelung für den SSW beseitigt, ohne die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag zu erschweren.

B.

36

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 ist gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 3 Nr. 5 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (LVerfGG) die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben. Danach ist Gegenstand der Wahlprüfung die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG). Wahlberechtigte, deren Einsprüche der Landtag verworfen hat, sind zur Beschwerde befugt (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG).

C.

37

Die zulässigen Wahlprüfungsbeschwerden sind unbegründet. Der Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 ist rechtmäßig. Zu Recht hat der SSW mit 4,6% der gültigen Zweitstimmen am Verhältnisausgleich teilgenommen und ist mit drei Abgeordneten im Landtag vertreten. Das festgestellte Ergebnis der Landtagswahl ist nicht zu beanstanden. Weder hat die Rüge der fehlerhaften Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auf den SSW (I.) noch die der Verfassungswidrigkeit von § 3 LWahlG (II.) Erfolg.

I.

38

Aus der einfachgesetzlichen Anwendung des Wahlrechts ergeben sich keine Wahlfehler. Dabei hat das Landesverfassungsgericht die einschlägigen Normen selbst auszulegen und zum Maßstab der Wahlprüfung zu machen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 46, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 50; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -, BVerfGE 97, 317 ff., Juris Rn. 15 und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 90; Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 49 Rn. 34 m.w.N.).

39

Für die Wahl zum 18. Landtag wurde § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG zu Recht auf den SSW angewandt.

40

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten die in Satz 1 der Vorschrift geregelten Einschränkungen zur Teilnahme am Verhältnisausgleich – für eine Partei muss entweder in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden sein oder sie muss insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt haben – nicht für Parteien der dänischen Minderheit. Um eine Partei der dänischen Minderheit handelt es sich, wenn diese eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Parteiengesetz (PartG) ist (1.), es unverändert eine dänische Minderheit gibt (2.), und die Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen ist und weiterhin von ihr getragen und geprägt wird (3). Danach ist der SSW eine Partei der dänischen Minderheit.

41

1. Der SSW ist eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG. Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Sie müssen nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.

42

Diese Voraussetzungen erfüllt der SSW, der seit seiner Gründung 1948 regelmäßig zu Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag angetreten ist

(vgl. Kühl, Dänische Minderheitenpolitik in Deutschland, Südschleswigscher Wählerverband , in: Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 142 <147 ff.>).

43

2. Es gibt in Schleswig-Holstein auch unverändert eine dänische Minderheit. Ihre Existenz wird mit dem erst mit der Verfassungsreform durch das Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) aufgenommenen Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV anerkannt. Der Landesverfassungsgeber hat diese Regelung aktuell bestätigt, indem erden Anspruch auf Schutz und Förderung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV mit Gesetz zur Änderung der Landesverfassung Schleswig-Holstein vom 28. Dezember 2012 (GVOBl 2013 S. 8) um „die Minderheit der deutschen Sinti und Roma“ ergänzt, die Vorschrift die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe betreffend aber unverändert gelassen hat. Auch die Bundesrepublik Deutschland setzte bei ihrer Zustimmung zum Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 (BGBl 1997 II S. 1406) voraus, dass eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein besteht. Die Bundesregierung hat bei der Zeichnung des Rahmenübereinkommens am 11. Mai 1995 ausdrücklich erklärt, dass nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit sind (BGBl 1997 II S. 1418). Schließlich belegen die Minderheitenberichte der Landesregierung die unveränderte Existenz und Aktivität der dänischen Minderheit im Einzelnen

(zuletzt: Bericht der Landesregierung zur Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in der 17. Legislaturperiode (2009 – 2012) – Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37 ff.).

44

Zudem tritt die dänische Minderheit zum Beispiel durch ihre Schulen, den dänischen Kulturverein – den Sydslesvigsk Forening (SSF) – mit seinen Einrichtungen und Veranstaltungen sowie durch die in dänischer Sprache erscheinende Zeitung Flensborg Avis im nördlichen Schleswig-Holstein (Südschleswig) wahrnehmbar in Erscheinung.

45

3. Eine Partei ist dann eine Partei der dänischen Minderheit, wenn sie aus der Minderheit hervorgegangen ist und sie gegenwärtig personell von der Minderheit getragen wird sowie programmatisch von ihr geprägt ist

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 36; Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 4; Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG SH>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 13).

Diese Voraussetzungen treffen auf den SSW zum Zeitpunkt der Landtagswahl im Jahr 2012 zu. Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.

46

Die genannten Merkmale folgen bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, der besagt, dass die Einschränkungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG nicht für Parteien „der“ dänischen Minderheit gelten. Da der Gesetzgeber nicht Parteien „für“ die dänische Minderheit von der Sperrklausel ausgenommen hat, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, dass sich die von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG erfassten Parteien personell, thematisch und programmatisch ausschließlich an die dänische Minderheit richten müssten oder nur von ihren Angehörigen wählbar wären. Sowohl die Wählbarkeit und Wahl durch alle Wählerinnen und Wähler, also auch Nicht-Angehörige der Minderheit, als auch die Befassung mit allen politischen Themen gehören zudem notwendig zu einer Partei, wie dies bundesrechtlich durch Art. 21 GG und § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG zwingend vorgegeben ist; sie sind Ausdruck der den Parteien im demokratischen Gefüge zukommenden Integrationsfunktion. Ohne personelle und programmatische Prägung durch die dänische Minderheit aber wäre eine Partei ihr nicht zuzuordnen, weil ansonsten der im Gesetz vorgegebene Bezug zur Minderheit fehlte. Insofern muss die Partei aus der Minderheit hervorgegangen sein und von ihr auch gegenwärtig noch getragen und geprägt werden.

47

a) Der SSW ist als Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen. Er wurde 1948 als Partei der dänischen Minderheit in Südschleswig und der nationalen Friesen in Nordfriesland als Südschleswigscher Wählerverband gegründet. Zuvor hatte die britische Besatzungsmacht der dänischen Minderheit bereits den Status einer nationalen Minderheit und deren kultureller Organisation, dem SSF, für die Landtagswahl 1947 vorübergehend den Status einer politischen Partei zuerkannt. Nach der Landtagswahl wurde dem SSF die Anerkennung wieder entzogen, weil sich dieser dafür einsetzte, den nördlichen Landesteil an Dänemark anzuschließen bzw. als unabhängiges Territorium zu behandeln. Daraufhin wurde der SSW als politische Interessenvertretung der Minderheit neben dem fortan ausschließlich auf kulturellem Gebiet tätigen SSF geschaffen

(vgl. Kühl, a.a.O., S. 142 ff.; Kühn, a.a.O., S. 43 f. m.w.N.).

48

aa) Die enge Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit spiegelt sich auch in der geschichtlichen Entwicklung des § 3 LWahlG wider:

49

Die erste Fassung von § 3 LWahlG vom 31. Januar 1947 (ABl S. 95) enthielt keine Sonderregelung für nationale Minderheiten. Der SSF errang bei der Landtagswahl 1947 9,27% der insgesamt im Land abgegebenen gültigen Stimmen. Mit zwei Wahlkreiskandidaten (Wahlkreise Flensburg I Stadt und Flensburg II Glücksburg) und vier weiteren Sitzen, die er über die Landesliste erhielt, war er im Landtag vertreten

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 20. April und 18. Mai 1947 vom 8. August 1947, ABl S. 399).

50

Der sodann gegründete SSW, der Kandidaten nur in Südschleswig aufgestellt hatte, erzielte bei der Landtagswahl 1950 5,5% der Stimmen; er war mit zwei Direktkandidaten und zwei weiteren von der Landesliste gewählten Kandidaten in den Landtag eingezogen

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 9. Juli 1950 vom 17. Juli 1950, ABl S. 328).

51

Das Landeswahlgesetz vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) enthielt erstmals eine 5%-Sperrklausel und eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten, nach der bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war. Die Vorschrift bezog sich sowohl nach dem Verständnis des Gesetzgebers

(vgl. Landtags-Protokolle vom 21. Dezember 1949, S. 33 ff. und vom 27. Februar 1950, S. 48; dazu auch Kühn, a.a.O., S. 67 ff. m.w.N.)

als auch nach der Rechtsprechung des seinerzeit zuständigen Oberverwaltungsgerichts

(vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 19. Juni 1950 - II OVG A 243/50 -, OVGE MüLü. Band 2, S. 157 <173>)

auf den SSW.

52

Die mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) eingeführte 7,5%-Klausel hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 5. April 1952 (- 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.) wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin hat der Landtag das Wahlgesetz geändert und in § 3 Abs. 1 LWahlG anstelle der 7,5%-Klausel die 5%-Klausel verankert (LWahlG vom 5. November 1952, GVOBl S. 175).

53

Nachdem der SSW bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 nur 3,3 % der in Schleswig-Holstein abgegebenen Zweitstimmen erhalten hatte (bei der Bundestagswahl 1949 waren es 5,4 % und bei der Landtagswahl 1950 5,5 %), rief er erneut das Bundesverfassungsgericht an, weil er die 5%-Klausel im Landeswahlgesetz ohne Sonderregelung für Parteien einer nationalen Minderheit für verfassungswidrig hielt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 11. August 1954 (- 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff.) die Norm unbeanstandet gelassen.

54

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurde die noch heute geltende Fassung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG mit Gesetz vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) eingeführt. Diese Regelung war auf den SSW zugeschnitten worden

(vgl. Antrag der SSW-Fraktion vom 9. April 1954, Landtags-Drucksache 2/573, PlPr 82. Sitzung vom 27. April 1954, S. 1531 ff.).

55

bb) Dass der SSW sich seit Beginn seiner Tätigkeit auch als Vertretung der Friesen versteht, vermag hieran nichts zu ändern. Er ist aus den historisch miteinander verknüpften Bewegungen der nationalen Friesen und der dänischen Minderheit hervorgegangen. Dies war dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG bekannt und für ihn kein Hindernis, den SSW als Partei der dänischen Minderheit anzusehen

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 44 mit weiteren Ausführungen dazu).

56

b) Der SSW wird auch gegenwärtig personell von der dänischen Minderheit getragen und programmatisch von ihr geprägt.

57

aa) Die personelle Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit ergibt sich insbesondere aus der Doppelmitgliedschaft einer großen Anzahl von Personen, die sowohl im SSW als auch in den weiteren Organisationen der Minderheit engagiert sind. Diese arbeiten im Südschleswigschen Gemeinsamen Rat für die dänische Minderheit (Det Sydslesvigske Samråd) zusammen und stimmen ihr gemeinsames Vorgehen ab

(vgl. Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37).

58

Zu den Organisationen der dänischen Minderheit gehören neben dem SSW und dem SSF unter anderem die Dänische Kirche in Südschleswig (Dansk Kirke i Sydslesvig), der Dänische Schulverein für Südschleswig (Dansk Skoleforening for Sydslesvig), die Dänischen Jugendverbände in Südschleswig (Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger ), die Dänische Zentralbibliothek für Südschleswig (Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig), der Dänische Gesundheitsdienst (Dansk Sundhedstjeneste for Sydslesvig), die Dänische Volkshochschule (Jaruplund Højskole) und die Tageszeitung Flensborg Avis

(vgl. Minderheitenbericht 2011, a.a.O., S. 153 f.).

59

Nach Angaben des Landesverbandes des SSW sind von den 3.660 SSW-Mitgliedern 78 % gleichzeitig Mitglied im SSF, dem dänischen Kulturverein, und ca. 2% Mitglied im Friisk Foriining, dem friesischen Kulturverein. Viele seien zusätzlich Mitglieder in Skoleforening, SdU, Dansk Kirke usw., worüber keine Statistik geführt werde. Alle führenden Politikerinnen und Politiker des SSW seien Mitglied im dänischen Kulturverein oder übten dort Funktionen aus. Die große Mehrheit der Vorsitzenden und Hauptamtlichen der Organisationen der dänischen Minderheit seien jedenfalls Mitglied im SSW oder sogar in der Kommunalpolitik und Organisation der Partei aktiv

(vgl. Dossier 08 Dokument 01 der Stellungnahme des SSW zum Verfahren).

Spezifische Gründe dafür, diese Angaben zu bezweifeln, sind im Verfahren nicht vorgetragen worden.

60

bb) Der SSW ist auch programmatisch durch die Minderheit geprägt, was sich aus seiner Satzung, seinen Programmen und seinem Zusammenwirken mit den örtlichen Vereinigungen in seinem Tätigkeitsgebiet Südschleswig und Helgoland, dem angestammten Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, ergibt. Daran ändert weder die Wählbarkeit der Liste im ganzen Land noch die Wahrnehmung eines allgemeinen politischen Mandats etwas.

61

(1) In § 2 Nr. 2 der Satzung des SSW heißt es:

(...) Die Partei wirkt auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, ihrer Satzung sowie der Rahmen- und Aktionsprogramme an der politischen Willensbildung mit. Der SSW ist die politische Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen in Südschleswig und fühlt sich diesen besonders verpflichtet, will zugleich aber auch dem Wohl aller Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein dienen. Der SSW tritt für eine demokratische Lebens- und Gesellschaftsform ein, die von sozialer Gerechtigkeit, gegenseitiger Achtung und dem Respekt gegenüber den Mitmenschen nach nordischem Vorbild geprägt ist. Der SSW will an der Verständigung zwischen den Völkern und an der Zusammenarbeit in Europa mitwirken. Seine Politik ist frei und unabhängig.

62

Das Verständnis der nordischen Rechtstradition, das für das Wirken maßgebend ist, wird in den verschiedenen Programmen des SSW aufgegriffen. So beschreibt das seit dem 13. Februar 1999 geltende Rahmenprogramm, dass

(...) die Grundwerte des SSW (…) vor allem von unserem besonderen Standpunkt als Minderheitenpartei, von der regionalen Verankerung im Norden Schleswig-Holsteins und von unserer besonderen Verbindung zu den nordischen Ländern geprägt (werden).

63

Das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012 enthält einerseits Aussagen zur allgemeinen Landespolitik. Andererseits gibt es Belege einer ausdrücklich dänischen Ausrichtung wie etwa bei der Schulpolitik, der Hochschulzusammenarbeit, der Anerkennung von Berufsabschlüssen, bei grenzüberschreitenden Gesundheitsangeboten, dem Erfahrungsaustausch mit Grenzregionen und bei der Verkehrsinfrastruktur zur Anbindung an Dänemark

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 20 ff.).

Dazu gehört auch die Forderung, dass im Schulgesetz des Landes wieder die Förderung des Dänischen Schulvereins mit 100 % der öffentlichen Schülerkostenansätze verankert und dadurch die Gleichstellung der Kinder an den dänischen Schulen wiederhergestellt wird

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 50).

64

(2) Der SSW verliert seine Prägung auch nicht durch seine über eine spezifische Minderheitenpolitik hinausreichende Tätigkeit.

65

(a) Der Umstand, dass der SSW seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts durch Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) im gesamten Land wählbar ist, steht seiner Eigenschaft als Partei der dänischen Minderheit nicht entgegen.

66

Allein die Änderung des Wahlrechts kann den Status des SSW als Minderheitenpartei nicht beeinflussen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004 - 2 BvL 18/02 -, NVwZ 2005, 205 ff. = NordÖR 2005, 19 ff., Juris Rn. 25 ff.).

Es läge sonst in der Hand der Mehrheit, durch ein entsprechendes Wahlrecht den Status der Minderheitenpartei aufzuheben. Der SSW hatte sich im Übrigen ausdrücklich gegen die Wahlrechtsänderung ausgesprochen

(vgl. Landtags-Drucksache 14/39, PlPr 14/37, S. 2449 – Zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des LWahlG, Redebeitrag der Abgeordneten Spoorendonk –).

67

Zudem werden Direktkandidatinnen und Direktkandidaten des SSW für den Landtag seit 1997 – wie zuvor – nur in Südschleswig und im Wahlkreis Pinneberg Nord (Helgoland) aufgestellt, obwohl es dem SSW schon vor der Wahlrechtsänderung möglich gewesen wäre, in allen Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004, a.a.O., Juris Rn. 27 unter Hinweis auf Ausschussprotokoll 14/32 der vorbereitenden Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses vom 13. August 1997, S. 14 sowie die Beiträge im PlPr 14/37, S. 2445 ff.).

68

Die Wahlrechtsänderung hat somit zwar zu einer Wählbarkeit der Liste des SSW im ganzen Land geführt, dessen Charakter als Partei der dänischen Minderheit aber in der politischen Wirklichkeit nicht wesentlich verändert. Die verstärkte Wahrnehmung des SSW, die im gesamten Land durch die Wählbarkeit seiner Liste entstanden ist, reicht für einen solchen grundlegenden Wandel seines Charakters als Minderheitenpartei nicht aus.

69

(b) Einschränkungen der programmatischen Ausrichtung auf minderheitenspezifische Themen – wie dies die Beschwerdeführer für angezeigt hielten – widersprächen nicht nur dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG, sondern auch seinem Sinn und Zweck, mit dem die Vorgaben der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfüllt werden sollen () und die dänische Minderheit in das allgemeinpolitische Gemeinwesen der Mehrheit integriert werden soll (). Eine Beschränkung der Wählbarkeit des SSW auf Angehörige der Minderheit stünde zudem im Widerspruch zu den spezifischen landesverfassungsrechtlichen Regelungen, in deren Kontext die Vorschrift steht ().

70

(aa) Als Ergebnis der deutsch-dänischen Besprechungen hat das Auswärtige Amt in der Protokollerklärung zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4) unter I. Nr. 3 ausdrücklich ausgeführt:

Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat die Bundesregierung davon unterrichtet, daß sie bereit ist:

a) darauf hinzuwirken, daß der Schleswig-Holsteinische Landtag eine Ausnahmebestimmung von der 5%-Klausel in § 3 des Schleswig-Holsteinischen Landeswahlgesetzes zu Gunsten der dänischen Minderheit baldmöglichst beschließt; (…).

Dem ist der schleswig-holsteinische Gesetzgeber nachgekommen, indem er mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) den bis heute unverändert geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG eingefügt hat.

71

(bb) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG will entsprechend dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung die Repräsentanz der dänischen Minderheit als politisch bedeutsame Strömung im Parlament sichern.

72

Die Vertretung anerkannter nationaler Minderheiten ist stets politisch bedeutsam

(so auch BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff., Juris Rn. 34 und vom 13. Juni 1956 - 1 BvR 315/53 u.a. -, BVerfGE 5, 77 ff., Juris Rn. 22; Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

An der Behandlung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein nimmt die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere Dänemark, Anteil. Denn nachdem die Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Zeichnung und Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich erklärt hatte, dass unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik seien (BGBl II vom 29. Juli 1997 S. 1418), hat Dänemark seinerseits erklärt, dass das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten auf die deutsche Minderheit in Südjütland (Nordschleswig) im Königreich Dänemark Anwendung findet

(vgl. Erklärung Dänemarks vom 22. September 1997 zur Anwendung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Abdruck bei Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 553).

Durch die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag wird verhindert, dass diese sich eher einem anderen Staat (Dänemark) zugehörig fühlt, und dass durch Ausgrenzung separatistische Tendenzen entstehen. Zudem wird ermöglicht, dass die spezifischen Belange der nationalen Minderheit in den politischen Willensbildungsprozess einfließen und die von der Minderheit vertretenen Werte das Wirken des Parlaments beeinflussen können.

73

Eine Partei der dänischen Minderheit übt die ihr in der politischen Willensbildung zukommende Mittlerfunktion zwar für einen bestimmten Teil des Staatsvolkes – für diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die sich zur dänischen Minderheit bekennen – aus

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 14).

Da aber politische Auseinandersetzung und Einflussnahme einer Partei im Sinne von Art. 21 GG, dessen Grundsätze nicht nur im Bund, sondern unmittelbar auch in den Ländern gelten

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff. Juris Rn. 64 und vom 24. Januar 1984 - 2 BvH 3/83 -, BVerfGE 66, 107 ff., Juris Rn. 23 m.w.N., stRspr.),

immanent ist, muss eine Partei nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG das Ziel verfolgen, dauernd oder für längere Zeit im Bund oder Land auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen und an der Vertretung des gesamten Volkes im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag mitzuwirken

(vgl. Lenski, PartG, 1. Aufl. 2011, § 2 Rn. 7).

74

Programmatische Prägung durch die Minderheit bedeutet deshalb nicht, dass die Partei auf minderheitenspezifische Themen beschränkt werden könnte. Dem Integrationsanliegen wird nur Genüge getan, wenn die Partei der dänischen Minderheit sich nicht auf Partikularinteressen beschränkt; andernfalls wäre sie auch für die Minderheit selbst unwählbar, weil keine Teilhabe an der politischen Willensbildung angestrebt würde

(vgl. Pieroth, a.a.O., S. 28 f.).

75

Die Aussage des SSW, sich für alle Menschen in seinem Tätigkeitsgebiet einsetzen und zu allen Fragen der Landespolitik Stellung beziehen zu wollen, ist Ausdruck dieses Integrationsgedankens. Das legitime Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, wird auch von der dänischen Minderheit mitgetragen. Der Südschleswigsche Gemeinsame Rat wollte sich nach der Resolution vom 24. Januar 2011 für einen Regierungswechsel einsetzen. Dies kann als Aufforderung an den SSW seitens der dänischen Minderheit verstanden werden, sich an einem Regierungswechsel zu beteiligen.

76

(cc) Schließlich liefen Beschränkungen der Wählbarkeit dem Grundsatz der geheimen Wahl (Art. 3 Abs. 1 LV) und der Freiheit des Bekenntnisses zur Minderheit (Art. 5 Abs. 1 Halbs. 1 LV) zuwider. Da sowohl das Verlangen nach Offenbarung der gewählten Partei verboten ist

(vgl. Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 3 Rn. 71 ff.; Achterberg/ Schulte, in: von Mangoldt/ Klein/ Starck, Band 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 151 f.; Trute, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 65 ff.),

als auch eine Nachprüfung des nationalen Bekenntnisses anhand objektiver Kriterien wie etwa Abstammung oder Fremdsprachigkeit ausgeschlossen ist

(vgl. Abschnitt II Ziff. 1 der „Kieler Erklärung“ vom 26. September 1949, GVOBl S. 183 f.; von Mutius, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung, 1995, Art. 5 Rn. 5; Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10; Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 34 ff.; Lemke, Nationale Minderheiten und Volksgruppen im schleswig-holsteinischen und übrigen deutschen Verfassungsrecht, Kiel 1998, S. 242 ff.),

sind der Adressatenkreis der Parteitätigkeit und die Wählerschaft nicht im Einzelnen personell eingrenzbar.

II.

77

Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel ist mit der Landesverfassung vereinbar. Sie verletzt weder den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 LV) noch das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG) (1.). Auch die in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG festgelegte Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel ist nicht zu beanstanden. Insoweit ist Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im vorliegenden Kontext kein geeigneter Maßstab (2.). § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (3.).

78

1. Die Wahlgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestag gelten. Auf sie ist das Land nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Deshalb kann für die Auslegung von Art 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden, soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 90 m.w.N., LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 95).

79

a) Die Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlgesetz gestaltet nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV das Nähere des in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV als personalisierte Verhältniswahl festgelegten Wahlsystems aus. Dabei müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten ex ante betrachtet den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 91 ff., a.a.O., Juris Rn. 96 ff.; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41).

80

Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die in Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 42).

81

Aus der Chancengleichheit der Parteien folgt für Verhältniswahlen, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind und dass jeder Partei und Wählergruppe grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden

(vgl. BVerfGE, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris, Rn. 99, 103 und vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Rn. 79, 82; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 -, DVBl 2013, 304 ff. = NordÖR 2013, 156 ff., Juris Rn. 71, 72).

82

b) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG berührt die Wahlgleichheit in der Ausprägung als Erfolgswertgleichheit. Denn die 5%-Klausel bewirkt eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der 5%-Klausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die daran gescheitert ist. Wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überwindet, bleiben die für sie abgegebenen Stimmen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG bei der Zuteilung der Mandate unberücksichtigt. Die 5%-Klausel nimmt diesen Stimmen insoweit ihren Erfolgswert

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011 - Lv 4/11 -, NVwZ-RR 2012, 169 ff., Juris Rn. 200).

83

Zugleich wird durch die 5%-Klausel das Recht der Parteien auf Chancengleichheit berührt. Denn nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG werden von einer festen Zahl von 69 Sitzen – vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen – 34 nach dem Zweitstimmenergebnis proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwunden haben. So verfügen die im Landtag vertretenen Parteien über mehr Sitze als es ihrem Anteil an der Gesamtstimmenzahl entspricht, während die Parteien, die an der 5%-Klausel scheitern, nicht an der Sitzverteilung teilnehmen

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011, a.a.O., Juris Rn. 201).

84

c) Die Wahlgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt. Es geht um die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise

(BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 25 f., und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 97, stRspr.).

85

Differenzierungen der Wahlgleichheit bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Mit diesem Begriff ist nicht gemeint, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 142 ff., a.a.O., Juris Rn.148 ff.; so auch: BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 108 f. und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 87; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 78).

86

Da zwischen der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen ein enger Zusammenhang besteht, folgt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Chancengleichheit der Parteien ebenfalls den gleichen Maßstäben

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 86 m.w.N.).

87

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlgleichheit mit anderen verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 148).

Er hat sich bei der Bewertung, ob ein zwingender Grund von verfassungsrechtlichem Gewicht die Sperrklausel rechtfertigt, nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(vgl. BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 110 und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 89; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 80).

Er hat zu prüfen und zu beurteilen, ob eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist

(vgl. BVerfG, Urteile vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 92 und vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 126; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 102).

88

Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Gegebenheiten zu prüfen, ob die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens bezüglich der Regelung eines Quorums überschritten sind

(vgl. BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31ff., Juris Rn. 36).

Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht prüft daher lediglich, ob bei der Abwägung des Gesetzgebers und der ihr zugrundeliegenden Prognose die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber die am meisten zweckmäßige oder eine rechtspolitisch besonders erwünschte Lösung gefunden hat

(vgl. zum entsprechenden Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 63, stRspr.).

89

Sofern eine differenzierende Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, kann das Landesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung des Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet

(vgl. Urteil vom 30. August 2010, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151; BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Rn. 49, und vom 25. Juli 2012, a.a.O., Juris Rn. 63 m.w.N.)

oder im Ergebnis unangemessen die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt.

90

d) Nach diesen Maßstäben verletzt die 5%-Klausel nicht die Gleichheit der Wahl und nicht die Chancengleichheit der Parteien.

91

aa) Da die Sperrklausel nicht in der Landesverfassung sondern einfachgesetzlich in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelt ist

(vgl. Diskussion des schleswig-holsteinischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassungsreform 1990: Ausschussprotokolle Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“, z.B. Sitzung vom 21. April 1989 12/6, S. 18 ff. und vom 2. Juni 1989 12/11, S. 10),

bedarf es hoher Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Allein der Umstand, dass die Sperrklausel keinen unmittelbaren Verfassungsrang hat, macht sie jedoch nicht verfassungswidrig.

92

bb) Verfassungsrechtlich legitimierte Gründe, die der Wahlgleichheit die Waage halten können, sind die Funktionsfähigkeit des Landtages und die Integrationsfunktion der Parteien.

93

(1) Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist im Zusammenhang mit der 5%-Sperrklausel als Differenzierungsgrund bei Landtags- und Bundestagswahlen anerkannt. Dies ist begründet durch die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 151, a.a.O., Juris Rn. 158; vgl. auch BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 11. August 1954, a.a.O., Juris Rn. 36 f.; vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 28; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 52 ff., und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, VerfGHE BY 59, 125 ff., Juris Rn. 24; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, LVerfGE 6, 28 ff., Juris Rn. 10; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 – St 4/99 -, StGHE BR 6, 253 ff., Juris Rn. 55; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010- 2/09, StGH 2/09 -, NdsVBl 2011, 77 f., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteil vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, LKRZ 2012, 209 ff., Juris Rn. 36 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 47, 50; Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41).

94

Diese Einschätzung ist bundesdeutsche Verfassungstradition im Bund und in allen Ländern. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu acht der sechzehn Landtage in der Bundesrepublik Deutschland gilt die Sperrklausel auch, ohne in der Verfassung verankert zu sein

(§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG; § 3 Abs. 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz; § 5 Abs. 2 Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft; § 4 Abs. 1 Landeswahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern; § 33 Abs. 2 Landeswahlgesetz Nordrhein-Westfalen; § 38 Abs. 1 Saarländisches Landtagswahlgesetz; § 6 Abs. 1 Sächsisches Wahlgesetz; § 35 Abs. 3 Wahlgesetz des Landes Sachsen-Anhalt und § 3 Abs. 1 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein).

In den anderen acht Ländern ist die Sperrklausel durch die Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben

(Art. 14 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Bayern; Art. 39 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 75 Abs. 3 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 8 Abs. 3 Niedersächsische Verfassung und Art. 49 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Thüringen)

oder zugelassen

(Art. 28 Abs. 3 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 75 Abs. 3 Verfassung des Landes Hessen und Art. 80 Abs. 4 Verfassung für Rheinland-Pfalz).

95

Ihre Zulässigkeit für den Deutschen Bundestag und die Landtage ist bisher durch die Verfassungsgerichte bestätigt worden

(BVerfG, Urteile vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46, und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 53 ff.; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, a.a.O., Juris Rn. 24 f.; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, a.a.O., Juris Rn. 11 ff.; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 - St 4/99 -, a.a.O., Juris Rn. 54 ff.; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010, a.a.O., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteile vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, a.a.O., Juris Rn. 36 ff., und vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, U.A. S. 7 ff.).

96

Die Sperrklausel kann auch in Schleswig-Holstein weiterhin gelten. Denn die Annahme des Gesetzgebers ist hinreichend plausibel, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments nur gewährleistet ist, wenn durch stabile Mehrheiten die Regierungsbildung, Gesetzgebung und Aufstellung des Haushalts sichergestellt sind. Ohne Sperrklausel wäre zwar ein genaueres Abbild des Wählervotums im Parlament gegeben, es zögen aber mit größerer Wahrscheinlichkeit partikulare Interessen und nur einzelne Programmpunkte vertretende kleine Parteien in den Landtag ein. Bei einer Aufsplitterung der im Parlament vertretenen Kräfte wäre es hinreichend wahrscheinlich, dass die Handlungs- und Funktionsfähigkeit beeinträchtigt würde, weil stabile Mehrheiten, die kontinuierliches Arbeiten ermöglichen, nicht gewährleistet wären. Dadurch könnte die Demokratie gefährdet werden, in der Meinungen und Willensäußerungen des Volkes nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern auch in staatliches Handeln umgesetzt werden müssen.

97

Soweit dagegen angeführt wird, auch unter Einbeziehung von Kleinstparteien sei eine effektive Staatstätigkeit – ggf. mit stets wechselnden Mehrheiten – möglich, trifft dies auf den Landtag nicht zu. Insbesondere bei der Bildung und Tätigkeit der Regierung, die das dauernde Vertrauen des Landtages benötigt (Art. 35, 36 LV), und bei der Haushaltswirtschaft kommt es darauf an, dass sich im Landtag längerfristig verlässliche Mehrheiten mit einem kohärenten Programm bilden können. Auch aus diesem Grund ist eine fünfjährige Wahlperiode festgesetzt (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 LV).

98

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und von Landesverfassungsgerichten aus jüngerer Zeit, wonach die Sperrklauseln bei Kommunalwahlen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff. zu Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein; StGH Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 - St 2/08 - zur Sperrklausel in Bremerhaven, NordÖR 2009, 251 ff.; VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 - 22/05 - zu Kommunalwahlen in Thüringen, NVwZ-RR 2009, 1 ff. und LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 - zur Wahl zu den Bezirksversammlungen, NordÖR 2013, 304 ff.)

und bei der Wahl der deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff.)

für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist nicht auf das Landtagswahlrecht übertragbar. Denn sowohl bei Europawahlen als auch bei Kommunalwahlen besteht eine andere Interessenlage als bei Landtagswahlen. Die auf europäischer und kommunaler Ebene gewählten Vertretungen haben anders als der Landtag, der die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten zu wählen hat (vgl. Art. 26 Abs. 2 LV) und für die Gesetzgebung zuständig ist (vgl. Art. 37 Abs. 2 LV), keine vergleichbare Kreations- und Gesetzgebungsfunktion

(so auch Morlok/ Kühr, JuS 2012, 385 <391>).

99

Dem Bestreben, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, kann nicht entgegengehalten werden, die Gesetzgebungstätigkeit des Landtages sei von minderer Bedeutung

(so aber Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, S. 282 f.).

Die demokratisch gebundene und rechtsstaatlich verfasste Staatsgewalt der Länder wird in Art. 28 Abs. 1, Art. 30, 51, 70, 83, 92 und 109 GG ausdrücklich hervorgehoben. Die Gesetzgebung des Landes zum Beispiel im Haushaltsrecht, im Kommunalrecht, im Polizei- und Ordnungsrecht sowie im Schul- und Hochschulrecht ist notwendig, um die Aufrechterhaltung des Gliedstaates Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.

100

Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber für die Wahl zum Europäischen Parlament herausgestellt, es fehle an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, weil das Europäische Parlament keine Unionsregierung wähle, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre; ebenso wenig seien die Gesetzgebung der Union und die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 118).

101

Bezogen auf die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein hat das Bundesverfassungsgericht die 5%-Klausel für verfassungswidrig erklärt, weil diese nicht zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretungen und Kreistage erforderlich sei. Denn diese übten anders als staatliche Parlamente keine Gesetzgebungstätigkeit aus, für die klare Mehrheiten zur Sicherung einer politisch aktionsfähigen Regierung unentbehrlich seien. Die kommunalen Vertretungsorgane hätten auch keine Kreationsfunktion für ein der Regierung vergleichbares Organ und schließlich unterlägen ihre Entscheidungen der Rechtsaufsicht

(BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 123).

102

Beide Entscheidungen sind nicht unumstritten und zwar einerseits im Hinblick auf die wichtigen Funktionen des Europäischen Parlaments gerade nach dem Vertrag von Lissabon

(vgl. BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., abweichende Meinung, Juris Rn. 147 ff.; Schönberger, JZ 2012, 80 ff.; Geerlings/ Hamacher, DÖV 2012, 671 <675 ff.>)

und andererseits auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Gefahr der Zersplitterung, die eine gemeinwohlverträgliche Arbeit der kommunalen Volksvertretung etwa im Zusammenhang mit dem Erlass der Haushaltssatzung, der Grundlage gemeindlicher Politik, gefährden könnte

(vgl. Theis, KommJur 2010, 168 <169 ff.>).

103

(2) Legitimer Zweck der 5%-Klausel ist zudem die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44, 53),

um der Parteienzersplitterung vorzubeugen und funktionsfähige Verfassungsorgane bilden zu können

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 35; § 20 Rn. 8).

Insoweit wird die Integrationsfunktion der Parteien unterstützt, die durch die Sperrklausel angehalten werden sollen, Interessen und politische Strömungen zu bündeln und zu strukturieren.

104

cc) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

105

(1) Die 5%-Klausel ist geeignet, die mit ihr verfolgten legitimen Zwecke zu fördern, indem sie den vermehrten Einzug kleinerer und nicht auf stärkere Zustimmung angelegter Parteien in den Landtag verhindert.

106

(2) Die bisherige Einschätzung des Landtages, die 5%-Klausel sei auch in Zukunft erforderlich, um einer zu erwartenden Funktionsstörung des Landtages entgegenzuwirken, ist derzeit nicht zu beanstanden. Einerseits ist es neuen Parteien – etwa der Partei DIE LINKE in der 17. Wahlperiode und den PIRATEN in der 18. Wahlperiode – trotz der 5%-Klausel gelungen, in den Landtag einzuziehen. Andererseits hat die Hürde verhindert, dass daneben weitere kleinere Parteien mit einem oder zwei Sitzen in den Landtag eingezogen wären und zu einer Zersplitterung beigetragen hätten.

107

Die Einführung einer zweiten Listenstimme im Sinne einer Ersatz- bzw. Eventualstimme, die nur dann zu berücksichtigen wäre, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei unter der 5%-Klausel bliebe

(vgl. Linck, DÖV 1984, 884 ff.; Wenner, a.a.O., S. 412 ff.),

ist kein gleich geeignetes milderes Mittel. Denn dieses Modell bedeutete eine Änderung des Konzepts des geltenden Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl durch Verstärkung der Erfolgschancen der großen Parteien.

108

Es unterliegt vielmehr dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, ob zur Zweckerreichung eine 5%-Klausel, eine niedrigere Sperrklausel oder aber andere Milderungsmaßnahmen in Betracht kommen

(so auch Linck, a.a.O., S. 884 und von Arnim, DÖV 2012, 224 <225>, die die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel nicht bezweifeln und Milderungsmaßnahmen dem politischen Ermessen zuschreiben).

109

(3) Die Sperrklausel ist auch angemessen. Das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein hat eine Sperrklausel von 7,5% als unangemessen und eine Sperrklausel von 5% als angemessen angesehen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 152 ff.)

und diese Auffassung auch für den Deutschen Bundestag vertreten

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 54).

Das erkennende Gericht hält an dieser Auffassung für den jetzigen Zeitpunkt fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits die Notwendigkeit aufgezeigt, die Sperrklausel in der jeweiligen politischen Situation zu bewerten, als es ausgeführt hat, es müssten „ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen“

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, a.a.O., Juris Rn. 153).

110

Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5%-Hürde zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat

(BVerfG, Urteile vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90 und vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 64 m.w.N.).

Der Prüfpflicht kommt der Schleswig-Holsteinische Landtag auf Gesetzesinitiative der PIRATEN zur Abschaffung der 5%-Klausel (vgl. Landtags-Drucksache 18/385) derzeit nach, obwohl er noch im Rahmen der Novellierung des Kommunalwahlrechts im Jahre 2008 die 5%-Klausel bei Landtagswahlen bewusst unangetastet gelassen hatte (vgl. Landtags-Drucksache 16/1879, PlPr 16/79 vom 27. Februar 2008, S. 5736 ff.).

111

Da das Wahlrecht und der politische Prozess in einem Wechselverhältnis stehen, ist die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel einer empirischen Überprüfung allein mit den Mitteln der politischen Wissenschaften oder der Mathematik nicht zugänglich. Die Ergebnisse vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang zukünftiger Wahlen. Das geltende Wahlrecht wirkt auf die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten zurück. Insoweit bleibt die Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Sperrklausel eine wertende Prognoseentscheidung.

112

dd) Nichts anderes ergibt sich für die Auslegung des schleswig-holsteinischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl 1956 II S. 1880), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, und von Art. 25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte (BGBl II 1973 S. 1534), der das Recht gewährt, ohne Unterschied bei gleichen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten die Menschenrechtsübereinkommen im Range einfachen Bundesrechts. Sie sind bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – als Auslegungshilfen zu berücksichtigen. Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besonders zu berücksichtigen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, BVerfGE 111, 307 ff., Juris Rn. 30, 38).

113

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen einen weiten Spielraum der nationalen Wahlgesetzgebung anerkannt und unter anderem Sperrklauseln von 10% in der Türkei, 6% in Spanien und 5% in Lettland als vereinbar mit Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK angesehen

(vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juli 2008 - 10226/03 -, Yumak und Sadak ./. Türkei -, NVwZ-RR 2010, 81 ff.; EGMR, Entscheidung vom 7. Juni 2001 - 56618/00 -, Federación Nacionalista Canaria ./. Spanien, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, 433 <443>; EGMR, Entscheidung vom 29. November 2007 - 10547/07 u.a. -, Partija „Jaunie Demokrati“ u. Partija „Musu Zeme ./. Lettland, http://www.hudoc.echr.coe.int., unter „EN DROIT“ A.2 b>).

Dabei wurden jedenfalls keine strengeren Maßstäbe an die Rechtfertigung von Sperrklauseln angelegt als nach dem deutschen Verfassungsrecht.

114

2. Die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) verstößt nicht gegen Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.Ungeachtet der Frage, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Zusammenhang mit Landtagswahlen Anwendung findet, oder die Wahlrechtsgleichheit demgegenüber lex specialis ist

(vgl. Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 43),

ist die Norm schon tatbestandlich nicht einschlägig. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit im vorliegenden Kontext folgt jedoch weder aus der Abstammung oder Herkunft einer Person, noch aus ihrer politischen Anschauung, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit

(vgl. Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10).

Letzteres ist kein verbotenes Differenzierungskriterium im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

115

3. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG als Rückausnahme von der Einschränkung der Berücksichtigung aller Stimmen bei der Mandatsverteilung berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien (a). Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (b).

116

a) Die Zweitstimme derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei der dänischen Minderheit wählen, die im Ergebnis die Sperrklausel nicht erreicht, hat einen höheren Erfolgswert als eine Stimme, die für eine andere Partei abgegeben wurde, die die Sperrklausel ebenfalls nicht erreicht. Die für eine Partei der dänischen Minderheit abgegebene Zweitstimme wird in jedem Fall berücksichtigt, wenn die Partei so viele Stimmen erzielt, dass ihr bei der Sitzverteilung ein Mandat zugerechnet werden kann. Die Zweitstimme dieser Wählerinnen und Wähler wird mit den Stimmen gleich behandelt, die für die Parteien abgegeben werden, die die Sperrklausel überwinden.

117

Auch für eine Rückausnahme, das heißt für eine Ausnahme von einem zulässigen Quorum, gelten die oben unter C.II.1.c) (Rn. 84 ff.) beschriebenen Grundsätze der Zulässigkeit von Differenzierungen bei Vorliegen von Gründen, die durch die Verfassung legitimiert sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückausnahme ist der Kontext der Sperrklausel und ihrer Rechtfertigung zu berücksichtigen.

118

Das Bundesverfassungsgericht hat zur schleswig-holsteinischen Regelung entschieden, dass es dem Gesetzgeber freisteht, von einem zulässigen Quorum Ausnahmen zu machen, wenn ein zureichender Grund dafür gegeben ist

(BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff., Juris Rn. 37).

Innerhalb des Quorums ist es dem Gesetzgeber überlassen, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 47 ff.).

119

Dabei ist die konkrete politische Situation zu beachten, zu der die Existenz von nationalen Minderheiten und ihre regionale Verteilung gehören

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 146, 158 und vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

120

Auch in anderen Zusammenhängen hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von einer unterschiedslos für das Wahlgebiet geltenden Sperrklausel gefordert oder gebilligt. So hat es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl nach der Wiedervereinigung gefordert, dass der Gesetzgeber berücksichtigt, dass besondere Umstände ein Quorum unzulässig werden lassen können. Regelungen, mit denen der Gesetzgeber an einer Sperrklausel festhält, aber ihre Auswirkungen mildert, müssen ihrerseits mit der Verfassung vereinbar sein und den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit genügen

(BVerfG, Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Leitsatz 2b).

121

Die Grundmandatsklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, nach der eine Partei auch dann am Verhältnisausgleich teilnimmt, wenn sie in drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG = § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG a.F.), hat das Bundesverfassungsgericht als zulässige Ausnahme vom Quorum angesehen. Eine entsprechende Regelung ist – für den Erwerb eines Direktmandats – auch im schleswig-holsteinischen Wahlrecht in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG enthalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass der Zugang zum Sitzverteilungsverfahren auch von mehreren alternativen Hürden abhängig gemacht werden darf, soweit dadurch keine höhere Sperrwirkung als durch eine 5%-Klausel erzeugt wird. Eine weitere Zugangsmöglichkeit nimmt den durch eine Sperrklausel bewirkten Eingriff in die Wahlgleichheit teilweise zurück und schwächt dessen Intensität ab. Die weitere Differenzierung bewirkt eine neue Ungleichheit und bedarf daher ihrerseits rechtfertigender Gründe. Dabei kann allerdings die Abmilderung der Intensität der Sperrklausel in Rechnung gestellt werden

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn 45 f.).

122

Davon ausgehend bestehen an die Rechtfertigung von Ausnahmen von der Sperrklausel zumindest keine höheren Anforderungen als an die Rechtfertigung der Sperrklausel selbst. Die Ausnahme kann vielmehr dazu beitragen, die Legitimation der Sperrklausel selbst zu sichern, indem sie Wirkungen der Sperrklausel abmildert, durch welche die Integrationsfunktion der Wahl oder andere Verfassungswerte gefährdet werden

(vgl. zur Milderung der Auswirkungen der 5%-Klausel auf Bundesebene: BVerfG, Urteil vom 29. September 1990, Juris Rn. 68 ff.).

123

Zudem ist die Rückausnahme für die Parteien der dänischen Minderheit jedenfalls durch zwingende Gründe gerechtfertigt, die in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein verankert sind.

124

b) Die Regelung zugunsten von Parteien der dänischen Minderheit – derzeit des SSW – ist durch die Schutzpflicht des Landes für die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit nach Art. 5 Abs. 2 LV legitimiert (aa-bb) und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (cc).

125

aa) Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV stellt die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten unter den Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Der nationalen dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe wird der Schutz der politischen Mitwirkung, der ihnen schon nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV zusteht, durch Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ausdrücklich als „Anspruch auf Schutz“ und zudem als „Anspruch auf Förderung“ zugebilligt.

126

Die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit ist ein Verfassungsgut von hohem Rang, dessen Schutz und Förderung dem Land aufgegeben ist. Es ist insofern geeignet, den die Sperrklausel begründenden Erwägungen sowie dem Anspruch konkurrierender Parteien auf Gleichbehandlung die Waage zu halten und als hinreichender und zwingender Grund für eine Rückausnahme anerkannt zu werden. Ob es sich im Übrigen bei Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV um eine nur objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung handelt

(so Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 19; Wuttke, Verfassungsrecht, in: Schmalz/ Ewer/ von Mutius/ Schmidt-Jortzig, Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, Rn. 28),

oder ob sich aus dem Wortlaut („Anspruch“) auch ein subjektives Recht der Gruppe oder von Einzelnen ergibt

(so Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 156 ff. m.w.N.),

kann hier offen bleiben.

127

Im Sinne des Wahlrechts „zwingende“ Gründe sind nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen, sondern auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können, wie etwa die vormals in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 150).

128

Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ist die verfassungsrechtliche Verankerung der Mitwirkung und Integration der dänischen Minderheit nach dem im Jahre 1990 – bei Schaffung von Art. 5 Abs. 2 LV – vorgefundenen und erprobten Konzept des Wahlrechts. Die bereits seit 1955 geltende Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG hat dazu geführt, dass der SSW seitdem in sämtlichen Legislaturperioden im Landtag vertreten war.

129

Diese beiden Regelungen zunächst im einfachen Wahlrecht und später auch im Verfassungsrecht waren eine Reaktion darauf, dass eine politische Mitwirkung der Minderheit durch die Sperrklausel erschwert bzw. unmöglich war. Denn bei der Landtagswahl vom 12. September 1954 hatte der SSW weder die 5%-Hürde übersprungen noch ein Direktmandat erzielt

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 12. September 1954 vom 23. September 1954, ABl Nr. 40 S. 398 <401 f.>).

130

Aus den Materialien zu Art. 5 Abs. 2 LV ergibt sich, dass die in Absatz 2 Satz 1 geregelte Schutzbestimmung zugunsten der kulturellen Eigenständigkeit und zugunsten der politischen Mitwirkung speziell für die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe ausdrücklich festgeschrieben und für diese beiden Gruppen zudem ein Grundsatz der Förderung aufgestellt werden sollte. Darin sollte der verfassungspolitische Wille zum Ausdruck kommen, die historischen Gegebenheiten und die faktische Situation im Lande zu berücksichtigen

(Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses zur Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ vom 28. November 1989, Landtags-Drucksache 12/620 (neu), S. 34).

131

Aus den Protokollen des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ geht hervor, dass zunächst daran gedacht worden war, die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien der dänischen Minderheit in die Verfassung aufzunehmen, letztlich aber davon Abstand genommen wurde, weil die Sperrklausel selbst nicht in der Verfassung verankert ist (vgl. SoAVP 12/6 vom 21. April 1989, S. 19). Ausdrücklich wurden aber Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit aufgenommen (vgl. SoAVP 12/11 vom 2. Juni 1989, S. 10).

132

Der Zweck der effektiven Integration der dänischen Minderheit in das Staatsvolk kann rechtfertigen, dass die Wahlrechtsgleichheit berührt wird. Denn der Charakter der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung wird gesichert, wenn die Regelungen des Wahlrechts die parlamentarische Repräsentanz der politisch bedeutsamen Strömungen im Wahlvolk ermöglichen

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 35 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 55).

133

So hat das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche Sonderregelung als gerechtfertigt angesehen, weil sie der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments eröffnet, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt

(vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

134

bb) Dieses Verständnis von Art. 5 Abs. 2 LV wird durch die Einbindung Schleswig-Holsteins in die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland verstärkt. Art. 5 Abs. 2 LV ist im Lichte der völkerrechtlichen Bindungen des Bundes durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 und des Rahmenübereinkommens des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten (BGBl 1997 II S. 1406 ff. im Folgenden: Rahmenübereinkommen) auszulegen. Denn das Land Schleswig-Holstein ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 LV), der zur Bundestreue verpflichtet ist. Die Bundestreue besagt, dass im deutschen Bundesstaat das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht ist

(vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 - 2 BvG 1/60 u.a. -, BVerfGE 12, 205 ff., Juris Rn. 173).

135

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen haben nach der gleichzeitigen Bekanntmachung der Ergebnisse der deutsch-dänischen Besprechungen durch das Auswärtige Amt zum Inhalt, dass die Sperrklausel nicht zum Hindernis der politischen Mitwirkung der Minderheit werden darf (vgl. Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4).

136

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen sind keine völkerrechtlichen Verträge sondern von zwei Regierungen abgegebene einseitige Willenserklärungen

(vgl. Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 284),

die den auswärtigen Beziehungen des Bundes zuzurechnen sind. Solche Erklärungen können Bindungswirkung entfalten, wenn sie öffentlich und mit dem Willen zur Bindung abgegeben worden sind

(vgl. IGH , I.C.J. Reports 1974, 457 <472 f.>).

Eine solche Bindungswirkung ist nach dem Wortlaut der Erklärungen anzunehmen, zumal sich beide Regierungen bei ihrer Abgabe auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Gebot des Minderheitenschutzes nach Art. 14 EMRK (BGBl 1952 II S. 690) berufen haben. Das Land Schleswig-Holstein ist indirekt daran beteiligt gewesen und aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue weiterhin daran gebunden.

137

Der Bundesgesetzgeber hat den Inhalt der Bonn-Kopenhagener Erklärungen in die geltenden Verpflichtungen eingeordnet und sich fortdauernd gebunden. Die bereits seit dem Bundeswahlgesetz von 1953 bestehende Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien nationaler Minderheiten, die aus außenpolitischen Erwägungen im Zusammenhang mit der dänischen Minderheit in Südschleswig eingeführt worden war

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2008, § 6 Rn. 47),

besteht seitdem unverändert und wurde zuletzt in der Fassung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) in § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG beibehalten.

138

Auch die Bundesregierung fühlt sich den Bonn-Kopenhagener Erklärungen weiterhin verpflichtet. Die Bonner Erklärung vom 29. März 1955 sowie die Kieler Erklärung vom 26. September 1949 sind im Jahre 1997 in der Denkschrift der Bundesregierung zum Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich in Bezug genommen worden (vgl. Bundestags-Drucksache 13/6912, S. 21 ff.).

139

Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern und in dieser Hinsicht in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten zu berücksichtigen. Das Rahmenübereinkommen ist als internationaler Vertrag ein rechtsverbindliches Instrument

(vgl. Klebes, EuGRZ 1995, 262 <264>),

das als Bundesrecht unmittelbar gilt

(vgl. Achter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen vom 16. Juli 2008, Bundestags-Drucksache 16/10037, S. 79 f.).

140

Nach Art. 1 des Rahmenübereinkommens und seinen Begründungserwägungen ist der Schutz nationaler Minderheiten Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Rahmenübereinkommen ist, nicht anders als die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bei der Auslegung nationalen Rechts, auch nationalen Verfassungsrechts, zu berücksichtigen (vgl. oben unter C.II.1.d>dd> ).

141

Das Rahmenübereinkommen wurde im Hinblick auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Protokolle dazu abgeschlossen. Insoweit ist das Rahmenübereinkommen auch zur Interpretation des Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (BGBl 1956 II S. 1879), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, heranzuziehen. Da die Bundesregierung und die Dänische Regierung bereits die Bonn-Kopenhagener Erklärungen in den Kontext der in Art. 14 EMRK enthaltenen Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung nationaler Minderheiten gestellt haben, haben sie insoweit auch eine Abwägung auf Ebene der Menschenrechte vorgenommen.

142

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zuletzt in einer Entscheidung zum rumänischen Wahlrecht keine Bedenken gegen eine Berücksichtigung nationaler Minderheiten im Wahlrecht erkennen lassen und ausgeführt, dass diese in mehreren europäischen Ländern praktiziert wird

(vgl. EGMR, Urteil vom 2. März 2010 - 78039/01 -, Grosaru ./. Rumänien, unter www.echr.coe.int/hudoc).

143

Auch wenn die in dem Abkommen festgelegten Grundsätze keine unmittelbar geltenden Rechtssätze, sondern Handlungsaufträge für die Unterzeichnerstaaten sind (vgl. Art. 19 des Rahmenübereinkommens), bestätigen sie doch, dass Minderheitenschutz nicht auf die Gewährung formaler Gleichheit beschränkt ist, sondern ausgleichende und fördernde Maßnahmen einschließt

(ebenso VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Juni 1998 - 27/97 -, LVerfGE 8, 97 ff., Juris Rn. 120).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und insbesondere Satz 2 LV entsprechen diesem Auftrag.

144

Ein Beispiel für die Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen und die Bindung an die Bonn-Kopenhagener Erklärungen liefert die Antwort der Bundesregierung vom 14. Februar 2008 auf eine Kleine Anfrage zur finanziellen Unterstützung für den Bund Deutscher Nordschleswiger. Darin teilt die Bundesregierung unter anderem unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens mit, dass die finanzielle Förderung der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig/ Dänemark auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfolge (vgl. Bundestags-Drucksache 16/8093, S. 2).

145

In der laufenden Wahlperiode hat sich die Bundesregierung erneut ausdrücklich zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen bekannt (Staatsministerin im Auswärtigen Amt Pieper am 7. Juli 2010, Bundestags-PlPr 17/54, S. 5537 f.).

146

cc) Die Regelung durch § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

147

Das Gericht prüft neben der Frage, ob die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, lediglich, ob die Regelung zur Erreichung dieses Zieles geeignet ist, nicht das Maß des Erforderlichen überschreitet und angemessen ist; denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele wie die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 49 m.w.N.).

148

Mit welcher Regelung der Verfassungsauftrag erfüllt wird, ist vom Gesetzgeber einzuschätzen. Er hat auch die Pflicht zu beobachten, wie sich die Regelung auswirkt, ob sie im Kontext der wahlrechtlichen Regelungen und der tatsächlichen Verhältnisse geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen, und ob zugleich andere Grundsätze des Wahlrechts nicht unangemessen beeinträchtigt werden (siehe oben C.II.1.c> entsprechend zur Sperrklausel). Angesichts des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers und der von ihm zu wählenden Gesamtsystematik des Wahlrechts kann das Gericht nicht seine eigene Einschätzung von einer zweckmäßigeren Lösung an dessen Stelle setzen, sondern hat nur zu kontrollieren, ob entweder die politische Mitwirkung der Minderheit nicht mehr hinreichend geschützt wird oder ob die dazu genutzte Regelung außer Verhältnis zur Beeinträchtigung anderer Wahlrechtsgrundsätze steht.

149

(1) Die Regelung ist geeignet, den angestrebten Zweck zu erfüllen. Sie hat seit ihrem Bestehen die politische Mitwirkung der dänischen Minderheit gesichert.

150

(2) Sie ist auch erforderlich. Ein anderes gleich geeignetes Mittel ist in der gegebenen Systematik des Wahlrechts nicht ersichtlich. Die gegenwärtige Regelung verwirklicht den in Art. 3 und 10 LV enthaltenen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl und hebt nur dessen Einschränkung durch die nicht in der Verfassung geregelte Sperrklausel auf. Die Regelung sichert den Parteien der Minderheit die Möglichkeit, auch unter den Bedingungen eines regional und personell beschränkten Aktionsradius für ihre Anschauungen zu werben und stärkere Zustimmung zu ihrer Politik auch in entsprechende Mandate umzusetzen, ohne dass sie dafür die 5%-Klausel überwinden müssen. Diese Möglichkeit würde durch eine Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat verkürzt. Eine solche würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern wie die jetzige Regelung, bei der die Zahl der Abgeordneten vom Zuspruch bei den Wahlen abhängt.

151

Die Beschränkung auf ein Mandat würde zudem die Repräsentanz einer Partei der Minderheit in der arbeitsteiligen Parlamentsarbeit, insbesondere in den Ausschüssen des Landtages, einschränken. Die Möglichkeit, Einfluss auf Regierungsbildung, Gesetzgebung und Haushalt zu nehmen und Wahlkreisarbeit zu leisten, wäre geringer. Außerdem könnte eine Partei bei einer stark verminderten Chance, ein zweites oder drittes Mandat zu erringen, die Wählerinnen und Wähler der Minderheit weniger gut durch ein zum Beispiel nach politischen Strömungen innerhalb der Minderheit, Regionen oder Geschlechtern ausgewogenes Personalangebot ansprechen, sondern wäre darauf verwiesen, sich durch eine Person repräsentieren zu lassen. Die Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat würde das dem jetzigen Wahlrecht zu Grunde liegende Konzept von Schutz und Förderung politischer Mitwirkung der Minderheit nicht mehr ausfüllen. Entsprechend kann das Gericht es nicht als gleich geeignetes „milderes Mittel“ zum Schutz und zur Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit ansehen. Ob und in welcher Form ein solches anderes Wahlrecht das Verfassungsgebot von Art. 5 Abs. 2 LV erfüllen würde, war hier nicht zu entscheiden.

152

Die Beschränkung der Befreiung von der 5%-Klausel auf ein Siedlungsgebiet der Minderheit wäre ebenfalls kein gleich geeignetes Mittel, um einer auf das ganze Land bezogenen Minderheitenposition gerecht zu werden. Da der Landtag auf das gesamte Gebiet des Landes hin ausgerichtet und insoweit verantwortlich ist, ist das Vorhandensein einer originären dänischen Minderheit in Südschleswig maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Entscheidung des Landesgesetzgebers, alle Teile des Landes bei der Wahl zum Landtag in die Sonderregelung einzubeziehen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 - als obiter dictum, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff. = BVerfGK 5, 96 ff., Juris Rn. 40).

153

Wollte man eine Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit auf den nördlichen Teil des Landes beschränken, forderte man ein anderes Wahlsystem

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005, a.a.O., Juris Rn. 41; Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 39),

dessen Einführung allein dem Gesetzgeber obläge. Im Übrigen wird auch im Bundeswahlrecht die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien nationaler Minderheiten nicht auf deren Siedlungsgebiet beschränkt (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG).

154

(3) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch angemessen im Verhältnis zur Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit anderer kleiner Parteien im Vergleich zu den Parteien der dänischen Minderheit. Während für die Befreiung der Minderheitenparteien Gründe von Verfassungsrang aus Art. 5 Abs. 2 LV sprechen, unterliegen die anderen kleinen Parteien der legitimen Beschränkung durch die Sperrklausel, haben aber als (potenziell) landes- und bundesweit tätige und auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft bezogene Parteien die jeweils gleiche Chance, diese Hürde zu überschreiten.

155

Die Angemessenheit der Sonderregelung könnte dann entfallen, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch Regelungen im Wahlrecht oder Veränderungen der politischen Wirklichkeit keinen Nachteil mehr hätte, der ausgeglichen werden müsste.

156

Dass der SSW in den letzten Jahrzehnten seinen Stimmenanteil bei Landtagswahlen steigern konnte und dass möglicherweise ein Teil der für ihn abgegebenen Stimmen von Personen kam, die sich nicht oder nicht fest der dänischen Minderheit zurechnen, spricht nicht gegen die Angemessenheit der geltenden Regelung. Der SSW ist seit 1955 bisher landesweit immer unter 5% der Stimmen geblieben. Bei insgesamt beweglicherem Wahlverhalten mag die Bereitschaft in der Wählerschaft steigen, einer Partei der dänischen Minderheit die Stimme zu geben. An der im Vergleich zu anderen Parteien regionalen und personellen Einschränkung ändert sich dadurch nichts.

157

Es wird weiterhin diskutiert, ob die durch das Zweistimmenwahlrecht notwendig eingetretene Wählbarkeit des SSW im ganzen Land die Angemessenheit der geltenden Regelung beeinflusst. Der durch das Einstimmenwahlrecht vor 1997 bestehende Nachteil als Partei einer Minderheit, die nur in den Wahlkreisen ihres Tätigkeitsgebiets wählbar war, besteht nicht mehr in gleicher Weise. Die durch die im ganzen Land wählbare Liste entstandenen Chancen haben diesen Nachteil abgemildert, aber nicht entfallen lassen. Der SSW ist als eine Partei der dänischen Minderheit weiterhin nach Satzung, Parteiorganisation, Teilnahme an der Kommunalpolitik und Wahlkreiskandidaturen nur in Südschleswig und auf Helgoland vertreten. Der SSW kandidiert direkt nur in elf von 35 Wahlkreisen, in acht von diesen erzielt er mehr als 5% der Zweitstimmen. Die meisten seiner Zweitstimmen erzielt er in diesem Gebiet

(vgl. Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersichten 3 und 4).

158

Soweit das Zweistimmenwahlrecht als Problem für eine möglichst schonende Regelung zum Minderheitenschutz im Wahlrecht angesehen wird, ist im Übrigen anzumerken, dass das Zweistimmenwahlrecht zwar trotz der mit ihm verbundenen Gefahr von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine legitime Gestaltung des Wahlrechts ist, das Zweistimmenwahlrecht aber anders als der Minderheitenschutz keinen Verfassungsrang hat. Angesichts des Stellenwertes des Minderheitenschutzes in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ist diese Folge des Zweistimmenwahlrechts hinzunehmen, solange ein solches Wahlrecht besteht.

159

Eine Änderung in der politischen Wirklichkeit, die eine veränderte Beurteilung auslösen könnte, würde eintreten, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch innere Verknüpfung mit regional und politisch in der Mehrheitsgesellschaft verankerten Strömungen den durch die Sperrklausel entstehenden Nachteil so ausgleichen könnte, dass es einer wahlrechtlichen Regelung nicht mehr bedürfte. Dies wäre möglich, wenn eine Partei der dänischen Minderheit neben ihrer Verankerung in der Minderheit regional und politisch gleichermaßen in der Mehrheit verankert und an sie adressiert wäre, zum Beispiel durch den Aufbau einer über die Minderheit hinausweisenden Parteiorganisation und durch entsprechende Kandidaturen in den Wahlkreisen des ganzen Landes.

III.

160

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Auslagen werden nicht erstattet (vgl. § 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

161

Das Urteil ist hinsichtlich des Tenors und der Gründe zu C.II.3. mit 4:3 Stimmen und im Übrigen einstimmig ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum der Richter Brock und Brüning und der Richterin Hillmann
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 13. September 2013

- LVerfG 9/12 -

1

Wir können die Entscheidung hinsichtlich des Tenors und hinsichtlich der Gründe insoweit nicht mittragen, als die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen wird. Das Gericht erkennt zutreffend, dass das Minderheitenprivileg für den SSW als Rückausnahme von der 5%-Klausel an denselben Maßstäben zu messen ist wie diese. In der Rechtsprechung des Gerichts wird die Bedeutung der Wahlgleichheit für die parlamentarische Demokratie in besonderem Maße hervorgehoben. Bei Anwendung dieser Maßstäbe kommt man unserer Ansicht nach jedoch zu dem Ergebnis, dass die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel für die Sicherstellung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit im Schleswig-Holsteinischen Landtag das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet und die Gleichheit der Wahl unangemessen beeinträchtigt.

2

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ist heute im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 91, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 96).

3

Nicht zuletzt durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV werden der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV gewahrt und gestärkt sowie der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit verfassungsfest gebunden, als er der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügen muss

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 124, a.a.O., Juris Rn. 129).

4

Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Die Wahlgleichheit hat strikt formalen Charakter; sie ist einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 125, a.a.O., Juris Rn. 130).

5

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit sind aber nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, a.a.O., Juris Rn. 148).

6

„Zwingend“ sind Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche Differenzierungen, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, a.a.O., Juris Rn. 150).

7

Solche differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. In welchem Ausmaß sie noch zulässig sind, richtet sich auch nach der Intensität des Eingriffs in das Wahlrecht. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151).

8

Gemessen daran ist die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel gerechtfertigt; insoweit kann auf die zutreffenden Gründe aus der Entscheidung Bezug genommen werden.

9

Für die Rückausnahme des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten dieselben Maßstäbe, schon weil sie ihrerseits zu einer weiteren Ungleichbehandlung führt im Verhältnis der Parteien der dänischen Minderheit zu anderen – kleinen – Parteien, die das 5%-Quorum nicht erreichen. Auch die Befreiung des SSW von der Sperrklausel bedarf daher eines durch die Verfassung legitimierten, zwingenden Grundes, muss zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, darf das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen nicht überschreiten und muss angemessen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die streitbefangene Befreiung von der Sperrklausel deren Auswirkungen – anders als im Falle einer Grundmandatsklausel oder einer regionalisierten 5%-Hürde – nur für bestimmte Minderheits-, nicht aber für alle Parteien gleichermaßen abmildert.

10

Die dänische Minderheit hat nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung. In Verbindung mit Satz 1 ist davon auch die politische Mitwirkung dieser nationalen Minderheit erfasst. Ob hieraus – auch unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik – ein Anspruch auf politische Repräsentation abzuleiten ist, die das Wahlgesetz nicht allen in dieser Vorschrift genannten Minderheiten gewährt, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann der hiermit verfassungsrechtlich verankerte Minderheitenschutz ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung und den damit verbundenen Eingriff in die Gleichheit der Wahl sein. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Gründe der Entscheidung Bezug genommen werden.

11

Die vollständige Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, von der 5%-Hürde ist aber durch den Minderheitenschutz in seiner Form des Anspruchs auf politische Repräsentation nicht gerechtfertigt. Denn insofern stehen ebenso geeignete, jedoch mildere Mittel zur Verfügung. Jedenfalls ist die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG unangemessen.

12

Je umfangreicher eine Rückausnahme erfolgt, desto stärker ist die damit verbundene Ungleichbehandlung gegenüber anderen kleinen Parteien. Die vollständige Rückausnahme der Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel ist daher ein stärkerer Eingriff in die Erfolgswertgleichheit als eine partielle Befreiung, etwa durch Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat. Die Sicherstellung der politischen Repräsentation wird schon mit einem Mandat erreicht. Das Argument, die Beschränkung auf ein Mandat würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern und etwa zu einer geringeren Mitwirkung in den Ausschüssen führen, trägt nicht. Zwingend ist der Minderheitenschutz als legitimer Grund für einen Eingriff in die Wahlgleichheit nur insoweit, als die Repräsentation der Minderheit überhaupt sichergestellt, ihr also ein politisches „Sprachrohr“ gegeben wird. Auch bei nur einem Sitz erhält die nationale Minderheit jedoch diese parlamentarische Stimme. Wird der Zuspruch im Wahlvolk größer, greift einerseits die Grundmandatsklausel mit anschließendem Verhältnisausgleich und andererseits – unabhängig davon – der Verhältnisausgleich bei Erreichen des Quorums. Im Übrigen wird eine Integration der Minderheit in die Gesellschaft des Landes durch mehr Abgeordnete im Landtag ohnehin nicht stärker befördert.

13

Der Regelungsgehalt der Landesverfassung, hier Art. 5 Abs. 2 LV, ist so offen, dass daraus keine verlässlichen Rückschlüsse auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts gezogen werden können. Hätte der Verfassungsgeber eine wahlrechtliche Privilegierung bestimmter einzelner nationaler Minderheiten gewollt, hätte er eine entsprechende Regelung in der Landesverfassung treffen können. Dies hat er nicht getan; er gewährleistet vielmehr allgemein „die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen“. Hieraus lässt sich kein verfassungsrechtlich verankertes Ziel einer möglichst umfangreichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Lande ableiten. Erst der einfache Wahlgesetzgeber hat nur die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel befreit. Dabei belegt das geltende Wahlrecht selbst, dass es nicht auf größtmögliche Repräsentanz aus Gründen des Minderheitenschutzes angelegt ist. Denn Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit können ohne weiteres vollständig leerlaufen. Wenn nämlich nicht die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl erreicht wird, ist die Partei der dänischen Minderheit gar nicht im Landtag vertreten.

14

Ungeachtet dessen könnte auch eine regionalisierte Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt der Privilegierung des SSW ist ein Umstand, der außerhalb des Wahlvorgangs liegt und der zudem eine räumliche Dimension in Gestalt des angestammten Siedlungsgebiets in Südschleswig hat. Damit geht es nicht nur um eine allgemeine Rückausnahme zur Sperrklausel. Vielmehr werden durch die besondere Befreiung bestimmter Parteien, hier des SSW, neue Ungleichbehandlungen gegenüber anderen kleineren Parteien bewirkt. Diese sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Insofern erschiene es nicht systemwidrig, wenn der Gesetzgeber das wahlvorgangsfremde Merkmal nicht nur privilegierend, sondern auch limitierend bemühte.

15

Selbst wenn man die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel mit dem Gericht als erforderlich ansehen wollte, wäre sie nicht angemessen, da sie zu einer Überkompensation führt.

16

Zwar kann einer Partei der dänischen Minderheit der Wahlerfolg ebenso wenig negativ angerechnet werden wie ein in Anspruch genommenes allgemeinpolitisches Mandat oder die Beteiligung an der Landesregierung. Das alles sind Folgen der Teilnahme an Wahlen und der Repräsentanz im Landtag. Die Annahme von Abgeordnetenmandaten zweiter Klasse oder eigener Art verbietet sich mit Blick auf Art. 11 LV. Hier geht es indes um die Vorfrage des Umfangs der Vertretung im Parlament aus Gründen des Minderheitenschutzes. Das geltende Wahlrecht sieht eine allgemeine Sperrklausel vor. Dann durchbricht der Gesetzgeber das von ihm festgelegte System, wenn er den zwingenden Grund für die 5%-Klausel nicht durchhält, sondern es zum Schutz für nationale Minderheiten über das notwendige Maß hinaus aufgibt. Staats- und parteipolitisch betrachtet erschwert auch eine Minderheitenpartei die Regierungs- und Mehrheitsbildung im Parlament.

17

Die dänische Minderheit umfasst laut Angaben des Bundesministeriums des Inneren und der Landesregierung etwa 50.000 Personen

(Broschüre „Nationale Minderheiten, Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“, Bundesministerium des Innern , November 2012, S. 12 sowie http://www.schleswig-holstein.de/ Portal/DE/LandLeute/Minderheiten/Daenisch/ daenisch_node.html; abgerufen am 1. August 2013).

Damit ist derzeit von einer relevanten dänischen Minderheit auszugehen. Deswegen kann dahinstehen, wie sich die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich im Einzelnen definiert, insbesondere ob das bloße Bekenntnis hierfür ausreicht.

18

Der SSW hat 61.025 Zweitstimmen erhalten und damit 4,6 % aller gültigen Zweitstimmen, hiervon einen erheblichen Anteil in Gebieten außerhalb des Siedlungsgebietes der dänischen Minderheit

(Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersicht 4).

Zwar verbietet es sich zu erheben, wie viele dieser Wählerinnen und Wähler Angehörige der dänischen Minderheit waren. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht alle Angehörigen der dänischen Minderheit wahlberechtigt sind und nicht alle Angehörigen der Minderheit den SSW gewählt haben dürften. Vor diesem Hintergrund lassen die Zahlen und die regionale Verteilung erkennen, dass der SSW erheblichen Zuspruch von Wählerinnen und Wählern gehabt haben muss, die nicht der Minderheit angehören. Diese politische Realität darf das Gericht bei seiner Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Wahlgleichheit aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht außer Betracht lassen.

19

Wenn man dem SSW sämtliche sich aus seinem Zweitstimmenergebnis rechnerisch ergebenden Sitze zuteilt, dann profitiert er zu einem großen Teil von seinem allgemeinpolitischen Erfolg, der nicht aus seinem Minderheitenstatus herrührt. Die hiermit, also mit der Zuteilung weiterer, über einen „Sitz für die nationale Minderheit“ hinausgehender Sitze bei einem Wahlergebnis unter 5 % insbesondere gegenüber anderen kleinen Parteien verbundene Vertiefung des Eingriffs in die Gleichheit der Wahl kann vorbehaltlich anderer Instrumente wie etwa einer regionalisierten Sperrklausel nicht mit dem Minderheitenschutz gerechtfertigt werden. Die Integrationskraft von Wahlen bei der politischen Willensbildung des Volkes verlangt eine effektive parlamentarische Repräsentanz der nach dem Wählervotum bedeutsamen politischen Strömungen. Soweit einer nationalen Minderheit der Zugang zum Parlament erleichtert wird, darf dabei nicht die Relation der wahlberechtigten Minderheit zum gesamten Wahlvolk außer Acht gelassen werden.

20

Die zwingende Wählbarkeit der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, im ganzen Land ist zwar eine (Neben-)Folge der Änderung des Wahlrechts durch Einführung der Zweitstimme. Mit der Zulässigkeit dieser Systementscheidung hat es aber nicht sein Bewenden. Vielmehr ist der Gesetzgeber nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet,

eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (...). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein (...) (und) zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (...). Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse (...)

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90).

21

Dieser Beobachtungs- und Prüfpflicht ist der Wahlgesetzgeber nicht nachgekommen. Die in Folge der Einführung der Zweitstimme eingetretene Überprivilegierung ist durch das Ziel des Minderheitenschutzes nicht (mehr) gedeckt. Eine Unterstützung durch Wählerinnen und Wähler, die nicht der dänischen Minderheit zuzurechnen sind – die jedoch stattfindet, wie insbesondere das Wahlergebnis des SSW außerhalb von Südschleswig dokumentiert –, erfolgt aus allgemeinpolitischen Motiven und unterliegt damit der allgemeinen Sperrklausel. Allein der Bezug zur nationalen Minderheit rechtfertigt die Ungleichbehandlung des SSW gegenüber Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte im Zuge des Verhältnisausgleichs. Zugleich wird durch Verbindung der Partei mit einer besonderen Wählergruppe die Zulässigkeit der wahlrechtlichen Ungleichbehandlung begrenzt. Dem Wahlgesetzgeber ist verwehrt, jenseits zwingender Gründe über den Einzug von Parteien in das Parlament zu disponieren.

22

Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstößt daher in ihrer derzeitigen Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 LV. Da die Mehrheit des Gerichts die Regelung für mit der Landesverfassung vereinbar hält, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, welche Rechtsfolge der Verstoß nach sich zöge.

23

Ebenso bedarf die in der mündlichen Verhandlung angesprochene Frage, ob der „Sitz für die nationale Minderheit“ dem SSW stets, also selbst dann zugeteilt werden sollte, wenn die Partei das für ein Mandat erforderliche Zweitstimmenergebnis nicht erreicht, hier keiner Entscheidung. Sie richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber.


Tenor

§ 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 392) verletzen in ihrem Zusammenspiel Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 2 der Landesverfassung.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 31. Mai 2011 eine mit der Landesverfassung übereinstimmende Rechtslage herbeizuführen.

Spätestens bis zum 30. September 2012 ist eine Neuwahl herbeizuführen.

Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.

Das Land Schleswig-Holstein hat den Beschwerdeführern zu 1), 2) und 3) die notwendigen Auslagen zu Zweidritteln zu erstatten.

Gründe

A.

1

Gegenstand der Wahlprüfung sind Beschwerden einer Fraktion des Schleswig-Holsteinischen Landtages und mehrerer Wahlberechtigter gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 28. Januar 2010 über die Gültigkeit der Landtagswahl vom 27. September 2009 (Landtags-Drucksache 17/192 , PlPr 17/9, S. 681).

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauten:

3

Artikel 3

        

Wahlen und Abstimmungen

        

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.

        

(2)–(4) […]

        
Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1)[…]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16. Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

4

2. § 1 Abs. 1 Satz 1 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz - LWahlG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) legt fest, dass der Landtag aus 69 Abgeordneten vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen besteht. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG werden von der Gesamtzahl der Abgeordneten 40 durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und die übrigen durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der Parteien auf der Grundlage der abgegebenen Zweitstimmen und unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber gewählt. Hierzu wird das Land in 40 Wahlkreise eingeteilt, § 16 Abs. 1 LWahlG. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises darf nicht mehr als 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG). Maßgebend ist die vom Statistischen Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein fortgeschriebene Bevölkerungszahl nach dem Stand vom 30. Dezember des vierten Jahres vor der Wahl (§ 16 Abs. 3 Satz 2 LWahlG). Im Wahlkreis ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhalten hat, § 2 Satz 1 LWahlG.

5

Das weitere Verfahren ist in § 3 LWahlG wie folgt geregelt:

6

§ 3 LWahlG

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1)An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v. H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2)Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1) werden die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber einer Partei, für die keine Landesliste zugelassen oder die nicht nach Absatz 1 zu berücksichtigen ist, sowie die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen parteilosen Einzelbewerberinnen und Einzelbewerber (§ 24 Abs. 1) abgezogen.

(3)Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste einer am Verhältnisausgleich teilnehmenden Partei abgegebenen gültigen Zweitstimmen zusammengezählt. Anhand der Gesamtstimmenzahlen wird für jede ausgleichsberechtigte Partei nach der Reihenfolge der Höchstzahlen, die sich durch Teilung durch 1, 2, 3, 4 usw. ergibt (Höchstzahlenverfahren), festgestellt, wie viele der nach Absatz 2 verbleibenden Sitze auf sie entfallen (verhältnismäßiger Sitzanteil). Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das von der Landeswahlleiterin oder dem Landeswahlleiter zu ziehende Los.

(4)Die Parteien erhalten so viele Sitze aus den Landeslisten, wie ihnen unter Anrechnung der in den Wahlkreisen für sie gewählten Bewerberinnen und Bewerber an dem verhältnismäßigen Sitzanteil fehlen.

(5) Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 4 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Ist die nach den Sätzen 1 bis 3 erhöhte Gesamtsitzzahl eine gerade Zahl, so wird auf die noch nicht berücksichtigte nächstfolgende Höchstzahl ein zusätzlicher Sitz vergeben.

(6)Innerhalb der Parteien werden die aus den Landeslisten zu verteilenden Sitze nach der sich aus den Listen ergebenden Reihenfolge verteilt. Entfallen auf eine Partei mehr Sitze, als Bewerberinnen und Bewerber auf ihrer Landesliste vorhanden sind, so bleiben diese Sitze leer.

(7) Aus der Landesliste scheiden aus:

1. Bewerberinnen und Bewerber, die in einem Wahlkreis unmittelbar gewählt sind,

2. Bewerberinnen und Bewerber, die nach der Aufstellung der Landesliste einer Partei aus dieser ausgeschieden oder einer anderen Partei beigetreten sind.

7

2. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 (Bekanntmachung im Amtsblatt Nr. 44 vom 2. November 2009, S. 1129, Berichtigung im Amtsblatt Nr. 7 vom 15. Februar 2010, S. 214) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

8

auf die CDU

31,5 %,

auf die SPD

25,4 %,

auf die FDP

14,9 %,

auf die GRÜNEN

12,4 %,

auf den SSW

4,3 %

und auf DIE LINKE

6,0 %.

9

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen nach § 3 Abs. 3 LWahlG

10

auf die CDU

23 Sitze,

auf die SPD

19 Sitze,

auf die FDP

11 Sitze,

auf die GRÜNEN

9 Sitze,

auf den SSW

3 Sitze

und auf DIE LINKE

4 Sitze.

11

Darüber hinaus sind für die CDU elf Mehrsitze entstanden (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), nachdem ihre Bewerberinnen und Bewerber in 34 von 40 Wahlkreisen erfolgreich waren. Nach § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG sind daraufhin 22 weitere Sitze verteilt worden. Davon entfielen

12

auf die CDU

8,   

auf die SPD

6,   

auf die FDP

3,   

auf die GRÜNEN

3 sowie

auf den SSW und DIE LINKE je

1 Sitz.

13

Die acht weiteren Sitze der CDU waren bereits als Direktmandate besetzt und wurden nach § 3 Abs. 4 LWahlG angerechnet.

14

Zuzüglich der danach ungedeckt gebliebenen drei Mehrsitze der CDU und eines Sitzes gemäß § 3 Abs. 5 Satz 4 LWahlG, der an DIE LINKE vergeben wurde, besteht der Landtag aus 95 Abgeordneten. Davon entfallen im Ergebnis

15

auf die CDU

34,

auf die SPD

25,

auf die FDP

14,

auf die GRÜNEN

12,

auf den SSW

4       

und auf DIE LINKE

6 Sitze.

16

Erstmals in der schleswig-holsteinischen Wahlgeschichte seit 1947 ist es damit zur Entstehung „ungedeckter“ Mehrsitze (Überhangmandate) gekommen (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Mehrsitze waren zwar auch schon bei früheren Wahlen entstanden, doch wurden diese durch die Anzahl an weiteren Sitzen im Rahmen des Verhältnisausgleichs vollständig gedeckt: Nach dem endgültigen Wahlergebnis von 1992 errang die SPD einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 38 Sitzen, gewann aber zugleich alle 45 Wahlkreise (Amtsbl. S. 292, 295). Im Jahr 2000 errang sie einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 34 Sitzen und gewann 41 Wahlkreise (Amtsbl. S. 206, 219). Die jeweils errungenen sieben Mehrsitze gingen in den 14 weiteren Sitzen vollständig auf, der Landtag bestand aus 89 statt 75 Sitzen.

17

Gegen das am 2. November 2009 bekanntgemachte Ergebnis der Landtagswahl vom 27. September 2009 gingen bei der Landeswahlleiterin 438 Einsprüche ein, die sich überwiegend mit der Auslegung und / oder der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG befassten. Nach entsprechender Vorprüfung leitete die Landeswahlleiterin die Einsprüche zur Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Landtag an den Innen- und Rechtsausschuss als Wahlprüfungsausschuss weiter. Die in den Einsprüchen geltend gemachten verfassungsrechtlichen Zweifel an § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG wurden von der Landeswahlleiterin nicht geteilt; im Übrigen sei es allein Sache des Landesverfassungsgerichts, über die Verfassungsmäßigkeit von Wahlrechtsnormen zu befinden (Vorprüfungsbericht vom 14. Dezember 2009, Landtags-Umdruck 17/117).

18

Am 13. Januar 2010 beschloss der Wahlprüfungsausschuss, die Stimmzettel aus dem Wahlkreis Husum 003 in einer öffentlichen Sitzung durch den Landeswahlausschuss neu auszählen zu lassen (IR 17/7, S. 12). Nach der Neuauszählung am 22. Januar 2010 empfahl der Wahlprüfungsausschuss dem Landtag, das Wahlergebnis dem Ergebnis der Neuauszählung entsprechend zu berichtigen und die Einsprüche im Übrigen zurückzuweisen (Landtags-Drucksache 17/192). Am 28. Januar 2010 beschloss der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP, diese Empfehlung anzunehmen (PlPr 17/9, S. 681 f.). Der Beschluss wurde den einspruchsführenden Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern in der Zeit vom 12. Februar bis zum 5. März 2010 jeweils gesondert zugestellt und das berichtigte Wahlergebnis neu bekanntgemacht (Amtsbl. Nr. 7 vom 15. Februar 2010 S. 214).

II.

19

Gegen den Beschluss des Landtages vom 28. Januar 2010 haben eine Fraktion und eine Vielzahl von Wahlberechtigten fristgerecht Beschwerden zur Korrektur des Wahlergebnisses erhoben, die das Gericht mit Beschluss vom 17. Mai 2010 unter dem Aktenzeichen LVerfG 1/10 zur gemeinsamen Entscheidung miteinander verbunden hat. Die Beschwerdeführerinnen und -führer begehren eine Änderung des Landtagsbeschlusses und eine Neufeststellung des Wahlergebnisses mit einer verhältnismäßigen Sitzverteilung, die alle Mehrsitze deckt.

20

Einige Beschwerdeführer beanstanden bereits das Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag. Tatsächlich habe nur die weisungsgebundene Landeswahlleiterin eine Prüfung der Einsprüche vorgenommen. Es fehle eine eigene sachliche Prüfung der Einsprüche gegen die Gültigkeit der Landtagswahl durch den Landtag. Zudem sei der Beschluss des Landtages nicht ausreichend begründet. Beide Verfahrensfehler seien wesentlich und entzögen der parlamentarischen Entscheidung die Grundlage. In einem „normalen“ Gerichtsverfahren wäre der Landtagsbeschluss deshalb aufzuheben und das Verfahren an den Landtag zur erneuten Beratung und Entscheidung zurückzuverweisen. Der Beschwerdeführer zu 16) rügt zudem, dass ihm die Einsicht in die Vorgänge anderer Einspruchsverfahren verweigert worden sei. Außerdem habe der Landtag auch die Verfassungswidrigkeit von Wahlnormen prüfen müssen.

21

Inhaltlich kritisieren die Beschwerdeführer im Wesentlichen, dass die Sitzzuteilung nicht mit dem Wählerwillen übereinstimme. Obwohl CDU und FDP vom Zweitstimmenanteil her in der Minderheit seien, komme ihnen aufgrund der ungedeckten Mehrsitze eine Mehrheit an Landtagssitzen zu. Dies beruhe auf einem fehlerhaften Verständnis des § 3 Abs. 5 LWahlG und der in Satz 3 vorgesehenen Begrenzung des Sitzausgleichs. Wären die zum Zweck des Ausgleichs der Mehrsitze zu vergebenden weiteren Sitze vollständig den anderen Parteien zugewiesen worden, hätte dies zu einem vollen Ausgleich aller Mehrsitze und zu anderen Mehrheiten im Landtag geführt. Die Entstehungsgeschichte und die Parallelität zu § 10 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-Holstein (Gemeinde- und Kreiswahlgesetz - GKWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1997 (GVOBl S. 151), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. September 2009 (GVOBl S. 572) seien nicht zur Auslegung heranzuziehen, nachdem 1997 für die Landtagswahlen das Zweistimmenwahlrecht eingeführt worden sei.

22

Außerdem sei die Mehrsitzbegrenzung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG im Rahmen der Ausgleichsregelung verfassungswidrig. Artikel 10 Abs. 2 Satz 5 LV konkretisiere den Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV und verpflichte den Gesetzgeber, für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen; einen vorzeitigen Abbruch des Ausgleichs dürfe das Gesetz deshalb nicht erlauben. Der Verbleib von ungedeckten Mehrsitzen verzerre die nach Art. 3 Abs. 1 LV gebotene Gleichheit der Wählerstimmen in ihrem Erfolgswert. Zumindest verstoße die Vorschrift des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG gegen das Gebot der Normenklarheit.

23

Das geltende Wahlrecht begünstige mit den § 2 und § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG über die Mehrheits- oder Persönlichkeitswahl in Verbindung mit der Wahlkreiseinteilung nach § 16 LWahlG in unverhältnismäßiger Anzahl das Entstehen von Überhangmandaten und verstoße auch insoweit gegen den Grundsatz der gleichen Wahl in Art. 3 Abs. 1 LV, ohne dass es noch auf die Ausgleichsregelung in Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV in Verbindung mit § 3 Abs. 5 LWahlG ankomme. Der Beschwerdeführer zu 11) wendet sich zudem gegen das Höchstzahlenverfahren nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG.

III.

24

1. Der Landtag hält die Wahlprüfungsbeschwerden für unbegründet. Abgesehen davon, dass die Wahlprüfung formell rechtmäßig durchgeführt worden sei, könne ein Verfahrensfehler nicht auf die materielle Rechtsanwendung in der Wahl selbst durchschlagen und diese ungültig oder ihr Ergebnis korrekturbedürftig machen. Im Übrigen sehe das Gesetz eine Zurückverweisung an den Landtag nicht vor.

25

Die Anwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei nicht zu beanstanden. Weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte oder Systematik der Norm geböten eine Auslegung im Sinne des sogenannten großen Ausgleichs. Der Begriff „weitere Sitze“ sei als Oberbegriff für die Begriffe Mehrsitze und Ausgleichsmandate zu verstehen und umfasse deshalb auch diejenigen Sitze, die als Mehrsitze auf nicht berücksichtigte Höchstzahlen der Mehrsitzpartei entfielen. Daran ändere auch die Einführung des Zweistimmenwahlrechts nichts, weil der Gesetzgeber dabei bewusst von einer Änderung des § 3 Abs. 5 LWahlG abgesehen und weiterhin am Vorbildcharakter des § 10 Abs. 4 GKWG festgehalten habe. Die Vorschrift des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei auch verfassungsgemäß und verstoße insbesondere nicht gegen das Gebot der Normenklarheit.

26

Der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 LV gebiete keinen „Vollausgleich“. Er gebe in Satz 5 zwar vor, dass Ausgleichsmandate vorzusehen seien, besage aber nicht, wie viele. Insofern habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Entstehungsgeschichtlich sei die im zeitlichen Zusammenhang stehende Änderung des Landeswahlgesetzes als verfassungskonforme Konkretisierung des gleichzeitig beschlossenen Art. 10 Abs. 2 LV anzusehen. Obwohl Art. 10 Abs. 2 LV eine stärkere Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl bezwecke, sei ein Wahlverfahren allein nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ausgeschlossen. Vielmehr sei vorrangig der in den Elementen der Persönlichkeitswahl zum Ausdruck kommende Wählerwille zu respektieren. Hier liege in Schleswig-Holstein traditionell und historisch gewachsen ein deutliches Mehrgewicht.

27

Die Einschränkung der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller abgegebenen Stimmen bei der Entstehung nicht vollständig ausgeglichener Überhangmandate durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei im System der vom schleswigholsteinischen Verfassungsgeber vorgesehenen, um Elemente der Verhältniswahl ergänzten Persönlichkeitswahl angelegt. Der Erfolgswertgleichheit komme hier nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu, weil der Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben werde. § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG diene zudem dem verfassungsrechtlich anerkannten Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch Begrenzung des Anwachsens der Zahl seiner Mitglieder zu gewährleisten. Die Entscheidung, ab wann eine Vergrößerung des Landtages nicht mehr hinnehmbar sei, obliege dem Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums.

28

2. Die Landeswahlleiterin weist in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass sie ihr Amt als unabhängiges Wahlorgan außerhalb der allgemeinen Verwaltungsorganisation und -hierarchie, unabhängig und frei von Weisungen Dritter wahrnehme. Bei der Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG zur Feststellung des Ergebnisses der Landtagswahl vom 27. September 2009 sei auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum inhaltsgleichen § 10 Abs. 4 GKWG zurückgegriffen worden, der als Vorbild für § 3 Abs. 5 LWahlG gedient habe. Danach seien Parteien, die über Mehrsitze verfügen, in den (weiteren) Verhältnisausgleich einzubeziehen, so dass bei der Verteilung der „weiteren Sitze“ auch die noch nicht verbrauchten Höchstzahlen der „Mehrsitzpartei“ zu verwenden seien.

29

Der dem Gesetzgeber für die Verbindung der beiden in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV vorgesehenen Wahlsysteme eingeräumte Gestaltungsspielraum sei gewahrt und dessen Ausgestaltung mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar. Maßgeblich sei allein, dass die Wahlgleichheit in jedem der beiden miteinander verbundenen Wahlsysteme jeweils für sich betrachtet eingehalten werde. Wenn für das Bundesrecht anerkannt sei, dass sich das System der Mehrheitswahl gegenüber dem der Verhältniswahl so weit durchsetzen dürfe, dass bei Zulassung von Überhangmandaten keinerlei Ausgleich gewährt werde, müsse auch die vom Landesgesetzgeber gewählte „Zwischenlösung“ mit einem nur begrenzten Verhältnisausgleich zulässig sein. Für den Ausgleich von Überhangmandaten räume Art. 10 Abs. 2 LV dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein. Der Verfassungsgeber habe hier bewusst keine Festlegung getroffen, um mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Begrenzung zu ermöglichen.

B.

30

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 28. Januar 2010 über die Gültigkeit der Landtagswahl vom 27. September 2009 ist gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 3 Nr. 5 LVerfGG die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben. Zur Beschwerde befugt sind nicht nur die Wahlberechtigten, deren Einsprüche vom Landtag verworfen wurden (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG), sondern auch einzelne Landtagsfraktionen, § 49 Abs. 1 Nr. 3 LVerfGG.

31

Gegenstand der Wahlprüfung ist die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG).

C.

32

Die Wahlprüfungsbeschwerden sind im tenorierten Umfang begründet. Zwar dringen die Rügen zum Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag (I.) und zur fehlerhaften Anwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG (II.) nicht durch. Zu Recht wird aber die Verfassungswidrigkeit des Landeswahlrechts geltend gemacht. Dabei kann dahinstehen, ob die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG für sich betrachtet gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt. Jedenfalls führen § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG im Zusammenspiel in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können. Dies ist mit der Verfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) unvereinbar. Eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen in § 3 Abs. 5, § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG ist nicht möglich (III.). Die festgestellten Verfassungsverstöße führen zu mandatsrelevanten Wahlfehlern. Sie können jedoch weder zur Neufeststellung des Ergebnisses noch zur Ungültigerklärung der Wahl zum 17. Landtag führen. Allerdings sind die Fehler so schwerwiegend, dass die Legislaturperiode auf den 30. September 2012 zu beschränken ist. Diese Frist ist notwendig, weil der Landtag zuvor das Landeswahlgesetz ändern muss, um eine mit der Landesverfassung übereinstimmende Rechtslage herbeizuführen. Für die notwendigen gesetzlichen Neuregelungen genügt eine Frist bis spätestens zum 31. Mai 2011 (IV.).

I.

33

Etwaige formelle Mängel im Verfahren der Wahlprüfung durch den Landtag vermögen weder zur Annahme eines entscheidungserheblichen Wahlfehlers noch zur Zurückverweisung an den Landtag führen. Solche Fehler können im Übrigen auch nicht festgestellt werden.

34

1. Trotz individuell möglichen Rechtsschutzes und Verwirklichung des aktiven und passiven Wahlrechts in der Wahlprüfung ist der Streitgegenstand der Beschwerde nach § 43 Abs. 2 LWahlG vom Grundsatz her auf die Sachentscheidung des Landtages beschränkt (vgl. zum Bundeswahlrecht: Achterberg/ Schulte, in: v. Mangoldt / Klein/ Starck , Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl. 2005, Art. 41 Rn. 56; Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, GG Art. 41 Rn. 20; Rechenberg , in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 7, Zweitbearbeitung, Art. 41 Rn. 48 ). Ziel des Wahlprüfungsverfahrens ist nicht die Korrektur einer Verletzung subjektiver Rechte, sondern die Gewährleistung der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Parlaments (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. September 2009 - 2 BvR 1928/09 u.a. - Juris Rn. 11 m.w.N.; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu/ Klein/ Bethge , Bundesverfassungsgerichtsgesetz - Kommentar - Band 1, § 48 Rn. 39a ).

35

Sollten dem Landtag im Rahmen der Wahlprüfung nach § 43 Abs. 1 LWahlG Verfahrensfehler unterlaufen, wäre die Gültigkeit der Wahl davon nicht betroffen. Denn die Wahlprüfung findet erst im Anschluss an die Wahl einschließlich der Ergebnisfeststellung durch den Landeswahlausschuss nach § 41 Abs. 3 LWahlG statt und stellt ein eigenes parlamentarisches Kontrollinstrument dar (vgl. zum Bundeswahlrecht: Morlok, in: Dreier , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 41 Rn. 7). Dass der angegriffene Landtagsbeschluss im Falle eines Verfahrensfehlers aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Beratung und Entscheidung zurückverwiesen wird, ist im Übrigen weder im Landesverfassungsgerichtsgesetz noch im ergänzend anzuwendenden Landeswahlgesetz vorgesehen und kommt wegen des geltenden Gebots der Verfahrensbeschleunigung auch grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. zum Bundeswahlrecht: Glauben , in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 7, Drittbearbeitung, Art. 41 Rn. 112 ; Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar -Band IV, Art. 41 Rn. 95). Vielmehr hat das Gericht nach Möglichkeit in der Sache selbst zu entscheiden (ebenso: Achterberg/ Schulte, a.a.O., Art. 41 Rn. 57; Rechenberg, a.a.O., Rn. 48).

36

2. Dessen ungeachtet wären Mängel in dem durch den Landtag durchgeführten Verfahren der Wahlprüfung allenfalls dann beachtlich, wenn sie wesentlich wären und dem angegriffenen Landtagsbeschluss so seine Grundlage entziehen würden (vgl. allgemein: BVerfG, Beschlüsse vom 20. Oktober 1993 - 2 BvC 2/91 - BVerf-GE 89, 243 ff., Juris Rn. 33 f.; vom 23. November 1993 - 2 BvC 15/91 - BVerfGE 89, 291 ff., Juris Rn. 39 f.; und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 78; dem folgend Morlok, a.a.O., Art. 41 Rn. 23; Klein, a.a.O., Art. 41 Rn. 92). Das ist jedoch nicht der Fall.

37

a) Die Zuständigkeiten sind eingehalten. Landtag und parlamentarischer Wahlprü-fungsausschuss haben sich selbst jeweils hinreichend mit den Einsprüchen und der Gültigkeit der Wahl befasst und ihre Entscheidung in einem noch ausreichenden Maße begründet, ohne dass dabei ein unzulässiger Einfluss vonseiten der Landesregierung festzustellen wäre.

38

aa) Die Wahlprüfung nach Art. 3 Abs. 3 LV, § 43 Abs. 1 Satz 1 LWahlG liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit des Landtages. Davor findet eine Vorprüfung durch einen hierfür bestellten parlamentarischen Ausschuss statt, § 43 Abs. 1 Satz 2 LWahlG. § 65 Satz 1 der Landeswahlordnung - LWO - vom 17. Juli 2009 (GVOBl S. 430) schaltet dieser eine Vorprüfung durch die Landeswahlleiterin vor. Diese Bestimmung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie greift insbesondere nicht unter Verstoß gegen höherrangiges Recht in die ausschließliche Zuständigkeit des Landtages ein.

39

Die vom Innenministerium zur Durchführung des Landeswahlgesetzes erlassene Landeswahlordnung beruht auf § 58 LWahlG. Sie regelt unter anderem die Vorbereitung der Wahlprüfung, § 58 Nr. 17 LWahlG. Entsprechend ist § 65 LWO nicht nur überschrieben, sondern auch seinem Inhalt nach zu verstehen. Hierzu gehört die Vorprüfung durch die Landeswahlleiterin nach § 65 Satz 1 LWO. Nach § 65 Satz 2 LWO übermittelt sie nach Abschluss der Vorprüfung das Ergebnis und die Unterlagen an den vom Landtag zur Vorprüfung bestellten Ausschuss (Wahlprü-fungsausschuss). Nach § 65 Satz 3 LWO führt die Landeswahlleiterin die weiteren vom Wahlprüfungsausschuss noch für erforderlich gehaltenen Ermittlungen durch. Dass die Vorbereitung durch die Landeswahlleiterin ihrerseits als Vorprüfung bezeichnet und konzipiert ist, stellt keinen Widerspruch zur eigentlichen Vorprüfung durch den zuständigen Wahlprüfungsausschuss des Landtages dar. Die Vorprüfung durch die Landeswahlleiterin entspricht vielmehr einer Selbstprüfung, wie sie im Verwaltungsvorverfahren bei einem Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt durch die Ausgangsbehörde als Abhilfebehörde zu erfolgen hat (vgl. § 72 VwGO), oder - wie es der Landtag formuliert - einer „Vorprüfung der Vorprüfung“.

40

bb) Der Wahlprüfungsausschuss hat die Einsprüche und die Gültigkeit der Wahl in eigener Verantwortung und in hinreichender Weise geprüft und eine entsprechende Beschlussvorlage (Landtags-Drucksache 17/192) für den Landtag beschlossen. Auch wenn er sich insoweit durch die Landeswahlleiterin nach dem beschriebenen Verfahren der Landeswahlordnung hat vorbereitend zuarbeiten lassen, hat er letztlich eine eigene Entscheidung getroffen. In seiner 1. Sitzung am 13. Januar 2010 ließen sich die Abgeordneten den Vorprüfungsbericht (Landtags-Umdruck 17/117) von der Landeswahlleiterin erläutern, stellten gezielt Fragen zu einzelnen Einsprüchen und befassten sich insbesondere auch mit dem Einspruch des Beschwerdeführers zu 16) (IR 17/7, S. 9). Für die 2. Sitzung am 28. Januar 2010 lag dem Ausschuss nicht nur ein Beschlussvorschlag der Landeswahlleiterin (Landtags-Drucksache 17/257 ) vor, sondern auch deren übrigen Berichte nebst zwei Anträgen, über die kontrovers diskutiert und abgestimmt wurde (IR 17/9). Unabhängig davon kann allein aus der Tatsache, dass die Protokolle nicht ausdrücklich erkennen lassen, dass sich der Ausschuss mit jedem einzelnen Einspruch befasst hat, nicht gefolgert werden, dass insoweit eine unzureichende parlamentarische Prüfung stattgefunden hätte. Weder gibt es normative Vorgaben für den äußeren Rahmen der Befassung, den inhaltlichen Umfang oder die Dokumentation der Vorprüfung durch den Wahlprüfungsausschuss noch ergeben sich solche aus der Natur der Sache.

41

cc) Die Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses ist im Ergebnis auch noch ausreichend begründet. Obwohl weder den Regelungen des Wahlrechts noch den allgemein für Ausschüsse des Landtages geltenden Vorschriften der Geschäftsordnung (§§ 14 ff. GO-LT) zu entnehmen ist, dass die Beschlussempfehlung mit einer schriftlichen Begründung zu versehen ist, folgt doch aus ihrer speziellen Aufgabe im Rahmen der Wahlprüfung, dass eine Begründung erforderlich ist, aus der sich die wesentlichen, zum Prüfungsergebnis führenden Umstände ergeben müssen. Nur so kann sie eine ausreichende Grundlage für die Beschlussfassung des Landtages sein. Folgt der Landtag der Beschlussempfehlung, so ist deren Begründung für die Einspruchsführenden zugleich „Antwort“ auf ihr Vorbringen. Erst anhand einer solchen Begründung können die Einspruchsführenden beurteilen, ob die Entscheidung einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden soll. Die Begründung dient damit nicht nur der Dokumentation. Sie ist, sofern der Landtag der Beschlussempfehlung folgt, Grundlage der späteren gerichtlichen Kontrolle.

42

Hiervon ausgehend wäre eine klarere Abgrenzung der parlamentarischen (Vor-) Prüfung von der Vorbereitung durch die Landeswahlleiterin im Interesse von Transparenz und Akzeptanz der Wahlprüfung wünschenswert. Dennoch wird das Vorgehen des Wahlprüfungsausschusses und des Landtages den genannten Anforderungen noch gerecht. Mit der Weiterleitung des ihm vorliegenden Vorprüfungsberichts nebst Anlagen hat der Ausschuss dem Landtag zu erkennen gegeben, dass er sich hierauf inhaltlich bezieht und dessen Begründung übernimmt, soweit nicht einigen Einsprüchen abgeholfen und das Wahlergebnis aufgrund der Nachzählung im Wahlbezirk Husum 003 (Wahlkreis 3) korrigiert worden ist. Einer ausdrücklichen Bezugnahme bedurfte es unter diesen Umständen nicht. Der Landtag wiederum hat gegenüber den Einspruchsführenden durch Übersendung entsprechender Auszüge aus dem Vorprüfungsbericht hinreichend deutlich gemacht, dass er sich ebenfalls dessen Begründung zu Eigen machen will.

43

dd) Die übernommene Begründung des Vorprüfungsberichts genügt auch inhaltlich diesen Anforderungen. Es spricht nichts dagegen, die verschiedenen Einsprüche nach Argumenten inhaltlich zusammengefasst darzustellen und abzuarbeiten. Dies gilt auch für die Einsprüche der Beschwerdeführer zu 4) und zu 16) - laufende Nr. 360 und 381 -, die unter Verweis auf die Würdigung des Einspruchs Nr. 18 abgehandelt wurden. Die Vorprüfung des Einspruchs Nr. 18 verweist unter anderem auf die umfängliche Vorprüfung des Einspruchs Nr. 17. Der Vorprüfungsbericht gibt damit nachvollziehbar zu erkennen, dass er Einspruchsziel und -argumente der Beschwerdeführer zu 4) und zu 16) inhaltlich denen der Einsprüche Nr. 17 und 18 zuordnet.

44

Den Einsprüchen der Beschwerdeführer zu 4) und zu 16) ist gemeinsam, dass sie sich gegen den mit § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zur Anwendung gebrachten „kleinen Ausgleich“ wenden und eine Korrektur des Wahlergebnisses anstreben, die zu einer Gesamtzahl von 101 Sitzen im Landtag führt. Vorgebracht werden dazu sowohl einfachgesetzliche als auch verfassungsrechtliche Argumente, aus denen unterschiedlich weit reichende Konsequenzen gezogen werden, von der anderslautenden (verfassungskonformen) Auslegung im Sinne eines „großen Ausgleichs“ bis zur Unanwendbarkeit der Norm. Die hierzu in der übernommenen Begründung des Vorprüfungsberichts in Bezug genommenen Ausführungen zu den Einsprüchen Nr. 17 und 18 zeigen, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken ebenso wenig geteilt werden wie die Annahme, § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG könne anders als geschehen ausgelegt werden.

45

ee) Die Übernahme des Vorprüfungsberichts der Landeswahlleiterin begründet schließlich nicht die Sorge, dass die Wahlprüfung auf diesem Wege in unzulässiger Weise von der Landesregierung beeinflusst worden wäre. § 10 und § 11 LWahlG sichern die Stellung der Landeswahlleiterin als unabhängiges Wahlorgan ab. Um ihre Unabhängigkeit zu wahren, muss die Landeswahlleiterin außerhalb der allgemeinen Verwaltungshierarchie stehen und darf nicht an Weisungen gebunden sein (vgl. Antworten der Landesregierung auf die Kleinen Anfragen, Landtags-Drucksachen 17/75 und 17/150). Im Rahmen der mit diesem Amt verbundenen Aufgaben trägt sie eigenständig die Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung der Wahl im Land (§ 11 Abs. 2 Satz 2 LWahlG) und ist dem Grundsatz der Neutralität und Überparteilichkeit verpflichtet (vgl. zum Wahlleiter in Gemeinde und Kreis: Asmussen/ Thiel , GKWG, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Dezember 2007, § 12 Anm. 1.2; entsprechendes gilt für die Funktion der Landeswahlleiterin als Bundeswahlorgan nach § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 BWahlG und § 2 BWahlO). Zwar wird die Landeswahlleiterin von der Landesregierung auf unbestimmte Zeit ernannt und kann jederzeit abberufen werden (§ 11 Abs. 1 Satz 2 LWahlG). Auch ist es nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern allgemein in den Ländern üblich, höhere Beamte aus dem jeweiligen Innenministerium zu Landeswahlleitern zu ernennen (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 9 Rn. 3). Diese Bestellungspraxis belegt für sich genommen jedoch noch keine unbefugte Einflussnahme. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dies anders wäre, die Landeswahlleiterin insbesondere nicht unabhängig entschieden oder von dritter Seite Weisungen erhalten und/ oder solche befolgt hätte, sind weder vorgebracht noch ersichtlich.

46

b) Soweit der Beschwerdeführer zu 16) rügt, dass ihm die Einsicht in die in Bezug genommenen Einsprüche Nr. 17 und 18 verweigert worden sei, bleibt diese Rüge ohne Erfolg. Sein Verfahrensbevollmächtigter hat die Akteneinsicht nicht in seinem Namen, sondern namens des SSW beantragt (vgl. dessen Schreiben vom 4. Februar 2010). Außerdem hatte sich sein darauf gerichtetes Begehren durch Erhalt der Unterlagen erledigt, nachdem der Landtag ihn darauf verwiesen hatte, zunächst bei den Einspruchsführern selbst nachzufragen. Diese Verweisung ist nicht zu beanstanden. Solange sich das Einsichtsbegehren auf Schriftstücke oder Daten Dritter beschränkt, ist vorrangig die Entscheidung der betroffenen Dritten selbst einzuholen.

47

c) Erfolglos rügt der Beschwerdeführer zu 16) schließlich, dass der Landtag die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen selbst nicht prüft. Dem Landtag steht nur eine Prüfungs-, aber keine Verwerfungskompetenz zu. Er ist auch in der Wahlprüfung bis zu deren Aufhebung an die von ihm erlassenen Gesetze gebunden (ebenso: Caspar, in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack < Hrsg. >, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 82; von Mutius, in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 30; für den Bundestag: BVerfG, Beschlüsse vom 22. Mai 1963 - 2 BvC 3/62 - BVerfGE 16, 130 ff., Juris Rn. 18; vom 23. November 1993 - 2 BvC 15/91 - BVerfGE 89, 291 ff., Juris Rn. 43; Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 80; Beschlüsse vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 - BVerfGE 122, 304 ff. Juris Rn. 13; vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, Juris Rn. 12; und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, Juris Rn. 13; vgl. auch Rauber , Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S. 56 ff.; Morlok, in: Dreier , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 41 Rn. 16). Dessen ungeachtet sind die damit aufgeworfenen Fragen (etwa nach einer Vorlagepflicht oder einer zwischengeschalteten Normenkontrolle, vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 80) vorliegend nicht entscheidungserheblich, weil der Beschwerdeführer zu 16) seine verfassungsrechtlichen Bedenken bereits im Einspruchsverfahren formuliert und die Gefahr einer etwaigen Präklusion für das Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht daher von vornherein nicht bestanden hat.

II.

48

Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 28. Januar 2010 ist allerdings materiell rechtswidrig und kann im Ergebnis einen nur begrenzten Bestand haben. Zwar ist das geltende Landeswahlgesetz fehlerfrei ausgelegt und angewandt worden, dieses ist aber seinerseits in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität in wesentlichen Regelungen (§ 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG) nicht mehr mit der Landesverfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) vereinbar (sogleich III.).

49

Materieller Prüfungsgegenstand ist die „Gültigkeit“ der Wahl. Die Wahl ist ganz oder in Teilen ungültig, wenn und soweit ein erheblicher Wahlfehler festzustellen ist. Ein solcher Wahlfehler liegt immer dann vor, wenn die nach allgemeiner Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit besteht, dass durch die festzustellende Rechtsverletzung die gesetzmäßige Zusammensetzung der zu wählenden Körperschaft berührt sein kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 131 m.w.N., stRspr.).

50

Aus der einfachgesetzlichen Anwendung des geltenden Wahlrechts ergeben sich keine beachtlichen Wahlfehler. Soweit es an dieser Stelle auf die richtige Auslegung einer einzelnen Norm ankommt, hat das Landesverfassungsgericht - anders als im parallel zu entscheidenden Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zu § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG (LVerfG 3/09) - die Vorschrift selbst auszulegen und dies zum Maßstab der Wahlprüfung zu machen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 - BVerfGE 97, 317 ff., Juris Rn. 15; und Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 90; Schreiber , a.a.O., § 49 Rn. 34 m.w.N.). Hiervon ausgehend sind insbesondere die wahlvorbereitende Wahlkreisbildung nach § 16 LWahlG und die Ergebnisfeststellung in Anwendung des die Sitzzuteilung regelnden § 3 Abs. 5 LWahlG nicht zu beanstanden.

51

1. Bei der Wahlkreisbildung sind die Vorgaben des § 16 Abs. 3 LWahlG zur Abweichung der Wahlkreisgrößen voneinander beachtet worden. Nach dieser Vorschrift darf die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises nicht mehr als 25 v.H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen (Satz 1). Maßgebend ist die vom Statistischen Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein fortgeschriebene Bevölkerungszahl nach dem Stand vom 31. Dezember des vierten Jahres vor der Wahl (Satz 2).

52

Die hiernach zu beachtende 25 v.H.-Marge ist eingehalten worden. Unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen nach dem Stand vom 31. Dezember 2006 - bezogen auf die regulär erst für das Jahr 2010 vorgesehene Landtagswahl - ergibt sich eine durchschnittliche Bevölkerungszahl aller 40 Wahlkreise von 70.857. Der kleinste Wahlkreis (Husum-Land) weicht von dieser durchschnittlichen Bevölkerungszahl um 22,23 v.H. ab, der größte Wahlkreis (Segeberg-Ost) um 23,30 v.H. (Anlage zur Stellungnahme der Landeswahlleiterin vom 22. April 2010 an den Landtag, Umdruck 17/738).

53

Die Beschwerdeführerin zu 1) beanstandet letztlich nicht, dass die 25 v.H.-Marge nicht eingehalten worden wäre. Selbst bei der von ihr zugrunde gelegten Zahl der Wahlberechtigten statt der Bevölkerungszahl stellt sie fest, dass bei durchschnittlich 55.603 Wahlberechtigten der kleinste Wahlkreis (Husum-Land) um 24,4 v.H. und der größte Wahlkreis (Segeberg-Ost) um 24,8 v.H. abweicht. Auch der Beschwerdeführer zu 16) geht ebenfalls - anders als das Gesetz - von der Zahl der Wahlberechtigten statt von der Bevölkerungszahl aus. Dass er demgegenüber zu einer Abweichung von mehr als 25 v.H. kommt, beruht darauf, dass er seiner Berechnung nicht die Zahlen des endgültigen Wahlergebnisses im Amtsblatt 2009, Seite 1131 f., sondern die des vorläufigen Wahlergebnisses vom 28. September 2009 zugrunde gelegt hat.

54

2. Bei der Sitzzuteilung für den Landtag sind die Vorgaben des § 3 LWahlG beachtet worden. Insbesondere haben die Landeswahlleiterin, der Landeswahlaus-schuss und ihnen folgend der Landtag § 3 Abs. 5 LWahlG zutreffend ausgelegt.

55

§ 3 Abs. 5 LWahlG regelt den Fall, dass die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil. Diese über den verhältnismäßigen Sitzanteil hinausgehenden Sitze werden in Satz 1 als „Mehrsitze“ bezeichnet. Sie „verbleiben“ der jeweiligen Partei. Für diesen Fall gibt Satz 2 vor, dass „auf die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen solange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 4 zu besetzen“ sind, „bis der letzte Mehrsitz gedeckt ist“. Satz 3 bestimmt schließlich, dass bei dieser weitergehenden Verteilung und Besetzung von Sitzen die Anzahl der weiteren Sitze das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen darf.

56

Streitig ist, wie der Begriff „weitere Sitze“ zu verstehen ist, insbesondere, ob die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zu einem nur „kleinen“ oder zu einem „großen Ausgleich“ führt. Als unklar gilt auch, wie sich die Regelungen in § 3 Abs. 5 Satz 1 und in Satz 2 LWahlG zueinander verhalten. In der wahlrechtlichen Praxis wird § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG im Sinne eines „kleinen Ausgleichs“ ausgelegt und angewendet. Verwiesen wird dabei auf die Entstehungsgeschichte der Norm und auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Parallelvorschrift des § 10 Abs. 4 GKWG (vgl. den Vorprüfungsbericht der Landeswahlleiterin vom 14. Dezember 2009, Landtags-Umdruck 17/117, S. 37). Bereits anlässlich der Ausschussberatung eines früheren Entwurfs für eine Änderung des Landeswahlgesetzes (Landtags-Drucksache 16/2152) hatte die Landeswahlleiterin erklärt, dass sie sich bei der Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG an die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu der parallel im Kommunalwahlrecht geltenden Regelung des § 10 Abs. 4 GKWG halte. Die Rechtslage sei deshalb so geklärt, wie sie auch das Innenministerium im Rahmen der Kommunalwahl immer vertreten habe (IR 16/103, Sitzung vom 3. Juni 2009, S. 10).

57

Bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 ist wie folgt verfahren worden: Die CDU errang über die Mehrheitswahl in den Wahlkreisen nach § 2 LWahlG elf Sitze mehr als ihr bei verhältnismäßiger Aufteilung der 69 vorgesehenen Sitze nach ihrem Zweitstimmenanteil für die Landesliste zugestanden hätten. Diese Sitze waren ihr nach § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG (als Mehrsitze oder Überhangmandate) zu belassen. Zur Wiederherstellung der verhältnismäßigen Sitzanteile wurden 22 weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren verteilt und besetzt. Bei der Verteilung dieser weiteren Sitze nach dem d’Hondtschen Verfahren (Höchstzahlenverfahren, § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG) wurden die nächstfolgenden acht auf die CDU entfallenden Höchstzahlen einbezogen. Die sich daraus ergebenden acht weiteren, über die Wahlkreise errungenen Sitze wurden wiederum auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet und entsprechend besetzt (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Auf diese Weise ergaben sich zusätzlich zu den 69 Sitzen 22 weitere Sitze, insgesamt also 91 Sitze (§ 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG), in denen die acht Mehrsitze der CDU enthalten waren, die nach dem Ausgleich durch ihren verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt waren, sowie 14 weitere Sitze für die anderen Fraktionen (Ausgleichsmandate). Dies hatte zur Folge, dass drei Mehrsitze auch nach dem Ausgleich ungedeckt blieben. Die sich so ergebende erhöhte Gesamtsitzzahl von 94 wurde gemäß § 3 Abs. 5 Satz 4 LWahlG auf die ungerade Zahl 95 erhöht (Amtsbl. 2009 S. 1129, 1139).

58

Nach Meinung eines Teils der Beschwerdeführer hätten hingegen bis zu 22 weitere Sitze allein auf die anderen Parteien entfallen müssen. Mit dem Begriff „weitere Sitze“ könnten nur Ausgleichsmandate gemeint sein, weil die nach Satz 1 „verbleibenden“ Mehrsitze nicht nach Satz 2 nochmals verteilt und besetzt werden könnten. Die Mehrsitzpartei sei bei der nach Satz 2 vorgesehenen weiteren Verteilung und Besetzung von Sitzen auf Höchstzahlen daher nicht zu berücksichtigen (sogenannter „großer Ausgleich“). Bei dieser Lesart hätte sich die Gesamtzahl der Sitze im Landtag um bis zu 33 Sitze (sowie einen weiteren Sitz nach Satz 4, also auf insgesamt 103 Abgeordnete) erhöhen können. Tatsächlich wäre es zu einer Erhöhung um 31 Sitze (sowie einen weiteren Sitz nach Satz 4, insgesamt also 101 Abgeordnete) gekommen, was nicht nur zu einer anderen Sitzverteilung, sondern auch zu anderen Mehrheitsverhältnissen und einem noch weiteren Anwachsen des Landtages geführt hätte.

59

Der Wortlaut des § 3 Abs. 5 LWahlG scheint noch offen. Ebenso wie die im Kommunalwahlrecht entsprechend geltende Vorschrift des § 10 Abs. 4 GKWG verwendet § 3 Abs. 5 LWahlG die Begriffe „Mehrsitze“ und „weitere Sitze“ und nicht wie Art. 10 Abs. 2 LV die Begriffe „Überhangmandate“ und „Ausgleichsmandate“. Seine Entstehungsgeschichte und seine systematische Auslegung auch im normativen Zusammenhang führen hingegen zu einer detaillierten, in sich geschlossenen Regelung, die auf die Gewährung eines nur „kleinen Ausgleichs“ gerichtet ist und eine andere Deutung nicht zulässt. Der Gedanke des „großen Ausgleichs“ argumentiert demgegenüber vom Ergebnis her und vermengt Ursache und Wirkung. Die innerhalb des Wahlverfahrens für das Entstehen von Mehrsitzen ursächlichen Faktoren unterstreichen zwar den Bedarf nach einem Ausgleich, rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass das Gesetz von seiner Systematik her auf einen vollen Ausgleich angelegt wäre.

60

a) Eindeutig zu entnehmen ist § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG (ebenso § 10 Abs. 4 Satz 1 GKWG) lediglich, dass es sich bei den dort definierten „Mehrsitzen“ um die sonst allgemein als „Überhangmandate“ bezeichneten Sitze handelt (so auchAs- mussen/ Thiel , GKWG, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Dezember 2007, § 10 Anm. 4). Dies zeigt auch die Gesetzesbegründung zu § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG („<…> Mehrsitze , <…>“, LandtagsDrucksache 12/834 S. 4). „Mehrsitze“ sind diejenigen Sitze, die eine Partei „mehr“ bekommt, als ihr zunächst nach dem verhältnismäßigen Anteil gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG an regulären Sitzen zustehen. Die damit insgesamt auf die Mehrsitzpartei entfallenden Sitze werden sonst mit dem Begriffspaar „Grundmandate“ und „Über-hangmandate“ bezeichnet.

61

b) Die von der Landeswahlleiterin herangezogene Rechtsprechung der schleswigholsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 10 Abs. 4 GKWG kommt zum gleichen Ergebnis wie die dargestellte wahlrechtliche Praxis. Das Verwaltungsgericht folgerte ursprünglich aus dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. November 2000 (- 2 L 25/00 -, NordÖR 2001, 69 ff. = NVwZ-RR 2001, 529 f. = Die Gemeinde SH 2001, 69 = SchlHA 2001, 190, Juris Rn. 38), dass die für den Verhältnisausgleich maßgeblichen Mehrsitze nicht auf die weiteren Sitze anzurechnen seien (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 15. Dezember 2005 - 6 A 237/05 -). Nach der Kommunalwahl im Mai 2008 änderte es seine Auffassung zur Sitzverteilung ausdrücklich. Seitdem interpretiert das Verwaltungsgericht § 10 Abs. 4 Satz 2 GKWG dahingehend, dass bei dem Verhältnisausgleich auf sämtliche nachfolgenden Höchstzahlen, die nach der auf den letzten regulären Sitz entfallenden Höchstzahl kämen, weitere Sitze zu verteilen seien. Der „weitere Sitz“ sei der Oberbegriff für Mehrsitze und für Ausgleichsmandate, die sich aus der Weiterrechnung ergäben (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - 6 A 150/08 -; ebenso Urteil vom 2. Juni 2009 - 6 A 162/08 -). Dem schloss sich das Oberverwaltungsgericht an (vgl. Beschluss vom 15. September 2009 - 2 LA 36/09 -, Juris Rn. 7 f.). Auch die Kommentarliteratur zu § 10 GKWG stimmt mit der Praxis der Landeswahlleiterin und der zitierten Rechtsprechung überein (vgl. Asmussen/ Thiel , a.a.O., § 10 Anm. 5).

62

c) Eine teleologische Auslegung bleibt unergiebig. Sinn und Zweck der Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG ist es, das Mehrheitswahlrecht mit dem Verhältniswahlrecht zu verbinden und in Einklang zu bringen, indem für etwa entstandene Mehrsitze ein Verhältnisausgleich geschaffen wird (vgl. Becker/ Heinz , NordÖR 2010, 131 <135>; entsprechend zu § 10 Abs. 4 GKWG: Schl.-Holst. VG, Urteil vom 18. Dezember 2008, a.a.O.). Spezieller Zweck der Begrenzung dieses Mehrsitzausgleichs soll die Vermeidung eines unbegrenzten Anwachsens des Landtages und der Erhalt seiner Funktionsfähigkeit sein (vgl. Hübner , in: von Mutius / Wuttke/ ders. , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 23; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. < Hrsg. >, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71). Dies besagt indes noch nichts darüber, ob die Grenze zur Funktionsunfähigkeit bereits bei Erreichen des „kleinen Ausgleichs“ oder erst bei Erreichen eines „großen Ausgleichs“ überschritten ist.

63

d) Die Entstehungsgeschichte des § 3 Abs. 5 LWahlG zeigt, dass die „weiteren Sitze“ nicht als Gegenbegriff zu den „Mehrsitzen“ konzipiert sind. Während die Mehrsitze ursprünglich der jeweiligen Partei verbleiben sollten, ohne die Zahl der auf die übrigen politischen Parteien entfallenden Sitze zu verändern, wurde der Begriff „weitere Sitze“ erst mit Einführung des Mehrsitzausgleichs in das Gesetz aufgenommen. Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst an der Regelung des § 10 Abs. 4 GKWG orientiert und mit den „weiteren Sitzen“ die Gesamtzahl der über die reguläre Sitzzahl hinaus zu besetzenden Sitze im Landtag gemeint.

64

Landeswahlrecht und Gemeinde- und Kreiswahlrecht sahen ursprünglich eine Mehrheitswahl mit nur teilweisem Verhältnisausgleich vor (§§ 1 bis 3 LWahlG vom 31. Januar 1947, Amtsbl. S. 95; und vom 27. Februar 1950, GVOBl S. 77; § 11 GKWG vom 15. Juni 1948, GVOBl S. 95, dazu Landtagsvorlage Nr. 103/3 vom 19. Januar 1948, S. 496 ff.). In den 1950’er Jahren wurde der Verhältnisausgleich in beiden Wahlsystemen vom Teilproporz zum Vollproporz „in voller Konsequenz“ umgestellt. Die für den Verhältnisausgleich maßgebliche Stimmenanzahl bestand nicht mehr nur aus den „nicht durch die Mehrheitswahl verbrauchten Stimmen“, sondern aus allen Stimmen, die die Bewerberinnen und Bewerber der einzelnen Parteien in den Wahlkreisen erzielten. Seitdem kann es dazu kommen, dass mehr direkte Vertreterinnen und Vertreter einer Partei gewählt sind, als dieser nach dem Verhältniswahlsystem zustünden. Diese „Mehrsitze“ sollten der jeweiligen Partei nach dem damaligen § 3 Abs. 4 Satz 1 LWahlG (§ 11 Abs. 4 Satz 1 GKWG a.F.) belassen bleiben. Satz 3 bestimmte demgegenüber, dass die Zahl der auf die übrigen politischen Parteien entfallenden Sitze unverändert bleibt (Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951, GVOBl S. 180; dazu 2. WP, Wortprotokolle 13.-15. Tg., 2. Lesung Tg 14/18 f; Gemeinde- und Kreiswahlgesetz vom 29. Januar 1955, GVOBl S. 10; dazu Drucksachen Nr. 47, S. 14; Nr. 100, S. 7 der 3. WP; 2. Lesung, PlPr. 6/304, S. 306).

65

aa) Das Gemeinde- und Kreiswahlgesetz wurde durch Gesetz vom 11. September 1965 (GVOBl S. 73) geändert. Der damalige § 11 Abs. 4 GKWG entspricht dem heutigen § 10 Abs. 4 GKWG. Die Vorschrift regelt die Problematik des Umgangs mit Mehrsitzen (Überhangmandaten) und deren Ausgleich seitdem unter Geltung des Einstimmenwahlrechts. Mit der einen Stimme wird der Wahlkreiskandidat oder die Wahlkreiskandidatin gewählt. Daran gekoppelt ist nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GKWG die Wahl einer Liste. Hierfür werden sämtliche Stimmen, die die unmittelbaren Kandidatinnen und Kandidaten der vorschlagenden Partei oder Wählergruppe zusammen erhalten haben, nochmals addiert. Obwohl also ein Splitting von Erst- und Zweitstimme nicht möglich ist, kann es auch hier dazu kommen, dass die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei (oder Wählergruppe) gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil (vgl. Böttcher , Kommunalrecht, Rn. 223).

66

Der Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs lag die Überlegung zugrunde, dass sich die Gesamtzahl der zu verteilenden Sitze im Ergebnis um das Doppelte der Mehrsitze erhöht, um wenigstens noch einmal die gleiche Zahl an Sitzen verteilen zu können (vgl. schon Drucksache Nr. 511 der 4. WP). In der 1. Lesung während der 5. Wahlperiode wurde insoweit ausgeführt, dass nicht beabsichtigt sei, das Doppelte der Mehrsitze - also bei vier: acht - noch einmal hinzuzunehmen, sondern dass es sich um die einfache Erhöhung der Zahl der Mehrsitze - also bei vier um vier auf acht - handeln solle (1. Lesung PlPr 43/1489 f. zu Drucksache Nr. 501 der 5. WP).

67

bb) Die im Kommunalwahlrecht 1965 erfolgte Wende zum begrenzten Mehrsitzausgleich wurde im Landeswahlgesetz zunächst nicht nachvollzogen (vgl. zuletzt Fassung vom 30. Mai 1985, GVOBl S. 136, geändert durch Gesetz vom 26. Januar 1988, GVOBl S. 51). Erst im Zusammenhang mit der Verfassungsreform von 1990 erfolgte eine wortgleiche Anpassung. Mit der Änderung der Landessatzung durch Gesetz vom 13. Juni 1990 in die Landesverfassung wurde im neuen Art. 10 Abs. 2 LV erstmals die Zahl der Abgeordneten, das Wahlsystem und die Pflicht zum Ausgleich etwaiger Überhangmandate in der Verfassung selbst verankert (vgl. Hübner , a.a.O., Art. 10 A.I.). Bei diesem Stand wurde das Landeswahlgesetz durch Gesetz vom 20. Juni 1990 (GVOBl S. 419) einstimmig geändert (PlPr 12/56). Der damalige § 3 Abs. 4 LWahlG entspricht - mit Ausnahme redaktioneller Anpassungen an die neue Absatznummerierung - dem heutigen § 3 Abs. 5 LWahlG. Diese Änderung erfolgte einerseits, um dem neuen Art. 10 Abs. 2 LV zu genügen (Gesetzesbegründung, Landtags-Drucksache 12/834, S. 2 und 4), sollte sich andererseits aber auch an § 10 Abs. 4 GKWG anlehnen (LandtagsDrucksache 12/834, S. 4 und 5). Das Gesetz sehe einen beschränkten Mehrsitzausgleich vor. Die „Deckelung“ diene der Vermeidung einer unverhältnismäßigen Erhöhung der in § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG bestimmten Abgeordnetenzahl. „Es werden - (…) - auf die noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze verteilt, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Dies ist dann der Fall, wenn auf alle Höchstzahlen (auch der Partei mit Mehrsitzen), die höher sind als die Höchstzahl des letzten Mehrsitzes, weitere Sitze verteilt sind“ (Landtags-Drucksache 12/834, S. 5).

68

cc) In der Folgezeit sah der Gesetzgeber keine Veranlassung, an diesem Konzept des „kleinen Ausgleichs“ etwas zu ändern. Selbst die Einführung des Zweistimmenwahlrechts 1997 (GVOBl S. 462) und des damit möglichen Stimmensplittings zur Differenzierung zwischen persönlich bekannten Kandidatinnen und Kandidaten einerseits und Parteien andererseits (PlPr 14/3) war für den Gesetzgeber kein Anlass, das Prinzip des nur begrenzten Mehrsitzausgleichs und die hierfür 1990 maßgebliche Motivlage eines Gleichlaufs mit dem kommunalen Einstimmenwahlrecht verfassungsrechtlich in Frage zu stellen (vgl. PlPr 14/37, S. 2445; 1. Lesung, PlPr 14/3, S. 86; 2. Lesung, PlPr 14/37, S. 2450). Die seitdem geführte Diskussion zeigt, dass man die - unter anderem mit dem Stimmensplitting verbundene - Gefahr vermehrter Überhangmandate zwar gesehen hat, etwaige Folgerungen aber nur auf anderer Ebene zu ziehen gedachte.

69

Das Zweistimmenwahlrecht kam bei der Landtagswahl vom 27. Februar 2000 erstmals zum Zuge. Da die SPD 41 der 45 Direktmandate errang, entstanden sieben Mehrsitze und damit insgesamt 14 weitere Sitze, sodass sich die Gesamtsitzzahl von 75 auf 89 erhöhte. Sämtliche Mehrsitze konnten damit gedeckt werden. Die FDP- Fraktion nahm dieses Ergebnis zwar zum Anlass, erneut eine Reduzierung der Wahlkreise (von 45 auf 37) vorzuschlagen, stellte aber die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs nicht in Frage (Landtags-Drucksache 15/55). Am Ende der Debatte kam es zu einer Entschließung, nach der die Anzahl der Wahlkreise auf 40 begrenzt und Art. 10 Abs. 2 LV dahingehend geändert werden sollte, dass nur noch 69 Abgeordnete dem Landtag angehören (Landtags-Drucksache 15/2342). Dass ein Ansteigen der Überhangmandate zu einer wahlgleichheitsrelevanten Anwendung der Ausgleichsbegrenzung führen könnte, wurde nicht thematisiert (vgl. PlPr 15/76, S. 5724 ff.).

70

e) Gegen die Annahme, dass § 3 Abs. 5 LWahlG im Sinne eines „großen Aus-gleichs“ ausgelegt werden könnte, spricht ebenfalls die Gesetzessystematik. Sie belegt, dass „Mehrsitze“ nur für eine Partei entstehen, „weitere Sitze“ aber für den gesamten Landtag oder - wie es das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht zu § 10 Abs. 4 Satz 2 GKWG formuliert -, dass die Bezugsgruppen der beiden Begriffe verschieden sind (Beschluss vom 15. September 2009 - 2 LA 36/09 -, Juris Rn. 8). Für die auf die anderen Parteien entfallenden Ausgleichsmandate hält das Gesetz keinen gesonderten Begriff vor. In den Gesetzesfassungen vor Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs waren dies „die auf die übrigen politischen Parteien entfallenden Sitze“. Die erst später hinzukommenden „weiteren Sitze“ sind hingegen diejenigen Sitze, die über die in der Verfassung und - ihr folgend - in § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG festgelegte Zahl von 69 regulären Sitzen hinausgehen und als weitere Sitze den Landtag vergrößern. Dies zeigt sich anhand einer systematischen Auslegung der Norm unter Berücksichtigung ihrer Funktion bei der Verbindung der in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV vorgegebenen Wahlsysteme.

71

aa) Nach seiner Überschrift regelt § 3 LWahlG die (Verhältnis-) Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten. Hierzu bestimmt er in Absatz 1, welche Partei am Verhältnisausgleich teilnimmt und in Absatz 2, wie viele Sitze zur Verteilung zur Verfügung stehen. Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 und 2 LWahlG sind die für jede teilnehmende Landesliste abgegebenen gültigen Zweitstimmen zu ermitteln. Von der jeweiligen Gesamtstimmenzahl ausgehend wird über das Höchstzahlenverfahren die Gesamtzahl der zur Verfügung stehenden Sitze auf die Landeslisten verteilt und durch die Landeslisten besetzt .

72

Darüber hinaus kommt § 3 LWahlG die Funktion zu, die von Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV als Wahlsystem vorgegebene Verbindung der Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl herzustellen. Diese einfachgesetzliche Verbindung ist bereits in § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG angelegt. Schon hier kommt zum Ausdruck, dass die in den Landtag zu wählenden 69 Abgeordneten (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV, § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG) aus zwei zu einem einheitlichen Wahlsystem verbundenen Teilwahlsystemen zu ermitteln sind: Gewählt werden 40 Abgeordnete durch Mehrheitswahl (§ 2 LWahlG) und die übrigen durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der Parteien auf der Grundlage der im Land abgegebenen Zweitstimmenund unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber (§ 3 LWahlG). Letztlich umgesetzt wird diese Verbindung in § 3 Abs. 4 bis 7 LWahlG.

73

Nach Verteilung der Sitze auf die Landeslisten und Besetzung derselben durch die jeweiligen Landeslisten gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG sind die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber auf Grundlage der gültigen Erststimmen (§ 2 LWahlG) zu ermitteln und gemäß § 3 Abs. 4 LWahlG auf das Ergebnis der Listenwahl anzurechnen. Diese Anrechnung dient der Verknüpfung und notwendigen Harmonisierung von Personen- (oder Direkt-)wahl und Verhältniswahl. Methodisch erreicht der Gesetzgeber die Verknüpfung über eine „Verteilungsfikti-on“ (entsprechend zum Bundeswahlrecht: Wrege , Jura 1997, 113), denn die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordneten auf die Landeslisten nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG erfolgt zunächst nur fiktiv. Diese Fiktion wird durch die Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auf die jeweilige Landesliste nach § 3 Abs. 4 LWahlG wieder aufgelöst.

74

Vermag die Liste nicht alle erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber „aufzunehmen“, entstehen „Mehrsitze“, was die Verteilung und Besetzung „weiterer Sitze“ nach Maßgabe des Absatz 5 erforderlich macht. Dabei erschöpft sich der Aussagegehalt des § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG darin, dass der Partei, die Mehrsitze errungen hat, diese Mehrsitze „verbleiben“, obwohl sie zu einer Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze und damit zu einer Verzerrung der nach Absatz 3 ermittelten verhältnismäßigen Sitzanteile führen. Alternativ hätte sich der Gesetzgeber auch dafür entscheiden können, eine solche Verzerrung erst gar nicht entstehen zu lassen, indem die über den Proporz hinausreichende Zahl von direkt gewählten Bewerberinnen und Bewerbern - angefangen bei der- oder demjenigen mit den wenigsten Stimmen - wieder ausscheiden (so bereits Jellinek in § 6 seines Formulierungsvorschlags, AöR 50 - 1926 - 74 ff.). Dies widerspräche jedoch dem Grundgedanken der Personenwahl (statt vieler: Ehlers/ Lechleitner , JZ 1997, 761 <762>). Um diesen zu wahren, ordnet § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG den „Verbleib“ der Mehrsitze an und schafft damit zugleich Bedarf nach einem Ausgleich, äußert sich aber nicht dazu, wie die deshalb zu vergebenden weiteren Sitzeverteilt und besetzt werden. Dies übernimmt Satz 2, indem er eine Weiterrechnung nach dem soeben beschriebenen Muster gemäß Absatz 3 und 4 vorschreibt.

75

Hinsichtlich der Verteilung nimmt § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG uneingeschränkt Bezug auf die „nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen“. Für einen vorab anzunehmenden „Verbrauch“ von Höchstzahlen durch Mehrsitze ist dabei kein Raum. Bei der Verteilung der weiteren Sitze ist vielmehr unmittelbar an die letzte Höchstzahl anzuknüpfen, auf die bei Ermittlung des verhältnismäßigen Sitzanteils ein Sitz entfallen ist. Dies bestätigt auch die Gesetzesbegründung, nach der die Verteilung auf alle Höchstzahlen erfolgen soll; dazu zählt der Gesetzgeber ausdrücklich auch die Höchstzahlen der Mehrsitzpartei (vgl. nochmals Landtags-Drucksache 12/834, S. 5). Ebenso uneingeschränkt schreibt § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG sodann eineBesetzung dieser Sitze nach Absatz 4 vor. Dabei knüpft die Formulierung „zu besetzen“ wiederum an die Formulierung des Absatz 3 Satz 1 an („Verteilung der nach den Landeslisten zu besetzen den Sitze “) und meint wiederum eine Besetzung nach den Landeslisten unter Anrechnung der in den Wahlkreisen gewählten Bewerberinnen und Bewerber. Die Landesliste der Mehrsitzpartei ist bei alledem nicht ausgenommen (ähnlich Becker/ Heinz , NordÖR 2010, 131 <134 f.>).

76

bb) Zutreffend weist die Landeswahlleiterin darauf hin, dass sich ohne Einbeziehung der Mehrsitzpartei beim „Weiterrechnen“ nicht ermitteln ließe, auf welcher Stufe des Verhältnisausgleichs Mehrsitze von dem verhältnismäßigen Stimmenanteil abgedeckt sind (vgl. auch Becker/ Heinz , a.a.O., S. 135). Auf das entsprechende Problem bei § 10 Abs. 4 GKWG hatte bereits das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht (Urteil vom 18. Dezember 2008 - 6 A 150/08 -) hingewiesen: „Weiterhin kann auch nur bei Einbeziehung der Mehrsitze in den Verhältnisausgleich ermittelt werden, wann die Sitzverteilung dem verhältnismäßigen Stimmenanteil entspricht. Wären die auf die Mehrsitzpartei entfallenden Höchstzahlen rechtlich irrelevant, so könnte nicht rechnerisch festgestellt werden, wann ein Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Stimmenanteil einer Partei abgedeckt ist. Schließlich ergäbe sich eine für den Verhältnisausgleich unlösbare Konstellation im Falle mehrerer Mehrsitzparteien, wenn die auf die Listen dieser Parteien entfallenden Höchstzahlen für den Verhältnisausgleich unbeachtlich sein sollten. Die Partei oder Wählergruppierung mit zum Beispiel nur einem Mehrsitz wäre unverhältnismäßig benachteiligt, da sie von vornherein vom Verhältnisausgleich ausgeschlossen wäre.“

77

Dieses Problem lässt sich nur scheinbar durch eine „doppelte Legitimation des Mehrsitzes“ lösen, indem man die auf die Mehrsitze entfallenden Höchstzahlen zwar bei der Weiterrechnung einbezieht, diese (schon vorhandenen) Sitze aber nur gedanklich auf die nächstfolgenden Höchstzahlen verteilt . Nach diesem Ansatz soll das entsprechende Mandat durch die Höchstzahl nochmals legitimiert, die Höchstzahl aber durch einen bereits errungenen Mehrsitz und nicht durch einen „weite-ren“ Sitz besetzt werden. Dieser Ansatz würde das Sitzverteilungsverfahren in einer Weise verkomplizieren, die mit dem Willen des Gesetzgebers und der sich aus dem Aufbau des Gesetzes ergebenden Systematik nicht mehr vereinbar wäre. Er lässt zudem unberücksichtigt, dass § 3 LWahlG nicht allein die Sitzverteilung an Abgeordnete aus den Landeslisten regelt, sondern darüber hinaus die Verbindung der beiden vorgegebenen Wahlsysteme herstellt und so die endgültige Zahl der Sitze an die im Parlament vertretenen Parteien und deren Besetzung bestimmt. Insbesondere die in Absatz 4 vorgesehene und auch über Absatz 5 zur Geltung kommende Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber zeigt, dass die „weiteren Sitze“ nicht zwingend und ausschließlich nur mit Listenbewerberinnen und -bewerbern besetzt werden.

78

Im Übrigen zwingt auch § 3 Abs. 7 Nr. 1 LWahlG zu keiner anderen Sichtweise. Er sieht vor, dass die in den Wahlkreisen unmittelbar gewählten Bewerberinnen und Bewerber, die schon als Direktkandidatinnen oder als Direktkandidaten einen Sitz erhalten, aus der Landesliste ausscheiden. Daraus lässt sich nicht schlussfolgern, dass „weitere Sitze“ nur aus der Landesliste besetzt würden, weil die unmittelbar gewählten Bewerberinnen und Bewerber aus der Landesliste ausscheiden. Denn Zweck des § 3 Abs. 7 Nr. 1 LWahlG ist es lediglich, eine doppelte Besetzung zu verhindern. Er kann nur soweit gelten, wie die unmittelbar gewählten Bewerberinnen und Bewerber tatsächlich zugleich auch als Landeslistenbewerberinnen und -bewerber aufgetreten sind. Dies wiederum ist nach § 26 Abs. 1 Satz 2 LWahlG zwar zulässig, aber keineswegs zwingend.

79

f) Eine andere Auslegung ergibt sich schließlich auch nicht aus einem Rechtsvergleich mit § 4 Abs. 6 des Landeswahlgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Landeswahlgesetz - LWG M-V) in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. Januar 2002 (GVOBl M-V S. 2). Die Beschwerdeführerin zu 1) weist darauf hin, dass § 3 Abs. 5 LWahlG für diese Vorschrift Vorbild gewesen sei; bei § 4 Abs. 6 LWG M-V seien mit den „weiteren Sitzen“ nur Ausgleichsmandate gemeint, dies müsse rechtsvergleichend auch für § 3 Abs. 5 LWahlG gelten. Zwar orientierte sich der Gesetzgeber Mecklenburg-Vorpommerns bei der Neugestaltung des Wahlrechts nach der Wende unter anderem am schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht (allerdings wurde noch das Einstimmenwahlrecht praktiziert, M-V Landtags-Drucksache 1/3644 vom 6. Oktober 1993). Die sprachliche Fassung des § 4 Abs. 6 LWG M-V weicht aber von der des § 3 Abs. 5 LWahlG deutlich ab (Satz 2: „<…> werden den übrigen Landeslisten weitere Sitze zugeteilt“, Satz 3: „<…> bis unter Einbeziehung der Mehrsitze das nach den Absätzen 3 und 4 zu berechnende Verhältnis erreicht ist“). Im Übrigen geht es nicht an, von einer jüngeren Norm eines Landes auf eine ältere Norm eines anderen Landes zu schließen.

III.

80

Das geltende Landeswahlgesetz ist aber seinerseits in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität in wesentlichen Regelungen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 sowie § 16 LWahlG) nicht mehr mit der Landesverfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) vereinbar.

81

Das Landesverfassungsgericht prüft nicht nur die richtige Anwendung des formellen und des materiellen Wahlrechts, sondern auch die Vereinbarkeit des Wahlrechts mit der Landesverfassung. Denn Voraussetzung einer gesetzmäßig durchgeführten Wahl ist auch, dass sich die für die Wahl maßgeblichen Bestimmungen selbst als verfassungsgemäß erweisen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22. Mai 1963 - 2 BvC 3/62 - BVerfGE 16, 130 ff., Juris Rn. 18; und vom 26. Februar 2009 -2 BvC 6/04, Juris Rn. 13 m.w.N., stRspr.; vgl. auch BayVerfGH, Entscheidung vom 8. Dezember 2009 - Vf. 47-III-09 -, BayVBl 2010, 172 ff. = NVwZ-RR 2010, 213 f., Juris Rn. 21; Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 49 Rn. 42 m.w.N.).

82

1. § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken mit Blick auf das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit. Die Normenbestimmtheit und die Normenklarheit folgen aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, das über Art. 28 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 LV auch in der Landesverfassung verbürgt ist (vgl. schon BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2001 - 2 BvK 1/00 - BVerfGE 103, 332 ff., Juris Rn. 164).

83

Das Gebot der Normenklarheit verlangt, dass der Gesetzesadressat den Inhalt der rechtlichen Regelung auch ohne spezielle Kenntnisse mit hinreichender Sicherheit feststellen kann. Gesetze müssen verständlich, widerspruchsfrei und praktikabel sein, damit rechtliche Entscheidungen voraussehbar sind ( Schulze-Fielitz, in: Dreier , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 141 m.w.N.). Zudem müssen die Gerichte in die Lage versetzt werden, getroffene Maßnahmen anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren (vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Juli 2005 - 2 BvR 782/94 u.a. - BVerfGE 114, 1 ff., Juris Rn. 189). Das rechtsstaatliche Gebot hinreichender Normenklarheit und -bestimmtheit verlangt vom Gesetzgeber, seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Dabei lässt sich der Grad rechtsstaatlich gebotener Bestimmtheit nicht allgemein festlegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. September 1978

84

- 1 BvR 525/77 - BVerfGE 49, 168 ff., Juris Rn. 34; und Urteil vom 8. Februar 2001

- 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 91 m.w.N.; Schulze-Fielitz , a.a.O., Art. 20 Rn. 130).

85

Hieran gemessen ist die Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht zu beanstanden. Ihr Aussagegehalt mag sich nicht unmittelbar erschließen; bei näherer Prüfung und unter Berücksichtigung der ohnehin komplizierten Regelungsmaterie stellt sie sich aber im Gesamtgefüge des normierten Wahlverfahrens als hinreichend klar, widerspruchsfrei und in sich logisch dar. Dass der einzelne Wähler und die einzelne Wählerin nicht voraussehen kann, was sie mit ihrer Stimmabgabe bewirken, ist ein generelles Phänomen bei Wahlen, weil die Wirkung der einzelnen Stimme stets vom Stimmverhalten der Wählerschaft insgesamt abhängt (vgl. StGH Bremen, Urteil vom 8. April 2010 - St 3/09 -, NordÖR 2010, 198 ff. Rn. 41).

86

2. Dahinstehen kann, ob die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG für sich betrachtet gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt. Jedenfalls führen die Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG in ihrem Zusammenspiel in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können. Dies ist mit der Verfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) unvereinbar.

87

a) Anders als das Grundgesetz für den Bundestag (vgl. Art. 38 GG) enthält die Landesverfassung neben der Festlegung auf die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV verschiedene Regelungen über die Besetzung des Landtages und die Wahlen hierzu in Art. 10 Abs. 2 LV. Die Verfassungsbestimmung des Art. 10 Abs. 2 LV gibt nicht nur das Wahlsystem für die Landtagswahl vor. Sie verpflichtet zugleich den Gesetzgeber ein Landeswahlrecht zu schaffen, das in der politischen Realität die Entstehung von Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandaten so weit wie möglich verhindert, um so seine weitere Vorgabe, nämlich die Zahl von möglichst nicht mehr als 69 Abgeordneten, einzuhalten.

88

Während Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV die Anzahl der für den Landtag vorgesehenen Abgeordneten festlegen, sieht Satz 4 vor, dass sich diese Zahl ändert, wenn nach einer Wahl Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder Sitze leer bleiben. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV bestimmt als Wahlsystem eine Verbindung der Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl. Daran anknüpfend macht Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV eine weitere Vorgabe für den Gesetzgeber: Für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten muss das Wahlgesetz Ausgleichsmandate vorsehen. Diese Vorgabe dient der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV. Sie macht die Ausgleichsmandate „verfassungsfest“. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass die in der Verhältniswahl angelegte Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis wieder hergestellt wird und es so bei einer repräsentativen Wiedergabe des Wählerwillens bleibt, und zwar unter der Vorgabe, dass die Größe des Landtages die Sitzzahl von 69 Abgeordneten möglichst erreicht, allenfalls geringfügig übersteigt.

89

aa) Nachdem die Zahl der Abgeordneten zunächst mit 75 festgelegt worden war (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV), erfolgte zur 16. Wahlperiode durch Gesetz vom 13. Mai 2003 (GVOBl S. 279) eine Absenkung auf 69 Abgeordnete (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV). Auch wenn sich weder aus dem Nebeneinander dieser beiden Aussagen noch aus den originären Gesetzesmaterialien ergibt, dass der Verfassungsgeber damit eine zahlenmäßig unbedingt verbindliche Zielvorgabe treffen wollte, zeigt sich doch sowohl am Wortlaut als auch an den weiteren Debatten im Landtag, welche Bedeutung er dieser Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV beimisst.

90

(1) Bereits der Umstand, dass die Vorgabe von 75 Abgeordneten in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV nicht durch die nun geltende Zahl von 69 Abgeordneten ersetzt, sondern diese neue Vorgabe zusätzlich in die Verfassung aufgenommen wurde, zeigt, dass der Verfassungsgeber eine deutliche Verkleinerung des Landtages gewollt hat. In dem Nebeneinander dieser beiden Zielgrößen wird eine Tendenz aufgezeigt. Insgesamt kommt damit die Erwartung des Verfassungsgebers zum Ausdruck, dass der Landtag die Zahl von 69 Abgeordneten regelmäßig nicht überschreiten soll. Als Regelgröße verstanden folgt daraus, dass die Entstehung von Überhangmandaten - und der damit einhergehende Anfall von Ausgleichsmandaten - zu begrenzen ist. Zu einer Überschreitung soll es nur ausnahmsweise und dann nur in geringem Maße kommen.

91

(2) Dies wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Die erste Festschreibung der Abgeordnetenzahl in der Verfassung beruhte auf einem entsprechenden Vorschlag der Enquete-Kommission für eine neue Landesverfassung vom 7. Februar 1989 (Landtags-Drucksache 12/180). Die Abgeordnetenzahl sollte ungerade sein und im Interesse verfassungspolitischer Kontinuität nicht zur Disposition der jeweiligen Regierungsmehrheit stehen. Bei der Anzahl selbst orientierte man sich an den seit 1947 im Landeswahlgesetz vorgesehenen Zahlen von 70, 69, 73 und zuletzt 74 Abgeordneten (Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.), die bis dahin noch nie überschritten worden waren (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Die von der Enquete-Kommission vorgeschlagene Zahl von 75 Abgeordneten wurde im weiteren Verlauf der Verfassungsreform nicht mehr diskutiert.

92

Zu einer Diskussion kam es jedoch nach der Wahl zum 13. Landtag 1992, bei der die SPD sämtliche 45 Direktmandate gewann und sich die Zahl der Abgeordneten von 75 auf 89 erhöhte. Eine interfraktionelle Verhandlungsgruppe sollte klären, wie man eine solche Vergrößerung des Landtages durch Überhangmandate künftig verhindern könne. CDU- und FDP- Fraktion reagierten mit einem (später abgelehnten) Gesetzentwurf, mit dem unter anderem die Zahl der Wahlkreise von 45 auf 37 reduziert werden sollte (Landtags-Drucksache 13/2026), um zu gewährleisten, dass der Landtag auch in Zukunft nur die in der Verfassung vorgesehenen 75 Abgeordneten habe und nicht weiter vergrößert werde. Schon nach Auffassung der Enquete-Kommission sei die Funktion des Landtages mit 75 Abgeordneten am besten gewährleistet; mehr als 75 Abgeordnete würden die Effizienz nicht mehr steigern (PlPr 13/65, S. 4431 f., 4438). Nach Auffassung der SPD- Fraktion war die Zahl von 75 Abgeordneten kein exaktes Ziel, sondern nur eine Ausgangszahl, die sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhe, so dass auch 89 Abgeordnete noch von der Verfassung gedeckt seien (PlPr 13/65, S. 4436, 4447). Zugleich gab sie aber Anfang 1994 ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes in Auftrag und beantragte im Landtag eine Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss, durch welche rechtlichen Maßnahmen bei künftigen Wahlen „die Zahl von 75 Landtagsmandaten nicht oder nicht wesentlich überschritten“ werden würde (Landtags-Drucksache 13/2003).

93

Nachdem der 15. Landtag nach der Wahl im Jahr 2000 erneut auf 89 Abgeordnete angewachsen war, brachte die FDP- Fraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlgesetzes ein. Dieser Gesetzentwurf sah unter anderem eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vor (Landtags-Drucksache 15/55), um so „der Verfassung zu mehr Verfassungswirklichkeit zu verhelfen“. Nur so sei zu gewährleisten, dass die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Zahl von Abgeordneten kein Zufall bleibe, sondern zur Regel werde (PlPr 15/2, S. 74). In der nachfolgenden Debatte waren sich die Abgeordneten darüber einig, dass die Anzahl von 75 Abgeordneten „regulär und angemessen“ sei und eine „funktionsfähige Größe“ darstelle (PlPr 15/2, S. 76, 81). In der 2. Lesung sprach man von einem „Verfassungsziel“ und von einer „Regelgröße“, die nicht erheblich überschritten werden dürfe (PlPr 15/76, S. 5731, 5735). Mit Blick auf die mittlerweile geplante Absenkung auf 69 Abgeordnete zog der Abgeordnete Kubicki in Erwägung, ob der Gesetzgeber nicht von Verfassungs wegen gezwungen sei, das Wahlrecht so auszugestalten, dass die vorgegebene Sollzahl optimal erreicht werde. Jedenfalls dürfe sich der Gesetzgeber von den Verfassungsgrundsätzen nicht entfernen (PlPr 15/76, S. 5736). Ebenso bestand schließlich während der Debatte zur Verfassungsänderung von 2003 Einigkeit darüber, dass es sich auch bei der Zahl von 69 Abgeordneten um eine regulär vorgesehene Zahl handeln könne, die sich im Einzelfall durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht. Die Verkleinerung des Landtags war zwar im Wesentlichen motiviert durch eine erforderlich gewordene Diätenstrukturreform (vgl. IR 15/75, S. 13 und PlPr 15/86, Redebeiträge Puls, S. 6549; Kubicki, S. 6559; Hinrichsen, S. 6300, 6557), doch sollte es jedenfalls im Ergebnis nicht noch einmal zu einem Anwachsen des Landtags auf 89 Abgeordnete kommen. Als erstrebenswert wurde vielmehr eine endgültige Größe von höchstens 75 bis 77 Abgeordneten erachtet (PlPr 15/83, S. 6294 ff. und 15/86, S. 6548 ff.).

94

bb) Als weitere Verfassungsvorgabe schreiben Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vor. Dieses lässt sich als „personalisierte Verhältniswahl“ charakterisieren und stellt ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV). In dem so charakterisierten Wahlsystem kommt dem aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit nicht eine nur begrenzte, sondern eine das einheitliche Wahlsystem insgesamt umfassende Bedeutung zu. Dementsprechend konkretisiert und verstärkt die speziellere Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Insoweit verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eingeschränkter Gestaltungsspielraum.

95

(1) Die Wahlgrundsätze des Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Bundestag gelten. Zur Übernahme dieser Grundsätze war der Landesverfassungsgeber im Rahmen des Homogenitätsgebots gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Dies befolgend sind sie 1949 in die Landessatzung aufgenommen worden (vgl. Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 32 f.; Begründung der Landtagsvorlage 263/3 S. 188, VII.; Gross , DV 1950, 129 <131>). Deshalb kann für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 95 m.w.N.), soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum (BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1998 - 2 BvR 1953/95 - BVerfGE 99, 1 ff., Juris Rn. 46; Urteil vom 8. Februar 2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 90; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 29, Juris Rn. 29; vgl. auch Dreier, in: ders. , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 70; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 30; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 64).

96

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger und gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Historisch betrachtet verbietet er für das aktive Wahlrecht eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen etwa nach Vermögensverhältnissen, Klassenzugehörigkeit, nach Bildung, Religion oder Geschlecht. Heute ist er im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme einer und eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben muss. Alle Stimmen sollen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 -BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 67; vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 97; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91 f.). Dieser lässt sich naturgemäß nur anhand einer ex postBetrachtung ermitteln (vgl. Ipsen , JZ 2002, 469 <472>).

97

Die Wahlgleichheit ist nach allgemeiner Auffassung kein Kriterium für die Auswahl des Wahlsystems, sondern bildet lediglich die Grundlage für dessen Ausgestaltung (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 42; kritisch Backhaus , DVBl. 1997, 737 <740>). Innerhalb der verschiedenen Wahlsysteme wirkt sie sich unterschiedlich aus (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 68; Beschluss vom 14. Februar 2005 a.a.O., Juris Rn. 29; und Urteil vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98; vgl. auch Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 208 ff.), je nach dem, ob das Wahlsystem personen- oder parteibezogen ist (vgl. Pauly , AöR 123 - 1998 - 233 <241 f.>). Maßgeblich ist stets, dass im Ergebnis keine unsachliche Differenzierung des Stimmgewichts erfolgen darf (vgl. Caspar , a.a.O., Art. 3 Rn. 36 ff.).

98

(a) Da die Mehrheitswahl die enge persönliche Beziehung der Abgeordneten zum Wahlkreis sichert, führen nur die für die Mehrheitskandidatin oder den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung, während die auf Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben. Hier müssen - ex ante betrachtet - alle Wählerinnen und Wähler über den gleichen Zählwert ihrer Stimmen hinaus die gleiche Erfolgschance haben, indem sie auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 65, 69; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98).

99

(b) Die Verhältniswahl bezweckt demgegenüber eine spiegelbildliche Darstellung der parteipolitischen Ausrichtung der Wählerschaft im Parlament. Hierfür müssen alle Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretung haben. Jede Partei soll im Parlament in der Stärke vertreten sein, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen und damit ihrem politischen Gewicht entspricht (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 115, 118 f.; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 64; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93). Dies erfordert ein Rechenverfahren, welches das Verhältnis der Stimmen für die Parteilisten zu den Gesamtstimmen und eine entsprechende Sitzzuteilung ermittelt, so dass jeder Stimme über die gleiche Erfolgschance hinaus auch der gleiche Erfolgswert zukommt (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 119; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 70; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41; vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 99; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93, stRspr.; vgl. auch: Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 55).

100

(c) Mehrheitswahl und Verhältniswahl lassen sich in verschiedener Weise miteinander verbinden (vgl. Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 11 f.; Wild , a.a.O., S. 211). Ist eine Verbindung beider Wahlsysteme vorgesehen, muss der Gesetzgeber das letztlich angestrebte Regelungsziel und das normative Umfeld mit der spezifischen Ordnungsstruktur des ausgewählten Wahlsystems systemgerecht und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen (ebenso: StGH Bremen, Urteil vom 8. April 2010 - St 3/09 -, NordÖR 2010, 198 ff. Rn. 50). Das ausgewählte Wahlsystem ist in seinen Grundelementen einheitlich und folgerichtig zu gestalten und darf keine strukturwidrigen Elemente enthalten. Dabei ist die Gleichheit der Wahl nicht nur innerhalb des jeweiligen Abschnitts oder Systems zu wahren (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 120; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 100 f., stRspr.; vgl. auch Hübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 19; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 65), sondern es müssen darüber hinaus die Teilwahlsysteme sachgerecht zusammenwirken (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; ebenso Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 30).

101

Entscheidend für die Ermittlung des Gleichheitsmaßstabs ist danach die Charakterisierung des vom Gesetzgeber gewählten Verbindungswahlsystems. Nur wenn das ausgewählte Wahlsystem beiden Teilwahlsystemen ihre Selbständigkeit belässt, können auch die jeweils zu definierenden Maßstäbe auf das jeweilige Wahlsystem beschränkt werden (sogenanntes Grabenwahlsystem). Wird hingegen das ausgewählte Wahlsystem im Ergebnis von einem der beiden Teilwahlsysteme maßgeblich definiert, muss dessen Gleichheitsmaßstab insgesamt Anwendung finden (vgl. Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 179 ; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 351 f.; Wild , a.a.O., S. 211 ff.).

102

(2) Das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag ist als „personalisierte Verhältniswahl“ zu charakterisieren. Es stellt sich als ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar, vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV. Ein Grabenwahlsystem, in dem die Grundsätze der beiden Wahlsysteme nebeneinander stehen, ist durch diese Verfassungsbestimmung ausgeschlossen. Das Schleswig-Holsteinische Landtagswahlsystem ist maßgeblich geprägt und im Ergebnis bestimmt von den Grundsätzen der Verhältniswahl. Dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit kommt dabei eine übergreifende Tragweite zu; insgesamt muss jede Wählerstimme von gleichem Gewicht sein.

103

(a) Schon vor Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs und unter Geltung des Einstimmenwahlrechts führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion als Landesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur schleswigholsteinischen Sperrklausel aus, dass das Landtagswahlsystem Elemente der Mehrheitswahl mit solchen der Verhältniswahl verbinde. Hinter der Mehrheitswahl im Wahlkreis stehe der „Vollproporz in der radikalen Form“. Auch im Falle der Kombination zweier Wahlsysteme dürfe der Verhältnisausgleich nicht beliebig gestaltet werden. Eine ungleichmäßige Verwertung der Stimmen im Verhältnisausgleich sei nicht damit zu rechtfertigen, dass die Parteien bei einer Mehrheitswahl noch ganz anders benachteiligt würden. Wenn die Entscheidung für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich falle, müsse in diesem Teil des Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden. Dies gelte erst recht für das in Schleswig-Holstein eingeführte Wahlsystem, „das letzten Endes auf eine rein verhältnismäßige Verteilung der Mandate nach dem Wahlergebnis im ganzen Land mit bloß zusätzlicher Prämie aus der Mehrheitswahl hinauslaufe“ (Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 2, 109, 121; zustimmend: von Mutius, in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10.; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22 jeweils m.w.N.).

104

Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum als Landesverfassungsgericht - auch das bis heute mit nur einer Wählerstimme arbeitende kommunale Wahlsystem Schleswig-Holsteins den Grundsätzen der Verhältniswahl unterworfen. Die Möglichkeit der Erringung von Direktmandaten stelle keine Durchbrechung des Verhältniswahlsystems dar, weil die Wählerstimme zugleich als Votum für die Liste gelte und die Mandate unter Anrechnung der errungenen Direktsitze nach der Gesamtstimmenzahl verteilt würden. Mit der Entscheidung für das Verhältniswahlsystem sei der Gesetzgeber daran gebunden, sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sicherzustellen (Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 105).

105

(b) Das vom Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (a.a.O., Juris Rn. 2, 109, 121) als einheitliches Wahlsystem in Form der personalisierten Verhältniswahl charakterisierte Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag, das trotz vorgeschalteter Mehrheitswahl den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt, ist mittlerweile in der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV als Verbindungswahlsystem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten festgeschrieben.

106

Die durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) erfolgte Umstellung auf das Zweistimmenwahlrecht sollte eine Differenzierung zwischen persönlich bekannten Kandidatinnen und Kandidaten einerseits und Parteien andererseits ermöglichen (PlPr 14/3, S. 81). Dabei blieben Art. 10 Abs. 2 LV und der Verhältnisausgleich nach § 3 LWahlG jedoch unverändert. Insoweit spricht auch die aktuelle Kommentarliteratur weiterhin von einer „personalisierten Verhältniswahl“ (vgl. Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 37; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 65). Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht - in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Inhalt seiner Entscheidung von 1952 bestätigt (Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 2 und 31).

107

(c) Die personalisierte Verhältniswahl zum Landtag gemäß Art. 10 Abs. 2 LV wird im Landeswahlgesetz nach den §§ 1 bis 3 LWahlG durch die Verknüpfung einzelner Abschnitte von (Teil-) Wahlsystemen umgesetzt. Die Schritte zur Verknüpfung beschreibt § 3 LWahlG wie folgt: Zunächst wird die Anzahl der auf die einzelnen Landeslisten entfallenden Sitze auf Grundlage der gültigen Zweitstimmen ermittelt und die Gesamtzahl der Abgeordneten entsprechend auf die Landeslisten verteilt (§ 3 Abs. 3 LWahlG). Sodann sind die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber auf Grundlage der gültigen Erststimmen (§ 2 LWahlG) zu ermitteln und auf das Ergebnis der Listenwahl anzurechnen (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Diese Anrechnung dient der Verknüpfung und notwendigen Harmonisierung von Personen- (oder Direkt-) wahl und Verhältniswahl (vgl. für § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG:Ipsen , Staatsrecht I, 21. Aufl. 2009, Rn. 114, 119). Methodisch erreicht der Gesetzgeber die Verknüpfung über eine „Verteilungsfiktion“ (so für das Bundeswahlrecht: Wrege , Jura 1997, 113), denn die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordneten auf die Landeslisten nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG erfolgt zunächst nur fiktiv. Diese Fiktion wird durch die Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auf die jeweilige Landesliste wieder aufgelöst (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Schließlich schreibt § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG vor, dass einer Partei die in den Wahlkreisen errungenen Mandate auch dann verbleiben, wenn deren Anzahl größer ist als die des verhältnismäßigen Sitzanteils (entsprechend § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG). Zum Zwecke des Ausgleichs werden hierfür weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren vergeben.

108

(d) Trotz dieser verschiedenen Abschnitte handelt es sich bei dem heutigen Landeswahlsystem somit nicht um ein (Mischwahl- oder) Grabensystem, sondern um ein einheitliches Wahlsystem, das erst aus der Verbindung der beiden Wahlsysteme entsteht. Gerade erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Systemabschnitte lassen sich die Landtagsmandate ermitteln. Zweck der Verbindung ist es, sowohl eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten nach Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu bestimmen und so das Persönlichkeitselement einzubringen (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 2 LWahlG) als auch, den parteibezogenen Proporz zu sichern (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 3 LWahlG).

109

Die Direktkandidatinnen und Direktkandidaten werden zwar in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Die von ihnen im Landtag besetzten Sitze werden aber nicht unter den Bedingungen der Mehrheitswahl vergeben, sondern unter Anrechnung auf die Landeslisten. Die von den erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern besetzten Sitze sind von ihnen im Ergebnis zwar persönlich gewonnen, zugleich sind sie aber Teil der verhältnismäßigen Abbildung der Stärke der Parteien und gehen in die mit der Verhältniswahl bezweckte Abbildung der relativen Stimmverteilung im Wahlvolk ein.

110

Aus dem Landtagswahlsystem wird auch nicht dadurch eine „Persönlichkeitswahl, ergänzt um Elemente der Verhältniswahl“, weil die Sitze nicht - wie im Bund - in einem prozentualen Verhältnis von 50:50 auf die Mehrheitswahl und die Verhältniswahl aufgeteilt werden, sondern gemäß § 1 Abs. 1 LWahlG - historisch gewachsen - in einem prozentualen Verhältnis von etwa 60:40 (heute: 40 Direktmandate zu 29 planmäßigen Listenmandaten). Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass der prozentuale Anteil der direkt gewählten Abgeordneten kleiner wird, sobald es zu Mehrsitzen kommt, die der jeweiligen Partei - zwecks Wahrung des Persönlichkeitselements - verbleiben. Das „Verbleiben“ dieser Mehrsitze führt zu einer Erhöhung der Gesamtsitzzahl im Landtag, während die gesetzlich festgelegte Zahl von 40 Direktmandaten gleich bleibt. Dies galt im Übrigen schon vor Einführung des Art. 10 Abs. 2 LV und des Mehrsitzausgleichs.

111

(3) Mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf einen Ausgleich der Überhangmandate (Mehrsitze) in Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV hat der Verfassungsgeber die Dominanz der Verhältniswahl nochmals bekräftigt und ihr Gewicht in Richtung Gesamtproportionalität gestärkt. Diese Stärkung drängt das Teilelement Mehrheitswahl zwangsläufig weiter zurück.

112

(a) Nach dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV ist nur eindeutig festgelegt, dass ein Ausgleich stattzufinden hat; eine Aussage über die Anzahl oder die Berechnung der Ausgleichsmandate fehlt demgegenüber. Auch aus der Entstehungsgeschichte des 1990 in die Landesverfassung eingefügten Art. 10 Abs. 2 LV lässt sich nicht entnehmen, wie der Verfassungsgeber den konkreten Ausgleich gestaltet wissen wollte.

113

(aa) Die frühere Landessatzung (LS) sah noch keine Bestimmungen über die Wahlen zum Landtag vor; auch die 1988 eingesetzte Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ befasste sich nicht mit dem Wahlrecht (vgl. Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.). Der im Februar 1989 eingesetzte Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“ - SoAVP - (Landtags-Drucksache 12/218) diskutierte die verfassungsmäßige Festlegung der Abgeordnetenzahl im Landtag und die damit zusammenhängende Frage, ob die Regelung von Überhang- und Ausgleichsmandaten dem einfachen Gesetzgeber überlassen werden könne.

114

In der 2. Sitzung des Sonderausschusses wurde die Gefahr des Entstehens von Überhangmandaten für den Fall, dass man wenige Listenmandate und viele Wahlkreise vorsehe, zwar angesprochen, in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen aber als gering erachtet (SoAVP 2/20 f.). In der 5. Sitzung einigte man sich darauf, die Zahl der Mandate in der Verfassung festzuschreiben. Da Abweichungen hiervon aus wahlsystematischen Gründen nicht ausgeschlossen seien, sollten auch Überhang- und Ausgleichsmandate in der Verfassung Erwähnung finden (SoAVP 5/3 ff.). In der 6. Sitzung wurde diskutiert, ob die Entscheidung über Überhang- und Ausgleichsmandate dem jeweiligen Gesetzgeber überlassen werden soll. Im Ergebnis war es der erklärte Wille des Ausschusses, in der Verfassung eine Formulierung zu wählen, die es dem Gesetzgeber verbiete, Überhang-, Ausgleichs- oder Leermandate auszuschließen; diese sollten grundsätzlich im Wahlgesetz möglich gemacht werden (SoAVP 6/5 ff.). Den Formulierungsvorschlag des wissenschaftlichen Dienstes, wonach das Wahlgesetz Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen müsse (Landtags-Umdruck 12/479), übernahm der Ausschuss in seiner 7. Sitzung nahezu wortgleich (SoAVP 7/4). Der anschließende Vorschlag des Landeswahlleiters, sich hinsichtlich des geltenden Wahlsystems (kombinierte Persönlichkeits- und Verhältniswahl) und der Verpflichtung des Gesetzgebers zu Ausgleichsmandaten klarer festzulegen, scheiterte zunächst, weil man meinte, dass es einer weiteren Klarstellung nicht bedürfe. Die Festlegung auf das gemischte Wahlsystem sei schon so erkennbar (SoAVP 21/19 ff.).

115

Im Abschlussbericht des Sonderausschusses vom 28. November 1989 wurde folgender Art. 10 LV vorgeschlagen (Landtags-Drucksache 12/620, S. 9):

116

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Diese Zahl ändert sich, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen muss.

117

Der Sonderausschuss führte dazu aus: „Die in Satz 1 festgelegte Abgeordnetenzahl kann sich nur ändern, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Insoweit die Einzelheiten zu regeln, muss (…) dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben. Sein Regelungsspielraum wird allerdings durch Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV eingeengt. Wenn das Gesetz Überhang- oder Ausgleichsmandate ermöglichen muss, so wird damit mittelbar das Wahlsystem - nämlich das System einer kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahl -vorgegeben“ (Landtags-Drucksache 12/620 , S. 40).

118

Die daraufhin eingebrachten Gesetzentwürfe (Landtags-Drucksache 12/637, S. 5 und 12/638 , S. 4) übernahmen den Vorschlag zu Art. 10 Abs. 2 LV. In der ersten Lesung am 16. Januar 1990 mahnte der damalige Innenminister - wie zuvor schon der Landeswahlleiter (Landtags-Umdruck 12/763) - eine klarere Formulierung der wahlrechtlichen Regelungen an. Es sei ein Mangel, wenn Einzelheiten eines bestimmten Wahlsystems geregelt würden, dabei aber nicht das Wahlsystem selbst bezeichnet werde, welches verfassungsfest gemacht werden solle (PlPr. 12/43 S. 2538). Auf Bitte des Sonderausschusses formulierte er die aus Sicht der Landesregierung wünschenswerten Änderungen und fügte in Art. 10 Abs. 2 LV die Festschreibung des bis dahin einfachgesetzlich schon geltenden kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahlrechts ein (Umdruck 12/1292). Dem schlossen sich der Sonderausschuss (Landtags-Drucksache 12/826) und der Landtag an. Damit wurde Art. 9 Abs. 1 LS nach zweiter Lesung am 30. Mai 1990 (PlPr 12/55) durch Gesetz vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) durch folgenden Art. 10 LV ersetzt:

119

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

120

Soweit die ursprüngliche Fassung „(…) ermöglichen muss“ geändert wurde in „(…) vorsehen muss“, präzisiert und konkretisiert dies den an den Gesetzgeber gerichteten Auftrag (so auch der Vorsitzende des Sonderausschusses während der 21. Sitzung, SoAVP 21/22). Die Diskussion im Sonderausschuss gibt nicht her, dass der Verfassungsgeber durch diese Formulierung zwingend einen Vollausgleich vorschreiben wollte.

121

(bb) Vollständig würdigen lässt sich die Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2 LV nur vor dem Hintergrund des geltenden Landeswahlrechts. Die Tatsache, dass sich der Verfassungsgeber im Rahmen der Beratungen zur Frage des Voll- oder Teilausgleichs nicht ausdrücklich geäußert hat, beruhte darauf, dass mit der Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) in nennenswertem Umfang damals noch nicht gerechnet wurde.

122

Mit Inkrafttreten der neuen Landesverfassung musste auch das Landeswahlgesetz geändert werden, weil es bis zu dieser Zeit noch keinen Mehrsitzausgleich vorsah. Der Entwurf zum Landeswahlgesetz wurde bewusst an § 10 Abs. 4 GKWG angelehnt (Landtags-Drucksache 12/834, S. 2). Das Änderungsgesetz vom 20. Juni 1990 (GVOBl S. 419) trat am Tag nach seiner Verkündung in Kraft. Aus der parallel zur Verfassungsänderung vorgenommenen Einführung eines nur beschränkten Mehrsitzausgleiches - im damaligen § 3 Abs. 4 LWahlG - könnte geschlossen werden, dass der mit dem Gesetzgeber identische Verfassungsgeber nicht zwingend einen stets vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten vorschreiben wollte. Wenn der Landtag erstmalig eine Pflicht zum Ausgleich von Überhangmandaten in die Landesverfassung aufnimmt und nicht nur in Kenntnis, sondern auch aus Anlass seiner eigenen Verfassungsvorgaben zeitgleich als Gesetzgeber das Wahlrecht ändert, ist es zwar naheliegend, dass er die durch diese Gesetzesänderung herbeigeführte Rechtslage - die Begrenzung des Ausgleichs in § 3 Abs. 4 Satz 3 LWahlG bei geltender Ausgleichspflicht nach Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV -für mit der Verfassung vereinbar hielt. Abgesehen davon, dass eine solche Annahme auch nicht zutreffen muss und insbesondere nicht vom einfachen Recht auf die richtige Auslegung der Verfassung geschlossen werden kann, gibt es dafür jedoch keine weiteren Anhaltspunkte.

123

Bei Verabschiedung der neuen Verfassung sah das Landeswahlgesetz noch das Einstimmenwahlrecht vor. Die Einführung des Zweistimmenwahlrechts war noch nicht in der parlamentarischen Diskussion, sie erfolgte erst durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462). Die Möglichkeit, dass es bei einer Landtagswahl zu Überhangmandaten kommen würde, war dennoch nicht auszuschließen und hatte durch Übernahme der Formulierung aus § 10 Abs. 4 GKWG Berücksichtigung gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese theoretische Möglichkeit tatsächlich realisieren würde, war von der praktischen Erfahrung her allerdings noch nicht belegt. Seit 1947 bis zur Verfassungsänderung war es bei Landtagswahlen nicht dazu gekommen, dass der Anteil der Direktmandate einer Partei größer gewesen wäre als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil. Die Wahlstatistik zeigt, dass die gesetzlich festgelegte Zahl von Abgeordneten erstmals aufgrund der Landtagswahl 1992 überschritten worden ist („Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009).

124

Umso fernliegender war im Jahre 1990 die Vorstellung, dass bei tatsächlicher Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) die Gewährung von insgesamt doppelt so vielen weiteren Sitzen nicht ausreichen würde, um einen vollständigen Ausgleich zu erreichen. Tatsächlich hat es in Schleswig-Holstein nahezu 20 Jahre gedauert, bis dieser Fall bei der Landtagswahl 2009 erstmals eingetreten ist. Die Faktoren, die diese Entwicklung ermöglichten (Einführung des Zweistimmenwahlrechts mit der Möglichkeit des Stimmensplittings, zunehmend breiteres Parteienspektrum und infolgedessen breitere Streuung der Zweitstimmen), waren damals noch nicht voraussehbar.

125

Vergleichbar wurde etwa für Niedersachsen noch 1996 darauf hingewiesen, dass das Verbleiben ungedeckter Überhangmandate nach begrenztem Ausgleich ein Phänomen sei, das „in den vergangenen Jahrzehnten“ keine praktische Bedeutung erlangt habe, weshalb davon ausgegangen werden könne, „dass der Gesetzgeber (…) das Erforderliche getan hat, um die Folgen einer Verzerrung des Erfolgswerts von Wählerstimmen zu beseitigen“ (vgl. Ipsen/Koch , NdsVBl 1996, 269 <271>). Entsprechend soll der historische Bundesgesetzgeber Überhangmandate als vernachläs-sigenswerten Schönheitsfehler angesehen und deshalb den parteipolitischen Streitpunkt, ob das Wahlsystem den Schwerpunkt in der Mehrheitswahl oder in der Verhältniswahl habe, pragmatisch offen gelassen haben, um insoweit kein komplizierendes Ausgleichsverfahren schaffen zu müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht ist dieser Annahme anfänglich gefolgt, zumal diese durch die Wahlergebnisse zunächst auch bestätigt wurde (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff. - Sondervotum -, Juris Rn. 181 ff.; Wrege , Jura 1997, 113 <115 f.> beide m.w.N.). Erst die Bundestagswahl 1994, bei der die CDU zwölf und die SPD vier Überhangmandate errangen, gab Anlass zu einer Neupositionierung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 10. April 1997 (a.a.O., Juris Rn. 23).

126

(b) Bis hierher lässt sich für den Gesetzgeber keine zwingende Pflicht zum Vollausgleich begründen. Sinn und Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV könnten in diese Richtung weisen. Die Pflicht, für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen, dient der Wahrung und Stärkung des auch bundesrechtlich über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 (Satz 2) GG verankerten Grundsatzes der Wahlgleichheit in Art. 3 Abs. 1 LV.

127

Generell können Überhangmandate entstehen, wenn Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl miteinander verbunden werden. Die für diesen Fall vorgesehene Gewährung von Ausgleichsmandaten stellt sicher, dass das Verhältnis der Sitze der einzelnen Parteien dem Verhältnis der für die einzelnen Landeslisten abgegebenen Stimmen entspricht, so dass sich die politischen Gewichte durch das Entstehen von Überhangmandaten im Ergebnis nicht verändern (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 29; Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 33).

128

Diese Zielsetzung hat auch Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV. Nach den Beratungen im Sonderausschuss sollten die Ausgleichsmandate mit dieser Regelung „verfassungsfest“ gemacht werden. Außerdem sollte unmissverständlich vorgeschrieben werden, dass durch die Ausgleichsmandate das Prinzip der Verhältniswahl zu wahren sei (SoAVP 21/21 f.). Entsprechend verpflichtet Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den Gesetzgeber zur (Wieder-) Herstellung der nach dem Zweitstimmenanteil festgestellten politischen Gewichte der einzelnen im Landtag vertretenen Parteien und damit zur Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis (ebensoWaack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71). Unter Rückgriff auf den strengen Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV ergibt sich daraus, dass nach der spezielleren Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Vollausgleich die Regel, der Teilausgleich hingegen eine zwingend begründungsbedürftige Ausnahme darstellt (ebensoMorlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, Landtags-Umdruck 17/752, S. 4).

129

(4) Dient danach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV und legt den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit von Verfassungs wegen fest, kann die Vorschrift nicht als Begründung dafür herhalten, dass der Gesetzgeber dahinter zurückbleiben oder den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit gar relativieren dürfte. Vielmehr hat der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahlgleichheit zu einer optimalen, „bestmöglichen“ Geltung zu verhelfen (so schonHübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 23). Überhangmandate dürfen daher grundsätzlich nur im unvermeidlichen Mindestmaß anfallen, es sei denn sie werden durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Der Ausgleich muss dann allerdings so durchgeführt werden, dass die eingetretene Verzerrung soweit wie möglich wieder beseitigt, also der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügt wird (im Ergebnis ebenso: StGH BW, Urteil vom 12. Dezember 1990 - 1/90 -, VBlBW 1991, 133 ff., Juris Rn. 53 ff.; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 71; Hübner , a.a.O.).

130

(a) Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Denn der Wahlgleichheit ist - anders als dem allgemeinen Gleichheitssatz - ein strikt formaler Charakter zu eigen. Ebenso wie die übrigen Wahlrechtsgrundsätze ist sie einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich (vgl. nur StGH BW, Urteil vom 23. Februar 1990 - 2/88-, VBlBW 1990, 214 ff., Juris Rn. 44; BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 108; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91, 97; Schneider , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 38 Rn. 67 ). Deshalb kann sich der Gesetzgeber nicht damit begnügen, überhaupt einen Ausgleich vorzusehen. Genüge getan ist dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV grundsätzlich erst dann, wenn sämtliche Überhangmandate ausgeglichen sind. Jedes ungedeckt bleibende Überhangmandat muss sich (wieder) den strengen Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 LV stellen und ist rechtfertigungsbedürftig.

131

(b) Selbst wenn dem Bundesgesetzgeber nach Art. 38 Abs. 1 GG insoweit ein größerer Gestaltungsspielraum zustünde (so BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 107), wäre dies auf die schleswigholsteinische Rechtslage nicht übertragbar. Denn das schleswig-holsteinische Landtagswahlsystem ist jedenfalls nicht darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl in Form von überhängenden, das heißt im Ergebnis ungedeckten Mehrsitzen zu erhalten. Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV verpflichten den Landesgesetzgeber vielmehr insgesamt auf den Proporz nach Zweitstimmen und auf einen Verhältnisausgleich, der grundsätzlich auch die Mehrsitze deckt (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 109, 121; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

132

Das „sachgerechte Zusammenwirken“ der miteinander verbundenen Teilwahlsysteme erfordert eine Geltung des Gebots des gleichen Erfolgswerts „grundsätzlich für das gesamte Wahlverfahren“ (so schon von Mutius , in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10). Sind aber - wie im Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag -einzelne Abschnitte verschiedener Wahlsysteme so miteinander verbunden, dass sich die Zusammensetzung des Landtages erst und gerade aus ihrem Zusammenspiel ergibt, muss auch dieses Zusammenspiel dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit gehorchen (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 109, 121). Hieraus hat das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Schluss gezogen, dass etwaige Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit nur unter den engen Voraussetzungen eines „zwingenden Grundes“ zulässig sind (Beschluss vom 14. Februar a.a.O., Juris Rn. 31; so auch von Mutius , a.a.O., Art. 3 Rn. 10; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 27, 49; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 69).

133

Soweit das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluss (a.a.O., Juris Rn. 47) in einem obiter dictum ausführt, dass der schleswig-holsteinische Verfassungsgeber bewusst darauf verzichtet habe, das Wahlsystem und dessen konkrete Ausgestaltung im Einzelnen verfassungsrechtlich vorzuschreiben, bezieht sich dies nicht auf die durch Ausgleichsmandate herzustellende Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis.

134

Soweit vertreten wird, das Ausgleichsverfahren müsse kein „bestmögliches“ sein, sondern sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten (unter Verweis auf Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71), lassen sich auch damit keine Abstriche am strengen Maßstab der Erfolgswertgleichheit begründen. Dieses „Neutralitätsgebot“ entstammt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ersten gesamtdeutschen Wahl (Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46 f.). In dieser Entscheidung hat das Gericht nicht zur Lockerung des Maßstabs, sondern zur Sicherung der Erfolgswertgleichheit die Übernahme der Sperrklausel für das gesamte - erweiterte - Wahlgebiet angesichts der gegebenen besonderen Umstände für verfassungswidrig befunden.

135

(c) Dies wird durch die oben ((3) (a) (aa) ) dargestellte Entstehungsgeschichte eindrucksvoll bestätigt. Der mit der Verfassungsreform befasste Sonderausschuss zog aus dem bestehenden Wahlsystem die Konsequenz, dass sich die Anzahl der in der Verfassung festzulegenden Abgeordneten im Falle des Entstehens von Überhangmandaten erhöhen soll. Dem einfachen Gesetzgeber sollte nicht nur mit der Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV die Entscheidung über die Anzahl der regulären Gesamtsitze, sondern auch die Entscheidung über das Maß ihrer Erhöhung entzogen werden. Im Falle des Entstehens von Überhangmandaten soll sich die Zahl der Gesamtsitze um Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhen (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV), während es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, durch eine entsprechende Wahlrechts- oder Verfahrensgestaltung nach Möglichkeit schon die Entstehung von Überhangmandaten zu verhindern. Nur insoweit bleibt dem Gesetzgeber überhaupt ein Gestaltungsspielraum.

136

b) An diesen Verfassungsvorgaben ist das derzeitige Landeswahlrecht zu messen. Die im Zusammenspiel von § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 LWahlG sowie § 16 LWahlG angelegte Möglichkeit der deutlichen Überschreitung der Regelgröße des Landtages von 69 Abgeordneten bei gleichzeitigem Entstehen ungedeckter Mehrsitze führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen. Dadurch werden sowohl der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV als auch die Verfassungsvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu überschreiten, verfehlt. Dies ist weder mathematisch unausweichlich noch durch anderweitige, sachlich legitimierende Gründe zu rechtfertigen.

137

aa) Selbst wenn die von einer Vielzahl von Beschwerdeführern in den Mittelpunkt ihrer Rügen gestellte Begrenzung des Mehrsitzausgleichs durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und die damit nur eingeschränkte Wiedergabe des mit den Zweitstimmen zum Ausdruck gebrachten Wählerwillens im Wahlergebnis zunächst nur an Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV unter Berücksichtigung der aus der Wahlgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 LV abzuleitenden Anforderungen an den Gesetzgeber gemessen wird, ist festzustellen, dass die Vorschrift erst gemeinsam mit den sonstigen Regelungen in § 3 Abs. 5 sowie in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG unter den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen dazu führt, dass es zu einer Verzerrung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen kommt, die sich nicht nur als vereinzelte und deshalb vernachlässigenswerte Ausnahme darstellt.

138

(1) Durch die Begrenzung des Verhältnisausgleichs können ungedeckte Mehrsitze entstehen, die ihrerseits zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen führen. Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und Zweitstimme zutage. Über die Erststimme werden in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht 40 Direktmandate ermittelt. An ihrer Zahl ändert sich durch das Entstehen von ungedeckten Mehrsitzen nichts. Auch die Zweitstimmen erfahren - isoliert betrachtet - keine ungleiche Gewichtung. Die Ungleichheit ergibt sich erst daraus, dass für die Mehrsitzpartei - wenn Mandate ungedeckt bleiben - nicht nur die Zweitstimmen, sondern auch die erfolgreichen Erststimmen zählen (vgl. Ehlers / Lechleitner , JZ 1997, 761 <762> m.w.N.; Wrege , Jura 1997, 113 <115>) und deren Wählerinnen und Wähler damit einen stärkeren politischen Einfluss bekommen als die der anderen Parteien.

139

Dieses Phänomen der Stimmverdoppelung ergibt sich daraus, dass der am Ende der Sitzzuteilung stehende Verhältnisausgleich unter Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Landesliste erfolgt, § 3 Abs. 3 und 4 LWahlG. Der Verhältnisausgleich bewirkt prinzipiell, dass jede Wählerin und jeder Wähler letztlich nur mit der Zweitstimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtags nimmt. Fällt die Erststimme auf eine nicht erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen nicht erfolgreichen Wahlkreisbewerber, bleibt sie schon nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl ohne Gewicht. Fällt die Erststimme auf eine erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, wird sie durch die Anrechnung auf die Landesliste durch die Zweitstimme aufgezehrt. Fallen jedoch entsprechend § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG Mehrsitze an, verstärkt sich das Stimmgewicht derjenigen Wählerinnen und Wähler, die zur Entstehung der Mehrsitze beigetragen haben, dadurch, dass bei ihnen sowohl Erst- als auch Zweitstimme an der Bestimmung der Mandatszahl der Mehrsitzpartei im Landtag mitwirken. Werden die Mehrsitze schließlich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG nicht vollständig ausgeglichen, verhelfen sie der Mehrsitzpartei mit ihrer Erststimme zu einem Mandat, das außerhalb des Proporzes steht.

140

(2) Diese im Wahlgesetz angelegte ungleiche Gewichtung der Stimmen hat sich im Ergebnis der Landtagswahl 2009 realisiert. Sie beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit, da es jedenfalls nach der gebotenen ex post - Betrachtung an einem gleich großen Einfluss aller Wählerstimmen auf die Verteilung der Landtagssitze fehlt.

141

Die der CDU verbliebenen drei ungedeckten Mehrsitze liegen außerhalb des Proporzes und führen dazu, dass denjenigen Wählerinnen und Wählern von Direktkandidatinnen und Direktkandidaten der CDU ein stärkeres Stimmgewicht zukommt, die mit der Summe ihrer Stimmen zu dem Überhang an Mandaten beigetragen haben. Diese nach dem endgültigen Wahlergebnis bestehende Ungleichbehandlung des Stimmgewichts der Wählerinnen und Wähler der CDU gegenüber dem der Wählerinnen und Wähler der anderen Parteien ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt:

142

1          

2          

3          

4          

5          

6          

7          

8          

Partei

Zweitstimmen

verhältnism. Sitzanteil

Stimmen je Mandat

Sitzanteil nach Mehrsitzausgl.

Stimmen je Mandat

mit unged. Mehrsitzen

Stimmen je Mandat

CDU

505.612

23   

21.983,13

31   

16.310,06

34   

14.870,91

SPD

407.643

19   

21.454,89 *

25   

16.305,72 *

                 

FDP

239.338

11   

21.758

14   

17.095,57

                 

GRÜNE

199.367

9       

22.151,88

12   

16.613,91

                 

SSW

69.701

3       

23.233,66

4       

17.425,25

                 

DIE LINKE

95.764

4       

23.941 *

5       

19.152,80 *

                 
143

*Differenz zwischen niedrigster und höchster Stimmenzahl (Marge) = 2.486,11 und 2.847,08 Stimmen

144

Während die Spalten 4 und 6 zeigen, wie viele Zweitstimmen jede Partei für die Zuteilung eines Sitzes innerhalb des Proporzes benötigt (bei einem verhältnismäßigen Sitzanteil gemäß § 3 Abs. 3 - Spalte 3 - und nach dem Mehrsitzausgleich gemäß Abs. 5 Satz 2 LWahlG - Spalte 5 -), zeigt Spalte 8, wie viele Zweitstimmen die CDU nur deshalb weniger braucht, weil sie mit den ungedeckten Mehrsitzen aufgrund eines Überschusses an Wahlkreismandaten, die mit Erststimmen gewonnen wurden, zusätzliche Sitze zugeteilt erhielt. Während die mathematisch unvermeidbare Differenz zwischen der größten und der kleinsten benötigten Stimmenzahl (Marge) innerhalb des Proporzes 2.847,08 Stimmen (Spalte 6) beträgt, kommt es nun zu einer Marge von 4.282,79 Stimmen.

145

Diese Zahlen zeigen, dass der vorgesehene Verhältnisausgleich nicht geeignet ist, die Wählerschaft spiegelbildlich im Landtag darzustellen. Die dabei eintretende Verzerrung geht über die unausweichlichen Folgen des hier zur Anwendung kommenden Verteilungsverfahrens nach d’Hondt hinaus. Mit den nach Spalte 8 benötigten Zweitstimmen verlässt die CDU den Rahmen, der sich aus einem Vergleich der niedrigsten (SPD: 16.305,72) mit der höchsten (DIE LINKE: 19.152,80) benötigten Stimmenzahl ergibt.

146

(3) Zwar besteht die Gefahr der Ungleichgewichtung infolge ungedeckter Mehrsitze nicht gleichermaßen für alle Wahlberechtigten und muss sich auch nicht bei jeder Wahl realisieren. Dies ist jedoch für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidend (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 107 f.). Entscheidend ist, dass das Ergebnis der Landtagswahl 2009 sich nicht als vernachlässigenswerter Ausnahmefall darstellt; mit ungedeckten Mehrsitzen und einer Verzerrung der Stimmgewichtung bezogen auf den einzelnen Landtagssitz muss für die Zukunft vielmehr regelmäßig gerechnet werden. Denn abgesehen von dem unvorhersehbaren Zusammenspiel der verschiedenen Ursachen entwickelt sich die politische Wirklichkeit in eine Richtung, die das Entstehen von Mehrsitzen bei der derzeitigen Gestaltung des Wahlrechts auch künftig mehr als wahrscheinlich macht. Hierzu zählt etwa die Erweiterung des Parteienspektrums mit breiterer Streuung der Zweitstimmen (vgl. schon Ipsen , JZ 2002, 469 <472>). Diese Entwicklung hatte sich schon bei den Kommunalwahlen 2008 abgezeichnet, wo es in zahlreichen Gemeinden - auch ohne die Möglichkeit des Stimmensplittings - zu ungedeckten Mehrsitzen gekommen war (vgl. dazu: Landtags-Drucksache 16/2152 vom 2. Juli 2008; IR 16/104 vom 10. Juni 2009, S. 10 ff.; und PlPr 16/117, S. 8740). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die zur Landtagswahl 2000 eingeführte Zweitstimme und das dadurch ermöglichte Stimmensplitting. Auch die Anzahl und die unterschiedliche Größe der Wahlkreise können zu Überhangmandaten führen (zum Ursachenzusammenhang allgemein: Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 246, 248; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 343 ff.; Klein , in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 177 , Ipsen, a.a.O., S. 471; speziell für Schleswig-Holstein: Stellungnahmen an den Landtag zu Landtags-Drucksache 17/10; Landtags-Drucksache 15/55; dazu noch unten bb) (2) (e) (cc) ).

147

bb) Rechtfertigungsgründe für diese Verzerrung der Erfolgswertgleichheit liegen in Anbetracht der diese Verzerrung zugleich, und zwar gemeinsam, bewirkenden weiteren Vorschriften des Landeswahlrechts derzeit nicht vor. Verantwortlich hierfür sind neben tatsächlichen Ursachen insbesondere die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG und die weiteren Vorschriften der § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG.

148

(1) Innerhalb des aufgezeigten engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit liegt jedoch vor, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 115 m.w.N.). Kommt es zu Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit, sind diese nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 53 m.w.N.; und Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 m.w.N., stRspr.; speziell für das schleswig-holsteinische Landeswahlrecht: Beschluss vom 14. Februar 2005

149

- 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

150

„Zwingend“ sind dabei nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen. „Zwingend“ sind auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können (ebenso: StGH BW, Urteil vom 14. Juni 2007 - 1/06 -, DÖV 2007, 744 ff. = VBlBW 2007, 371 ff., Juris Rn. 45 m.w.N.). Dazu gehört nach der Schleswig-Holsteinischen Verfassung die vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Ausreichen kann aber auch ein „zureichender“, aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebender Grund (vgl etwa: BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 30; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 124; und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44).

151

Darüber hinaus müssen die differenzierenden Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich ferner danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 45; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 f. m.w.N., stRspr.). Deshalb lässt sich die verfassungsmäßige Rechtfertigung einer Wahlrechtsnorm auch nicht ein für alle mal abstrakt beurteilen, sondern kann durch neuere Entwicklungen tatsächlicher oder rechtlicher Art in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 112; Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz -Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 123 ).

152

(2) Weder beruht die dargestellte Verzerrung Erfolgswertgleichheit auf Notwendigkeiten im Umrechnungsverfahren, noch dient sie der Prämierung und Stärkung der Personenwahl oder der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtages. Einen weiteren zwingenden Grund stellt die Zielvorgabe der Verfassung dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV), dass der Landtag mit möglichst nicht mehr als 69 Landtagsabgeordneten zu besetzen ist. Die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs nach § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG ist jedoch unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen nicht in der Lage, diese Zielvorgabe mit der Wahlgleichheit in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Sie ignoriert auch, dass vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind, die unter den derzeitigen politischen Verhältnissen aufgrund der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG regelhaft entstehen.

153

(a) Als „zwingender Grund“ anerkannt ist zwar jede Differenzierung, die sich bei der Umrechnung von Zweitstimmen in Sitze und den dabei anfallenden Reststimmen und Bruchteilen in Anwendung des jeweiligen Verteilungsverfahrens schon aus mathematischen Gründen unausweichlich ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 - 2 BvC 4/88 - BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 5; und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 104). Maßgeblich ist, ob die mit den ungedeckten Mehrsitzen benötigte durchschnittliche Stimmenzahl noch im Rahmen des höchsten und niedrigsten Durchschnittswerts aller Parteien liegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 a.a.O., Juris Rn. 10 bis 12). Hierum geht es indes unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen bei der begrenzenden Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht. Wie zudem oben in der Tabelle (Rn. 137) beispielhaft dargestellt, verlässt die CDU nach Zuteilung dreier ungedeckter Mehrsitze mit den dann noch benötigten Zweitstimmen (14.870,91) deutlich den Rahmen, der vom Durchschnittswert der SPD (16.305,72) und der Partei DIE LINKE (19.152,80) gebildet wird. Als augenfällig problematisch unter dem Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit erweist sich hierbei bereits das angewandte Höchstzahlverfahren nach d’Hondt, das bei der Wahl zum 17. Landtag im reinen Verhältnisausgleich zu einem Stimmenunterschied von bis zu 2.847,08 Zweitstimmen geführt hat, den die einzelnen Parteien für einen weiteren Landtagssitz erringen mussten.

154

(b) Die durch die ungedeckten Mehrsitze eintretende Differenzierung im Stimmgewicht ist auch nicht mit dem Gedanken einer „Prämie“ aus der Mehrheitswahl zu rechtfertigen. Selbst wenn mit der „Prämie“ ein Anreiz für die Parteien geschaffen werden sollte, attraktive und überzeugungskräftige Wahlkreiskandidatinnen und Wahlkreiskandidaten aufzustellen und mit diesen orts- und bürgernahe Wahlkreisarbeit zu leisten (so Papier , JZ 1996, 265 <270>; ihm folgend Ehlers/ Lechleitner , JZ 1997, 761 <762>), wäre die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs schon kein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, da der Eintritt dieses Anreizes generell nicht vorhersehbar ist und sich bis zur Landtagswahl 2009 tatsächlich auch noch nie realisiert hatte. Diese Prämie für erfolgreiche Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber wäre zudem daran gekoppelt, dass sich deren Erfolg nicht in vollem Umfang im Zweitstimmenanteil ihrer Partei umgesetzt hat. Insofern ist die systemkonforme „Prämie“ im Zweistimmenwahlsystem nicht das Überhangmandat, sondern das durch Wahlkreisbewerberinnen und Wahlkreisbewerber gewonnene Vertrauen für die Liste ihrer Partei.

155

(c) Zu den mit einer Parlamentswahl verfolgten Zielen zählt auch die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 44; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98). Mit der Personenwahl im vorgeschalteten Mehrheitswahlsystem erhält jede Wählerin und jeder Wähler die Möglichkeit, einer oder einem der im eigenen Wahlkreis kandidierenden Bewerberinnen oder Bewerber ein Landtagsmandat zu verschaffen. Dadurch wird die Verbindung zwischen den Wählerinnen und Wählern und ihren Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, gestärkt.

156

Auch wenn man die Verbindung zu den direkt gewählten Bewerberinnen und Bewerbern für auf diese Weise stärkungsbedürftig halten wollte (kritisch etwa Mahrenholz , in: Festgabe für Karin für Graßhof, 1998, S. 69 <78>), stellt dies ebenfalls keinen zwingenden Grund dar. Die Stärkung dieser Verbindung wird bereits durch § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG bewirkt, sobald die erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auch dann einen (Mehr-) Sitz im Landtag erhalten, wenn die Zahl der Direktmandate ihrer Partei deren verhältnismäßigen Sitzanteil übersteigt (vgl. Papier , JZ 1996, 265 <269 f.>; Backhaus , DVBl. 1997, 737 <742>; und im Ergebnis ähnlich Mahrenholz , a.a.O., S. 77 f.).

157

(d) Die Verzerrung der Erfolgswertgleichheit durch Begrenzung des Sitzausgleichs ist auch nicht durch das Ziel der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtags zu rechtfertigen, obwohl dieses ein „verfassungsrechtlicher Belang von höchstem Rang“ ist (vgl. Becker/ Heinz , NordÖR 2010, 131 <132>).

158

Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist vor allem im Zusammenhang mit der 5 % - Sperrklausel als Differenzierungsgrund anerkannt. Im Fokus steht dabei die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen (vgl. nur BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121 m.w.N., stRspr.; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41). Auch hierum geht es bei § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht.

159

Die zur Rechtfertigung der Sperrklausel anerkannten Argumente sind auf eine Verzerrung der Wahlgleichheit durch die zahlenmäßige Begrenzung der Gesamtsitzzahl nicht übertragbar. Anders als im Falle der fehlenden Sperrklausel kommt es ohne die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs noch nicht zu einer Erschwerung der Meinungsfindung und Mehrheitsbildung. Während die Sperrklausel den Einzug einer Vielzahl kleiner Parteien in das Parlament verhindern soll, verhindert die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zunächst einmal nur eine Zuweisung weiterer Sitze an die im Landtag ohnehin vertretenen Parteien. Denn beim Mehrsitzausgleich erhöht sich nicht die Zahl der Fraktionen, sondern nur die Zahl der Angehörigen der dem Landtag ohnehin angehörenden Fraktionen.

160

Generell hängt die Arbeits- und Funktionsfähigkeit eines Parlaments eher vom Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener Gruppen von Abgeordneten ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 76, 78) als von einer bestimmten Abgeordnetenzahl. Dies belegt schon der Umstand, dass größere Landesparlamente ebenso wie der Bundestag regulär aus deutlich mehr als 100 Abgeordneten bestehen, ohne dass ihre Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Frage gestellt würde (vgl. Morlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, LandtagsUmdruck 17/752, S. 4). Entsprechend ist auch vorliegend weder ersichtlich noch geltend gemacht, dass der gegenwärtige Landtag mit 95 oder auch - nach vollem Ausgleich - mit 101 Abgeordneten nicht arbeitsfähig sein sollte.

161

(e) Dessen ungeachtet hat sich der Verfassungsgeber entschieden, selbst die Abgeordnetenzahl im Landtag festzulegen und damit eine größenmäßige Zielvorgabe zu schaffen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Trotz der zugleich vorgesehenen Möglichkeit der Erhöhung durch Überhang- und Ausgleichsmandate (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV) ist damit in der Verfassung ein Ziel formuliert, an dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu orientieren hat. Auch wenn die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs dieser Zielvorgabe zuträglich ist, stellt sie sich unter den bestehenden wahlgesetzlichen Bedingungen derzeit doch als unverhältnismäßig dar.

162

(aa) Das durch die Verfassung vorgegebene Ziel, im Ergebnis nur geringfügige Überschreitungen der Regelgröße von 69 Abgeordneten im Landtag zuzulassen , ist ein zumindest „zureichender“ Grund, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit durch Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten zu rechtfertigen. Die beiden widerstreitenden Verfassungsvorgaben in Art. 10 Abs. 2 LV sind vom Gesetzgeber zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Der ihm dabei zur Verfügung stehende verfassungsrechtliche Gestaltungsrahmen ist vom Gericht zu achten, solange dessen Grenzen eingehalten sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 115 m.w.N.).

163

(bb) Unter den derzeitigen politischen Gegebenheiten eines erweiterten Parteienspektrums und der derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung des übrigen Wahlgesetzes ist die Regelung aber schon nicht geeignet, im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe von 69 Abgeordneten zu wirken. Ein Wahlergebnis wie das zum 17. Landtag im Jahr 2009 zeigt, dass die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zulasten der Ausgleichsmandate nicht im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV zu wirken vermag. Diese Zielvorgabe wird selbst mit der Begrenzung durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG deutlich verfehlt, wenn statt der regelhaft vorgesehenen 69 tatsächlich 95 Abgeordnetensitze vergeben werden.

164

Zudem erfolgt diese Begrenzung einseitig zulasten der Ausgleichsmandate und ignoriert damit, dass unter der verfassungsrechtlich zugleich gegebenen Vorgabe der Erfolgswertgleichheit unter den Bedingungen einer personalisierten Verhältniswahl nach Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind. Die damit verbundene Beeinträchtigung der Wahlgleichheit ist unter den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten jedenfalls nicht erforderlich, da der Gesetzgeber die Möglichkeit hat, durch das Zusammenspiel anderer geeigneter Maßnahmen zu einer Reduzierung der Abgeordnetenzahl zu kommen, die weder die Wahlgleichheit noch andere von der Verfassung geschützten Belange beeinträchtigen. Diese Möglichkeit setzt bei der derzeitigen Ausgestaltung des Wahlrechts insbesondere in den § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG an (Zweistimmenwahlrecht, Anzahl der Wahlkreise und direkt gewählter Abgeordneter, Abweichung der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise). Denn das Zusammenwirken dieser Regelungen führt gegenwärtig in der politischen Realität eines Fünfparteiensystems - zuzüglich einer verfassungsfesten Sonderrolle des SSW - systemisch dazu, dass Überhang- (und Ausgleichs-) mandate in einer Größenordnung entstehen können und so die Gesamtzahl von Abgeordneten im Landtag derart ansteigen kann, dass die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV zum Ausdruck gebrachte Zielgröße von 69 Abgeordneten regelmäßig überschritten wird.

165

(cc) Zu den Ursachen des Entstehens von Überhangmandaten und den gesetzgeberischen Möglichkeiten, diese zu verhindern, ist die Landeswahlleiterin als sachkundige Dritte in der mündlichen Verhandlung gehört worden. Ihre Bekundungen stimmen im Wesentlichen überein mit den jüngst vom Landtag eingeholten Stellungnahmen und Gutachten bei der Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (LandtagsDrucksache 17/10), die auch auf Erfahrungen bei den Wahlen in den anderen Ländern und im Bund eingehen. Nach dem gegenwärtigen Landeswahlrecht entstehen Überhangmandate bei Abweichung des prozentualen Erststimmenergebnisses vom Zweitstimmenergebnis, wenn eine Partei viele Wahlkreise direkt gewinnt, die für ihre Landesliste abgegebenen Zweitstimmen aber nicht ausreichen, um im Rahmen des Verhältnisausgleichs einen mindestens gleich großen Anteil an der Gesamtzahl der regulär zu vergebenden Mandate zu erlangen (Stellungnahme der Landeswahlleiterin vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/738, S. 2). Ursächlich hierfür sind verschiedene tatsächliche und rechtliche Vorbedingungen, die im Falle ihres Zusammentreffens kumulativ wirken und die Gesamtzahl der Landtagsabgeordneten weit über die Zielvorgabe anwachsen lassen.

166

Im Tatsächlichen sind etwa die Anzahl der Parteien mit Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern, die später am Verhältnisausgleich teilnehmen, die Wahlbeteiligung und die Anzahl ungültiger Zweitstimmen ursächlich (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes vom 26. April 2010, Landtags-Umdruck 17/761, S. 20 f.). Dabei werden die Wahlkreise nach wie vor nur von den großen Parteien (CDU und SPD) gewonnen. Ihre Zweitstimmenanteile sind demgegenüber rückläufig (vgl. Meyer , Stellungnahme vom 7. Juni 2010, Landtags-Umdruck 17/938, S. 2).

167

Einen besonders großen Einfluss auf das Entstehen von Überhangmandaten hat die Zahl der Wahlkreise. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG gibt es derzeit 40 Wahlkreise. Den Wahlkreisabgeordneten stehen bei einer Größe des Landtages von 69 Abgeordneten (vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV, § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG) nur 29 Abgeordnete aus den Landeslisten gegenüber. Je mehr die Zahl der durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten die Zahl der durch Verhältniswahl aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten übersteigt, desto größer ist die Gefahr, dass die vorgesehene Regelgröße des Landtages überschritten wird (Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 2 f.). Würde man die Zahl der in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten gegenüber den aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten wenigstens auf ein ausgeglichenes Verhältnis reduzieren, ließe sich die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Überhangmandaten senken (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 24; vgl. auch Meyer, a.a.O., S. 1; sowie die Rechenbeispiele in der Stellungnahme der Landeswahlleiterin Mecklenburg-Vorpommerns vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/739, Beispielsrechnung 1 und 1a, S. 2 f.).

168

Eine weitere rechtlich zu beeinflussende Ursache ist der Zuschnitt der Wahlkreise. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen Erststimmen einen Wahlkreis gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Größe dieses Wahlkreises im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen ab (Stellungnahme der Landes-wahlleiterin, a.a.O., S. 3). Gegenwärtig werden die Wahlkreise nach § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG auf der Grundlage der Bevölkerungszahl eingeteilt, wobei eine Abweichung von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Zahl der Bevölkerung in den Wahlkreisen zugelassen ist. Stattdessen wäre eine maximale Abweichung vom größten Wahlkreis von lediglich 15 v.H. zu den anderen Wahlkreisen anzustreben. Betrachtet man die Landtagswahl 2009, so betrug unter Zugrundelegung der Zahl der Wahlberechtigten die Durchschnittsgröße eines Wahlkreises 55.603. Im kleinsten Wahlkreis Husum-Land lebten 42.037 und im größten Wahlkreis Segeberg-Ost 69.408 Wahlberechtigte; dies entspricht Abweichungen von 24,4 % bzw. 24,8 % von der durchschnittlichen Zahl der Wahlberechtigten, absolut aber einer Abweichung von 39,4 % des kleinsten vom größten Wahlkreis.

169

Die für das Bundestagswahlrecht als verfassungskonform anerkannte Maximalabweichung von bis zu 25 v.H. (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) beruht auf Erwägungen, die auf die Verhältnisse in einem einzelnen Land nicht übertragbar sind. So ist für den Bundesgesetzgeber die gleiche Größe der Wahlkreise sowohl für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes eine aus der Wahlgleichheit folgende Bedingung (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 2 BvR 1252/99 u.a. -, NVwZ 2002, 71 f., Juris Rn. 22; weitere Nachweise in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 14). Hiervon ausgehend hat der Bundesgesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass die Wahlkreise im Verhältnis der Bevölkerungsanteile auf die einzelnen Länder verteilt werden (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BWahlG; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 97). Demgegenüber findet der Landesgesetzgeber ein einheitliches Wahlgebiet vor, weshalb er insoweit nicht eines vergleichbar großen Spielraums bedarf.

170

Hinzu kommt, dass die derzeit gewählte Bemessungsgrundlage beim Zuschnitt der Wahlkreise (durchschnittliche Bevölkerungszahl gemäß § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG) keine Unterscheidung zwischen wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern vornimmt. Ist der Anteil des nicht wahlberechtigten Bevölkerungsanteils eines Wahlkreises größer als im Durchschnitt, erleichtert dies das Erreichen der relativen Mehrheit und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber erfolgreich sind, als es prozentual dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei entspricht. Die Gefahr von Überhangmandaten ließe sich hier reduzieren, wenn nur auf die Wahlberechtigten abgestellt wird (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 20 f. m.w.N.; Ipsen, JZ 2002, 469 <471>).

171

Schließlich ist es möglich, § 1 Abs. 2 LWahlG zu ändern, um das Zweistimmenwahlrecht und mit ihm das Überhangmandate fördernde Stimmensplitting abzuschaffen und das Einstimmenwahlrecht wieder einzuführen (vgl. Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 2; Wissenschaftlicher Dienst, a.a.O., S. 21; Meyer , a.a.O., S. 2).

172

Alternativ wäre zu erwägen, das Wahlsystem grundlegender neu zu gestalten. Es könnte etwa derart umgestellt werden, dass die Zahl der Wahlkreise erheblich gesenkt und zugleich in den Wahlkreisen die Zahl der zu wählenden Bewerberinnen und Bewerber erhöht wird.

173

(dd) Solange diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, erweist sich die Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG als ungeeignet und nicht erforderlich, das von der Verfassung vorgegebene Ziel eines Landtages mit allenfalls wenig mehr als 69 Abgeordneten zu erreichen. Ein Wahlsystem, das durch die Regelungen in § 3 Abs. 5, § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG mit derzeit 95 Abgeordneten den von der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 LV verbindlich vorgegebenen Auftrag, einen deutlich kleineren Landtag mit möglichst wenig Überhang- (und Ausgleichs-)mandaten zu erreichen, so grundlegend verfehlt, stellt sich insgesamt als verfassungswidrig dar.

174

c) Eine verfassungskonforme Auslegung der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.

175

Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch tritt. Im Wege der verfassungskonformen Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 - NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 104 m.w.N.). Sie ist aber auch dann nicht möglich, wenn in einer Norm zwei widerstreitende Verfassungsvorgaben zum Ausgleich gebracht werden müssten.

176

aa) Der eindeutige Wortlaut der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und des § 16 LWahlG steht bereits einer verfassungskonformen Auslegung dieser Vorschriften entgegen. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Diese Vorschrift bietet keinen Ansatz, sie dahingehend auszulegen, dass ein Einstimmenwahlrecht möglich sein könnte. Die Zahl der Wahlkreise legen § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG mit 40 fest. Auch sie bieten keinen Ansatz für eine Auslegung, die eine geringere Zahl der Wahlkreise zuließe. Die weiteren Vorschriften des § 16 LWahlG bestimmen für den Zuschnitt der Wahlkreise als Ausgangspunkt der Berechnung die Bevölkerungszahl und nicht die Wahlberechtigten eines Wahlkreises. Auch die mögliche Größe der Abweichung und ihr Bezugspunkt sind mit 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG) eindeutig festgelegt und einer Auslegung nicht zugänglich.

177

bb) Einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 5 LWahlG, etwa im Sinne eines „großen Ausgleichs“, stünde bereits die weitere Vorgabe der Verfassung entgegen, den Landtag möglichst nicht über 69 Abgeordnete anwachsen zu lassen. Im Übrigen kommt eine solche Auslegung in Anbetracht der eindeutigen Entstehungsgeschichte, der klaren Gesetzessystematik und des darin zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers auch nicht in Betracht (vgl. II. 2. ).

IV.

178

Aufgrund der festgestellten Verfassungsverstöße ist die Legislaturperiode zeitlich zu beschränken und der Gesetzgeber zu verpflichten, zur Vorbereitung vorgezogener Neuwahlen unverzüglich ein verfassungskonformes Landeswahlrecht zu verabschieden.

179

1. Die festgestellten Verfassungsverstöße führen zu mandatsrelevanten Wahlfehlern. Die auf Grundlage der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 sowie § 16 LWahlG vorbereiteten und durchgeführten Wahlen bewirken eine Beeinflussung und unrichtige Feststellung des Wahlergebnisses. Allein eine geringere Anzahl von Wahlkreisen hätte die Anzahl der nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG in den Wahlkreisen durch Mehrheitswahl zu wählenden Abgeordneten im Vergleich zu den durch Verhältniswahl aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten reduziert und damit bei der Sitzverteilung und -besetzung zu einem anderen Ergebnis geführt. Insgesamt wäre es gemeinsam mit den anderen aufgezeigten Ursachen für das Entstehen von Überhangmandaten zu deutlich weniger Überhangmandaten und damit auch weniger Ausgleichsmandaten gekommen. Dies wiederum hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit bewirkt, dass die Regelung in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zur Begrenzung von Mehrsitzen nicht zur Anwendung gekommen wäre und der Landtag dennoch aus deutlich weniger als 95 Abgeordneten bestehen würde.

180

2. Die mandatsrelevanten Wahlfehler können zusammengenommen jedoch weder zu einer abweichenden endgültigen Feststellung des Ergebnisses gemäß § 47 Abs. 3 LWahlG noch zur Ungültigerklärung der Wahl zum 17. Landtag mit der gesetzlichen Folge einer Wiederholungswahl im Sinne des § 46 LWahlG führen. Stattdessen ist die Legislaturperiode zeitlich zu beschränken und der Gesetzgeber zu verpflichten, zur Vorbereitung vorgezogener Neuwahlen unverzüglich ein verfassungskonformes Landeswahlrecht zu verabschieden. Allerdings sind die Fehler so schwerwiegend, dass die Legislaturperiode auf den 30. September 2012 zu beschränken ist. Diese Frist ist notwendig, weil der Landtag zuvor das Landeswahlgesetz ändern muss, um eine mit der Landesverfassung übereinstimmende Rechtslage herbeizuführen. Für die notwendigen gesetzlichen Neuregelungen genügt eine Frist bis spätestens zum 31. Mai 2011.

181

a) Ein festgestellter mandatsrelevanter Wahlfehler führt nicht sogleich zur Ungültigkeit der gesamten Wahl, sondern - soweit möglich - im Sinne des „Verbesserungsprinzips“ zur Berichtigung, allerdings nur insoweit, wie der Wahlfehler (räumlich) wirksam geworden ist (ebenso: Schl.-Holst. OVG, Urteile vom 24. Juni 1993 - 2 K 4/93 -, SchlHA 1993, 194 ff. = NVwZ 1994, 179 ff., Juris Rn. 66; und vom 30. September 1997 - 2 K 9/97 -, NordÖR 1998, 70 ff., Juris Rn. 39). Um die demokratische Legitimation des Parlaments und derjenigen Verfassungsorgane, die ihre demokratische Legitimation vom Parlament ableiten, möglichst zu erhalten, gilt das „Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 134 m.w.N.). Eine Ungültigerklärung der gesamten Wahl hätte eine umgehende Delegitimierung zur Folge und müsste nach dem Gesetz zu einer Wiederholungswahl spätestens sechs Wochen nach rechtskräftiger Feststellung der Ungültigkeit führen (§ 46 Abs. 6 LWahlG). Sie käme aus Verhältnismäßigkeitsgründen nur in Frage, soweit der Fehler nicht mit einer Nachzählung und / oder Berichtigung zu beheben ist. Zudem müsste sich der damit verbundene Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung für die Zeit von regulär fünf Jahren vor dem Interesse am Erhalt dieser Volksvertretung rechtfertigen lassen. Sie setzt deshalb - in den Worten des Bundesverfassungsgerichts für das Bundeswahlrecht - einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich schiene. Hierzu hat gegebenenfalls eine Folgenabwägung stattzufinden (vgl. BVerfG, Urteile vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 135; und vom 8. Februar 2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 88 m.w.N., stRspr.; vgl. auch HbgVerfG, Urteil vom 4. Mai 1993 - 3/92 -, NVwZ 1993, 1083 ff. = DVBl.1993, 1070 ff., Juris Rn. 155 ff.). Im Übrigen erfolgt eine Ungültigkeitserklärung aus den oben genannten Gründen stets nur ex nunc (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 138; Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann/ Hopfauf , Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 41 Rn. 19, 21).

182

Für die grundsätzlich vorrangige und die demokratische Legitimation des Parlaments erhaltende Fehlerkorrektur durch Feststellung eines abweichenden Wahlergebnisses gemäß § 47 Abs. 3 LWahlG ist angesichts der miteinander verwobenen und nur in ihrer Gesamtheit bestehenden schwerwiegenden Wahlfehler trotz des Gebots des geringstmöglichen Eingriffs kein Raum. Das Zusammenwirken der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG führt zu einer so erheblichen und komplexen Fehlerhaftigkeit der Wahl, dass ihr insgesamt die verfassungsmäßige Grundlage entzogen ist. Denn das Entstehen von elf Mehrsitzen (Überhangmandaten) mit der Folge, dass der Landtag nun aus 95 Abgeordneten besteht, verfehlt die in der Verfassung verbindlich vorgegebene Größe von 69 Abgeordneten in nicht mehr hinnehmbaren Ausmaß und führt zugleich durch die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zu einer Beeinträchtigung des Grundsatzes der Wahlgleichheit, weil sie den Wählerwillen in einer nicht zu rechtfertigenden Weise verzerrt. Die einzelnen Wahlfehler lassen sich nicht trennen und isoliert korrigieren, denn sie bedingen und intensivieren sich in ihrem Zusammenwirken gegenseitig.

183

Aber auch die Anordnung einer binnen sechs Wochen abzuhaltenden Wiederholungswahl nach § 46 Abs. 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 LWahlG kommt im Ergebnis nicht in Betracht, da dies nicht dem Umstand Rechnung tragen würde, dass die von § 46 LWahlG vorausgesetzte Unregelmäßigkeit der Wahl hier nicht auf der fehlerhaften Anwendung der Wahlvorschriften, sondern darauf beruht, dass die zu korrigierende „Unregelmäßigkeit“ in der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes selbst liegt. Allerdings sind die in der Summe festzustellenden Wahlfehler so weitgehend und so gewichtig, dass sie eine Wiederholungswahl auch unter Berücksichtigung der genannten Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte nach gebotener Folgenabwägung rechtfertigen würden. Denn der Fortbestand des in verfassungswidriger Weise zusammengesetzten Landtages für die Dauer von weiteren vier Jahren ist gegenüber dem hohen Verfassungsgut seiner richtigen Zusammensetzung nicht zu rechtfertigen. Der Landtag stellt das zentrale Organ der demokratischen Grundordnung dar, von dem alle andere staatliche Gewalt seine demokratische Legitimation ableitet. Über die Wahl des Landtages bekundet das Volk seinen Willen und übt die letztlich von ihm ausgehende Staatsgewalt aus (Art. 2 Abs. 1 und 2 LV).

184

Die Besonderheit, dass der Wahlfehler auf der Verfassungswidrigkeit von Normen des Landeswahlgesetzes beruht, erfordert daher zugleich eine abweichende Regelung, die das Wahlergebnis für eine Übergangszeit als weiterhin gültig anerkennt und damit dem Landtag einen vorübergehenden Bestandsschutz zugesteht. Denn zunächst muss das Landeswahlgesetz so geändert werden, dass der nächste Landtag auf der Grundlage eines verfassungskonformen Landeswahlgesetzes gewählt werden kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 138). Angesichts der verschiedenen Möglichkeiten, eine verfassungskonforme Gesetzeslage herbeizuführen, ist es vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, also des Landtages, die dafür notwendigen Änderungen zu beschließen. Die in § 46 Abs. 6 LWahlG vorgesehene Frist von maximal sechs Wochen ist auf einen solchen Fall nicht zugeschnitten. Sie geht davon aus, dass nur die (gesetzmäßige) Durchführung der Wahl zu wiederholen ist, nicht aber, dass zuvor das der Wahl zugrunde liegende Gesetz zu ändern ist. Für die Durchführung einer Wahl auf der Grundlage eines geänderten Gesetzes bedarf es eines deutlich längeren Zeitraums, damit der Landtag zunächst ein verfassungsmäßiges Wahlrecht schafft. Während dieses Zeitraums bleiben die Abgeordneten im Amt und der Landtag behält seine volle Handlungs- und Arbeitsfähigkeit, denn bis zur Neuregelung und Durchführung der gebotenen Neuwahl verbleibt es bei dem festgestellten Wahlergebnis.

185

b) Als gegenüber der eigentlich gebotenen Ungültigkeitserklärung mit anschließender Wiederholungswahl geringerer Eingriff in den Bestand des Landtages ist die Legislaturperiode deshalb auf den 30. September 2012 mit der Auflage zu beschränken, unverzüglich ein verfassungskonformes Landeswahlgesetz zu verabschieden. Diese Frist ist notwendig, aber auch ausreichend, um den Landtag in die Lage zu versetzen, das Landeswahlgesetz zu ändern und die für die Vorbereitung einer Neuwahl erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

186

In Anbetracht der bereits laufenden Befassung des Landtages mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landtags-Drucksache 17/10) hält das Gericht eine Frist bis spätestens zum 31. Mai 2011 für die notwendigen gesetzlichen Neuregelungen für angemessen und ausreichend. Der Gesetzentwurf ist nach der 1. Lesung in den Innen- und Rechtsausschuss überwiesen worden (PlPr 17/3, S. 142). Dieser hat die weitere Befassung zwar bis zum Ergehen der Entscheidung des Gerichts zurückgestellt (Kurzbericht IR 17/31 vom 30. Juni 2010), aber zuvor bereits sowohl eine schriftliche als auch - am 9. Juni 2010 - eine mündliche Sachverständigenanhörung durchgeführt (vgl. IR 17/27, S. 4), sodass er nunmehr eine Beschlussempfehlung abgeben und den Entwurf in die 2. Lesung geben kann.

187

Bei der Fristbemessung für die Durchführung der vorgezogenen Neuwahl auf der Grundlage eines spätestens am 31. Mai 2011 vorliegenden neuen Wahlgesetzes hat das Gericht weiter die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass insbesondere der Zuschnitt der Wahlkreise nach § 16 LWahlG geändert und die Zahl der Wahlkreise grundlegend überprüft werden muss. Dies wird eine Neueinteilung der Wahlkreise durch den Wahlkreisausschuss erforderlich machen. Den Parteien ist ausreichend Gelegenheit zu geben, insbesondere ihre Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber neu aufzustellen. Unter Berücksichtigung der sonstigen erforderlichen Wahlvorbereitungen scheint dem Gericht damit eine insgesamt bis zum 30. September 2012 bemessene Frist als ausreichend, als äußerste Frist aber auch geboten, um den Bestand des auf verfassungswidriger Grundlage gewählten Landtags nicht länger als erforderlich andauern zu lassen.

V.

188

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Den Beschwerdeführern zu 1), 2) und 3) sind auf ihren Antrag hin nach § 33 Abs. 4 LVerfGG Zweidrittel ihrer notwendigen Auslagen vom Land zu erstatten. Die Beschwerdeführer zu 1), 2) und 3) rügen zwar zu Recht die Verfassungswidrigkeit wahlrechtlicher Normen, konnten jedoch mit ihrer Kritik an der Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und ihrem Antrag auf eine korrigierte endgültige Feststellung des Wahlergebnisses nicht unmittelbar durchdringen. Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

VI.

189

Das Urteil ist einstimmig ergangen.


Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerde wird als unzulässig verworfen, soweit sie gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung gerichtet ist.

Im Übrigen wird die Wahlprüfungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet verworfen.

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014, mit dem sein Einspruch gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 zurückgewiesen wurde. In der Sache beanstandet er die in § 6 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 BWahlG normierte Fünf-Prozent-Sperrklausel, den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung eines sogenannten Eventualstimmrechts und die "verschleierte Staats- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahen Stiftungen". Durch diese Verfassungsverstöße sei das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 erheblich beeinflusst und er in seinem "Grundrecht auf gleiche Wahl" verletzt worden.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 19. November 2013 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 eingelegt. Dabei hat er vorgetragen, dass die "ungekürzte", durch keine Eventualstimme in ihren Auswirkungen gemilderte Fünf-Prozent-Hürde sowie die seiner Ansicht nach "verschleierte" Parteien- und Wahlkampffinanzierung durch staatliche Mittel für Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verfassungswidrig seien.

3

a) Die in § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG verankerte Fünf-Prozent-Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb. Bei der Bundestagswahl 2013 seien diese Grundsätze in einer Intensität beeinträchtigt worden, die es bisher nicht gegeben habe. Zugleich habe die Fünf-Prozent-Sperrklausel die Regierungsbildung jedenfalls nicht erleichtert. Die Sperrklausel sei daher in ihrer gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und folglich verfassungswidrig.

4

b) Durch die Einführung einer Eventualstimme, mit welcher der Wähler die Partei bestimmen könne, der seine Stimme zugutekommen solle, wenn die zunächst gewählte Partei an der Sperrklausel scheitere, könne im Falle der Beibehaltung einer Sperrklausel der Eingriff in die Gleichheit des Wahlrechts der Bürger erheblich gemindert werden, ohne dass die Sperrklausel ihre Funktion schlechter erfülle. Daher sei jedenfalls eine Sperrklausel ohne die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Erforderlichkeit und des Übermaßverbotes verfassungswidrig.

5

c) Von den Bundestagsparteien seien die Begrenzungen der unmittelbaren staatlichen Parteienfinanzierung in verfassungswidriger Weise durch die Umleitung von "Staatsgeld" auf ihre Parlamentsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen unterlaufen worden. Die Vergabe der Mittel erfolge ohne eigene spezialgesetzliche Regelung; ihr Volumen sei gewaltig ausgedehnt worden. Die Kontrolle der Mittelverwendung sei unzureichend. Parteifunktionäre würden als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt; diese seien in großem Umfang im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden, wie ein Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 bestätigt habe.

6

d) Die dargestellten Verfassungsverstöße hätten jeder für sich und erst recht alle zusammen das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 massiv verfälscht und sich auf die Zusammensetzung des Bundestages ausgewirkt.

7

2. Der Bundestag hat den Wahleinspruch des Beschwerdeführers - nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel - mit Beschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Der Einspruch sei zulässig, aber unbegründet. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich kein Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften und damit kein Wahlfehler entnehmen.

8

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, sei darauf hinzuweisen, dass der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens die Verfassungsmäßigkeit der für die Wahl geltenden Rechtsvorschriften nicht überprüften. Eine derartige Kontrolle sei dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Allerdings habe der Wahlprüfungsausschuss schon in zahlreichen Wahlprüfungsentscheidungen früherer Wahlperioden keinen Anlass für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gesehen. Für die Bundestagswahl 2013 gelte nichts anderes, da die Sperrklausel nicht durch veränderte Verhältnisse infrage gestellt werde. Zwar sei der Anteil der wegen der Sperrklausel nicht in die Sitzverteilung eingeflossenen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 höher als bei früheren Bundestagswahlen gewesen. Jedoch habe es sich weder um einen atypischen noch zuvor unbekannten Umstand gehandelt. Auch sei es möglich, dass dieser bei kommenden Bundestagswahlen nicht mehr auftrete. Das vom Einspruchsführer befürwortete Konzept einer Eventualstimme sei verfassungswidrig, da es gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verstoße.

9

b) Soweit der Beschwerdeführer meine, es bestehe eine "verschleierte" Staats- und Wahlkampffinanzierung der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien durch Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen, welche die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verletze sowie die Bundestagswahl erheblich beeinflusst und ihr Ergebnis verfälscht habe, liege kein Wahlfehler vor. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich nämlich nicht entnehmen, inwieweit es zu einer "verschleierten" Wahlkampffinanzierung gekommen sein solle. Er mache nicht hinreichend deutlich, inwieweit die staatliche (Teil-)Finanzierung von Abgeordnetenmitarbeitern, Fraktionen und parteinahen Stiftungen den Wahlkampf der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien finanziell befördert oder gar - im Verhältnis zu nicht im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien - zu einer Bevorzugung geführt haben solle. Solche Ausführungen wären jedoch notwendig gewesen, um zu zeigen, dass gegen geltendes Recht verstoßen worden sei. Es bestünden nämlich gesetzliche Vorgaben, die eine Wahlkampffinanzierung durch Fraktionen, Stiftungen oder den Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern ausschlössen.

II.

10

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 27. August 2014 gemäß Art. 41 Abs. 2 GG Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014 eingelegt. Er beantragt die Aufhebung des angegriffenen Bundestagsbeschlusses, die Ungültigerklärung der Bundestagswahl 2013 und die Anordnung einer Wiederholungswahl. Darüber hinaus begehrt er festzustellen, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel nach § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG in ihrer gegenwärtigen Höhe gegen die Grundrechte der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt und dass die Sperrklausel ohne gleichzeitiges Eventualstimmrecht eine übermäßige, verfassungswidrige Beeinträchtigung des Grundrechts der Wahlgleichheit darstellt. Außerdem erstrebt er die Feststellung, dass die "verschleierte Parteien- und Wahlkampffinanzierung, die durch die Übernahme von Aufgaben und Ausgaben der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen und die Errichtung eines Geflechts systematischen Missbrauchs erfolgt und die Wirkung der Sperrklausel verdoppelt", gegen die Gleichheit des Wahlrechts und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt. Schließlich beantragt der Beschwerdeführer, falls die Wahl nicht für ungültig erklärt werden sollte, festzustellen, dass sein Grundrecht auf gleiche Wahl (Art. 3 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) durch die zu hohe Sperrklausel von 5 %, durch das Fehlen eines Eventualstimmrechts und durch die verdeckte Staatsfinanzierung der Parteien via Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verletzt ist.

11

2. Zur Begründung seiner Beschwerde wiederholt und vertieft der Beschwerdeführer sein Vorbringen aus dem Wahleinspruchsverfahren.

12

a) Hinsichtlich der Fünf-Prozent-Sperrklausel macht er geltend, dass bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 15,7 % der Stimmen nicht den Parteien und Kandidaten zugutegekommen seien, für die sie abgegeben worden seien. Zwei Parteien, die FDP mit 4,8 % und die AfD mit 4,7 %, seien nur ganz knapp an der Sperrklausel gescheitert. Angesichts dieser bislang nicht dagewesenen "Verfälschung" des Wahlergebnisses sei eine neuerliche Überprüfung der Rechtfertigung der Sperrklausel erforderlich. Während die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Stimmrechts der Bürger und in das Recht der Parteien auf Chancengleichheit erheblich zugenommen habe, habe das Gewicht der die Sperrklausel rechtfertigenden Gemeinwohlgründe gegenüber früheren Situationen deutlich abgenommen. Die Fünf-Prozent-Hürde verfälsche das quantitative Verhältnis zwischen den beiden großen politischen Lagern. Das Lager der "rechten Mitte" (CDU, CSU, FDP, AfD, Freie Wähler) habe bei der Bundestagswahl 2013 52 % der Wählerstimmen erreicht, das "linke Lager" (SPD, Grüne, Linke, Piraten) nur 45 %. Trotzdem habe das "linke Lager" eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ohne Sperrklausel wäre die Bildung einer Koalition von Union und SPD, die rund vier Fünftel der Bundestagsmandate mit der Folge innehabe, dass die Opposition viele Minderheitenrechte gar nicht wahrnehmen könne, nicht erforderlich gewesen. Die Regierungsbildung hätte sich zumindest nicht schwieriger dargestellt und der Bundestag vermutlich über eine voll funktionsfähige Opposition verfügt. Vor diesem Hintergrund könne man unter Berücksichtigung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten verschärften Prüfungsmaßstabs (verschärfte Kontrolle bei "Entscheidungen in eigener Sache") nur zu dem Ergebnis gelangen, dass die Sperrklausel bei Bundestagswahlen in der gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und damit verfassungswidrig sei.

13

Eine Sperrklausel in Höhe von 5 % sei überdies nicht erforderlich und verstoße gegen den Grundsatz des milderen Mittels. Eine niedrigere Klausel von 3 oder 4 % habe eine geringere Eingriffsintensität zur Folge, ohne dass der Zweck der Sperrklausel, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern, beeinträchtigt werde. Demgegenüber könne auch nicht darauf verwiesen werden, ein Wegfall der Sperrklausel stehe einer eventuell nötig werdenden Revision dieses Wegfalls entgegen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der Linken seien für die Sperrklausel und dürften daher bei einer Verschärfung der Situation bereit sein, diese wieder einzuführen.

14

Die Sperrklausel sei auch mandatsrelevant. Bei einer auf 3 oder 4 % abgesenkten Sperrklausel wären FDP und AfD mit jeweils etwa 30 Mandaten in den Bundestag eingezogen.

15

b) Außerdem habe das Fehlen eines Eventualstimmrechts die Bundestags-wahl 2013 verfassungswidrig gemacht. Die Pflicht zur Einführung einer Eventualstimme bestehe unabhängig von der Höhe der Sperrklausel. Durch die Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme nehme nicht nur die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Wahlrechts ab; die Eventualstimme stelle auch ein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Zweckerfüllung der Sperrklausel, nämlich Ermöglichung stabiler Regierungsmehrheiten, dar.

16

Die Eröffnung der Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Das Eventualstimmrecht verletze nicht die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Höchstpersönlichkeit der Wahl. Auch stehe ihm die Forderung nach der Unbedingtheit der Stimmabgabe nicht entgegen.

17

Falls ein Eventualstimmrecht bestanden hätte, wäre das Wahlergebnis anders ausgefallen. Entweder hätten FDP und/oder AfD, die nur knapp an der Sperrklausel gescheitert seien, diese überwunden und eine "bürgerliche Mehrheit" ermöglicht oder die Union hätte allein regieren können, da mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, dass FDP- und AfD-Wähler ihre Eventualstimme mit großer Mehrheit der Union gegeben hätten.

18

c) Der Beschwerdeführer macht weiterhin eine Verletzung der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien durch die seiner Ansicht nach "verschleierte staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien" bei der Bundestagswahl 2013 geltend.

19

aa) Durch die Umleitung staatlicher Geldmittel auf Fraktionen, Abgeordneten-mitarbeiter und parteinahe Stiftungen seien die verfassungsrechtlichen Grenzen und Kontrollen der staatlichen Parteienfinanzierung - namentlich die Obergrenzen der unmittelbaren Staatsfinanzierung, der Gesetzesvorbehalt bei Entscheidungen in eigener Sache und die Einbeziehung außerparlamentarischer Parteien in die Staatsfinanzierung - ausgehebelt worden. Trotz eines strikten Gesetzesvorbehalts habe eine gewaltige Ausdehnung dieser Mittel durch die bloße Erhöhung von Haushaltsansätzen stattgefunden. Im Jahr 2013 seien für die Bundestagsfraktionen 84,6 Millionen Euro, für die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten 161,5 Millionen Euro und für parteinahe Stiftungen allein an Globalzuschüssen 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden. Die Mittel überstiegen damit die unmittelbare Staatsfinanzierung der Parteien (2013: 154,1 Mio. Euro). Für die Entwicklung der Zuschüsse an die Bundestagsfraktionen ab 1965 ergebe sich ein Erhöhungsfaktor von 53 (1965 - 2013) und unter Berücksichtigung der Gehaltsentwicklung von über 6. Für die 1968 eingeführte Mitarbeiterpauschale ergebe sich pro Abgeordneten ein Erhöhungsfaktor von 28 und unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung von mehr als 5. Die Globalzuschüsse für parteinahe Stiftungen seien seit 1967 um den Faktor 29 und die projektgebundenen Zuschüsse um den Faktor 50 (1965 - 2013) erhöht worden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien hineinwüchsen, so dass deren Finanzierungen als funktionale Äquivalente der Parteienfinanzierung anzusehen seien. Infolgedessen müssten hierfür dieselben Rahmenbedingungen gelten wie bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Die parlamentarische Praxis, die staatlichen Geldmittel für Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen ohne Obergrenzen und ohne Gesetzesvorbehalt zu erhöhen beziehungsweise erhöhen zu können, stelle ein verfassungswidriges Verfahren dar. Außerdem finde eine Kontrolle der Mittelverwendung, die verfassungsrechtlichen Vorgaben genüge, nicht statt.

20

bb) Die Bereitstellung der staatlichen Mittel in der dargestellten Höhe führe zu "gewaltigen Wettbewerbsvorteilen" der im Bundestag vertretenen Parteien.

21

(1) Partei und Fraktion bildeten eine politische Einheit. Verlautbarungen der Fraktion kämen zwangsläufig der jeweiligen Mutterpartei zugute, was dem Verwendungsverbot der Fraktionsmittel für Parteizwecke zuwiderlaufe. § 47 Abs. 3 AbgG sei verfassungswidrig. Ein Beispiel unzulässiger Öffentlichkeitsarbeit sei die Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012.

22

(2) Auch die Aktivitäten der Stiftungen seien parteipolitisch geprägt. In der Realität wüchsen Stiftungen und Parteien zu Kooperationseinheiten zusammen. Die Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien aus dem Jahr 1998 sei auf eine krasse Privilegierung der im Bundestag vertretenen Parteien gerichtet.

23

(3) Die Abgeordnetenmitarbeiter würden für Parteizwecke eingesetzt. Dabei seien die den Abgeordneten für die Beschäftigung von Mitarbeitern zur Verfügung stehenden Mittel auf monatlich bis zu 21.000 Euro pro Abgeordneten aufgebläht worden. Ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten werde im Wahlkreis verwendet. Vielfach würden Parteisekretäre und Parteigeschäftsführer als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt. Soweit sie behaupteten, ihre Parteitätigkeit in ihrer Freizeit zu erbringen, treffe dies meist nicht zu, sei aber praktisch schwer zu widerlegen.

24

Die Abgeordnetenmitarbeiter hätten in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl im Bundestag nichts Wesentliches mehr zu tun. Dies bestätige § 13 AbgG, wonach ein Abgeordneter, der im letzten Vierteljahr der Wahlperiode in den Bundestag eintrete, keinen Anspruch auf die Bezahlung von Mitarbeitern habe. Da mit Beginn der Sommerferien im Bundestag normalerweise alle Räder stillstünden, bleibe den Mitarbeitern nur die Beteiligung am Wahlkampf.

25

Demgemäß seien auch im Bundestagswahlkampf 2013 Abgeordnetenmitarbeiter in großem Umfang für Parteizwecke eingesetzt worden. Dies sei in einem Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 deutlich geworden. Darin habe der Nürnberger Bundestagsabgeordnete Bx. (SPD) erklärt, dass seine Berliner Abgeordnetenmitarbeiter zum Wahlkampf vor Ort herangezogen worden seien, weil in Berlin ja nichts mehr los sei. Dies habe der Mitarbeiter eines Aachener Bundestagsabgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bestätigt. Die Büroleiterin des Abgeordneten Bx. habe in demselben Bericht erklärt, sie mache jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf. Auch der Abgeordnete By. (CDU) habe den Wert von hauptamtlichen Beschäftigten im Wahlkampf betont. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros habe bekannt, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu machen. Der Abgeordnete Bz. (DIE LINKE) habe erklärt, dass derjenige, der seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen könne, entweder über "verdammt viele finanzielle Ressourcen" verfüge oder den Wert seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verstanden habe. Schließlich habe ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion geäußert, dass "alle Abgeordneten, wirklich alle", Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken beschäftigten.

26

Ein solcher Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sei verfassungswidrig. Er verletze das Gebot der Chancengleichheit der Parteien. Weiterer Nachweise des missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern bei der Bundestagswahl 2013 bedürfe es nicht, da hinsichtlich der Verwendung der hierfür bereitgestellten Mittel jede wirksame Kontrolle ausgeschaltet sei. Der Bundestag verwehre dem Bundesrechnungshof seit 1993 die Kontrolle der Abgeordnetenmitarbeiter und ihrer Finanzierung. Auch müsse der Abgeordnete keinerlei öffentliche Rechenschaft über die Verwendung der Mittel für Mitarbeiter und deren Einsatz ablegen. Angesichts dieser gezielt herbeigeführten Kontrolllosigkeit genügten die angeführten exemplarischen Missbrauchsfälle, um "einen Beweis des ersten Anscheins missbräuchlicher Verwendung" zu begründen.

27

cc) Geradezu abwegig sei es zu behaupten, die verschleierte Wahlkampffinanzierung habe keinen Einfluss auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 gehabt. Vielmehr sei ein solcher nach der allgemeinen Lebenserfahrung - auf die es hier ankomme - mit Sicherheit anzunehmen.

28

d) Die zu hohe Sperrklausel und das Fehlen eines Eventualstimmrechts verletzten auch das subjektive Recht des Beschwerdeführers auf Gleichheit des Wahlrechts. Ebenso verletze die verfassungswidrige Parteienfinanzierung über Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen das Recht des Beschwerdeführers auf politische Gleichheit und gleiche politische Mitwirkung. Genau wie ein Bürger in seinem Recht auf Gleichheit der Wahl und der politischen Mitwirkung durch bestimmte, sich unterschiedlich auswirkende Regelungen der steuerlichen Spendenbegünstigung diskriminiert werden könne, so sei er auch in seinem Recht auf gleiche politische Mitwirkung verletzt, wenn unter den vorhandenen Parteien einige durch die verdeckte Parteienfinanzierung verfassungswidrig benachteiligt würden.

III.

29

Mit Schreiben vom 16. September 2015 hat der Beschwerdeführer den Richter Müller gemäß § 19 BVerfGG wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und beantragt, ihn vom vorliegenden Verfahren auszuschließen. Mit Beschluss vom 19. Juli 2016 hat der Senat die Ablehnung als unbegründet zurückgewiesen (BVerfGE 142, 302).

IV.

30

1. Insbesondere aufgrund der Sendung des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 nahm die Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen die Abgeordneten By. (CDU), Bx. (SPD) und Bz. (DIE LINKE) sowie gegen die Abgeordnete H. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wegen des Verdachts der Untreue auf (Az. 276 Js 1352/14). Dieses wurde mit Verfügung vom 9. November 2015 mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

31

2. Mit Verfügung des Berichterstatters vom 9. August 2016 sind die betreffenden Akten der Staatsanwaltschaft Berlin beigezogen worden. Sie zeigen, dass im Verlauf der Ermittlungen nahezu sämtliche bei den Abgeordneten beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Zeugen vernommen wurden. Nach einem Vermerk vom 6. Juli 2015 und der Einstellungsverfügung vom 9. November 2015 ergaben sich dabei aus Sicht der Staatsanwaltschaft lediglich in geringem Umfang Anhaltspunkte für klassische wahlkampfbezogene Tätigkeiten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten oder im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit ihrer Mitarbeiter. So sollen vereinzelt im Wahlkreisbüro der Beschuldigten H. und By. Wahlkampftüten gepackt worden sein. Die für den Beschuldigten By. tätige Zeugin M. habe zudem angegeben, ihren Dienst-PC auch für Wahlkampfaktionen genutzt zu haben, weil ihr die Einwahl ihres privaten Laptops zu umständlich gewesen sei. Hinsichtlich der Beschuldigten H. habe sich ergeben, dass deren Wahlkreisbüro aus Kostengründen in einer Bürogemeinschaft mit dem Büro des Kreisverbandes der Partei betrieben worden sei, so dass hierdurch eine Trennung zwischen Partei- und Mandatsarbeit schwierig erscheine. Im Übrigen hätten die vernommenen Zeugen übereinstimmend erklärt, dass, soweit überhaupt Wahlkampftätigkeiten wahrgenommen worden seien, dies ehrenamtlich oder aufgrund eines gesondert von der Partei erteilten Auftrags außerhalb der Bürozeiten geschehen sei. Des Weiteren hätten sie ausgeführt, dass die im Beitrag des Magazins "Report Mainz" gesendeten Einstellungen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Abgeordneten bei klassischen Wahlkampftätigkeiten zeigten, überwiegend auf ausdrückliche Bitte des Fernsehteams gestellt worden seien. Anfallende Mehrarbeit im Wahlkampf gehe auf eine erhöhte Zahl von Presse- und Bürgeranfragen an den Abgeordneten sowie einen erhöhten Aufwand zur Koordination und Vorbereitung von Terminen zurück. Eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenen Anfragen sei kaum möglich.

32

3. Nach erfolgter Einsichtnahme in die staatsanwaltschaftlichen Akten hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. November 2016 Stellung genommen. Er sieht seinen Vortrag durch die Ermittlungen bestätigt.

33

a) Die Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Untreue gegen die vier Abgeordneten stehe der Annahme verfassungswidriger parteiergreifender Tätigkeiten der Mitarbeiter nicht entgegen. Im Gegenteil: Die Auswertung bestätige, dass die Mitarbeiter in verfassungswidriger Weise parteiergreifend tätig gewesen seien, indem sie eine Fülle von sogenannten "nicht-klassischen" Wahlkampfaktivitäten vorgenommen hätten. Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nur für die klassischen Wahlkampfaktivitäten interessiert, worunter sie zum Beispiel Tür-zu-Tür-Aktionen, Ankleben von Plakaten, Verteilen von Flyern und Broschüren sowie die Ansprache von Bürgern an Parteiständen in der Fußgängerzone und Parteiwerbung durch Verschenken etwa von Brezeln gefasst habe.

34

b) Hinsichtlich der anderen Aktivitäten ergebe sich aus den Ermittlungsakten, dass zahlreiche Abgeordnetenmitarbeiter in der Vorwahlzeit im Wahlkreis eingesetzt worden seien und sich dabei "im Modus Wahlkampf" befunden hätten. Von ihnen seien in ihrer Arbeitszeit Anfragen der Presse und von Bürgern beantwortet worden, wobei die allermeisten Anfragen, auch die von Bürgern, "auch immer einen Bezug zur Wahl" gehabt hätten. Die Mitarbeiter hätten außerdem Grußworte und Reden für ihre Abgeordneten ausgearbeitet. In der Hand erfahrener Mitarbeiter habe auch die Vorbereitung von Vorortterminen, Podiumsdiskussionen, Pressegesprächen und ähnlichen Terminen sowie die Koordination der Veranstaltungen und Termine - auch "klassischer" Wahlkampftermine - gelegen. Alle diese Aktivitäten, die die Mitarbeiter in ihrer staatlich bezahlten Arbeitszeit vorgenommen hätten, hätten in der Vorwahlzeit, wie die Vernehmungen ergeben hätten, bedingt durch den Wahlkampf sprunghaft zugenommen und sich zunehmend unmittelbar auf den Wahlkampf bezogen.

35

c) Hinzu komme, dass die Zweifel der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der sogenannten klassischen Wahlkampfaktivitäten der Abgeordnetenmitarbeiter allein auf Aussagen der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter beruhten. Insoweit sei der Tatbestand der Befangenheit zu besorgen. Die Aussagen seien deshalb nicht glaubhaft. Soweit die Erklärung nachgeschoben worden sei, die Mitarbeiter würden sich im Wahlkampf ehrenamtlich engagieren, handele es sich um eine bloße Schutzbehauptung. Der Beschwerdeführer beantragt deshalb, die drei Autoren des Beitrags von "Report Mainz" vom 17. September 2013 als Zeugen dafür zu vernehmen, dass die entsprechenden Szenen von ihnen nicht fiktiv gestellt worden seien, sondern den üblichen Einsatz der Mitarbeiter wiedergegeben hätten. Außerdem beantragt er, auch die Abgeordnetenmitarbeiter als Zeugen zu vernehmen, damit der Senat sich ein Bild von deren Glaubwürdigkeit machen könne.

B.

36

Die Wahlprüfungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung richtet, weil sie den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht genügt. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit eines die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 berührenden Wahlfehlers durch die Mittelzuweisung oder das Handeln der politischen Stiftungen und der im Bundestag vertretenen Parteien nicht hinreichend dargetan.

I.

37

1. Gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die das Verfahren einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. Die allgemeinen Anforderungen an verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 23 Abs. 1 BVerfGG gelten auch für Wahlprüfungsbeschwerden (vgl. BVerfGE 21, 359 <361>; 24, 252 <258>; 122, 304 <308>). Erforderlich ist demgemäß eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>; 48, 271 <276>; 58, 175 <175>; 122, 304 <308>). Die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern oder die Äußerung einer dahingehenden, nicht belegten Vermutung genügen nicht (vgl. BVerfGE 40, 11 <31>). Der Grundsatz der Amtsermittlung befreit den Beschwerdeführer ebenfalls nicht davon, die Gründe der Wahlprüfungsbeschwerde in substantiierter Weise darzulegen, mag dies im Einzelfall auch mit Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich verbunden sein (vgl. BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <378 f.>; 122, 304 <309>). Im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde soll das Substantiierungsgebot sicherstellen, dass die sich auf der Grundlage der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses ergebende Zusammensetzung des Parlaments nicht vorschnell infrage gestellt wird und dadurch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit geweckt werden. Auch wenn die Anforderungen daran, was ein Beschwerdeführer vortragen muss, um eine Prüfung der Wahl auf die von ihm beanstandeten Fehler zu erreichen, nicht überspannt werden dürfen, sind deshalb Wahlbeanstandungen, die einen konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, als unsubstantiiert zurückzuweisen (vgl. BVerfGE 85, 148 <159 f.>).

38

2. a) Wahlfehler sind alle Verstöße gegen Wahlvorschriften während des gesamten Wahlverfahrens durch Wahlorgane oder Dritte (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 103 ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 21). Als Wahlvorschriften kommen vor allem die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung in Betracht (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>). Daneben können aber auch Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 41 Rn. 103 f. ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 26).

39

Relevant sind letztlich alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 104 ). Daher können sowohl die Missachtung der Regelungen des Parteienrechts und der staatlichen Parteienfinanzierung (vgl. BVerfGE 85, 264 <284 ff.>) als auch tatsächliche Handlungen ohne explizite einfachrechtliche Grundlage wie die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (vgl. BVerfGE 44, 125 <143 ff.>) oder parteiergreifende Äußerungen von Regierungsmitgliedern (vgl. BVerfGE 138, 102 <116 ff. Rn. 49 ff.>) grundsätzlich taugliche Gegenstände eines Wahlprüfungsverfahrens sein. Lediglich Sachverhalte, die "bei Gelegenheit" einer Wahl geschehen, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (vgl. Frommer/Engelbrecht, Bundeswahlrecht - Kommentar für die Praxis, § 49, S. 2 f. <30. Lieferung 2017>).

40

b) Neben der Möglichkeit eines Wahlfehlers hat der Beschwerdeführer grundsätzlich auch die Mandatsrelevanz dieses Fehlers substantiiert darzulegen. Es muss zwar nicht der Nachweis einer Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung erbracht werden. Die nur theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Rechtsverletzung und dem Ergebnis der angefochtenen Wahl genügt jedoch nicht (vgl. Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13). Vielmehr gilt der Grundsatz der potentiellen Kausalität (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 110 ; Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13; Schreiber, DVBl 2010, S. 609 <612>). Demgemäß hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit (BVerfGE 89, 243 <254>; 89, 291 <304>) handelt.

II.

41

Die Wahlprüfungsbeschwerde genügt diesen Anforderungen an die Darlegung einer ergebnisrelevanten Störung der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag nicht, soweit sie die Zuweisung öffentlicher Mittel an politische Stiftungen (1.) und die Staatsfinanzierung der Bundestagsfraktionen, insbesondere im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit (2.), angreift.

42

1. Der Vortrag des Beschwerdeführers lässt einen Wahlfehler aufgrund des Einsatzes staatlicher Mittel durch politische Stiftungen nicht erkennen. Seine Behauptung, die Finanzzuweisungen an politische Stiftungen und deren Verwendung hätten bei der Bundestagswahl 2013 als verdeckte Parteienfinanzierung zu einer Verletzung der Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG und der Wahlrechtsgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geführt, wird durch seinen Sachvortrag nicht hinreichend belegt. Weder können diesem Vortrag konkrete, die Bundestagswahl 2013 in irgendeiner Weise beeinflussende Sachverhalte entnommen werden (a), noch setzt sich der Beschwerdeführer im erforderlichen Umfang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Eigenständigkeit politischer Stiftungen gegenüber den diesen nahestehenden Parteien auseinander (b).

43

a) Konkrete Umstände, aus denen sich die Möglichkeit einer Beeinflussung des Ablaufs und Ergebnisses der Wahl ergibt, hat der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2013 bezogen auf das Handeln der politischen Stiftungen nicht dargelegt. Dabei können seine Ausführungen zu Höhe und Steigerungsraten der Mittelzuweisungen an politische Stiftungen sowie die in diesem Zusammenhang unter den Gesichtspunkten der Transparenz und der fehlenden Beachtung des Gesetzesvorbehalts vorgetragenen verfassungsrechtlichen Einwände gegen das Verfahren der Mittelfestsetzung dahinstehen. Diese allein begründen keine Bedenken gegen die Ordnungsgemäßheit der Durchführung der Bundestagswahl 2013 und die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, da ein hinreichender Wahlbezug insoweit nicht ersichtlich ist. Vielmehr hätte der Beschwerdeführer konkret darlegen müssen, durch welche Verhaltensweisen und Aktivitäten die politischen Stiftungen auf die Bundestagswahl 2013 eingewirkt und deren Ergebnis beeinflusst haben. Daran fehlt es. Der Beschwerdeführer vermag keinerlei konkrete Initiativen der politischen Stiftungen mit Bezug auf die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 zu benennen.

44

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der allgemein gehaltenen Behauptung des Beschwerdeführers, das Handeln der politischen Stiftungen komme im Sinne einer "Kooperationseinheit" der jeweiligen Mutterpartei zugute und beeinträchtige damit den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Er lässt insoweit die auf politische Stiftungen bezogene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 73, 1 <31 ff.>; 140, 1 <38 f. Rn. 106 ff.>) außer Betracht. Das Gericht hat sich der Sache nach auch mit der Frage der "Kooperationseinheit" auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Stiftungen ihre satzungsgemäßen Aufgaben in hinreichender organisatorischer und personeller Unabhängigkeit von den ihnen nahestehenden Parteien erfüllen. Die Stiftungen und die politischen Parteien verfolgen unterschiedliche, voneinander abgrenzbare Ziele. Die politische Bildungsarbeit der Stiftungen hat sich weitgehend verselbständigt und einen hohen Grad an Offenheit erreicht. Es ist den Stiftungen verwehrt, in den Wettbewerb der politischen Parteien einzugreifen, indem sie etwa im Auftrag der und für die ihnen nahestehenden Parteien geldwerte Leistungen oder Wahlkampfhilfe erbringen (BVerfGE 73, 1 <32>). Daher stellt die Gewährung von Globalzuschüssen an politische Stiftungen keine verdeckte Parteienfinanzierung dar und verletzt nicht das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 73, 1 <31 f.>; 140, 1 <38 Rn. 106>).

45

Zu alldem verhält sich der Beschwerdeführer nicht. Seinem Vorbringen kann nicht entnommen werden, warum eine von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Beurteilung geboten sein soll. Die Behauptung des Beschwerdeführers, politische Stiftungen wüchsen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien, ist durch keinen konkreten Sachvortrag unterlegt. Dies gilt auch, soweit der Beschwerdeführer auf die sogenannte Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien von 1998 verweist, da sich hieraus für die Frage parteinütziger Verwendung gewährter Zuschüsse nichts ergibt.

46

2. Auch soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für die Bundestagsfraktionen und insbesondere deren Öffentlichkeitsarbeit wendet, fehlt es an einer hinreichenden Substantiierung der Wahlprüfungsbeschwerde. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lassen sich konkret auf die Bundestagswahl 2013 bezogene Sachverhalte nicht entnehmen (a). Seine allgemeinen Ausführungen zu einer behaupteten verdeckten Parteienfinanzierung durch die Bereitstellung von Fraktionsmitteln, einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage und zur Verfassungswidrigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen und des Verfahrens der Mittelgewährung genügen den Begründungserfordernissen ebenfalls nicht (b).

47

a) Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist der auf den Einspruch des Beschwerdeführers ergangene Beschluss des Bundestages über die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013. Dem Substantiierungsgebot gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügt der Beschwerdeführer daher nur, wenn er einen konkreten Sachverhalt vorträgt, der sich auf die Gültigkeit dieser Wahl auszuwirken vermag, weil er eine mandatsrelevante Verfälschung des Wählerwillens möglich erscheinen lässt. Diese Voraussetzung erfüllt der Beschwerdeführer hinsichtlich des Handelns der Bundestagsfraktionen nicht. Konkret verweist er insoweit lediglich auf eine Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine Aktion im Vorfeld zweier Landtagswahlen (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) handelte, genügt dieser Hinweis den Anforderungen an die Darlegung eines mandatsrelevanten Wahlfehlers bei der angegriffenen Wahl bereits deshalb nicht, weil die FDP bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 die erforderliche Stimmenzahl zur Überwindung der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht erreicht hat und dem 18. Deutschen Bundestag nicht angehört. Ansonsten fehlt es an der Darlegung jeglicher auf die Bundestagswahl 2013 bezogener Aktivitäten und Initiativen der Bundestagsfraktionen.

48

b) Auch die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Fraktionsfinanzierung als "verdeckte Parteien- und Wahlkampffinanzierung" (aa) und einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien (bb) sowie zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung und der Verwendung der Fraktionsmittel (cc) genügen den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht.

49

aa) Soweit der Beschwerdeführer darauf verweist, die Zuweisung der Fraktionsmittel stelle eine den Grundsatz der Chancengleichheit verletzende und die gesetzlichen Vorgaben der staatlichen Parteienfinanzierung missachtende "verdeckte Parteienfinanzierung" dar, lässt er die Rechtsstellung der Fraktionen und die rechtlichen Bindungen der Gewährung und Verwendung von Fraktionsmitteln außer Betracht.

50

(1) Die Fraktionen, die als ständige Gliederungen des Bundestages der "organisierten Staatlichkeit" eingefügt sind (vgl. BVerfGE 20, 56 <104>; 62, 194 <202>), steuern und erleichtern die parlamentarische Arbeit, indem sie unterschiedliche politische Positionen von Abgeordneten zu handlungs- und verständigungsfähigen Einheiten zusammenfassen, eine Arbeitsteilung unter ihren Mitgliedern organisieren, gemeinsame Initiativen vorbereiten und aufeinander abstimmen sowie die Information der Fraktionsmitglieder unterstützen. Die Finanzierung der Fraktionen mit staatlichen Zuschüssen dient der Ermöglichung und Gewährleistung dieser Arbeit (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>; 140, 1 <26 Rn. 71>).

51

(2) Die Verwendung der den Fraktionen zur Verfügung gestellten Leistungen unterliegt strikter Zweckbindung (vgl. BVerfGE 140, 1 <31 Rn. 85>). Gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 AbgG dürfen die Fraktionen die ihnen gewährten Mittel nur für Aufgaben verwenden, die ihnen nach dem Grundgesetz, dem Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages obliegen. Eine Verwendung für Parteiaufgaben ist unzulässig (§ 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG). Über die Verwendung und Herkunft der Mittel haben die Fraktionen gemäß § 52 Abs. 1 AbgG öffentlich Rechenschaft zu geben. Ihre Rechnung muss von einem im Benehmen mit dem Bundesrechnungshof bestellten Abschlussprüfer geprüft und testiert werden (§ 52 Abs. 4 Satz 1 AbgG). Gemäß § 53 Abs. 1 AbgG unterliegen die Fraktionen hinsichtlich der wirtschaftlichen und ordnungsgemäßen Verwendung der ihnen zur Verfügung gestellten Geld- und Sachmittel der Überprüfung durch den Bundesrechnungshof. Schließlich ist es den Parteien verboten, Spenden von Parlamentsfraktionen entgegenzunehmen (§ 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG). Tun sie es dennoch, haben sie das Dreifache des rechtswidrig erlangten Betrages abzuführen (§ 31c Satz 1 PartG).

52

(3) Nach dem gesetzlichen Regelungskonzept ist die Verwendung von Fraktionsmitteln somit strikt auf die Wahrnehmung von Aufgaben begrenzt, die den Fraktionen als Teil der "organisierten Staatlichkeit" zugewiesen sind. Demgegenüber sind Parteien zwar berufen, in den Bereich der institutionellen Staatlichkeit hineinzuwirken, gehören diesem aber selbst nicht an (vgl. BVerfGE 20, 56 <101>). Daher hätte der Beschwerdeführer sich näher dazu verhalten müssen, inwieweit sich die Gewährung von Fraktionsmitteln trotzdem als Akt der Parteienfinanzierung darstellt.

53

bb) Dabei kann der Beschwerdeführer sich nicht auf den Hinweis beschränken, eine Trennung zwischen parlamentarischer und parteipolitischer Arbeit sei eine Fiktion, da Fraktionen die Rolle von Ersatzparteien übernommen hätten, ihre Verlautbarungen und sonstigen Aktivitäten der jeweiligen Partei zugutekämen und dies zu gewaltigen Wettbewerbsvorteilen führe. Er verkennt insoweit, dass die Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlgleichheit einen Eingriff in die vorgefundene Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. BVerfGE 69, 92 <109>; 73, 40 <89>; 85, 264 <297>; 104, 287 <300>; 111, 382 <398>; 140, 1 <28 Rn. 76>; stRspr). Dem Beschwerdeführer ist zwar zuzugestehen, dass das Handeln der einzelnen Bundestagsfraktionen mit den jeweiligen Parteien verbunden wird, in deren Bewertung einfließt und sich damit auf die Wahlchancen der im Wettbewerb stehenden Parteien auswirken kann. Dies ist jedoch Teil des Prozesses der freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht. Sich daraus ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer des politischen Wettbewerbs sind hinzunehmen (vgl. BVerfGE 140, 1 <28 Rn. 76>; siehe auch: BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>). Etwas anderes wäre lediglich dann anzunehmen, wenn die Fraktionen die ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen in einer nicht aufgabengerechten Weise parteinützig einsetzen würden.

54

cc) Vor diesem Hintergrund kommt es auf die verfassungsrechtlichen Einwände des Beschwerdeführers gegen das Verfahren zur Festsetzung der Fraktionsmittel unter den Gesichtspunkten fehlender Obergrenzen, einer Missachtung des Gesetzesvorbehalts und fehlender Transparenz mangels eines hinreichend konkreten Wahlbezugs nicht an. Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen bestreitet und die Verfassungswidrigkeit von § 47 Abs. 3 AbgG geltend macht.

55

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher zu den Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundestagsfraktionen aufgrund § 47 Abs. 3 AbgG nicht abschließend geäußert (vgl. BVerfGE 136, 190 <193 Rn. 8>). Auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens besteht hierzu kein Anlass. Die Wahlprüfungsbeschwerde dient nicht der abstrakten Normenkontrolle wahlrechtlicher Vorschriften. Vielmehr ist sie auf die Überprüfung der Ordnungsgemäßheit einer konkreten Wahl und der Zusammensetzung des jeweiligen Bundestages gerichtet. Anlass zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm besteht im Wahlprüfungsverfahren daher nur, wenn es im Hinblick auf das Vorliegen eines konkreten Wahlfehlers auf die Gültigkeit dieser Norm ankommt. Der Beschwerdeführer hat aber keine konkreten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit oder sonstige Initiativen der Bundestagsfraktionen dargelegt, aus denen eine die Chancengleichheit verletzende und mandatsrelevante Einflussnahme auf die Bundestagswahl 2013 abgeleitet werden könnte.

56

Unbeachtlich sind daher auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe und zu den Steigerungsraten der Fraktionsmittel. Insoweit fehlt es ebenfalls an einem konkreten Wahlbezug. Ohne entsprechende Anhaltspunkte kann nicht unterstellt werden, dass die Fraktionen die ihnen zugewendeten Geld- oder Sachleistungen trotz des gesetzlichen Verbots in § 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG für Parteiaufgaben oder Wahlkampfzwecke verwendet haben. Der Beschwerdeführer genügt seiner diesbezüglichen Darlegungslast nicht. Sein Vortrag reicht über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

C.

57

Im Übrigen ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet.

58

Begründet ist eine Wahlprüfungsbeschwerde, wenn gegen Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes oder Wahlrechtsvorschriften verstoßen worden ist (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>) und dies entweder mandatsrelevant ist und zur Ungültigerklärung der Wahl führt (vgl. BVerfGE 121, 266 <289, 311>) oder zumindest eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers zur Folge hat (§ 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG). Der Beschwerdeführer rügt einen Wahlfehler in Form einer mandatsrelevanten Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG (I.). Ein derartiger Wahlfehler, der auch mandatsrelevant ist, liegt nicht vor (II.). Eine Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers durch einen Wahlfehler ist ebenfalls nicht erkennbar (III.).

I.

59

1. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger (vgl. BVerfGE 41, 399 <413>; 51, 222 <234>; 85, 148 <157 f.>; 99, 1 <13>; 135, 259 <284 Rn. 44>) und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>). Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 82, 322 <337>; 85, 264 <315>; 135, 259 <284 Rn. 44>). Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 129, 300 <317 f.>). Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE 16, 130 <139>; 95, 335 <353>). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>; 129, 300 <318>; 135, 259 <284 Rn. 45>).

60

2. Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <319>; 135, 259 <285 Rn. 48>).

61

3. a) Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82 <106>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes (vgl. BVerfGE 6, 84 <92>; 51, 222 <236>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Das bedeutet nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 1, 208 <248>; 6, 84 <92>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>; 135, 259 <286 Rn. 51>).

62

b) Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (BVerfGE 95, 408 <418>) und, damit zusammenhängend, die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 f.>; 4, 31 <40>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <236>; 82, 322 <338>; 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden (vgl. BVerfGE 120, 82 <111 f.>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>), sondern bemisst sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs. Zudem kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeitet und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhängt (vgl. BVerfGE 129, 300 <323, 326 ff.>; 135, 259 <287 Rn. 52>).

63

c) aa) Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, kollidierende Ziele mit Verfassungsrang und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 266 <303>; 131, 316 <338>). Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <420>; 121, 266 <303 f.>; 131, 316 <338 f.>). Allerdings verbleibt dem Gesetzgeber für Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit nur ein eng bemessener Spielraum (vgl. BVerfGE 95, 408 <417 f.>; 129, 300 <322>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <322 f.>; 130, 212 <229>; 135, 259 <289 Rn. 57>).

64

bb) Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugungen und Rechtspraxis Beachtung finden (vgl. BVerfGE 1, 208 <249>; 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung allerdings nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>).

65

cc) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen infrage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (vgl. BVerfGE 73, 40 <94>; 82, 322 <338 f.>; 107, 286 <294 f.>; 120, 82 <108>; 129, 300 <321 f.>; 135, 259 <287 Rn. 54>). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (vgl. BVerfGE 1, 208 <259>; 82, 322 <338>; 120, 82 <108>; 129, 300 <322>; 135, 259 <288 Rn. 54>).

II.

66

Nach diesen Maßstäben ist ein mandatsrelevanter Wahlfehler weder bezogen auf die Fünf-Prozent-Sperrklausel (1.) und den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung einer Eventualstimme (2.) noch hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 (3.) gegeben.

67

1. a) Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl des Deutschen Bundestages für verfassungskonform erachtet (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 ff.>; 4, 31 <39 ff.>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <235 ff.>; 82, 322 <337 ff.>; 95, 335 <366>; 95, 408 <417 ff.>; 120, 82 <109 ff.>; 122, 304 <314 f.>). Sie findet ihre Rechtfertigung im Wesentlichen in dem verfassungslegitimen Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern (vgl. BVerfGE 82, 322 <338>; 95, 335 <366>; 95, 408 <419>; 120, 82 <111>; 131, 316 <344>). Dies setzt die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung voraus, die durch die Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet werden kann (vgl. BVerfGE 129, 300 <335 f.>). Die Bewertung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl ist, da die Rechtfertigung der Sperrklausel sich insbesondere nach der Wahrscheinlichkeit zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der zu wählenden Volksvertretung bemisst, nicht auf die Wahl anderer parlamentarischer Vertretungen übertragbar (vgl. BVerfGE 129, 300 <321>; 135, 259 <286 f. Rn. 52>).

68

b) Die Ausführungen des Beschwerdeführers geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG abzuweichen. Weder kann davon ausgegangen werden, dass eine deren Rechtfertigung in Wegfall bringende Änderung der tatsächlichen (aa) oder rechtlichen (bb) Verhältnisse eingetreten ist, noch ist feststellbar, dass die Regelung das zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels Erforderliche überschreitet (cc).

69

aa) Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass bei der Bundestagswahl aufgrund der Sperrklausel 15,7 % der abgegebenen Stimmen nicht den gewählten, sondern anderen Parteien zugutegekommen seien. Dies habe zu einer Verfälschung des Wahlergebnisses in bisher unbekanntem Umfang geführt und die Regierungsbildung zumindest nicht erleichtert. Außerdem sei durch das knappe Scheitern von FDP und AfD die Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern verschoben worden. Aus diesem Vortrag ergibt sich keine Infragestellung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG.

70

(1) Dies gilt zunächst, soweit der Beschwerdeführer auf den sperrklauselbedingten Ausfall von 15,7 % der Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 verweist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ziel der Verhinderung einer die Funktionsfähigkeit beeinträchtigenden Zersplitterung des Parlaments die Nichtberücksichtigung der Parteien, die bei der Bundestagswahl weniger als 5 % der Stimmen erhalten haben, grundsätzlich unabhängig davon rechtfertigt, wie viele Stimmen beziehungsweise welcher Stimmenanteil insgesamt auf diese Parteien entfällt. Zwar erhöht sich die Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit, je größer die Zahl derjenigen Stimmen ist, die bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt bleiben. Insoweit ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass es sich bei 15,7 % der Stimmen um eine beachtliche, bisher nicht erreichte Größenordnung handelt. Dies allein vermag jedoch ein Zurücktreten des Ziels, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern, nicht zu begründen. Hinzu kommt, dass der Anteil von 15,7 % bei der Mandatsverteilung unberücksichtigter Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 bisher einen Einzelfall darstellt, der auf das nur knappe Scheitern zweier Parteien zurückzuführen ist. Ob und inwieweit sich Derartiges bei künftigen Bundestagswahlen wiederholt, ist nicht absehbar.

71

Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könnte möglicherweise geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl (vgl. BVerfGE 95, 408 <419> m.w.N.) beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber muss die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration der politischen Kräfte des gesamten Volkes sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 14, 121 <135 f.>; 24, 300 <341>; 41, 399 <421>; 51, 222 <236>; 74, 81 <97>; 95, 408 <419>). Dies ist auch bei der Ausgestaltung und Anwendung der Sperrklausel zu beachten. Eine Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl wird aber weder vom Beschwerdeführer behauptet, noch ist sie in sonstiger Weise erkennbar.

72

(2) Die Rechtfertigung der Sperrklausel ist, anders als der Beschwerdeführer meint, grundsätzlich unabhängig davon, wie viele Parteien mit welchem Ergebnis an der Sperrklausel scheitern. Es kann - soweit die Integrationsfunktion der Wahl nicht betroffen ist - dahinstehen, ob wenige Parteien knapp, viele Parteien deutlich oder einige deutlich und andere knapp an der Sperrklausel scheitern (bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 23 Parteien mit zusammen 6,2 % der Stimmen).

73

(3) Der Argumentation des Beschwerdeführers, es sei bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bisher nicht bekannten Verfälschung des Wahlergebnisses gekommen, liegt eine unzureichende Unterscheidung zwischen der Feststellung des Wahlergebnisses einerseits und der Mandatsverteilung andererseits zugrunde. Für die Feststellung des Wahlergebnisses ist § 6 Abs. 3 BWahlG ohne Belang. Eine "Verfälschung" des Wahlergebnisses kann daher durch die Sperrklausel nicht herbeigeführt werden. Demgegenüber bleiben bei der Mandatsverteilung die Stimmen, die auf Parteien entfallen, welche die Sperrklausel nicht überwunden haben, von vornherein außer Betracht. Die Mandatsverteilung erfolgt ausschließlich zwischen den Parteien, die die Sperrklausel überwunden haben, aufgrund der von diesen Parteien selbst erreichten Stimmenzahl.

74

(4) Soweit der Beschwerdeführer von einer sperrklauselbedingten Verschiebung der Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern ("rechte Mitte" und "linkes Lager") ausgeht, erschließt sich die Relevanz dieses Vorbringens für das Vorliegen eines Wahlfehlers nicht. Unabhängig davon, dass der vom Beschwerdeführer behauptete Bestand zweier großer politischer "Lager" zu hinterfragen wäre, ist nicht erkennbar, inwieweit die vermutete Existenz politischer Lager in der von ihm beschriebenen Zusammensetzung die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien tangieren soll. Die Bildung von Koalitionen ist nicht Teil des Wahlprozesses, sondern schließt sich an diesen an.

75

bb) Auch eine für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel relevante Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt nicht vor. Sie liegt insbesondere nicht in der vom Beschwerdeführer geltend gemachten "Verschärfung der Maßstäbe" durch das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt einer "Entscheidung in eigener Sache" (vgl. Rn. 63). Unabhängig von der Frage, ob dieser erstmals im Jahr 2008 (BVerfGE 120, 82 <105>) ausdrücklich angeführte Gesichtspunkt für eine strenge verfassungsgerichtliche Prüfung von Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit überhaupt eine Verschärfung der Maßstäbe bedeutet hat, hat das Bundesverfassungsgericht auch vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung die Verfassungskonformität der Fünf-Prozent-Sperrklausel geprüft und bestätigt (vgl. zuletzt BVerfGE 131, 316 <344>).

76

Die Notwendigkeit einer Neubewertung der Norm ergibt sich ferner nicht aus den Urteilen zur Verfassungswidrigkeit der Fünf- beziehungsweise Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, da das Gericht in diesen Entscheidungen ausdrücklich auf die Nichtübertragbarkeit der dortigen Erwägungen, die Unterschiedlichkeit der Interessenlage angesichts des Umstands, dass das Europäische Parlament keine Regierung wählt, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen ist, und vor allem auf die im Bundestagswahlrecht nicht bestehende Möglichkeit hingewiesen hat, im Falle einer Schwächung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit einer Korrektur des nationalen Europawahlrechts zu reagieren (vgl. BVerfGE 129, 300 <336>; 135, 259 <291 Rn. 61>).

77

cc) (1) Schließlich fordert entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers auch nicht der Grundsatz des milderen Mittels die Abschaffung oder zumindest die Absenkung der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Er verweist insbesondere darauf, dass eine niedrigere Sperrklausel von 3 bis 4 % eine geringere Eingriffsintensität besäße, ohne deren Zweck zu beeinträchtigen. Bei der Bundestagswahl 2013 hätte eine solche niedrigere Sperrklausel nach seiner Behauptung die Regierungsbildung und die effektivere Wahrnehmung der Oppositionsaufgaben erleichtert. Dabei verkennt der Beschwerdeführer, dass es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, eigene Zweckmäßigkeitserwägungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (vgl. BVerfGE 51, 222 <238>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Das Bundesverfassungsgericht kann, sofern eine differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 95, 408 <420>; 120, 82 <107>; 121, 266 <304>; 129, 300 <321 f.>; 131, 316 <339>; 132, 39 <48 f. Rn. 27>).

78

(2) Vor diesem Hintergrund mag dahinstehen, ob mit Blick auf die konkreten Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 eine auf 3 oder 4 % abgesenkte Sperrklausel den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit oder die Chancengleichheit der Parteien gemindert hätte, ohne die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu beeinträchtigen. Für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Lösung kommt es auf das Ergebnis einer einzelnen Bundestagswahl nicht an. Die Ergebnisse einzelner vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang künftiger Wahlen. Insoweit handelt es sich bei der Entscheidung über die Höhe einer Sperrklausel um eine wertende Prognoseentscheidung (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 111; VerfGH Saarland, Urteil vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, juris, Rn. 28). Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Festlegung einer exakten Prozentzahl, bei deren Unterschreitung eine Zersplitterung des Bundestages eintritt, nicht möglich ist.

79

Entschließt sich der Gesetzgeber zur Einführung einer Sperrklausel, darf er in aller Regel kein höheres als ein Fünf-Prozent-Quorum - bezogen auf das Wahlgebiet - begründen (vgl. BVerfGE 51, 222 <237>; 71, 81 <97>; 82, 322 <338>; 95, 408 <419>; stRspr). Innerhalb dieser Grenze unterliegt es aber seiner Entscheidung, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Es steht ihm grundsätzlich frei, auf die Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Möglichkeiten zu ergreifen (vgl. BVerfGE 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Mit der Festlegung der Höhe der Sperrklausel auf 5 % hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, die zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheint. Ob auch mit einer niedrigeren Sperrklausel dieses Ziel in gleich geeigneter Weise dauerhaft erreicht werden kann, ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber das Maß des Erforderlichen nicht beachtet hat und nach dem Grundsatz des milderen Mittels verfassungsrechtlich verpflichtet war, eine niedrigere Sperrklausel festzulegen. Vielmehr hat er den ihm gemäß Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Spielraum nicht überschritten.

80

2. Hiervon ausgehend ist auch die Einführung einer Eventualstimme für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, verfassungsrechtlich nicht geboten. Dabei kann dahinstehen, ob und inwieweit einem Eventualstimmrecht verfassungsrechtliche Bedenken unter den Gesichtspunkten der Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl sowie der Unvereinbarkeit eines bedingten Votums mit dem Demokratieprinzip entgegenstehen (vgl. dazu Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 37; Buchwald/Rauber/Grzeszick, LKRZ 2012, S. 441 <444 f.>; Damm, DÖV 2013, S. 913 <917 ff.>; Heußner, LKRZ 2014, S. 7 <9 ff.>; Linck, DÖV 1984, S. 884 <885 f.>; Zimmer, DÖV 1985, S. 101; siehe auch VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 4 ff.).

81

Einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Einführung eines Eventualstimmrechts steht jedenfalls entgegen, dass dieses zwar einerseits den mit einer Sperrklausel verbundenen Eingriff in den Grundsatz der gleichen Wahl insoweit abzumildern geeignet ist, als sich damit die Zahl der Wählerinnen und Wähler verringern ließe, die im Deutschen Bundestag nicht repräsentiert sind wenn die von ihnen mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert (vgl. VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 10). Andererseits würde die Einführung einer Eventualstimme aber die Komplexität der Wahl erhöhen, so dass eine Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen erscheint. Vor allem aber wäre die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme ebenfalls in relevantem Umfang mit Eingriffen in den Grundsatz der Wahlgleichheit, möglicherweise auch der Unmittelbarkeit der Wahl verbunden. Dies gilt hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit, falls sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme an Parteien vergeben werden, die jeweils die Sperrklausel nicht überwinden. Daneben erscheint die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme aber auch mit Blick auf die Zählwertgleichheit nicht unproblematisch: Während die Stimmen derjenigen, die eine Partei wählen, die die Sperrklausel überwindet, nur einmal gezählt werden, ist dies bei Stimmen, mit denen in erster Priorität eine Partei gewählt wird, die an der Sperrklausel scheitert, nicht der Fall. Vielmehr wären sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme gültig. Die Hauptstimme würde bei der Feststellung des Wahlergebnisses berücksichtigt, wäre im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung relevant und bliebe lediglich bei der Mandatsverteilung ohne Erfolg. Daneben wäre auch die Eventualstimme eine gültige Stimme, die beim Wahlergebnis berücksichtigt und zusätzlich bei der Mandatsverteilung Relevanz entfalten würde. Mit Blick auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl kann die Eventualstimme Probleme aufwerfen, weil letztlich andere Wähler darüber entscheiden, für wen eine Stimme abgegeben wird.

82

Vor diesem Hintergrund lässt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Pflicht zur Einführung eines Eventualstimmrechts ableiten. Angesichts der ambivalenten Wirkungen einer Verbesserung der Integrationsfunktion der Wahl einerseits und einer erhöhten Komplexität und Fehleranfälligkeit des Wahlvorgangs sowie der Herbeiführung neuer Eingriffe in die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl andererseits kann das Eventualstimmrecht nicht als zweifelsfrei "gleich geeignetes, milderes Mittel" zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments angesehen werden (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 107). Vielmehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Gestaltungsauftrags verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und Wahlrechtsgrundsätze - auch im Verhältnis zueinander - zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 131, 316 <338>; 132, 39 <48 Rn. 26> m.w.N.). Dies gilt auch für die Abwägung zwischen den Belangen der Funktionsfähigkeit des Parlaments, dem Anliegen einer umfassenden Integrationswirkung und den Geboten der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>). Es wäre demgemäß Sache des Gesetzgebers, die mit einem Eventualstimmrecht verbundenen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen und auf dieser Grundlage über dessen Einführung zu entscheiden.

83

3. Schließlich ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet, soweit der Beschwerdeführer eine mandatsrelevante Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG aufgrund des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern annimmt. Dies gilt sowohl, soweit der Beschwerdeführer sich allgemein gegen die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern während des Wahlkampfes wendet (a), als auch, soweit er deren Beteiligung am Bundestagswahlkampf 2013 rügt (b).

84

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass sich aus der Beschäftigung der Abgeordnetenmitarbeiter während des Wahlkampfes erhebliche Wettbewerbsvorteile für die im Parlament vertretenen Parteien ergäben, da deren Tätigkeit immer auch einen Bezug zur Wahl habe, kann dem ein Wahlfehler nicht entnommen werden.

85

aa) Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG liegt das Bild eines Abgeordneten zugrunde, der im Parlament durch Plenar- und Ausschusssitzungen, in der Fraktion und Partei durch inhaltliche Arbeit sowie im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit durch Veranstaltungen der verschiedensten Art, nicht zuletzt durch Wahlvorbereitungen und Wahlversammlungen in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 40, 296 <312>; 134, 141 <173 f. Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Dass der Abgeordnete bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben auf die Unterstützung von Mitarbeitern angewiesen ist, ist angesichts der Komplexität der ihm übertragenen Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeiten, der personellen Überlegenheit des Regierungsapparates und der Vielfältigkeit seiner Beanspruchung im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit evident. Daher ist die Erstattung der damit verbundenen Aufwendungen sachgerecht. § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG begrenzt diesen Erstattungsanspruch auf den mandatsbedingten Aufwand. Die hiervon losgelöste Wahrnehmung von Partei- oder Wahlkampfaufgaben ist nicht erstattungsfähig (vgl. BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 94>). Staatliche Mittel zur Beschäftigung von Mitarbeitern werden dem Abgeordneten nur zur Verfügung gestellt, soweit sich deren Tätigkeit auf die Unterstützung bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit beschränkt.

86

bb) Als Verbindungsglied zwischen Parlament und Bürger gehört es zu den Hauptaufgaben des Abgeordneten, insbesondere im eigenen Wahlkreis engen Kontakt mit der Partei, den Verbänden und nicht organisierten Bürgern zu halten (vgl. BVerfGE 134, 141 <173 Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Diese Aufgabe endet nicht mit dem Beginn des Wahlkampfes, sondern erst, wenn der Abgeordnete aus dem Parlament ausscheidet. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe umfasst der Anspruch des Bundestagsabgeordneten auf Ersatz der Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG auch den Einsatz von Mitarbeitern im Wahlkreis (vgl. BVerfGE 140, 1 <33 Rn. 93>). Dabei ist die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen auch in diesem Fall auf Tätigkeiten beschränkt, die den Abgeordneten bei der Ausübung seines Mandats unterstützen.

87

cc) Zwar ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass die Wahlkreisarbeit des Abgeordneten in die Bewertung seiner Tätigkeit einfließt und auf die Wahlchancen seiner Person und der von ihm vertretenen Partei zurückwirkt. Auch geht gegen Ende der Legislaturperiode die Beanspruchung des Abgeordneten durch Tätigkeiten im Plenum, in den Ausschüssen und den Fraktionen des Parlaments zurück, während die Beanspruchung im Wahlkreis steigt. Dies allein rechtfertigt es jedoch nicht, den Anspruch des Abgeordneten auf Ersatz seines mandatsbedingten Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG während des Wahlkampfes dem Grunde nach von vornherein in Abrede zu stellen.

88

dd) Zutreffend ist freilich die Beobachtung, dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats und der Betätigung im Wahlkampf nicht in jedem Einzelfall möglich sein wird. Dies gilt beispielsweise für die vom Beschwerdeführer aufgeführten Fälle der Beantwortung von Presse- und Bürgeranfragen in Wahlkampfzeiten oder die Koordination von Veranstaltungen und öffentlichen Terminen. Selbst wenn, wie der Beschwerdeführer vorträgt, die wahlkreisbezogenen Aktivitäten der Abgeordneten und der Umfang der an sie gerichteten Anfragen in Vorwahlzeiten sprunghaft ansteigen, hindert dies den Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter jedoch nicht, soweit im Einzelfall ein hinreichender Mandatsbezug erkennbar vorliegt. Ist dieser gegeben, ist der dienstliche Einsatz des Abgeordnetenmitarbeiters als Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats nicht zu beanstanden. Daraus sich ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Die Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seiner Mandatspflichten durch eigene Mitarbeiter und die Erstattung des damit verbundenen Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG ist auch in Wahlkampfzeiten kein Eingriff in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien. Etwas anderes kann nur gelten, soweit Abgeordnetenmitarbeiter im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit auch jenseits der Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats für Parteiaufgaben oder Wahlkampfaktivitäten eingesetzt werden.

89

b) Soweit der Beschwerdeführer eine solche Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang geltend macht, ist der behauptete Wahlfehler nicht nachgewiesen (aa). Die dafür vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände scheiden als Indizien aus, weil sie von vornherein nicht geeignet sind, einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern in diesem Wahlkampf zu belegen oder sich nicht verifizieren lassen (bb). Soweit eine punktuelle Beteiligung einzelner Abgeordnetenmitarbeiter am Bundestagswahlkampf 2013 im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit möglich erscheint, fehlt es jedenfalls an der Mandatsrelevanz dieses Verhaltens (cc).

90

aa) (1) Nehmen Abgeordnetenmitarbeiter während der Dienstzeit an Wahlkampfeinsätzen teil und wird dem Abgeordneten der dabei entstehende Aufwand ersetzt, liegt eine unzulässige Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen zu Parteizwecken vor. Dann ist zugleich ein Wahlfehler in Form einer Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG gegeben. Voraussetzung der Begründetheit einer hierauf gestützten Wahlprüfungsbeschwerde ist allerdings, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachgewiesen werden kann und dieser nach dem Grundsatz potentieller Kausalität (siehe oben B. I. 2. b) Rn. 40) Mandatsrelevanz zukommt. Die bloße Möglichkeit oder Vermutung eines derartigen Verhaltens genügt demgegenüber nicht.

91

(2) Dabei ist für die Annahme einer "Art Beweis des ersten Anscheins" kein Raum. Ihr steht entgegen, dass die durch die Wahl hervorgebrachte Volksvertretung wegen der ihr zukommenden Funktionen größtmöglichen Bestandsschutz verlangt (vgl. BVerfGE 89, 246 <253>). Daher ist das festgestellte Wahlergebnis allein dann infrage zu stellen und kommt ein Eingriff in die sich daraus ergebende Zusammensetzung des Parlaments nur in Betracht, wenn feststeht, dass die Ordnungsgemäßheit der Wahl in einer Weise gestört wurde, die sich mandatsrelevant ausgewirkt haben kann. Auch wenn die Feststellung eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten im tatsächlichen Bereich stößt, vermindert dies die Anforderungen an den Nachweis des behaupteten Wahlfehlers nicht (vgl. zur Substantiierungspflicht trotz tatsächlicher Schwierigkeiten BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <379>; 122, 304 <309>).

92

(3) Vielmehr haben die Wahlprüfungsorgane auf der Grundlage eines hinreichend substantiierten Sachvortrags das Vorliegen des behaupteten Wahlfehlers von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmen sich Inhalt und Umfang dieser Ermittlungspflicht nach der Art des beanstandeten Wahlergebnisses und des gerügten Wahlmangels (vgl. BVerfGE 85, 148 <160>). Lässt sich letztendlich nicht aufklären, ob ein Wahlfehler vorliegt oder ein vorliegender Wahlfehler sich auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben kann, bleibt die Wahlprüfungsbeschwerde ohne Erfolg (vgl. Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 32).

93

bb) Der ganz überwiegende Teil der vom Beschwerdeführer angeführten Umstände ist zum Nachweis eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 von vornherein nicht geeignet. Dies gilt für die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe, zu den Steigerungsraten und zum Verfahren der Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter (1) sowie zur unzureichenden Transparenz und Kontrolle der Mittelverwendung (2) ebenso wie für die Darlegungen zur Beschäftigung von Parteifunktionären (3) und zur Verlagerung des Schwerpunktes der Abgeordnetentätigkeit während des Wahlkampfes vom Parlament in den Wahlkreis (4). Der anonymen Äußerung eines ehemaligen Fraktionsmitarbeiters kommt kein Beweiswert zu, weil sie sich nicht verifizieren lässt (5).

94

(1) (a) Der bloße Hinweis auf die Höhe der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern insgesamt und individuell zur Verfügung gestellten Mittel und deren Steigerungsraten sowie der Vergleich der Höhe dieser Mittel mit den angeblich geringeren Wahlkampfbudgets der Abgeordneten erlauben keinen Rückschluss auf einen missbräuchlichen, während ihrer Dienstzeit erfolgten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Eine dahingehende Indizwirkung könnte allenfalls in Betracht kommen, wenn feststellbar wäre, dass Mittel in einem Umfang bereitgestellt wurden, der zur Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit nicht erforderlich und daher geeignet war, einer Verwendung für Partei- oder Wahlkampfzwecke Vorschub zu leisten (vgl. dazu BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 95>). Dazu verhält sich der Beschwerdeführer aber nicht. Auch ansonsten ist nicht erkennbar, dass die Höhe der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter einen Umfang erreicht hätte, der das zur Erstattung des mandatsbedingten Aufwandes notwendige Maß übersteigt.

95

(b) Ebenso müssen die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter außer Betracht bleiben. Selbst wenn sein Vortrag zur Verletzung des Gesetzesvorbehalts zuträfe, rechtfertigte dies nicht die Annahme, dass mit den im Bundeshaushalt ausgewiesenen Mitteln der unzulässige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 finanziert wurde. Insoweit fehlt der konkrete Bezug zu der mit der Wahlprüfungsbeschwerde angegriffenen Bundestagswahl. Die behauptete Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel vermag deren zweckwidrige Verwendung nicht nachzuweisen.

96

(2) Auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur unzureichenden Kontrolle der Mittelverwendung lassen nicht den Schluss zu, Abgeordnetenmitarbeiter seien in großem Umfang während ihrer Dienstzeit im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden. Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass eine Kontrolle der Verwendung der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern festgesetzten Mittel durch den Bundesrechnungshof seit 1993 nicht mehr stattfinde und die Abgeordneten auch ansonsten keinerlei öffentliche Rechenschaft ablegen müssten. Diese vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände erlauben aber nicht den Rückschluss auf einen umfänglichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Allenfalls sind die behaupteten Defizite geeignet, unzulässige Wahlkampfeinsätze von Abgeordnetenmitarbeitern zu erleichtern. Der hinreichende Nachweis, dass derartige Einsätze im Bundestagswahlkampf 2013 tatsächlich stattgefunden haben, kann dadurch aber nicht ersetzt werden.

97

(3) Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, Parteifunktionäre würden häufig als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt und bildeten das eigentliche organisatorische Rückgrat der Parteien. Allein aus dem Umstand, dass Abgeordnetenmitarbeiter Parteifunktionen wahrnehmen, folgt nicht, dass sie dafür in unzulässiger Weise aus öffentlichen Mitteln entlohnt werden (vgl. BVerfGE 140, 1 <35 Rn. 99>). Ebenso wenig lässt sich aus der Beschäftigung von Funktionsträgern der Partei folgern, dass diese während der Dienstzeit in unzulässiger Weise an Wahlkampfeinsätzen teilnehmen. Konkret auf einzelne Parteifunktionäre bezogene Sachverhalte oder sonstige Belege hierfür benennt der Beschwerdeführer nicht. Auch insoweit reicht sein Vortrag über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

98

(4) Ebenfalls nicht geeignet, den missbräuchlichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf zu belegen ist der allgemeine Hinweis, dass in einem Wahljahr mit Beginn der Sommerferien im Parlament "alle Räder still" stünden, während die Zahl der Anfragen, Veranstaltungen und Pressetermine stark anwachse. Allein aus dem Umstand, dass sich während der Sommerpause - insbesondere in Wahljahren - der Tätigkeitsschwerpunkt des Abgeordneten in seinem Wahlkreis befindet, folgt nicht, dass die Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit keine mandatsbezogenen Tätigkeiten erledigen, sondern Parteiaufgaben oder Wahlkampfeinsätze wahrnehmen.

99

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 13 AbgG. Auch wenn nach dieser Vorschrift im Falle des Eintritts in den Deutschen Bundestag im letzten Vierteljahr der Wahlperiode ein Anspruch auf Aufwandsentschädigung nicht besteht, lässt dies keinen Rückschluss auf den mandatsbedingten Arbeitsanfall eines längerfristig dem Bundestag angehörenden Abgeordneten zu. Erst recht erlaubt dies nicht die Unterstellung, dass Mitarbeiter längerfristig tätiger Abgeordneter in dem genannten Zeitraum jenseits der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG eingesetzt würden.

100

Ob die Behauptung des Beschwerdeführers zutrifft, ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten würde im Wahlkreis eingesetzt, kann deshalb dahinstehen. Selbst wenn dem so wäre, folgte daraus nicht, dass diese Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit Aufgaben ohne Mandatsbezug wahrgenommen und sich am Bundestagswahlkampf 2013 beteiligt haben.

101

(5) Schließlich muss die Behauptung des Beschwerdeführers, ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe geäußert, alle Abgeordneten beschäftigten ihre Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken, außer Betracht bleiben. Es handelt sich insoweit um ein anonymes Zitat aus einer Presseerklärung des SWR vom 17. September 2013. Der Beschwerdeführer hat weder den Urheber dieses Zitats benannt, noch sonstige Möglichkeiten einer Verifizierung der Aussage aufgezeigt.

102

cc) Anhaltspunkte für einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 können sich daher nur aus den im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 angesprochenen Sachverhalten und Äußerungen ergeben (1). Insoweit kann aber nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin (2) der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf während der Dienstzeit nur in sehr geringem, punktuellem Umfang als nachgewiesen angesehen werden (3). Möglichkeiten zu einer weitergehenden Aufklärung der angesprochenen Sachverhalte von Amts wegen bestehen nicht (4). Soweit überhaupt ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 angenommen werden kann, kommt dem keine Mandatsrelevanz zu (5).

103

(1) In dem Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 kommen drei Bundestagsabgeordnete und drei ihrer Mitarbeiter zu Wort, deren Aussagen für einen Einsatz der Mitarbeiter im Wahlkampf sprechen. So erklärte der Bundestagsabgeordnete Bx., dass man im Wahlkampf die Mitarbeiter im Wahlkreis zusammenziehe und alle mithelfen würden. Seine Mitarbeiterin Z. behauptete, jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen. Der Abgeordnete By. bezeichnete es als Vorteil, "jemand Erfahrenen dann auch als Hauptamtlichen zu haben", und bezog auf Nachfrage diese Aussage auch auf den Wahlkampf. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros H. gab an, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu erledigen. Der Mitarbeiter P. der (damaligen) Bundestagsabgeordneten H. verwies darauf, dass die Mitarbeiter aktuell "vor allem im Wahlkampf" eingebunden seien. Schließlich bemerkte der (damalige) Bundestagsabgeordnete Bz., wer seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgreich machen könne, habe entweder "verdammt viele finanzielle Ressourcen oder den Wert seiner Mitarbeiter nicht verstanden". In dem Bericht des Politikmagazins waren diese Aussagen unter anderem mit Bildern unterlegt, die die Mitarbeiterin H. am 10. September 2013 um kurz nach sechs Uhr morgens beim Verteilen von Brezeln und die Mitarbeiterin Z. beim Verteilen von Blumen im Rahmen einer Tür-zu-Tür-Aktion zeigten.

104

(2) Demgegenüber erklärten in dem aufgrund des "Report Mainz"-Berichts wegen des Verdachts der Untreue eingeleiteten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin die hierzu fast vollzählig vernommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Bundestagsabgeordneten übereinstimmend, dass eine Beteiligung am Wahlkampf ausschließlich ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags und außerhalb der Dienstzeit stattgefunden habe. Seitens der Abgeordneten seien entsprechende Ansprachen in deutlicher Form erfolgt. Die im Filmbeitrag gezeigten Einstellungen seien auf Bitten des Fernsehteams gestellt worden. Weiterhin äußerten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass in Wahlkampfzeiten Mehrarbeit aufgrund einer erhöhten Zahl von Presse- und Bürgeranfragen und eines größeren Aufwandes zur Koordinierung und Vorbereitung von Terminen anfalle. Dabei wurde eingeräumt, dass eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenem Aufwand nicht immer möglich sei. Zugleich wurde teilweise detailliert dargelegt, in welcher Weise versucht worden sei, eine organisatorische, personelle und räumliche Trennung zwischen Wahlkampforganisation und Wahlkreisarbeit herbeizuführen. Die Mitarbeiterin Z. gab an, ihre Aussage, zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen, habe sich auf das quantitativ gestiegene Aufkommen an Terminen und Anfragen bezogen und sei vielleicht etwas übertrieben gewesen. Auch die Büroleiterin des Abgeordneten By. erklärte, grundsätzlich seien im Wahlkreisbüro keine Wahlkampfaufgaben angefallen. Man habe mal für die gefilmte Brezelaktion Aufkleber auf Wahlkampftüten geklebt. Die Teilnahme an dieser Aktion habe auf Wunsch der Projektleiterin des SWR außerhalb der Dienstzeiten stattgefunden. Die Aussage "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit" beziehe sich auf den erhöhten Koordinationsaufwand angesichts der Fülle von Terminen und Anfragen während des Wahlkampfes.

105

Die Staatsanwaltschaft Berlin sah danach eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit nur in geringem Umfang als nachgewiesen an (Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H., Benutzung eines PCs für Wahlkampfaktionen, Betrieb eines Wahlkreisbüros in einer Bürogemeinschaft mit dem Kreisverband einer Partei) und stellte das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 9. November 2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

106

(3) Vor diesem Hintergrund kann die Behauptung des Beschwerdeführers, im Bundestagswahlkampf 2013 seien in großem Umfang unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Abgeordnetenmitarbeiter eingesetzt worden, nicht als nachgewiesen angesehen werden.

107

(a) Dies gilt bereits hinsichtlich der im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" geschilderten Einzelfälle. Zwar sprechen die in diesem Bericht getätigten Aussagen für eine intensive Wahlkampfbeteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten. Zudem vermögen die Versuche einer Relativierung dieser Aussagen durch die Mitarbeiterinnen Z. und H. in dem durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht restlos zu überzeugen. Der Annahme eines umfänglichen dienstlichen Einsatzes im Bundestagswahlkampf 2013 stehen jedoch die übereinstimmenden Aussagen der nahezu vollzählig vernommenen übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten entgegen, wonach die Beteiligung am Wahlkampf außerhalb der Dienstzeiten ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags der jeweiligen Partei erfolgt sei. Angesichts dieser nicht widerlegbaren Einlassungen teilt der Senat die Einschätzung der Ermittlungsbehörde, dass lediglich in geringem Umfang ein dienstlicher Wahlkampfeinsatz der Abgeordnetenmitarbeiter erwiesen ist.

108

(b) Hinzu kommt, dass sich der Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 auf die Beschreibung weniger Einzelfälle beschränkt. Die Übertragbarkeit der beschriebenen Sachverhalte auf die Gesamtheit der Bundestagsabgeordneten wird vom Beschwerdeführer nicht begründet, sondern lediglich unterstellt. Sie ist auch nicht in sonstiger Weise ersichtlich.

109

(4) Eine weitergehende Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen kommt nicht in Betracht, da es an tauglichen Ansatzpunkten für ergänzende Ermittlungen fehlt.

110

(a) Soweit der Beschwerdeführer die Vernehmung der verantwortlichen Autoren des "Report Mainz"-Beitrags zum Beweis der Behauptung beantragt hat, dass die im Film gezeigten Szenen nicht gestellt seien, kommt es darauf nicht an. Selbst wenn es sich entgegen der Einlassung der im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren vernommenen Personen nicht um gestellte Szenen handeln würde, könnte daraus nicht gefolgert werden, dass ein Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang stattgefunden hat. Die Autoren des Fernsehbeitrags könnten allenfalls etwas zu den von ihnen gefilmten, punktuellen Situationen sagen. Außerdem wäre damit die Behauptung der ehrenamtlichen Betätigung im Wahlkampf - jedenfalls über die konkret gefilmten Situationen hinaus - nicht widerlegt. Aus den gleichen Gründen war die vom Beschwerdeführer begehrte Vernehmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der im "Report Mainz"-Bericht gezeigten Bundestagsabgeordneten nicht geboten.

111

(b) Sonstige Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen bestehen nicht. Weitere überprüfbare Umstände, die geeignet wären, die Behauptung des Beschwerdeführers zum umfänglichen Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 zu belegen, sind weder von diesem vorgetragen noch in sonstiger Weise ersichtlich.

112

In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sich öffentlich weitgehend nicht nachvollziehen lässt. Zugleich kann der Abgeordnete bei der Wahrnehmung seines Mandats in erheblichem Umfang auf staatlich finanzierte Ressourcen zurückgreifen. Neben den für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern zur Verfügung gestellten Mitteln (2017: 212,620 Mio. Euro - vgl. Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 vom 20. Dezember 2016, BGBl I S. 3016 ff. [Haushaltsgesetz 2017], Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 411 03), die in ihrem Volumen die Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung deutlich übersteigen (2017: 143,000 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 60 , Kapitel 6002, Titel 684 03), sind insoweit auch die den Fraktionen gewährten Zuschüsse (2017: 88,097 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 684 01) und die Möglichkeiten des Abgeordneten in Rechnung zu stellen, sich der Unterstützungsleistungen der Verwaltung des Deutschen Bundestages, insbesondere des Wissenschaftlichen Dienstes, zu bedienen. Die sich aus einem ordnungsgemäßen Einsatz dieser Ressourcen ergebenden Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind zwar als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Angesichts des erheblichen Umfangs der zur Verfügung gestellten Ressourcen gebietet der Grundsatz der Chancengleichheit aber eine strikte Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben beim Einsatz dieser Mittel. Ihrer zweckwidrigen Verwendung ist durch geeignete Vorkehrungen entgegenzuwirken (vgl. zum Einsatz von Druckwerken der Bundesregierung im Wahlkampf: BVerfGE 44, 125 <126 Leitsatz 9, 154>).

113

Dies gilt für die Mittel zur Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern in besonderer Weise. Die unvermeidbaren Überschneidungen zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats im Wahlkreis und der Beteiligung am Wahlkampf führen zu in hohem Maße missbrauchsanfälligen Situationen. Hinzu kommt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten regelmäßig ein großes politisches und nicht selten auch ein persönliches, auf eine weitere Beschäftigung gerichtetes Interesse am Wahlerfolg des einzelnen Abgeordneten haben. Umso notwendiger ist es, zur Gewährleistung eines chancengleichen Wettbewerbs der politischen Parteien durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Abgeordnetenmitarbeiter sich im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließlich auf die Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung seiner parlamentarischen Arbeit im Sinne von § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG beschränken.

114

Dieser gebotenen Sicherstellung eines hinreichenden Mandatsbezugs bei der Tätigkeit der Abgeordnetenmitarbeiter genügt der gegenwärtige Regelungsbestand nicht. Der Abgeordnete erhält zwar gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern nur "gegen Nachweis" ersetzt. Dabei hat er gemäß § 12 Abs. 3 Satz 5 AbgG das Haushaltsgesetz und die vom Ältestenrat erlassenen Ausführungsbestimmungen zu beachten und insbesondere einen Arbeitsvertrag vorzulegen, der mindestens die vom Ältestenrat in einem Musterarbeitsvertrag getroffenen Regelungen enthalten muss. Eine zweckwidrige Verwendung der Mittel hat der Bundestagspräsident zu unterbinden (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>) sowie zu viel gezahlte Beträge zurückzufordern. Außerdem sind bei einem Einsatz der Mittel zur unzulässigen Parteienfinanzierung Strafzahlungen gemäß § 31c PartG festzusetzen (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 140, 1 <36 f. Rn. 103>). Außerdem kann der rechtswidrige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern für Parteizwecke, wie der vorliegende Fall zeigt, auch gemäß § 266 StGB strafbar sein. Darüber hinausgehende Vorkehrungen zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Verwendung der dem Abgeordneten zur Verfügung stehenden Mittel und insbesondere zum Ausschluss des spezifischen Risikos eines unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf bestehen jedoch nicht. Insbesondere ist der Abgeordnete - im Unterschied zu den Fraktionen des Deutschen Bundestages (§ 52 Abs. 1 AbgG) - nicht verpflichtet, über den Einsatz dieser Mittel öffentlich Rechenschaft abzulegen. Eine externe Kontrolle der Mittelverwendung findet nicht statt. Spezifische Vorkehrungen zur Nachvollziehbarkeit der Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG fehlen. Damit wird der besonderen Missbrauchsanfälligkeit hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf nicht ausreichend Rechnung getragen. Der Deutsche Bundestag wird zur Wahrung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) durch ergänzende Regelungen des Abgeordnetengesetzes oder anderer untergesetzlicher Vorschriften dafür Sorge zu tragen haben, dass der Verwendung von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf verstärkt entgegengewirkt wird und die Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachvollziehbarer Kontrolle unterliegt.

115

(5) Der vorliegenden Wahlprüfungsbeschwerde vermag dieses Regelungsdefizit jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die bloße Möglichkeit des unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern genügt zur Feststellung eines die Gültigkeit der Wahl berührenden Wahlfehlers nicht. Erforderlich ist vielmehr der konkrete Nachweis, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit stattgefunden hat und dadurch der chancengleiche Wettbewerb zwischen den Parteien in mandatsrelevanter Weise gestört wurde. Dass dies - wie vom Beschwerdeführer behauptet - im Bundestagswahlkampf 2013 der Fall war, kann nach dem vorstehend Gesagten nicht festgestellt werden.

116

Soweit auf der Grundlage des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens punktuell ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 in Betracht kommt, fehlt es an der erforderlichen Mandatsrelevanz. Es ist nicht erkennbar, dass das Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. und die Benutzung eines Dienst-PCs anstelle eines privaten Laptops in mandatsrelevanter Weise auf die Wahl eingewirkt haben. Dem steht im Fall der Abgeordneten H. bereits entgegen, dass diese nicht erneut in den Bundestag eingezogen ist. Auch im Fall des Abgeordneten By. ist eine mandatsrelevante Auswirkung der festgestellten Sachverhalte fernliegend. Weder steht fest, in welchem Umfang und mit welchem Zeitaufwand Wahlkampftüten durch seine Mitarbeiter gepackt wurden, noch ist ersichtlich, dass die Verteilung dieser Tüten das Wahlergebnis in relevanter Weise beeinflusst hat.

III.

117

Auch eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG liegt nicht vor.

118

1. Soweit bereits kein Wahlfehler gegeben ist, ist eine Verletzung subjektiver Rechte ausgeschlossen. Dies gilt für die Sperrklausel (mit und ohne Eventualstimmrecht) und für den behaupteten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf in großem Umfang.

119

2. Hinsichtlich der sich aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergebenden Einzelfälle unzulässiger Wahlkampftätigkeit ist eine subjektive Rechtsverletzung nicht erkennbar. Eine unzulässige Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf greift primär in den Anspruch auf Chancengleichheit der politischen Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG ein. Eine darüber hinausgehende Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch die geschilderten Vorfälle in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. das Wahlrecht des Beschwerdeführers in irgendeiner Weise betroffen wurde.

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Verfahrens sind die Beschwerden mehrerer Wahlberechtigter gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Wahl vom 6. Mai 2012 (Landtags-Drucksache 18/163, PlPr 18/7, S. 427 <429>).

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauteten zum Zeitpunkt der Landtagswahl:

3

Artikel 3

Wahlen und Abstimmungen

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.
(2) […]
(3) Die Wahlprüfung und die Abstimmungsprüfung stehen den Volksvertretungen jeweils für ihr Wahlgebiet zu. Ihre Entscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung.
(4) […]
4

Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung. Der Landtag wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Er übt die gesetzgebende Gewalt aus und kontrolliert die vollziehende Gewalt. Er behandelt öffentliche Angelegenheiten.
(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
5

Artikel 5

Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.
6

2. § 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz – LWahlG –) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) bestimmt:

§ 3

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) - (7) […]

7

3. Bereits die Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 (GVOBl 1950 S. 3) enthielt die seither unveränderte Regelung des heutigen Art. 5 Abs. 1 LV. Mit Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) ist Art. 5 Abs. 2 LV im Rahmen der Verfassungsreform auf Empfehlung des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ aufgenommen worden.

8

Die Vorschriften zur dänischen Minderheit in Art. 5 LV und in § 3 Abs. 1 LWahlG haben ihren Ursprung in der von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung mit Billigung des Schleswig-Holsteinischen Landtages abgegebenen Kieler Erklärung vom 26. September 1949 (GVOBl S. 183) und den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4). Letztere waren das Ergebnis von Beratungen der Dänischen Regierung und der deutschen Bundesregierung und bestanden aus je einer Erklärung der Bundesregierung im Einvernehmen mit der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung und der Dänischen Regierung. Der Deutsche Bundestag, der Schleswig-Holsteinische Landtag und das dänische Folketing haben diesen Erklärungen zugestimmt

(vgl. dazu im Einzelnen: Abdruck bei Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945, Frankfurt am Main, Berlin 1959, S. 71 ff.).

9

Sowohl die Kieler Erklärung als auch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen wurden mit dem Ziel abgegeben,

das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung beiderseits der deutsch-dänischen Grenze und damit auch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark allgemein zu fördern.

Sie bekräftigen, dass die Angehörigen der dänischen Minderheit wie alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 garantierten Rechte genießen. Schon in der Kieler Erklärung war unter anderem festgestellt worden, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist und von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden darf (a.a.O., S. 184, II. Nr. 1). Dieser Grundsatz wurde in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen übernommen (a.a.O., S. 5).

10

Der Gesetzgeber nahm erstmals mit § 3 Abs. 1 LWahlG vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) die Grundmandatsklausel, die 5%-Klausel sowie eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten in das Wahlrecht auf. Letztere beschränkte sich darauf, dass bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war.

11

Mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) wurden die Vorschrift über Parteien nationaler Minderheiten aufgehoben und die Sperrklausel auf 7,5% angehoben. Diese 7,5%-Klausel erklärte das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) für verfassungswidrig

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.).

Daraufhin wurde in § 3 Abs. 1 LWahlG vom 5. November 1952 (GVOBl S. 175) die bis heute geltende 5%-Klausel verankert.

12

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurden mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) die Parteien der dänischen Minderheit durch Einfügung des bis heute geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG von der 5%-Klausel ausgenommen.

13

Durch die Wahlrechtsänderung im Jahre 1997 (vgl. Gesetz zur Änderung des LWahlG vom 27. Oktober 1997, GVOBl S. 462) wurde die Zweitstimme bei Landtagswahlen eingeführt. § 3 Abs. 1 LWahlG ist im Wesentlichen unverändert geblieben; lediglich das Wort „Stimmen“ wurde durch „Zweitstimmen“ ersetzt.

14

4. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 6. Mai 2012 (Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

auf die CDU

        

30,8 %,

auf die SPD

        

30,4 %,

auf die FDP

        

 8,2 %,

auf die GRÜNEN

        

13,2 %,

auf die LINKE

        

 2,3 %,

auf den SSW

        

 4,6 %,

auf die PIRATEN

        

 8,2 %,

auf die FREIEN WÄHLER

        

0,6 %,

auf die NPD

        

 0,7 %,

auf die FAMILIE

        

 1,0 %

und auf die MUD

        

 0,1 %.

15

An der Verteilung der Sitze aus den Landeslisten nach § 3 Abs. 1 LWahlG nahmen die CDU, die SPD, die FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der SSW und die PIRATEN teil.

16

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG aufgrund des Zweitstimmenergebnisses

auf die CDU

        

22 Sitze,

auf die SPD

        

22 Sitze,

auf die FDP

        

 6 Sitze,

auf die GRÜNEN

        

 10 Sitze,

auf den SSW

        

 3 Sitze

und auf die PIRATEN

        

 6 Sitze.

17

Sämtliche der von der CDU und 13 der von der SPD errungenen Sitze wurden als Direktmandate besetzt und nach § 3 Abs. 4 LWahlG auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet. Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), die entstehen und verbleiben, wenn die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, fielen nicht an.

18

Gegen das bekanntgemachte Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 gingen bei der Landeswahlleiterin 35 Einsprüche ein, die überwiegend – mit unterschiedlicher Begründung – die Teilnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) an der Sitzverteilung für rechtswidrig hielten. Nach entsprechender Vorprüfung leitete die Landeswahlleiterin die Einsprüche zur Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Landtag an dessen Innen- und Rechtsausschuss als Wahlprüfungsausschuss weiter. Die Landeswahlleiterin teilte weder die in den Einsprüchen geltend gemachten Zweifel daran, dass der SSW eine Partei der dänischen Minderheit sei, noch diejenigen an der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 LWahlG. Zudem wies sie darauf hin, dass allein das Landesverfassungsgericht das Landeswahlgesetz verfassungsrechtlich überprüfen kann (Vorprüfungsbericht vom 13. Juli 2012, Landtags-Umdruck 18/45).

19

Am 5. September 2012 empfahl der Wahlprüfungsausschuss dem Landtag, die Einsprüche zurückzuweisen und das vom Landeswahlausschuss festgestellte und von der Landeswahlleiterin bekannt gegebene Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 6. Mai 2012 zu bestätigen (Landtags-Drucksache 18/163). Am 26. September 2012 beschloss der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, FDP, SSW und zwei Stimmen aus der Fraktion der PIRATEN, diese Empfehlung anzunehmen (PlPr 18/7, S. 427 <429>). Dies teilte der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages den Einspruchführenden jeweils mit Bescheid vom 27. September 2012 mit.

II.

20

Gegen den Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 haben die wahlberechtigte Beschwerdeführerin und die wahlberechtigten Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben, die das Gericht mit Beschluss vom 8. März 2013 unter dem Aktenzeichen LVerfG 9/12 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat. Sie begehren eine Aufhebung des Landtagsbeschlusses mit dem Ziel, die Landtagswahl zu wiederholen; die Beschwerdeführerin verlangt vorrangig eine Änderung des Beschlusses und eine Neufeststellung des Wahlergebnisses, bei der nur diejenigen Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5% der Zweitstimmen erzielt haben.

21

Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer sind der Auffassung, es sei schon zweifelhaft, ob überhaupt eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein existiere, weil Angehörige der dänischen Minderheit nicht erkennbar seien und eine Assimilation stattgefunden habe, bzw. die Anzahl der Angehörigen nicht nachgewiesen sei. Darüber hinaus machen sie geltend, der SSW sei jedenfalls keine Partei der dänischen Minderheit mehr, so dass die Befreiung von der 5%-Klausel nach § 3 Abs. 1 LWahlG nicht auf ihn anwendbar sei. Ob die überwiegende Zahl der Mitglieder des SSW der dänischen Minderheit angehöre, sei nicht bekannt, zumal selbst der Vorsitzende des SSW im Landtag Friese sei. Ein besonderer Einsatz für dänische Belange sei nicht mehr erkennbar, der SSW decke vielmehr alle Politikfelder ab und unterscheide sich nicht von anderen Parteien. Dies zeige die angestrebte und realisierte Regierungsbeteiligung. Der hohe Anteil an Zweitstimmen, die der SSW außerhalb seines ursprünglichen Tätigkeitsbereichs erzielt habe, belege, dass der SSW keine Partei der dänischen Minderheit mehr sei.

22

Darüber hinaus halten die Beschwerdeführer § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungswidrig. Der Grundsatz der Wahlgleichheit in seiner Ausprägung als Erfolgswertgleichheit sowie der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien würden durch die Befreiung von Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verletzt; seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts seien diese überprivilegiert. Ein zwingender Grund, der eine Differenzierung rechtfertigen kann, sei nicht gegeben. Weder könne ein solcher aus der Landesverfassung noch aus den Bonn-Kopenhagener Erklärungen hergeleitet werden. Ein Teil der Beschwerdeführer meint zudem, § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch gegen Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen seiner Abstammung oder Sprache bevorzugt oder benachteiligt werden darf.

III.

23

1. Der Landtag und die Landesregierung haben Stellung genommen. Sie halten übereinstimmend die Wahlprüfungsbeschwerden für unbegründet. Sie sind der Auffassung, dass der SSW gegenwärtig unverändert eine Partei der dänischen Minderheit ist. Der SSW trete auf vielfältige Weise für Ziele und Interessen der dänischen Minderheit ein, was sich aus seiner Satzung und seinem Programm ergebe. Gegen seine Einstufung als Minderheitenpartei spreche nicht, dass der SSW sämtliche Politikfelder abdecke. Er habe seit jeher zu allen Feldern der Landespolitik Stellung bezogen. Dass er nun auch außerhalb seines satzungsmäßigen Tätigkeitsgebiets Südschleswig und Helgoland wählbar ist, beeinträchtige nicht seine unverändert fortbestehende Verwurzelung in der dänischen Minderheit.

24

Nach Auffassung des Landtages und der Landesregierung sind sowohl die 5%-Klausel selbst als auch die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verfassungsmäßig. Beide verweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich das Landesverfassungsgericht zu eigen gemacht habe. Danach könnten „zwingende“ bzw. „zureichende“ Gründe eine Abweichung von der Gleichbehandlung der Wählerstimmen rechtfertigen.

25

Der Landtag stellt hierzu heraus, dass die 5%-Klausel gerechtfertigt sei, um die Funktionsfähigkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung zu sichern und zu stärken. Es genüge insoweit, wenn ohne Sperrklausel die Integrationswirkung der Wahl gefährdet werde und eine Funktionsstörung des Landtages durch Zersplitterung des Parteienspektrums wahrscheinlich sei. Dies sei heute ebenso gegeben wie bei der Einführung der 5%-Klausel. Eine Sperrklausel sei geeignet, schwere politische Krisen zu verhindern oder zumindest deren Folgen abzumildern. Dies betreffe sowohl die Regierungsbildung als auch die Gesetzgebung und die Aufstellung des Haushaltes. Diese Einschätzung werde durch den internationalen Vergleich mit Ländern mit niedrigerer oder ohne Sperrklausel bestätigt: Dort sei die Regierungsbildung häufig schwierig und langwierig.

26

Die Landesregierung hält die 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ebenfalls für verfassungsmäßig. Sie meint, es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Funktionsfähigkeit des Parlaments als zwingenden Grund für Sperrklauseln gegen parlamentarische Splitterparteien anzusehen. Es gehe insoweit um die Fähigkeit des Parlaments, seine Aufgaben der Gesetzgebung und der Regierungsbildung zu erfüllen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts zu Kommunal- und Europawahlen seien auf die Landtagswahl nicht übertragbar, weil der Landtag die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten wähle, die oder der auf das fortlaufende Vertrauen einer Mehrheit des Landtages angewiesen sei. Angesichts der tatsächlichen politischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein drohten eine Zersplitterung des Parlaments und dadurch eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, was sich anhand der Wahlergebnisse aus den Landtagswahlen von 2009 und 2012 belegen lasse.

27

Der Landtag und die Landesregierung halten die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungsgemäß. Der Landtag macht insoweit geltend, dass das verfassungsrechtlich legitime Ziel die politische Integration der dänischen Minderheit sei, die nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung hat. Da nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen unter dem Schutz des Landes steht, sei das Land zumindest berechtigt, wenn nicht verpflichtet, Parteien der dänischen Minderheit die Wahl in den Landtag als Mittel der politischen Mitwirkung zu erleichtern.

28

§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG stelle keine Privilegierung der dänischen Minderheit dar, sondern gleiche den Nachteil aus, dass dieser Teil der Wählerschaft nicht groß genug sei, um mit Sicherheit die 5%-Hürde zu überwinden. Die Sorge um gute Beziehungen Deutschlands und Schleswig-Holsteins zum Nachbarstaat Dänemark habe den Gesetzgeber bewogen, die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel auszunehmen. Zudem habe er durch die Einbeziehung der dänischen Minderheit in die politische Willensbildung Spannungen abbauen wollen, die auf Grund der besonderen Lage im Grenzgebiet entstanden seien und jederzeit wieder entstehen könnten. Dadurch habe der Gesetzgeber einen wesentlichen Teil seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV erfüllt. Die Integration der dänischen Minderheit in die Landespolitik komme im Sinne eines gutnachbarlichen, vertrauensvollen Verhältnisses der Volksgruppen zueinander und störungsfreier Beziehungen zu Dänemark allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes zugute.

29

Nach Auffassung des Landtages werden Parteien der dänischen Minderheit auch nicht dadurch übermäßig begünstigt, dass sie in den landesweiten Verhältnisausgleich einbezogen werden. Dies sei vielmehr Folge des schleswig-holsteinischen Zweistimmenwahlrechts, das im gesamten Landesgebiet einheitlich und uneingeschränkt gilt.

30

Die Landesregierung betont, dass der Landesgesetzgeber im Rahmen der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG einen autonomen Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems habe, so dass er das Teilgebot der Erfolgswertgleichheit in begrenzter Weise ausgestalten dürfe. Hier ergebe sich ein zwingender Grund für die wahlrechtliche Sonderregelung für Parteien der dänischen Minderheit zunächst aus Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, aber auch unmittelbar aus bundesrechtlichen Erwägungen. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der im Wahlrecht nicht gelte. Unabhängig davon wäre das Benachteiligungsverbot wegen der Abstammung aber auch tatbestandlich nicht einschlägig, weil die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht aus der Familiengeschichte der Person folge, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit.

31

2. Die Landeswahlleiterin vertritt in ihrer Stellungnahme – wie bereits im Vorprüfungsverfahren – die Auffassung, dass kein Anlass bestehe, die Anerkennung des SSW als Partei der dänischen Minderheit in Frage zu stellen. Sie meint, sowohl die Regelung über die 5%-Klausel als auch die Ausnahme hiervon für Parteien der dänischen Minderheit seien nicht verfassungswidrig.

32

3. Auch nach Auffassung des SSW im Landtag ist die Wahlprüfungsbeschwerde unbegründet. Er macht geltend, dass er weiterhin als Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen eine Partei der dänischen Minderheit sei und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Sperrklausel erfülle. Insbesondere führten weder die Befassung mit allgemeinen Themen noch seine Regierungsbeteiligung dazu, dass er die Eigenschaft einer Partei der dänischen Minderheit verloren habe. Dies folge schon aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Aufgabenspektrum einer Partei und dem Umfang des Mandats von Abgeordneten. Er trägt anhand seiner Programme und Aktivitäten im Landtag seit der 1. Wahlperiode vor, dass er seit jeher zu allen Politikfeldern Stellung bezogen habe. Darüber hinaus sei seine Verflechtung mit den Institutionen der dänischen Minderheit evident.

33

Nach Ansicht des SSW im Landtag hält § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Die Befreiung von der 5%-Klausel greife nicht in die Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien ein, sondern sei gerechtfertigt, um einen Nachteil auszugleichen. Hierzu verweist er auf mathematische Berechnungen. Der SSW sei keine Splitterpartei. Als legitime Gründe für seine Befreiung von der 5%-Hürde seien unter anderem Art. 5 Abs. 2 LV, die Integrationsfunktion der Wahlen und die Bindung der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins an die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen anzuführen. Gleich geeignete und weniger einschneidende Mittel, die angestrebten Zwecke zu erreichen, gebe es nicht. Die Gründe für die Befreiung von der 5%-Klausel überwögen den verhältnismäßig geringen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit.

34

4. Die FDP-Landtagsfraktion ist der Auffassung, dass eine Mandatszuteilung zugunsten des SSW nur mit einem Sitz erfolgen dürfe. Hierzu verweist sie auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten (Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungs-rechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013). Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV gewährleiste noch eindringlicher als das Grundgesetz den Grundgedanken der Wahlgleichheit. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei eine Rückausnahme von einer Einschränkung des wahlrechtlichen Gleichheits-grundsatzes (der 5%-Klausel) und müsse im Zusammenhang mit dieser beurteilt werden. Parteien der dänischen Minderheit würden durch die Regelung gegenüber anderen Parteien begünstigt. Eine solche Ungleichbehandlung könne nicht allgemein mit der Integrationsfunktion der Wahl begründet werden. Die Integration nationaler Minderheiten sei zwar ein legitimes Ziel der schleswig-holsteinischen Wahlgesetzgebung, jedoch nach Art. 5 Abs. 2 LV nicht geboten. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei geeignet, das legitime Ziel zu erreichen, jedoch nicht erforderlich. Eine auf Südschleswig beschränkte regionalisierte Regelung wäre ein milderes Mittel. Ebenso wäre es möglich, bei Unterschreiten der 5%-Klausel durch eine Partei der dänischen Minderheit diese nur mit der ersten Person auf der Landesliste am Verhältnisausgleich teilnehmen zu lassen. Die dänische Minderheit sei nicht wegen ihrer Stimmenzahl, sondern auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bezugspersonen wesentlich. Ihre Integration werde nicht weiter dadurch gestärkt, dass sie mit mehreren Abgeordneten vertreten sei.

35

5. Nach Auffassung der Piratenfraktion im Landtag ist die 5%-Klausel nicht mehr zu rechtfertigen, weil die Bildung von Regierungskoalitionen auch ohne 5%-Sperrklausel möglich bleibe. Dies bewiesen die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten, in denen die Sperrklausel nicht gelte. Dann wäre auch die Sonderregelung für den SSW beseitigt, ohne die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag zu erschweren.

B.

36

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 ist gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 3 Nr. 5 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (LVerfGG) die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben. Danach ist Gegenstand der Wahlprüfung die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG). Wahlberechtigte, deren Einsprüche der Landtag verworfen hat, sind zur Beschwerde befugt (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG).

C.

37

Die zulässigen Wahlprüfungsbeschwerden sind unbegründet. Der Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 ist rechtmäßig. Zu Recht hat der SSW mit 4,6% der gültigen Zweitstimmen am Verhältnisausgleich teilgenommen und ist mit drei Abgeordneten im Landtag vertreten. Das festgestellte Ergebnis der Landtagswahl ist nicht zu beanstanden. Weder hat die Rüge der fehlerhaften Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auf den SSW (I.) noch die der Verfassungswidrigkeit von § 3 LWahlG (II.) Erfolg.

I.

38

Aus der einfachgesetzlichen Anwendung des Wahlrechts ergeben sich keine Wahlfehler. Dabei hat das Landesverfassungsgericht die einschlägigen Normen selbst auszulegen und zum Maßstab der Wahlprüfung zu machen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 46, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 50; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -, BVerfGE 97, 317 ff., Juris Rn. 15 und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 90; Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 49 Rn. 34 m.w.N.).

39

Für die Wahl zum 18. Landtag wurde § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG zu Recht auf den SSW angewandt.

40

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten die in Satz 1 der Vorschrift geregelten Einschränkungen zur Teilnahme am Verhältnisausgleich – für eine Partei muss entweder in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden sein oder sie muss insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt haben – nicht für Parteien der dänischen Minderheit. Um eine Partei der dänischen Minderheit handelt es sich, wenn diese eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Parteiengesetz (PartG) ist (1.), es unverändert eine dänische Minderheit gibt (2.), und die Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen ist und weiterhin von ihr getragen und geprägt wird (3). Danach ist der SSW eine Partei der dänischen Minderheit.

41

1. Der SSW ist eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG. Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Sie müssen nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.

42

Diese Voraussetzungen erfüllt der SSW, der seit seiner Gründung 1948 regelmäßig zu Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag angetreten ist

(vgl. Kühl, Dänische Minderheitenpolitik in Deutschland, Südschleswigscher Wählerverband , in: Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 142 <147 ff.>).

43

2. Es gibt in Schleswig-Holstein auch unverändert eine dänische Minderheit. Ihre Existenz wird mit dem erst mit der Verfassungsreform durch das Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) aufgenommenen Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV anerkannt. Der Landesverfassungsgeber hat diese Regelung aktuell bestätigt, indem erden Anspruch auf Schutz und Förderung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV mit Gesetz zur Änderung der Landesverfassung Schleswig-Holstein vom 28. Dezember 2012 (GVOBl 2013 S. 8) um „die Minderheit der deutschen Sinti und Roma“ ergänzt, die Vorschrift die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe betreffend aber unverändert gelassen hat. Auch die Bundesrepublik Deutschland setzte bei ihrer Zustimmung zum Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 (BGBl 1997 II S. 1406) voraus, dass eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein besteht. Die Bundesregierung hat bei der Zeichnung des Rahmenübereinkommens am 11. Mai 1995 ausdrücklich erklärt, dass nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit sind (BGBl 1997 II S. 1418). Schließlich belegen die Minderheitenberichte der Landesregierung die unveränderte Existenz und Aktivität der dänischen Minderheit im Einzelnen

(zuletzt: Bericht der Landesregierung zur Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in der 17. Legislaturperiode (2009 – 2012) – Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37 ff.).

44

Zudem tritt die dänische Minderheit zum Beispiel durch ihre Schulen, den dänischen Kulturverein – den Sydslesvigsk Forening (SSF) – mit seinen Einrichtungen und Veranstaltungen sowie durch die in dänischer Sprache erscheinende Zeitung Flensborg Avis im nördlichen Schleswig-Holstein (Südschleswig) wahrnehmbar in Erscheinung.

45

3. Eine Partei ist dann eine Partei der dänischen Minderheit, wenn sie aus der Minderheit hervorgegangen ist und sie gegenwärtig personell von der Minderheit getragen wird sowie programmatisch von ihr geprägt ist

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 36; Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 4; Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG SH>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 13).

Diese Voraussetzungen treffen auf den SSW zum Zeitpunkt der Landtagswahl im Jahr 2012 zu. Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.

46

Die genannten Merkmale folgen bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, der besagt, dass die Einschränkungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG nicht für Parteien „der“ dänischen Minderheit gelten. Da der Gesetzgeber nicht Parteien „für“ die dänische Minderheit von der Sperrklausel ausgenommen hat, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, dass sich die von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG erfassten Parteien personell, thematisch und programmatisch ausschließlich an die dänische Minderheit richten müssten oder nur von ihren Angehörigen wählbar wären. Sowohl die Wählbarkeit und Wahl durch alle Wählerinnen und Wähler, also auch Nicht-Angehörige der Minderheit, als auch die Befassung mit allen politischen Themen gehören zudem notwendig zu einer Partei, wie dies bundesrechtlich durch Art. 21 GG und § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG zwingend vorgegeben ist; sie sind Ausdruck der den Parteien im demokratischen Gefüge zukommenden Integrationsfunktion. Ohne personelle und programmatische Prägung durch die dänische Minderheit aber wäre eine Partei ihr nicht zuzuordnen, weil ansonsten der im Gesetz vorgegebene Bezug zur Minderheit fehlte. Insofern muss die Partei aus der Minderheit hervorgegangen sein und von ihr auch gegenwärtig noch getragen und geprägt werden.

47

a) Der SSW ist als Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen. Er wurde 1948 als Partei der dänischen Minderheit in Südschleswig und der nationalen Friesen in Nordfriesland als Südschleswigscher Wählerverband gegründet. Zuvor hatte die britische Besatzungsmacht der dänischen Minderheit bereits den Status einer nationalen Minderheit und deren kultureller Organisation, dem SSF, für die Landtagswahl 1947 vorübergehend den Status einer politischen Partei zuerkannt. Nach der Landtagswahl wurde dem SSF die Anerkennung wieder entzogen, weil sich dieser dafür einsetzte, den nördlichen Landesteil an Dänemark anzuschließen bzw. als unabhängiges Territorium zu behandeln. Daraufhin wurde der SSW als politische Interessenvertretung der Minderheit neben dem fortan ausschließlich auf kulturellem Gebiet tätigen SSF geschaffen

(vgl. Kühl, a.a.O., S. 142 ff.; Kühn, a.a.O., S. 43 f. m.w.N.).

48

aa) Die enge Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit spiegelt sich auch in der geschichtlichen Entwicklung des § 3 LWahlG wider:

49

Die erste Fassung von § 3 LWahlG vom 31. Januar 1947 (ABl S. 95) enthielt keine Sonderregelung für nationale Minderheiten. Der SSF errang bei der Landtagswahl 1947 9,27% der insgesamt im Land abgegebenen gültigen Stimmen. Mit zwei Wahlkreiskandidaten (Wahlkreise Flensburg I Stadt und Flensburg II Glücksburg) und vier weiteren Sitzen, die er über die Landesliste erhielt, war er im Landtag vertreten

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 20. April und 18. Mai 1947 vom 8. August 1947, ABl S. 399).

50

Der sodann gegründete SSW, der Kandidaten nur in Südschleswig aufgestellt hatte, erzielte bei der Landtagswahl 1950 5,5% der Stimmen; er war mit zwei Direktkandidaten und zwei weiteren von der Landesliste gewählten Kandidaten in den Landtag eingezogen

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 9. Juli 1950 vom 17. Juli 1950, ABl S. 328).

51

Das Landeswahlgesetz vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) enthielt erstmals eine 5%-Sperrklausel und eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten, nach der bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war. Die Vorschrift bezog sich sowohl nach dem Verständnis des Gesetzgebers

(vgl. Landtags-Protokolle vom 21. Dezember 1949, S. 33 ff. und vom 27. Februar 1950, S. 48; dazu auch Kühn, a.a.O., S. 67 ff. m.w.N.)

als auch nach der Rechtsprechung des seinerzeit zuständigen Oberverwaltungsgerichts

(vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 19. Juni 1950 - II OVG A 243/50 -, OVGE MüLü. Band 2, S. 157 <173>)

auf den SSW.

52

Die mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) eingeführte 7,5%-Klausel hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 5. April 1952 (- 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.) wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin hat der Landtag das Wahlgesetz geändert und in § 3 Abs. 1 LWahlG anstelle der 7,5%-Klausel die 5%-Klausel verankert (LWahlG vom 5. November 1952, GVOBl S. 175).

53

Nachdem der SSW bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 nur 3,3 % der in Schleswig-Holstein abgegebenen Zweitstimmen erhalten hatte (bei der Bundestagswahl 1949 waren es 5,4 % und bei der Landtagswahl 1950 5,5 %), rief er erneut das Bundesverfassungsgericht an, weil er die 5%-Klausel im Landeswahlgesetz ohne Sonderregelung für Parteien einer nationalen Minderheit für verfassungswidrig hielt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 11. August 1954 (- 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff.) die Norm unbeanstandet gelassen.

54

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurde die noch heute geltende Fassung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG mit Gesetz vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) eingeführt. Diese Regelung war auf den SSW zugeschnitten worden

(vgl. Antrag der SSW-Fraktion vom 9. April 1954, Landtags-Drucksache 2/573, PlPr 82. Sitzung vom 27. April 1954, S. 1531 ff.).

55

bb) Dass der SSW sich seit Beginn seiner Tätigkeit auch als Vertretung der Friesen versteht, vermag hieran nichts zu ändern. Er ist aus den historisch miteinander verknüpften Bewegungen der nationalen Friesen und der dänischen Minderheit hervorgegangen. Dies war dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG bekannt und für ihn kein Hindernis, den SSW als Partei der dänischen Minderheit anzusehen

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 44 mit weiteren Ausführungen dazu).

56

b) Der SSW wird auch gegenwärtig personell von der dänischen Minderheit getragen und programmatisch von ihr geprägt.

57

aa) Die personelle Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit ergibt sich insbesondere aus der Doppelmitgliedschaft einer großen Anzahl von Personen, die sowohl im SSW als auch in den weiteren Organisationen der Minderheit engagiert sind. Diese arbeiten im Südschleswigschen Gemeinsamen Rat für die dänische Minderheit (Det Sydslesvigske Samråd) zusammen und stimmen ihr gemeinsames Vorgehen ab

(vgl. Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37).

58

Zu den Organisationen der dänischen Minderheit gehören neben dem SSW und dem SSF unter anderem die Dänische Kirche in Südschleswig (Dansk Kirke i Sydslesvig), der Dänische Schulverein für Südschleswig (Dansk Skoleforening for Sydslesvig), die Dänischen Jugendverbände in Südschleswig (Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger ), die Dänische Zentralbibliothek für Südschleswig (Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig), der Dänische Gesundheitsdienst (Dansk Sundhedstjeneste for Sydslesvig), die Dänische Volkshochschule (Jaruplund Højskole) und die Tageszeitung Flensborg Avis

(vgl. Minderheitenbericht 2011, a.a.O., S. 153 f.).

59

Nach Angaben des Landesverbandes des SSW sind von den 3.660 SSW-Mitgliedern 78 % gleichzeitig Mitglied im SSF, dem dänischen Kulturverein, und ca. 2% Mitglied im Friisk Foriining, dem friesischen Kulturverein. Viele seien zusätzlich Mitglieder in Skoleforening, SdU, Dansk Kirke usw., worüber keine Statistik geführt werde. Alle führenden Politikerinnen und Politiker des SSW seien Mitglied im dänischen Kulturverein oder übten dort Funktionen aus. Die große Mehrheit der Vorsitzenden und Hauptamtlichen der Organisationen der dänischen Minderheit seien jedenfalls Mitglied im SSW oder sogar in der Kommunalpolitik und Organisation der Partei aktiv

(vgl. Dossier 08 Dokument 01 der Stellungnahme des SSW zum Verfahren).

Spezifische Gründe dafür, diese Angaben zu bezweifeln, sind im Verfahren nicht vorgetragen worden.

60

bb) Der SSW ist auch programmatisch durch die Minderheit geprägt, was sich aus seiner Satzung, seinen Programmen und seinem Zusammenwirken mit den örtlichen Vereinigungen in seinem Tätigkeitsgebiet Südschleswig und Helgoland, dem angestammten Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, ergibt. Daran ändert weder die Wählbarkeit der Liste im ganzen Land noch die Wahrnehmung eines allgemeinen politischen Mandats etwas.

61

(1) In § 2 Nr. 2 der Satzung des SSW heißt es:

(...) Die Partei wirkt auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, ihrer Satzung sowie der Rahmen- und Aktionsprogramme an der politischen Willensbildung mit. Der SSW ist die politische Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen in Südschleswig und fühlt sich diesen besonders verpflichtet, will zugleich aber auch dem Wohl aller Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein dienen. Der SSW tritt für eine demokratische Lebens- und Gesellschaftsform ein, die von sozialer Gerechtigkeit, gegenseitiger Achtung und dem Respekt gegenüber den Mitmenschen nach nordischem Vorbild geprägt ist. Der SSW will an der Verständigung zwischen den Völkern und an der Zusammenarbeit in Europa mitwirken. Seine Politik ist frei und unabhängig.

62

Das Verständnis der nordischen Rechtstradition, das für das Wirken maßgebend ist, wird in den verschiedenen Programmen des SSW aufgegriffen. So beschreibt das seit dem 13. Februar 1999 geltende Rahmenprogramm, dass

(...) die Grundwerte des SSW (…) vor allem von unserem besonderen Standpunkt als Minderheitenpartei, von der regionalen Verankerung im Norden Schleswig-Holsteins und von unserer besonderen Verbindung zu den nordischen Ländern geprägt (werden).

63

Das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012 enthält einerseits Aussagen zur allgemeinen Landespolitik. Andererseits gibt es Belege einer ausdrücklich dänischen Ausrichtung wie etwa bei der Schulpolitik, der Hochschulzusammenarbeit, der Anerkennung von Berufsabschlüssen, bei grenzüberschreitenden Gesundheitsangeboten, dem Erfahrungsaustausch mit Grenzregionen und bei der Verkehrsinfrastruktur zur Anbindung an Dänemark

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 20 ff.).

Dazu gehört auch die Forderung, dass im Schulgesetz des Landes wieder die Förderung des Dänischen Schulvereins mit 100 % der öffentlichen Schülerkostenansätze verankert und dadurch die Gleichstellung der Kinder an den dänischen Schulen wiederhergestellt wird

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 50).

64

(2) Der SSW verliert seine Prägung auch nicht durch seine über eine spezifische Minderheitenpolitik hinausreichende Tätigkeit.

65

(a) Der Umstand, dass der SSW seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts durch Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) im gesamten Land wählbar ist, steht seiner Eigenschaft als Partei der dänischen Minderheit nicht entgegen.

66

Allein die Änderung des Wahlrechts kann den Status des SSW als Minderheitenpartei nicht beeinflussen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004 - 2 BvL 18/02 -, NVwZ 2005, 205 ff. = NordÖR 2005, 19 ff., Juris Rn. 25 ff.).

Es läge sonst in der Hand der Mehrheit, durch ein entsprechendes Wahlrecht den Status der Minderheitenpartei aufzuheben. Der SSW hatte sich im Übrigen ausdrücklich gegen die Wahlrechtsänderung ausgesprochen

(vgl. Landtags-Drucksache 14/39, PlPr 14/37, S. 2449 – Zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des LWahlG, Redebeitrag der Abgeordneten Spoorendonk –).

67

Zudem werden Direktkandidatinnen und Direktkandidaten des SSW für den Landtag seit 1997 – wie zuvor – nur in Südschleswig und im Wahlkreis Pinneberg Nord (Helgoland) aufgestellt, obwohl es dem SSW schon vor der Wahlrechtsänderung möglich gewesen wäre, in allen Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004, a.a.O., Juris Rn. 27 unter Hinweis auf Ausschussprotokoll 14/32 der vorbereitenden Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses vom 13. August 1997, S. 14 sowie die Beiträge im PlPr 14/37, S. 2445 ff.).

68

Die Wahlrechtsänderung hat somit zwar zu einer Wählbarkeit der Liste des SSW im ganzen Land geführt, dessen Charakter als Partei der dänischen Minderheit aber in der politischen Wirklichkeit nicht wesentlich verändert. Die verstärkte Wahrnehmung des SSW, die im gesamten Land durch die Wählbarkeit seiner Liste entstanden ist, reicht für einen solchen grundlegenden Wandel seines Charakters als Minderheitenpartei nicht aus.

69

(b) Einschränkungen der programmatischen Ausrichtung auf minderheitenspezifische Themen – wie dies die Beschwerdeführer für angezeigt hielten – widersprächen nicht nur dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG, sondern auch seinem Sinn und Zweck, mit dem die Vorgaben der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfüllt werden sollen () und die dänische Minderheit in das allgemeinpolitische Gemeinwesen der Mehrheit integriert werden soll (). Eine Beschränkung der Wählbarkeit des SSW auf Angehörige der Minderheit stünde zudem im Widerspruch zu den spezifischen landesverfassungsrechtlichen Regelungen, in deren Kontext die Vorschrift steht ().

70

(aa) Als Ergebnis der deutsch-dänischen Besprechungen hat das Auswärtige Amt in der Protokollerklärung zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4) unter I. Nr. 3 ausdrücklich ausgeführt:

Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat die Bundesregierung davon unterrichtet, daß sie bereit ist:

a) darauf hinzuwirken, daß der Schleswig-Holsteinische Landtag eine Ausnahmebestimmung von der 5%-Klausel in § 3 des Schleswig-Holsteinischen Landeswahlgesetzes zu Gunsten der dänischen Minderheit baldmöglichst beschließt; (…).

Dem ist der schleswig-holsteinische Gesetzgeber nachgekommen, indem er mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) den bis heute unverändert geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG eingefügt hat.

71

(bb) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG will entsprechend dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung die Repräsentanz der dänischen Minderheit als politisch bedeutsame Strömung im Parlament sichern.

72

Die Vertretung anerkannter nationaler Minderheiten ist stets politisch bedeutsam

(so auch BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff., Juris Rn. 34 und vom 13. Juni 1956 - 1 BvR 315/53 u.a. -, BVerfGE 5, 77 ff., Juris Rn. 22; Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

An der Behandlung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein nimmt die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere Dänemark, Anteil. Denn nachdem die Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Zeichnung und Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich erklärt hatte, dass unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik seien (BGBl II vom 29. Juli 1997 S. 1418), hat Dänemark seinerseits erklärt, dass das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten auf die deutsche Minderheit in Südjütland (Nordschleswig) im Königreich Dänemark Anwendung findet

(vgl. Erklärung Dänemarks vom 22. September 1997 zur Anwendung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Abdruck bei Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 553).

Durch die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag wird verhindert, dass diese sich eher einem anderen Staat (Dänemark) zugehörig fühlt, und dass durch Ausgrenzung separatistische Tendenzen entstehen. Zudem wird ermöglicht, dass die spezifischen Belange der nationalen Minderheit in den politischen Willensbildungsprozess einfließen und die von der Minderheit vertretenen Werte das Wirken des Parlaments beeinflussen können.

73

Eine Partei der dänischen Minderheit übt die ihr in der politischen Willensbildung zukommende Mittlerfunktion zwar für einen bestimmten Teil des Staatsvolkes – für diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die sich zur dänischen Minderheit bekennen – aus

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 14).

Da aber politische Auseinandersetzung und Einflussnahme einer Partei im Sinne von Art. 21 GG, dessen Grundsätze nicht nur im Bund, sondern unmittelbar auch in den Ländern gelten

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff. Juris Rn. 64 und vom 24. Januar 1984 - 2 BvH 3/83 -, BVerfGE 66, 107 ff., Juris Rn. 23 m.w.N., stRspr.),

immanent ist, muss eine Partei nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG das Ziel verfolgen, dauernd oder für längere Zeit im Bund oder Land auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen und an der Vertretung des gesamten Volkes im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag mitzuwirken

(vgl. Lenski, PartG, 1. Aufl. 2011, § 2 Rn. 7).

74

Programmatische Prägung durch die Minderheit bedeutet deshalb nicht, dass die Partei auf minderheitenspezifische Themen beschränkt werden könnte. Dem Integrationsanliegen wird nur Genüge getan, wenn die Partei der dänischen Minderheit sich nicht auf Partikularinteressen beschränkt; andernfalls wäre sie auch für die Minderheit selbst unwählbar, weil keine Teilhabe an der politischen Willensbildung angestrebt würde

(vgl. Pieroth, a.a.O., S. 28 f.).

75

Die Aussage des SSW, sich für alle Menschen in seinem Tätigkeitsgebiet einsetzen und zu allen Fragen der Landespolitik Stellung beziehen zu wollen, ist Ausdruck dieses Integrationsgedankens. Das legitime Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, wird auch von der dänischen Minderheit mitgetragen. Der Südschleswigsche Gemeinsame Rat wollte sich nach der Resolution vom 24. Januar 2011 für einen Regierungswechsel einsetzen. Dies kann als Aufforderung an den SSW seitens der dänischen Minderheit verstanden werden, sich an einem Regierungswechsel zu beteiligen.

76

(cc) Schließlich liefen Beschränkungen der Wählbarkeit dem Grundsatz der geheimen Wahl (Art. 3 Abs. 1 LV) und der Freiheit des Bekenntnisses zur Minderheit (Art. 5 Abs. 1 Halbs. 1 LV) zuwider. Da sowohl das Verlangen nach Offenbarung der gewählten Partei verboten ist

(vgl. Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 3 Rn. 71 ff.; Achterberg/ Schulte, in: von Mangoldt/ Klein/ Starck, Band 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 151 f.; Trute, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 65 ff.),

als auch eine Nachprüfung des nationalen Bekenntnisses anhand objektiver Kriterien wie etwa Abstammung oder Fremdsprachigkeit ausgeschlossen ist

(vgl. Abschnitt II Ziff. 1 der „Kieler Erklärung“ vom 26. September 1949, GVOBl S. 183 f.; von Mutius, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung, 1995, Art. 5 Rn. 5; Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10; Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 34 ff.; Lemke, Nationale Minderheiten und Volksgruppen im schleswig-holsteinischen und übrigen deutschen Verfassungsrecht, Kiel 1998, S. 242 ff.),

sind der Adressatenkreis der Parteitätigkeit und die Wählerschaft nicht im Einzelnen personell eingrenzbar.

II.

77

Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel ist mit der Landesverfassung vereinbar. Sie verletzt weder den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 LV) noch das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG) (1.). Auch die in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG festgelegte Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel ist nicht zu beanstanden. Insoweit ist Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im vorliegenden Kontext kein geeigneter Maßstab (2.). § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (3.).

78

1. Die Wahlgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestag gelten. Auf sie ist das Land nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Deshalb kann für die Auslegung von Art 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden, soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 90 m.w.N., LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 95).

79

a) Die Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlgesetz gestaltet nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV das Nähere des in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV als personalisierte Verhältniswahl festgelegten Wahlsystems aus. Dabei müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten ex ante betrachtet den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 91 ff., a.a.O., Juris Rn. 96 ff.; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41).

80

Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die in Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 42).

81

Aus der Chancengleichheit der Parteien folgt für Verhältniswahlen, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind und dass jeder Partei und Wählergruppe grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden

(vgl. BVerfGE, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris, Rn. 99, 103 und vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Rn. 79, 82; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 -, DVBl 2013, 304 ff. = NordÖR 2013, 156 ff., Juris Rn. 71, 72).

82

b) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG berührt die Wahlgleichheit in der Ausprägung als Erfolgswertgleichheit. Denn die 5%-Klausel bewirkt eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der 5%-Klausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die daran gescheitert ist. Wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überwindet, bleiben die für sie abgegebenen Stimmen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG bei der Zuteilung der Mandate unberücksichtigt. Die 5%-Klausel nimmt diesen Stimmen insoweit ihren Erfolgswert

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011 - Lv 4/11 -, NVwZ-RR 2012, 169 ff., Juris Rn. 200).

83

Zugleich wird durch die 5%-Klausel das Recht der Parteien auf Chancengleichheit berührt. Denn nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG werden von einer festen Zahl von 69 Sitzen – vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen – 34 nach dem Zweitstimmenergebnis proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwunden haben. So verfügen die im Landtag vertretenen Parteien über mehr Sitze als es ihrem Anteil an der Gesamtstimmenzahl entspricht, während die Parteien, die an der 5%-Klausel scheitern, nicht an der Sitzverteilung teilnehmen

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011, a.a.O., Juris Rn. 201).

84

c) Die Wahlgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt. Es geht um die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise

(BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 25 f., und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 97, stRspr.).

85

Differenzierungen der Wahlgleichheit bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Mit diesem Begriff ist nicht gemeint, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 142 ff., a.a.O., Juris Rn.148 ff.; so auch: BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 108 f. und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 87; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 78).

86

Da zwischen der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen ein enger Zusammenhang besteht, folgt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Chancengleichheit der Parteien ebenfalls den gleichen Maßstäben

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 86 m.w.N.).

87

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlgleichheit mit anderen verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 148).

Er hat sich bei der Bewertung, ob ein zwingender Grund von verfassungsrechtlichem Gewicht die Sperrklausel rechtfertigt, nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(vgl. BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 110 und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 89; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 80).

Er hat zu prüfen und zu beurteilen, ob eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist

(vgl. BVerfG, Urteile vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 92 und vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 126; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 102).

88

Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Gegebenheiten zu prüfen, ob die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens bezüglich der Regelung eines Quorums überschritten sind

(vgl. BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31ff., Juris Rn. 36).

Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht prüft daher lediglich, ob bei der Abwägung des Gesetzgebers und der ihr zugrundeliegenden Prognose die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber die am meisten zweckmäßige oder eine rechtspolitisch besonders erwünschte Lösung gefunden hat

(vgl. zum entsprechenden Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 63, stRspr.).

89

Sofern eine differenzierende Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, kann das Landesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung des Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet

(vgl. Urteil vom 30. August 2010, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151; BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Rn. 49, und vom 25. Juli 2012, a.a.O., Juris Rn. 63 m.w.N.)

oder im Ergebnis unangemessen die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt.

90

d) Nach diesen Maßstäben verletzt die 5%-Klausel nicht die Gleichheit der Wahl und nicht die Chancengleichheit der Parteien.

91

aa) Da die Sperrklausel nicht in der Landesverfassung sondern einfachgesetzlich in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelt ist

(vgl. Diskussion des schleswig-holsteinischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassungsreform 1990: Ausschussprotokolle Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“, z.B. Sitzung vom 21. April 1989 12/6, S. 18 ff. und vom 2. Juni 1989 12/11, S. 10),

bedarf es hoher Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Allein der Umstand, dass die Sperrklausel keinen unmittelbaren Verfassungsrang hat, macht sie jedoch nicht verfassungswidrig.

92

bb) Verfassungsrechtlich legitimierte Gründe, die der Wahlgleichheit die Waage halten können, sind die Funktionsfähigkeit des Landtages und die Integrationsfunktion der Parteien.

93

(1) Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist im Zusammenhang mit der 5%-Sperrklausel als Differenzierungsgrund bei Landtags- und Bundestagswahlen anerkannt. Dies ist begründet durch die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 151, a.a.O., Juris Rn. 158; vgl. auch BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 11. August 1954, a.a.O., Juris Rn. 36 f.; vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 28; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 52 ff., und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, VerfGHE BY 59, 125 ff., Juris Rn. 24; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, LVerfGE 6, 28 ff., Juris Rn. 10; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 – St 4/99 -, StGHE BR 6, 253 ff., Juris Rn. 55; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010- 2/09, StGH 2/09 -, NdsVBl 2011, 77 f., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteil vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, LKRZ 2012, 209 ff., Juris Rn. 36 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 47, 50; Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41).

94

Diese Einschätzung ist bundesdeutsche Verfassungstradition im Bund und in allen Ländern. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu acht der sechzehn Landtage in der Bundesrepublik Deutschland gilt die Sperrklausel auch, ohne in der Verfassung verankert zu sein

(§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG; § 3 Abs. 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz; § 5 Abs. 2 Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft; § 4 Abs. 1 Landeswahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern; § 33 Abs. 2 Landeswahlgesetz Nordrhein-Westfalen; § 38 Abs. 1 Saarländisches Landtagswahlgesetz; § 6 Abs. 1 Sächsisches Wahlgesetz; § 35 Abs. 3 Wahlgesetz des Landes Sachsen-Anhalt und § 3 Abs. 1 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein).

In den anderen acht Ländern ist die Sperrklausel durch die Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben

(Art. 14 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Bayern; Art. 39 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 75 Abs. 3 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 8 Abs. 3 Niedersächsische Verfassung und Art. 49 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Thüringen)

oder zugelassen

(Art. 28 Abs. 3 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 75 Abs. 3 Verfassung des Landes Hessen und Art. 80 Abs. 4 Verfassung für Rheinland-Pfalz).

95

Ihre Zulässigkeit für den Deutschen Bundestag und die Landtage ist bisher durch die Verfassungsgerichte bestätigt worden

(BVerfG, Urteile vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46, und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 53 ff.; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, a.a.O., Juris Rn. 24 f.; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, a.a.O., Juris Rn. 11 ff.; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 - St 4/99 -, a.a.O., Juris Rn. 54 ff.; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010, a.a.O., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteile vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, a.a.O., Juris Rn. 36 ff., und vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, U.A. S. 7 ff.).

96

Die Sperrklausel kann auch in Schleswig-Holstein weiterhin gelten. Denn die Annahme des Gesetzgebers ist hinreichend plausibel, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments nur gewährleistet ist, wenn durch stabile Mehrheiten die Regierungsbildung, Gesetzgebung und Aufstellung des Haushalts sichergestellt sind. Ohne Sperrklausel wäre zwar ein genaueres Abbild des Wählervotums im Parlament gegeben, es zögen aber mit größerer Wahrscheinlichkeit partikulare Interessen und nur einzelne Programmpunkte vertretende kleine Parteien in den Landtag ein. Bei einer Aufsplitterung der im Parlament vertretenen Kräfte wäre es hinreichend wahrscheinlich, dass die Handlungs- und Funktionsfähigkeit beeinträchtigt würde, weil stabile Mehrheiten, die kontinuierliches Arbeiten ermöglichen, nicht gewährleistet wären. Dadurch könnte die Demokratie gefährdet werden, in der Meinungen und Willensäußerungen des Volkes nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern auch in staatliches Handeln umgesetzt werden müssen.

97

Soweit dagegen angeführt wird, auch unter Einbeziehung von Kleinstparteien sei eine effektive Staatstätigkeit – ggf. mit stets wechselnden Mehrheiten – möglich, trifft dies auf den Landtag nicht zu. Insbesondere bei der Bildung und Tätigkeit der Regierung, die das dauernde Vertrauen des Landtages benötigt (Art. 35, 36 LV), und bei der Haushaltswirtschaft kommt es darauf an, dass sich im Landtag längerfristig verlässliche Mehrheiten mit einem kohärenten Programm bilden können. Auch aus diesem Grund ist eine fünfjährige Wahlperiode festgesetzt (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 LV).

98

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und von Landesverfassungsgerichten aus jüngerer Zeit, wonach die Sperrklauseln bei Kommunalwahlen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff. zu Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein; StGH Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 - St 2/08 - zur Sperrklausel in Bremerhaven, NordÖR 2009, 251 ff.; VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 - 22/05 - zu Kommunalwahlen in Thüringen, NVwZ-RR 2009, 1 ff. und LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 - zur Wahl zu den Bezirksversammlungen, NordÖR 2013, 304 ff.)

und bei der Wahl der deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff.)

für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist nicht auf das Landtagswahlrecht übertragbar. Denn sowohl bei Europawahlen als auch bei Kommunalwahlen besteht eine andere Interessenlage als bei Landtagswahlen. Die auf europäischer und kommunaler Ebene gewählten Vertretungen haben anders als der Landtag, der die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten zu wählen hat (vgl. Art. 26 Abs. 2 LV) und für die Gesetzgebung zuständig ist (vgl. Art. 37 Abs. 2 LV), keine vergleichbare Kreations- und Gesetzgebungsfunktion

(so auch Morlok/ Kühr, JuS 2012, 385 <391>).

99

Dem Bestreben, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, kann nicht entgegengehalten werden, die Gesetzgebungstätigkeit des Landtages sei von minderer Bedeutung

(so aber Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, S. 282 f.).

Die demokratisch gebundene und rechtsstaatlich verfasste Staatsgewalt der Länder wird in Art. 28 Abs. 1, Art. 30, 51, 70, 83, 92 und 109 GG ausdrücklich hervorgehoben. Die Gesetzgebung des Landes zum Beispiel im Haushaltsrecht, im Kommunalrecht, im Polizei- und Ordnungsrecht sowie im Schul- und Hochschulrecht ist notwendig, um die Aufrechterhaltung des Gliedstaates Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.

100

Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber für die Wahl zum Europäischen Parlament herausgestellt, es fehle an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, weil das Europäische Parlament keine Unionsregierung wähle, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre; ebenso wenig seien die Gesetzgebung der Union und die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 118).

101

Bezogen auf die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein hat das Bundesverfassungsgericht die 5%-Klausel für verfassungswidrig erklärt, weil diese nicht zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretungen und Kreistage erforderlich sei. Denn diese übten anders als staatliche Parlamente keine Gesetzgebungstätigkeit aus, für die klare Mehrheiten zur Sicherung einer politisch aktionsfähigen Regierung unentbehrlich seien. Die kommunalen Vertretungsorgane hätten auch keine Kreationsfunktion für ein der Regierung vergleichbares Organ und schließlich unterlägen ihre Entscheidungen der Rechtsaufsicht

(BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 123).

102

Beide Entscheidungen sind nicht unumstritten und zwar einerseits im Hinblick auf die wichtigen Funktionen des Europäischen Parlaments gerade nach dem Vertrag von Lissabon

(vgl. BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., abweichende Meinung, Juris Rn. 147 ff.; Schönberger, JZ 2012, 80 ff.; Geerlings/ Hamacher, DÖV 2012, 671 <675 ff.>)

und andererseits auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Gefahr der Zersplitterung, die eine gemeinwohlverträgliche Arbeit der kommunalen Volksvertretung etwa im Zusammenhang mit dem Erlass der Haushaltssatzung, der Grundlage gemeindlicher Politik, gefährden könnte

(vgl. Theis, KommJur 2010, 168 <169 ff.>).

103

(2) Legitimer Zweck der 5%-Klausel ist zudem die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44, 53),

um der Parteienzersplitterung vorzubeugen und funktionsfähige Verfassungsorgane bilden zu können

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 35; § 20 Rn. 8).

Insoweit wird die Integrationsfunktion der Parteien unterstützt, die durch die Sperrklausel angehalten werden sollen, Interessen und politische Strömungen zu bündeln und zu strukturieren.

104

cc) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

105

(1) Die 5%-Klausel ist geeignet, die mit ihr verfolgten legitimen Zwecke zu fördern, indem sie den vermehrten Einzug kleinerer und nicht auf stärkere Zustimmung angelegter Parteien in den Landtag verhindert.

106

(2) Die bisherige Einschätzung des Landtages, die 5%-Klausel sei auch in Zukunft erforderlich, um einer zu erwartenden Funktionsstörung des Landtages entgegenzuwirken, ist derzeit nicht zu beanstanden. Einerseits ist es neuen Parteien – etwa der Partei DIE LINKE in der 17. Wahlperiode und den PIRATEN in der 18. Wahlperiode – trotz der 5%-Klausel gelungen, in den Landtag einzuziehen. Andererseits hat die Hürde verhindert, dass daneben weitere kleinere Parteien mit einem oder zwei Sitzen in den Landtag eingezogen wären und zu einer Zersplitterung beigetragen hätten.

107

Die Einführung einer zweiten Listenstimme im Sinne einer Ersatz- bzw. Eventualstimme, die nur dann zu berücksichtigen wäre, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei unter der 5%-Klausel bliebe

(vgl. Linck, DÖV 1984, 884 ff.; Wenner, a.a.O., S. 412 ff.),

ist kein gleich geeignetes milderes Mittel. Denn dieses Modell bedeutete eine Änderung des Konzepts des geltenden Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl durch Verstärkung der Erfolgschancen der großen Parteien.

108

Es unterliegt vielmehr dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, ob zur Zweckerreichung eine 5%-Klausel, eine niedrigere Sperrklausel oder aber andere Milderungsmaßnahmen in Betracht kommen

(so auch Linck, a.a.O., S. 884 und von Arnim, DÖV 2012, 224 <225>, die die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel nicht bezweifeln und Milderungsmaßnahmen dem politischen Ermessen zuschreiben).

109

(3) Die Sperrklausel ist auch angemessen. Das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein hat eine Sperrklausel von 7,5% als unangemessen und eine Sperrklausel von 5% als angemessen angesehen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 152 ff.)

und diese Auffassung auch für den Deutschen Bundestag vertreten

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 54).

Das erkennende Gericht hält an dieser Auffassung für den jetzigen Zeitpunkt fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits die Notwendigkeit aufgezeigt, die Sperrklausel in der jeweiligen politischen Situation zu bewerten, als es ausgeführt hat, es müssten „ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen“

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, a.a.O., Juris Rn. 153).

110

Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5%-Hürde zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat

(BVerfG, Urteile vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90 und vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 64 m.w.N.).

Der Prüfpflicht kommt der Schleswig-Holsteinische Landtag auf Gesetzesinitiative der PIRATEN zur Abschaffung der 5%-Klausel (vgl. Landtags-Drucksache 18/385) derzeit nach, obwohl er noch im Rahmen der Novellierung des Kommunalwahlrechts im Jahre 2008 die 5%-Klausel bei Landtagswahlen bewusst unangetastet gelassen hatte (vgl. Landtags-Drucksache 16/1879, PlPr 16/79 vom 27. Februar 2008, S. 5736 ff.).

111

Da das Wahlrecht und der politische Prozess in einem Wechselverhältnis stehen, ist die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel einer empirischen Überprüfung allein mit den Mitteln der politischen Wissenschaften oder der Mathematik nicht zugänglich. Die Ergebnisse vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang zukünftiger Wahlen. Das geltende Wahlrecht wirkt auf die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten zurück. Insoweit bleibt die Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Sperrklausel eine wertende Prognoseentscheidung.

112

dd) Nichts anderes ergibt sich für die Auslegung des schleswig-holsteinischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl 1956 II S. 1880), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, und von Art. 25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte (BGBl II 1973 S. 1534), der das Recht gewährt, ohne Unterschied bei gleichen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten die Menschenrechtsübereinkommen im Range einfachen Bundesrechts. Sie sind bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – als Auslegungshilfen zu berücksichtigen. Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besonders zu berücksichtigen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, BVerfGE 111, 307 ff., Juris Rn. 30, 38).

113

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen einen weiten Spielraum der nationalen Wahlgesetzgebung anerkannt und unter anderem Sperrklauseln von 10% in der Türkei, 6% in Spanien und 5% in Lettland als vereinbar mit Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK angesehen

(vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juli 2008 - 10226/03 -, Yumak und Sadak ./. Türkei -, NVwZ-RR 2010, 81 ff.; EGMR, Entscheidung vom 7. Juni 2001 - 56618/00 -, Federación Nacionalista Canaria ./. Spanien, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, 433 <443>; EGMR, Entscheidung vom 29. November 2007 - 10547/07 u.a. -, Partija „Jaunie Demokrati“ u. Partija „Musu Zeme ./. Lettland, http://www.hudoc.echr.coe.int., unter „EN DROIT“ A.2 b>).

Dabei wurden jedenfalls keine strengeren Maßstäbe an die Rechtfertigung von Sperrklauseln angelegt als nach dem deutschen Verfassungsrecht.

114

2. Die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) verstößt nicht gegen Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.Ungeachtet der Frage, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Zusammenhang mit Landtagswahlen Anwendung findet, oder die Wahlrechtsgleichheit demgegenüber lex specialis ist

(vgl. Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 43),

ist die Norm schon tatbestandlich nicht einschlägig. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit im vorliegenden Kontext folgt jedoch weder aus der Abstammung oder Herkunft einer Person, noch aus ihrer politischen Anschauung, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit

(vgl. Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10).

Letzteres ist kein verbotenes Differenzierungskriterium im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

115

3. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG als Rückausnahme von der Einschränkung der Berücksichtigung aller Stimmen bei der Mandatsverteilung berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien (a). Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (b).

116

a) Die Zweitstimme derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei der dänischen Minderheit wählen, die im Ergebnis die Sperrklausel nicht erreicht, hat einen höheren Erfolgswert als eine Stimme, die für eine andere Partei abgegeben wurde, die die Sperrklausel ebenfalls nicht erreicht. Die für eine Partei der dänischen Minderheit abgegebene Zweitstimme wird in jedem Fall berücksichtigt, wenn die Partei so viele Stimmen erzielt, dass ihr bei der Sitzverteilung ein Mandat zugerechnet werden kann. Die Zweitstimme dieser Wählerinnen und Wähler wird mit den Stimmen gleich behandelt, die für die Parteien abgegeben werden, die die Sperrklausel überwinden.

117

Auch für eine Rückausnahme, das heißt für eine Ausnahme von einem zulässigen Quorum, gelten die oben unter C.II.1.c) (Rn. 84 ff.) beschriebenen Grundsätze der Zulässigkeit von Differenzierungen bei Vorliegen von Gründen, die durch die Verfassung legitimiert sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückausnahme ist der Kontext der Sperrklausel und ihrer Rechtfertigung zu berücksichtigen.

118

Das Bundesverfassungsgericht hat zur schleswig-holsteinischen Regelung entschieden, dass es dem Gesetzgeber freisteht, von einem zulässigen Quorum Ausnahmen zu machen, wenn ein zureichender Grund dafür gegeben ist

(BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff., Juris Rn. 37).

Innerhalb des Quorums ist es dem Gesetzgeber überlassen, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 47 ff.).

119

Dabei ist die konkrete politische Situation zu beachten, zu der die Existenz von nationalen Minderheiten und ihre regionale Verteilung gehören

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 146, 158 und vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

120

Auch in anderen Zusammenhängen hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von einer unterschiedslos für das Wahlgebiet geltenden Sperrklausel gefordert oder gebilligt. So hat es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl nach der Wiedervereinigung gefordert, dass der Gesetzgeber berücksichtigt, dass besondere Umstände ein Quorum unzulässig werden lassen können. Regelungen, mit denen der Gesetzgeber an einer Sperrklausel festhält, aber ihre Auswirkungen mildert, müssen ihrerseits mit der Verfassung vereinbar sein und den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit genügen

(BVerfG, Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Leitsatz 2b).

121

Die Grundmandatsklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, nach der eine Partei auch dann am Verhältnisausgleich teilnimmt, wenn sie in drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG = § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG a.F.), hat das Bundesverfassungsgericht als zulässige Ausnahme vom Quorum angesehen. Eine entsprechende Regelung ist – für den Erwerb eines Direktmandats – auch im schleswig-holsteinischen Wahlrecht in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG enthalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass der Zugang zum Sitzverteilungsverfahren auch von mehreren alternativen Hürden abhängig gemacht werden darf, soweit dadurch keine höhere Sperrwirkung als durch eine 5%-Klausel erzeugt wird. Eine weitere Zugangsmöglichkeit nimmt den durch eine Sperrklausel bewirkten Eingriff in die Wahlgleichheit teilweise zurück und schwächt dessen Intensität ab. Die weitere Differenzierung bewirkt eine neue Ungleichheit und bedarf daher ihrerseits rechtfertigender Gründe. Dabei kann allerdings die Abmilderung der Intensität der Sperrklausel in Rechnung gestellt werden

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn 45 f.).

122

Davon ausgehend bestehen an die Rechtfertigung von Ausnahmen von der Sperrklausel zumindest keine höheren Anforderungen als an die Rechtfertigung der Sperrklausel selbst. Die Ausnahme kann vielmehr dazu beitragen, die Legitimation der Sperrklausel selbst zu sichern, indem sie Wirkungen der Sperrklausel abmildert, durch welche die Integrationsfunktion der Wahl oder andere Verfassungswerte gefährdet werden

(vgl. zur Milderung der Auswirkungen der 5%-Klausel auf Bundesebene: BVerfG, Urteil vom 29. September 1990, Juris Rn. 68 ff.).

123

Zudem ist die Rückausnahme für die Parteien der dänischen Minderheit jedenfalls durch zwingende Gründe gerechtfertigt, die in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein verankert sind.

124

b) Die Regelung zugunsten von Parteien der dänischen Minderheit – derzeit des SSW – ist durch die Schutzpflicht des Landes für die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit nach Art. 5 Abs. 2 LV legitimiert (aa-bb) und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (cc).

125

aa) Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV stellt die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten unter den Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Der nationalen dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe wird der Schutz der politischen Mitwirkung, der ihnen schon nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV zusteht, durch Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ausdrücklich als „Anspruch auf Schutz“ und zudem als „Anspruch auf Förderung“ zugebilligt.

126

Die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit ist ein Verfassungsgut von hohem Rang, dessen Schutz und Förderung dem Land aufgegeben ist. Es ist insofern geeignet, den die Sperrklausel begründenden Erwägungen sowie dem Anspruch konkurrierender Parteien auf Gleichbehandlung die Waage zu halten und als hinreichender und zwingender Grund für eine Rückausnahme anerkannt zu werden. Ob es sich im Übrigen bei Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV um eine nur objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung handelt

(so Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 19; Wuttke, Verfassungsrecht, in: Schmalz/ Ewer/ von Mutius/ Schmidt-Jortzig, Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, Rn. 28),

oder ob sich aus dem Wortlaut („Anspruch“) auch ein subjektives Recht der Gruppe oder von Einzelnen ergibt

(so Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 156 ff. m.w.N.),

kann hier offen bleiben.

127

Im Sinne des Wahlrechts „zwingende“ Gründe sind nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen, sondern auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können, wie etwa die vormals in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 150).

128

Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ist die verfassungsrechtliche Verankerung der Mitwirkung und Integration der dänischen Minderheit nach dem im Jahre 1990 – bei Schaffung von Art. 5 Abs. 2 LV – vorgefundenen und erprobten Konzept des Wahlrechts. Die bereits seit 1955 geltende Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG hat dazu geführt, dass der SSW seitdem in sämtlichen Legislaturperioden im Landtag vertreten war.

129

Diese beiden Regelungen zunächst im einfachen Wahlrecht und später auch im Verfassungsrecht waren eine Reaktion darauf, dass eine politische Mitwirkung der Minderheit durch die Sperrklausel erschwert bzw. unmöglich war. Denn bei der Landtagswahl vom 12. September 1954 hatte der SSW weder die 5%-Hürde übersprungen noch ein Direktmandat erzielt

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 12. September 1954 vom 23. September 1954, ABl Nr. 40 S. 398 <401 f.>).

130

Aus den Materialien zu Art. 5 Abs. 2 LV ergibt sich, dass die in Absatz 2 Satz 1 geregelte Schutzbestimmung zugunsten der kulturellen Eigenständigkeit und zugunsten der politischen Mitwirkung speziell für die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe ausdrücklich festgeschrieben und für diese beiden Gruppen zudem ein Grundsatz der Förderung aufgestellt werden sollte. Darin sollte der verfassungspolitische Wille zum Ausdruck kommen, die historischen Gegebenheiten und die faktische Situation im Lande zu berücksichtigen

(Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses zur Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ vom 28. November 1989, Landtags-Drucksache 12/620 (neu), S. 34).

131

Aus den Protokollen des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ geht hervor, dass zunächst daran gedacht worden war, die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien der dänischen Minderheit in die Verfassung aufzunehmen, letztlich aber davon Abstand genommen wurde, weil die Sperrklausel selbst nicht in der Verfassung verankert ist (vgl. SoAVP 12/6 vom 21. April 1989, S. 19). Ausdrücklich wurden aber Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit aufgenommen (vgl. SoAVP 12/11 vom 2. Juni 1989, S. 10).

132

Der Zweck der effektiven Integration der dänischen Minderheit in das Staatsvolk kann rechtfertigen, dass die Wahlrechtsgleichheit berührt wird. Denn der Charakter der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung wird gesichert, wenn die Regelungen des Wahlrechts die parlamentarische Repräsentanz der politisch bedeutsamen Strömungen im Wahlvolk ermöglichen

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 35 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 55).

133

So hat das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche Sonderregelung als gerechtfertigt angesehen, weil sie der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments eröffnet, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt

(vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

134

bb) Dieses Verständnis von Art. 5 Abs. 2 LV wird durch die Einbindung Schleswig-Holsteins in die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland verstärkt. Art. 5 Abs. 2 LV ist im Lichte der völkerrechtlichen Bindungen des Bundes durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 und des Rahmenübereinkommens des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten (BGBl 1997 II S. 1406 ff. im Folgenden: Rahmenübereinkommen) auszulegen. Denn das Land Schleswig-Holstein ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 LV), der zur Bundestreue verpflichtet ist. Die Bundestreue besagt, dass im deutschen Bundesstaat das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht ist

(vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 - 2 BvG 1/60 u.a. -, BVerfGE 12, 205 ff., Juris Rn. 173).

135

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen haben nach der gleichzeitigen Bekanntmachung der Ergebnisse der deutsch-dänischen Besprechungen durch das Auswärtige Amt zum Inhalt, dass die Sperrklausel nicht zum Hindernis der politischen Mitwirkung der Minderheit werden darf (vgl. Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4).

136

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen sind keine völkerrechtlichen Verträge sondern von zwei Regierungen abgegebene einseitige Willenserklärungen

(vgl. Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 284),

die den auswärtigen Beziehungen des Bundes zuzurechnen sind. Solche Erklärungen können Bindungswirkung entfalten, wenn sie öffentlich und mit dem Willen zur Bindung abgegeben worden sind

(vgl. IGH , I.C.J. Reports 1974, 457 <472 f.>).

Eine solche Bindungswirkung ist nach dem Wortlaut der Erklärungen anzunehmen, zumal sich beide Regierungen bei ihrer Abgabe auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Gebot des Minderheitenschutzes nach Art. 14 EMRK (BGBl 1952 II S. 690) berufen haben. Das Land Schleswig-Holstein ist indirekt daran beteiligt gewesen und aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue weiterhin daran gebunden.

137

Der Bundesgesetzgeber hat den Inhalt der Bonn-Kopenhagener Erklärungen in die geltenden Verpflichtungen eingeordnet und sich fortdauernd gebunden. Die bereits seit dem Bundeswahlgesetz von 1953 bestehende Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien nationaler Minderheiten, die aus außenpolitischen Erwägungen im Zusammenhang mit der dänischen Minderheit in Südschleswig eingeführt worden war

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2008, § 6 Rn. 47),

besteht seitdem unverändert und wurde zuletzt in der Fassung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) in § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG beibehalten.

138

Auch die Bundesregierung fühlt sich den Bonn-Kopenhagener Erklärungen weiterhin verpflichtet. Die Bonner Erklärung vom 29. März 1955 sowie die Kieler Erklärung vom 26. September 1949 sind im Jahre 1997 in der Denkschrift der Bundesregierung zum Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich in Bezug genommen worden (vgl. Bundestags-Drucksache 13/6912, S. 21 ff.).

139

Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern und in dieser Hinsicht in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten zu berücksichtigen. Das Rahmenübereinkommen ist als internationaler Vertrag ein rechtsverbindliches Instrument

(vgl. Klebes, EuGRZ 1995, 262 <264>),

das als Bundesrecht unmittelbar gilt

(vgl. Achter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen vom 16. Juli 2008, Bundestags-Drucksache 16/10037, S. 79 f.).

140

Nach Art. 1 des Rahmenübereinkommens und seinen Begründungserwägungen ist der Schutz nationaler Minderheiten Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Rahmenübereinkommen ist, nicht anders als die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bei der Auslegung nationalen Rechts, auch nationalen Verfassungsrechts, zu berücksichtigen (vgl. oben unter C.II.1.d>dd> ).

141

Das Rahmenübereinkommen wurde im Hinblick auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Protokolle dazu abgeschlossen. Insoweit ist das Rahmenübereinkommen auch zur Interpretation des Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (BGBl 1956 II S. 1879), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, heranzuziehen. Da die Bundesregierung und die Dänische Regierung bereits die Bonn-Kopenhagener Erklärungen in den Kontext der in Art. 14 EMRK enthaltenen Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung nationaler Minderheiten gestellt haben, haben sie insoweit auch eine Abwägung auf Ebene der Menschenrechte vorgenommen.

142

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zuletzt in einer Entscheidung zum rumänischen Wahlrecht keine Bedenken gegen eine Berücksichtigung nationaler Minderheiten im Wahlrecht erkennen lassen und ausgeführt, dass diese in mehreren europäischen Ländern praktiziert wird

(vgl. EGMR, Urteil vom 2. März 2010 - 78039/01 -, Grosaru ./. Rumänien, unter www.echr.coe.int/hudoc).

143

Auch wenn die in dem Abkommen festgelegten Grundsätze keine unmittelbar geltenden Rechtssätze, sondern Handlungsaufträge für die Unterzeichnerstaaten sind (vgl. Art. 19 des Rahmenübereinkommens), bestätigen sie doch, dass Minderheitenschutz nicht auf die Gewährung formaler Gleichheit beschränkt ist, sondern ausgleichende und fördernde Maßnahmen einschließt

(ebenso VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Juni 1998 - 27/97 -, LVerfGE 8, 97 ff., Juris Rn. 120).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und insbesondere Satz 2 LV entsprechen diesem Auftrag.

144

Ein Beispiel für die Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen und die Bindung an die Bonn-Kopenhagener Erklärungen liefert die Antwort der Bundesregierung vom 14. Februar 2008 auf eine Kleine Anfrage zur finanziellen Unterstützung für den Bund Deutscher Nordschleswiger. Darin teilt die Bundesregierung unter anderem unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens mit, dass die finanzielle Förderung der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig/ Dänemark auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfolge (vgl. Bundestags-Drucksache 16/8093, S. 2).

145

In der laufenden Wahlperiode hat sich die Bundesregierung erneut ausdrücklich zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen bekannt (Staatsministerin im Auswärtigen Amt Pieper am 7. Juli 2010, Bundestags-PlPr 17/54, S. 5537 f.).

146

cc) Die Regelung durch § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

147

Das Gericht prüft neben der Frage, ob die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, lediglich, ob die Regelung zur Erreichung dieses Zieles geeignet ist, nicht das Maß des Erforderlichen überschreitet und angemessen ist; denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele wie die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 49 m.w.N.).

148

Mit welcher Regelung der Verfassungsauftrag erfüllt wird, ist vom Gesetzgeber einzuschätzen. Er hat auch die Pflicht zu beobachten, wie sich die Regelung auswirkt, ob sie im Kontext der wahlrechtlichen Regelungen und der tatsächlichen Verhältnisse geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen, und ob zugleich andere Grundsätze des Wahlrechts nicht unangemessen beeinträchtigt werden (siehe oben C.II.1.c> entsprechend zur Sperrklausel). Angesichts des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers und der von ihm zu wählenden Gesamtsystematik des Wahlrechts kann das Gericht nicht seine eigene Einschätzung von einer zweckmäßigeren Lösung an dessen Stelle setzen, sondern hat nur zu kontrollieren, ob entweder die politische Mitwirkung der Minderheit nicht mehr hinreichend geschützt wird oder ob die dazu genutzte Regelung außer Verhältnis zur Beeinträchtigung anderer Wahlrechtsgrundsätze steht.

149

(1) Die Regelung ist geeignet, den angestrebten Zweck zu erfüllen. Sie hat seit ihrem Bestehen die politische Mitwirkung der dänischen Minderheit gesichert.

150

(2) Sie ist auch erforderlich. Ein anderes gleich geeignetes Mittel ist in der gegebenen Systematik des Wahlrechts nicht ersichtlich. Die gegenwärtige Regelung verwirklicht den in Art. 3 und 10 LV enthaltenen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl und hebt nur dessen Einschränkung durch die nicht in der Verfassung geregelte Sperrklausel auf. Die Regelung sichert den Parteien der Minderheit die Möglichkeit, auch unter den Bedingungen eines regional und personell beschränkten Aktionsradius für ihre Anschauungen zu werben und stärkere Zustimmung zu ihrer Politik auch in entsprechende Mandate umzusetzen, ohne dass sie dafür die 5%-Klausel überwinden müssen. Diese Möglichkeit würde durch eine Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat verkürzt. Eine solche würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern wie die jetzige Regelung, bei der die Zahl der Abgeordneten vom Zuspruch bei den Wahlen abhängt.

151

Die Beschränkung auf ein Mandat würde zudem die Repräsentanz einer Partei der Minderheit in der arbeitsteiligen Parlamentsarbeit, insbesondere in den Ausschüssen des Landtages, einschränken. Die Möglichkeit, Einfluss auf Regierungsbildung, Gesetzgebung und Haushalt zu nehmen und Wahlkreisarbeit zu leisten, wäre geringer. Außerdem könnte eine Partei bei einer stark verminderten Chance, ein zweites oder drittes Mandat zu erringen, die Wählerinnen und Wähler der Minderheit weniger gut durch ein zum Beispiel nach politischen Strömungen innerhalb der Minderheit, Regionen oder Geschlechtern ausgewogenes Personalangebot ansprechen, sondern wäre darauf verwiesen, sich durch eine Person repräsentieren zu lassen. Die Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat würde das dem jetzigen Wahlrecht zu Grunde liegende Konzept von Schutz und Förderung politischer Mitwirkung der Minderheit nicht mehr ausfüllen. Entsprechend kann das Gericht es nicht als gleich geeignetes „milderes Mittel“ zum Schutz und zur Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit ansehen. Ob und in welcher Form ein solches anderes Wahlrecht das Verfassungsgebot von Art. 5 Abs. 2 LV erfüllen würde, war hier nicht zu entscheiden.

152

Die Beschränkung der Befreiung von der 5%-Klausel auf ein Siedlungsgebiet der Minderheit wäre ebenfalls kein gleich geeignetes Mittel, um einer auf das ganze Land bezogenen Minderheitenposition gerecht zu werden. Da der Landtag auf das gesamte Gebiet des Landes hin ausgerichtet und insoweit verantwortlich ist, ist das Vorhandensein einer originären dänischen Minderheit in Südschleswig maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Entscheidung des Landesgesetzgebers, alle Teile des Landes bei der Wahl zum Landtag in die Sonderregelung einzubeziehen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 - als obiter dictum, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff. = BVerfGK 5, 96 ff., Juris Rn. 40).

153

Wollte man eine Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit auf den nördlichen Teil des Landes beschränken, forderte man ein anderes Wahlsystem

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005, a.a.O., Juris Rn. 41; Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 39),

dessen Einführung allein dem Gesetzgeber obläge. Im Übrigen wird auch im Bundeswahlrecht die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien nationaler Minderheiten nicht auf deren Siedlungsgebiet beschränkt (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG).

154

(3) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch angemessen im Verhältnis zur Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit anderer kleiner Parteien im Vergleich zu den Parteien der dänischen Minderheit. Während für die Befreiung der Minderheitenparteien Gründe von Verfassungsrang aus Art. 5 Abs. 2 LV sprechen, unterliegen die anderen kleinen Parteien der legitimen Beschränkung durch die Sperrklausel, haben aber als (potenziell) landes- und bundesweit tätige und auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft bezogene Parteien die jeweils gleiche Chance, diese Hürde zu überschreiten.

155

Die Angemessenheit der Sonderregelung könnte dann entfallen, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch Regelungen im Wahlrecht oder Veränderungen der politischen Wirklichkeit keinen Nachteil mehr hätte, der ausgeglichen werden müsste.

156

Dass der SSW in den letzten Jahrzehnten seinen Stimmenanteil bei Landtagswahlen steigern konnte und dass möglicherweise ein Teil der für ihn abgegebenen Stimmen von Personen kam, die sich nicht oder nicht fest der dänischen Minderheit zurechnen, spricht nicht gegen die Angemessenheit der geltenden Regelung. Der SSW ist seit 1955 bisher landesweit immer unter 5% der Stimmen geblieben. Bei insgesamt beweglicherem Wahlverhalten mag die Bereitschaft in der Wählerschaft steigen, einer Partei der dänischen Minderheit die Stimme zu geben. An der im Vergleich zu anderen Parteien regionalen und personellen Einschränkung ändert sich dadurch nichts.

157

Es wird weiterhin diskutiert, ob die durch das Zweistimmenwahlrecht notwendig eingetretene Wählbarkeit des SSW im ganzen Land die Angemessenheit der geltenden Regelung beeinflusst. Der durch das Einstimmenwahlrecht vor 1997 bestehende Nachteil als Partei einer Minderheit, die nur in den Wahlkreisen ihres Tätigkeitsgebiets wählbar war, besteht nicht mehr in gleicher Weise. Die durch die im ganzen Land wählbare Liste entstandenen Chancen haben diesen Nachteil abgemildert, aber nicht entfallen lassen. Der SSW ist als eine Partei der dänischen Minderheit weiterhin nach Satzung, Parteiorganisation, Teilnahme an der Kommunalpolitik und Wahlkreiskandidaturen nur in Südschleswig und auf Helgoland vertreten. Der SSW kandidiert direkt nur in elf von 35 Wahlkreisen, in acht von diesen erzielt er mehr als 5% der Zweitstimmen. Die meisten seiner Zweitstimmen erzielt er in diesem Gebiet

(vgl. Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersichten 3 und 4).

158

Soweit das Zweistimmenwahlrecht als Problem für eine möglichst schonende Regelung zum Minderheitenschutz im Wahlrecht angesehen wird, ist im Übrigen anzumerken, dass das Zweistimmenwahlrecht zwar trotz der mit ihm verbundenen Gefahr von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine legitime Gestaltung des Wahlrechts ist, das Zweistimmenwahlrecht aber anders als der Minderheitenschutz keinen Verfassungsrang hat. Angesichts des Stellenwertes des Minderheitenschutzes in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ist diese Folge des Zweistimmenwahlrechts hinzunehmen, solange ein solches Wahlrecht besteht.

159

Eine Änderung in der politischen Wirklichkeit, die eine veränderte Beurteilung auslösen könnte, würde eintreten, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch innere Verknüpfung mit regional und politisch in der Mehrheitsgesellschaft verankerten Strömungen den durch die Sperrklausel entstehenden Nachteil so ausgleichen könnte, dass es einer wahlrechtlichen Regelung nicht mehr bedürfte. Dies wäre möglich, wenn eine Partei der dänischen Minderheit neben ihrer Verankerung in der Minderheit regional und politisch gleichermaßen in der Mehrheit verankert und an sie adressiert wäre, zum Beispiel durch den Aufbau einer über die Minderheit hinausweisenden Parteiorganisation und durch entsprechende Kandidaturen in den Wahlkreisen des ganzen Landes.

III.

160

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Auslagen werden nicht erstattet (vgl. § 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

161

Das Urteil ist hinsichtlich des Tenors und der Gründe zu C.II.3. mit 4:3 Stimmen und im Übrigen einstimmig ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum der Richter Brock und Brüning und der Richterin Hillmann
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 13. September 2013

- LVerfG 9/12 -

1

Wir können die Entscheidung hinsichtlich des Tenors und hinsichtlich der Gründe insoweit nicht mittragen, als die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen wird. Das Gericht erkennt zutreffend, dass das Minderheitenprivileg für den SSW als Rückausnahme von der 5%-Klausel an denselben Maßstäben zu messen ist wie diese. In der Rechtsprechung des Gerichts wird die Bedeutung der Wahlgleichheit für die parlamentarische Demokratie in besonderem Maße hervorgehoben. Bei Anwendung dieser Maßstäbe kommt man unserer Ansicht nach jedoch zu dem Ergebnis, dass die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel für die Sicherstellung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit im Schleswig-Holsteinischen Landtag das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet und die Gleichheit der Wahl unangemessen beeinträchtigt.

2

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ist heute im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 91, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 96).

3

Nicht zuletzt durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV werden der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV gewahrt und gestärkt sowie der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit verfassungsfest gebunden, als er der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügen muss

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 124, a.a.O., Juris Rn. 129).

4

Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Die Wahlgleichheit hat strikt formalen Charakter; sie ist einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 125, a.a.O., Juris Rn. 130).

5

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit sind aber nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, a.a.O., Juris Rn. 148).

6

„Zwingend“ sind Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche Differenzierungen, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, a.a.O., Juris Rn. 150).

7

Solche differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. In welchem Ausmaß sie noch zulässig sind, richtet sich auch nach der Intensität des Eingriffs in das Wahlrecht. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151).

8

Gemessen daran ist die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel gerechtfertigt; insoweit kann auf die zutreffenden Gründe aus der Entscheidung Bezug genommen werden.

9

Für die Rückausnahme des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten dieselben Maßstäbe, schon weil sie ihrerseits zu einer weiteren Ungleichbehandlung führt im Verhältnis der Parteien der dänischen Minderheit zu anderen – kleinen – Parteien, die das 5%-Quorum nicht erreichen. Auch die Befreiung des SSW von der Sperrklausel bedarf daher eines durch die Verfassung legitimierten, zwingenden Grundes, muss zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, darf das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen nicht überschreiten und muss angemessen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die streitbefangene Befreiung von der Sperrklausel deren Auswirkungen – anders als im Falle einer Grundmandatsklausel oder einer regionalisierten 5%-Hürde – nur für bestimmte Minderheits-, nicht aber für alle Parteien gleichermaßen abmildert.

10

Die dänische Minderheit hat nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung. In Verbindung mit Satz 1 ist davon auch die politische Mitwirkung dieser nationalen Minderheit erfasst. Ob hieraus – auch unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik – ein Anspruch auf politische Repräsentation abzuleiten ist, die das Wahlgesetz nicht allen in dieser Vorschrift genannten Minderheiten gewährt, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann der hiermit verfassungsrechtlich verankerte Minderheitenschutz ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung und den damit verbundenen Eingriff in die Gleichheit der Wahl sein. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Gründe der Entscheidung Bezug genommen werden.

11

Die vollständige Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, von der 5%-Hürde ist aber durch den Minderheitenschutz in seiner Form des Anspruchs auf politische Repräsentation nicht gerechtfertigt. Denn insofern stehen ebenso geeignete, jedoch mildere Mittel zur Verfügung. Jedenfalls ist die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG unangemessen.

12

Je umfangreicher eine Rückausnahme erfolgt, desto stärker ist die damit verbundene Ungleichbehandlung gegenüber anderen kleinen Parteien. Die vollständige Rückausnahme der Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel ist daher ein stärkerer Eingriff in die Erfolgswertgleichheit als eine partielle Befreiung, etwa durch Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat. Die Sicherstellung der politischen Repräsentation wird schon mit einem Mandat erreicht. Das Argument, die Beschränkung auf ein Mandat würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern und etwa zu einer geringeren Mitwirkung in den Ausschüssen führen, trägt nicht. Zwingend ist der Minderheitenschutz als legitimer Grund für einen Eingriff in die Wahlgleichheit nur insoweit, als die Repräsentation der Minderheit überhaupt sichergestellt, ihr also ein politisches „Sprachrohr“ gegeben wird. Auch bei nur einem Sitz erhält die nationale Minderheit jedoch diese parlamentarische Stimme. Wird der Zuspruch im Wahlvolk größer, greift einerseits die Grundmandatsklausel mit anschließendem Verhältnisausgleich und andererseits – unabhängig davon – der Verhältnisausgleich bei Erreichen des Quorums. Im Übrigen wird eine Integration der Minderheit in die Gesellschaft des Landes durch mehr Abgeordnete im Landtag ohnehin nicht stärker befördert.

13

Der Regelungsgehalt der Landesverfassung, hier Art. 5 Abs. 2 LV, ist so offen, dass daraus keine verlässlichen Rückschlüsse auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts gezogen werden können. Hätte der Verfassungsgeber eine wahlrechtliche Privilegierung bestimmter einzelner nationaler Minderheiten gewollt, hätte er eine entsprechende Regelung in der Landesverfassung treffen können. Dies hat er nicht getan; er gewährleistet vielmehr allgemein „die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen“. Hieraus lässt sich kein verfassungsrechtlich verankertes Ziel einer möglichst umfangreichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Lande ableiten. Erst der einfache Wahlgesetzgeber hat nur die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel befreit. Dabei belegt das geltende Wahlrecht selbst, dass es nicht auf größtmögliche Repräsentanz aus Gründen des Minderheitenschutzes angelegt ist. Denn Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit können ohne weiteres vollständig leerlaufen. Wenn nämlich nicht die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl erreicht wird, ist die Partei der dänischen Minderheit gar nicht im Landtag vertreten.

14

Ungeachtet dessen könnte auch eine regionalisierte Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt der Privilegierung des SSW ist ein Umstand, der außerhalb des Wahlvorgangs liegt und der zudem eine räumliche Dimension in Gestalt des angestammten Siedlungsgebiets in Südschleswig hat. Damit geht es nicht nur um eine allgemeine Rückausnahme zur Sperrklausel. Vielmehr werden durch die besondere Befreiung bestimmter Parteien, hier des SSW, neue Ungleichbehandlungen gegenüber anderen kleineren Parteien bewirkt. Diese sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Insofern erschiene es nicht systemwidrig, wenn der Gesetzgeber das wahlvorgangsfremde Merkmal nicht nur privilegierend, sondern auch limitierend bemühte.

15

Selbst wenn man die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel mit dem Gericht als erforderlich ansehen wollte, wäre sie nicht angemessen, da sie zu einer Überkompensation führt.

16

Zwar kann einer Partei der dänischen Minderheit der Wahlerfolg ebenso wenig negativ angerechnet werden wie ein in Anspruch genommenes allgemeinpolitisches Mandat oder die Beteiligung an der Landesregierung. Das alles sind Folgen der Teilnahme an Wahlen und der Repräsentanz im Landtag. Die Annahme von Abgeordnetenmandaten zweiter Klasse oder eigener Art verbietet sich mit Blick auf Art. 11 LV. Hier geht es indes um die Vorfrage des Umfangs der Vertretung im Parlament aus Gründen des Minderheitenschutzes. Das geltende Wahlrecht sieht eine allgemeine Sperrklausel vor. Dann durchbricht der Gesetzgeber das von ihm festgelegte System, wenn er den zwingenden Grund für die 5%-Klausel nicht durchhält, sondern es zum Schutz für nationale Minderheiten über das notwendige Maß hinaus aufgibt. Staats- und parteipolitisch betrachtet erschwert auch eine Minderheitenpartei die Regierungs- und Mehrheitsbildung im Parlament.

17

Die dänische Minderheit umfasst laut Angaben des Bundesministeriums des Inneren und der Landesregierung etwa 50.000 Personen

(Broschüre „Nationale Minderheiten, Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“, Bundesministerium des Innern , November 2012, S. 12 sowie http://www.schleswig-holstein.de/ Portal/DE/LandLeute/Minderheiten/Daenisch/ daenisch_node.html; abgerufen am 1. August 2013).

Damit ist derzeit von einer relevanten dänischen Minderheit auszugehen. Deswegen kann dahinstehen, wie sich die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich im Einzelnen definiert, insbesondere ob das bloße Bekenntnis hierfür ausreicht.

18

Der SSW hat 61.025 Zweitstimmen erhalten und damit 4,6 % aller gültigen Zweitstimmen, hiervon einen erheblichen Anteil in Gebieten außerhalb des Siedlungsgebietes der dänischen Minderheit

(Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersicht 4).

Zwar verbietet es sich zu erheben, wie viele dieser Wählerinnen und Wähler Angehörige der dänischen Minderheit waren. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht alle Angehörigen der dänischen Minderheit wahlberechtigt sind und nicht alle Angehörigen der Minderheit den SSW gewählt haben dürften. Vor diesem Hintergrund lassen die Zahlen und die regionale Verteilung erkennen, dass der SSW erheblichen Zuspruch von Wählerinnen und Wählern gehabt haben muss, die nicht der Minderheit angehören. Diese politische Realität darf das Gericht bei seiner Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Wahlgleichheit aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht außer Betracht lassen.

19

Wenn man dem SSW sämtliche sich aus seinem Zweitstimmenergebnis rechnerisch ergebenden Sitze zuteilt, dann profitiert er zu einem großen Teil von seinem allgemeinpolitischen Erfolg, der nicht aus seinem Minderheitenstatus herrührt. Die hiermit, also mit der Zuteilung weiterer, über einen „Sitz für die nationale Minderheit“ hinausgehender Sitze bei einem Wahlergebnis unter 5 % insbesondere gegenüber anderen kleinen Parteien verbundene Vertiefung des Eingriffs in die Gleichheit der Wahl kann vorbehaltlich anderer Instrumente wie etwa einer regionalisierten Sperrklausel nicht mit dem Minderheitenschutz gerechtfertigt werden. Die Integrationskraft von Wahlen bei der politischen Willensbildung des Volkes verlangt eine effektive parlamentarische Repräsentanz der nach dem Wählervotum bedeutsamen politischen Strömungen. Soweit einer nationalen Minderheit der Zugang zum Parlament erleichtert wird, darf dabei nicht die Relation der wahlberechtigten Minderheit zum gesamten Wahlvolk außer Acht gelassen werden.

20

Die zwingende Wählbarkeit der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, im ganzen Land ist zwar eine (Neben-)Folge der Änderung des Wahlrechts durch Einführung der Zweitstimme. Mit der Zulässigkeit dieser Systementscheidung hat es aber nicht sein Bewenden. Vielmehr ist der Gesetzgeber nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet,

eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (...). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein (...) (und) zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (...). Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse (...)

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90).

21

Dieser Beobachtungs- und Prüfpflicht ist der Wahlgesetzgeber nicht nachgekommen. Die in Folge der Einführung der Zweitstimme eingetretene Überprivilegierung ist durch das Ziel des Minderheitenschutzes nicht (mehr) gedeckt. Eine Unterstützung durch Wählerinnen und Wähler, die nicht der dänischen Minderheit zuzurechnen sind – die jedoch stattfindet, wie insbesondere das Wahlergebnis des SSW außerhalb von Südschleswig dokumentiert –, erfolgt aus allgemeinpolitischen Motiven und unterliegt damit der allgemeinen Sperrklausel. Allein der Bezug zur nationalen Minderheit rechtfertigt die Ungleichbehandlung des SSW gegenüber Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte im Zuge des Verhältnisausgleichs. Zugleich wird durch Verbindung der Partei mit einer besonderen Wählergruppe die Zulässigkeit der wahlrechtlichen Ungleichbehandlung begrenzt. Dem Wahlgesetzgeber ist verwehrt, jenseits zwingender Gründe über den Einzug von Parteien in das Parlament zu disponieren.

22

Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstößt daher in ihrer derzeitigen Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 LV. Da die Mehrheit des Gerichts die Regelung für mit der Landesverfassung vereinbar hält, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, welche Rechtsfolge der Verstoß nach sich zöge.

23

Ebenso bedarf die in der mündlichen Verhandlung angesprochene Frage, ob der „Sitz für die nationale Minderheit“ dem SSW stets, also selbst dann zugeteilt werden sollte, wenn die Partei das für ein Mandat erforderliche Zweitstimmenergebnis nicht erreicht, hier keiner Entscheidung. Sie richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber.


(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.

(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.

(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.

(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Verfahrens sind die Beschwerden mehrerer Wahlberechtigter gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Wahl vom 6. Mai 2012 (Landtags-Drucksache 18/163, PlPr 18/7, S. 427 <429>).

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauteten zum Zeitpunkt der Landtagswahl:

3

Artikel 3

Wahlen und Abstimmungen

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.
(2) […]
(3) Die Wahlprüfung und die Abstimmungsprüfung stehen den Volksvertretungen jeweils für ihr Wahlgebiet zu. Ihre Entscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung.
(4) […]
4

Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung. Der Landtag wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Er übt die gesetzgebende Gewalt aus und kontrolliert die vollziehende Gewalt. Er behandelt öffentliche Angelegenheiten.
(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
5

Artikel 5

Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.
6

2. § 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz – LWahlG –) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) bestimmt:

§ 3

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) - (7) […]

7

3. Bereits die Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 (GVOBl 1950 S. 3) enthielt die seither unveränderte Regelung des heutigen Art. 5 Abs. 1 LV. Mit Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) ist Art. 5 Abs. 2 LV im Rahmen der Verfassungsreform auf Empfehlung des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ aufgenommen worden.

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Die Vorschriften zur dänischen Minderheit in Art. 5 LV und in § 3 Abs. 1 LWahlG haben ihren Ursprung in der von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung mit Billigung des Schleswig-Holsteinischen Landtages abgegebenen Kieler Erklärung vom 26. September 1949 (GVOBl S. 183) und den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4). Letztere waren das Ergebnis von Beratungen der Dänischen Regierung und der deutschen Bundesregierung und bestanden aus je einer Erklärung der Bundesregierung im Einvernehmen mit der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung und der Dänischen Regierung. Der Deutsche Bundestag, der Schleswig-Holsteinische Landtag und das dänische Folketing haben diesen Erklärungen zugestimmt

(vgl. dazu im Einzelnen: Abdruck bei Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945, Frankfurt am Main, Berlin 1959, S. 71 ff.).

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Sowohl die Kieler Erklärung als auch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen wurden mit dem Ziel abgegeben,

das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung beiderseits der deutsch-dänischen Grenze und damit auch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark allgemein zu fördern.

Sie bekräftigen, dass die Angehörigen der dänischen Minderheit wie alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 garantierten Rechte genießen. Schon in der Kieler Erklärung war unter anderem festgestellt worden, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist und von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden darf (a.a.O., S. 184, II. Nr. 1). Dieser Grundsatz wurde in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen übernommen (a.a.O., S. 5).

10

Der Gesetzgeber nahm erstmals mit § 3 Abs. 1 LWahlG vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) die Grundmandatsklausel, die 5%-Klausel sowie eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten in das Wahlrecht auf. Letztere beschränkte sich darauf, dass bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war.

11

Mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) wurden die Vorschrift über Parteien nationaler Minderheiten aufgehoben und die Sperrklausel auf 7,5% angehoben. Diese 7,5%-Klausel erklärte das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) für verfassungswidrig

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.).

Daraufhin wurde in § 3 Abs. 1 LWahlG vom 5. November 1952 (GVOBl S. 175) die bis heute geltende 5%-Klausel verankert.

12

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurden mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) die Parteien der dänischen Minderheit durch Einfügung des bis heute geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG von der 5%-Klausel ausgenommen.

13

Durch die Wahlrechtsänderung im Jahre 1997 (vgl. Gesetz zur Änderung des LWahlG vom 27. Oktober 1997, GVOBl S. 462) wurde die Zweitstimme bei Landtagswahlen eingeführt. § 3 Abs. 1 LWahlG ist im Wesentlichen unverändert geblieben; lediglich das Wort „Stimmen“ wurde durch „Zweitstimmen“ ersetzt.

14

4. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 6. Mai 2012 (Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

auf die CDU

        

30,8 %,

auf die SPD

        

30,4 %,

auf die FDP

        

 8,2 %,

auf die GRÜNEN

        

13,2 %,

auf die LINKE

        

 2,3 %,

auf den SSW

        

 4,6 %,

auf die PIRATEN

        

 8,2 %,

auf die FREIEN WÄHLER

        

0,6 %,

auf die NPD

        

 0,7 %,

auf die FAMILIE

        

 1,0 %

und auf die MUD

        

 0,1 %.

15

An der Verteilung der Sitze aus den Landeslisten nach § 3 Abs. 1 LWahlG nahmen die CDU, die SPD, die FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der SSW und die PIRATEN teil.

16

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG aufgrund des Zweitstimmenergebnisses

auf die CDU

        

22 Sitze,

auf die SPD

        

22 Sitze,

auf die FDP

        

 6 Sitze,

auf die GRÜNEN

        

 10 Sitze,

auf den SSW

        

 3 Sitze

und auf die PIRATEN

        

 6 Sitze.

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Sämtliche der von der CDU und 13 der von der SPD errungenen Sitze wurden als Direktmandate besetzt und nach § 3 Abs. 4 LWahlG auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet. Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), die entstehen und verbleiben, wenn die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, fielen nicht an.

18

Gegen das bekanntgemachte Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 gingen bei der Landeswahlleiterin 35 Einsprüche ein, die überwiegend – mit unterschiedlicher Begründung – die Teilnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) an der Sitzverteilung für rechtswidrig hielten. Nach entsprechender Vorprüfung leitete die Landeswahlleiterin die Einsprüche zur Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Landtag an dessen Innen- und Rechtsausschuss als Wahlprüfungsausschuss weiter. Die Landeswahlleiterin teilte weder die in den Einsprüchen geltend gemachten Zweifel daran, dass der SSW eine Partei der dänischen Minderheit sei, noch diejenigen an der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 LWahlG. Zudem wies sie darauf hin, dass allein das Landesverfassungsgericht das Landeswahlgesetz verfassungsrechtlich überprüfen kann (Vorprüfungsbericht vom 13. Juli 2012, Landtags-Umdruck 18/45).

19

Am 5. September 2012 empfahl der Wahlprüfungsausschuss dem Landtag, die Einsprüche zurückzuweisen und das vom Landeswahlausschuss festgestellte und von der Landeswahlleiterin bekannt gegebene Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 6. Mai 2012 zu bestätigen (Landtags-Drucksache 18/163). Am 26. September 2012 beschloss der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, FDP, SSW und zwei Stimmen aus der Fraktion der PIRATEN, diese Empfehlung anzunehmen (PlPr 18/7, S. 427 <429>). Dies teilte der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages den Einspruchführenden jeweils mit Bescheid vom 27. September 2012 mit.

II.

20

Gegen den Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 haben die wahlberechtigte Beschwerdeführerin und die wahlberechtigten Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben, die das Gericht mit Beschluss vom 8. März 2013 unter dem Aktenzeichen LVerfG 9/12 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat. Sie begehren eine Aufhebung des Landtagsbeschlusses mit dem Ziel, die Landtagswahl zu wiederholen; die Beschwerdeführerin verlangt vorrangig eine Änderung des Beschlusses und eine Neufeststellung des Wahlergebnisses, bei der nur diejenigen Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5% der Zweitstimmen erzielt haben.

21

Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer sind der Auffassung, es sei schon zweifelhaft, ob überhaupt eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein existiere, weil Angehörige der dänischen Minderheit nicht erkennbar seien und eine Assimilation stattgefunden habe, bzw. die Anzahl der Angehörigen nicht nachgewiesen sei. Darüber hinaus machen sie geltend, der SSW sei jedenfalls keine Partei der dänischen Minderheit mehr, so dass die Befreiung von der 5%-Klausel nach § 3 Abs. 1 LWahlG nicht auf ihn anwendbar sei. Ob die überwiegende Zahl der Mitglieder des SSW der dänischen Minderheit angehöre, sei nicht bekannt, zumal selbst der Vorsitzende des SSW im Landtag Friese sei. Ein besonderer Einsatz für dänische Belange sei nicht mehr erkennbar, der SSW decke vielmehr alle Politikfelder ab und unterscheide sich nicht von anderen Parteien. Dies zeige die angestrebte und realisierte Regierungsbeteiligung. Der hohe Anteil an Zweitstimmen, die der SSW außerhalb seines ursprünglichen Tätigkeitsbereichs erzielt habe, belege, dass der SSW keine Partei der dänischen Minderheit mehr sei.

22

Darüber hinaus halten die Beschwerdeführer § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungswidrig. Der Grundsatz der Wahlgleichheit in seiner Ausprägung als Erfolgswertgleichheit sowie der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien würden durch die Befreiung von Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verletzt; seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts seien diese überprivilegiert. Ein zwingender Grund, der eine Differenzierung rechtfertigen kann, sei nicht gegeben. Weder könne ein solcher aus der Landesverfassung noch aus den Bonn-Kopenhagener Erklärungen hergeleitet werden. Ein Teil der Beschwerdeführer meint zudem, § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch gegen Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen seiner Abstammung oder Sprache bevorzugt oder benachteiligt werden darf.

III.

23

1. Der Landtag und die Landesregierung haben Stellung genommen. Sie halten übereinstimmend die Wahlprüfungsbeschwerden für unbegründet. Sie sind der Auffassung, dass der SSW gegenwärtig unverändert eine Partei der dänischen Minderheit ist. Der SSW trete auf vielfältige Weise für Ziele und Interessen der dänischen Minderheit ein, was sich aus seiner Satzung und seinem Programm ergebe. Gegen seine Einstufung als Minderheitenpartei spreche nicht, dass der SSW sämtliche Politikfelder abdecke. Er habe seit jeher zu allen Feldern der Landespolitik Stellung bezogen. Dass er nun auch außerhalb seines satzungsmäßigen Tätigkeitsgebiets Südschleswig und Helgoland wählbar ist, beeinträchtige nicht seine unverändert fortbestehende Verwurzelung in der dänischen Minderheit.

24

Nach Auffassung des Landtages und der Landesregierung sind sowohl die 5%-Klausel selbst als auch die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verfassungsmäßig. Beide verweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich das Landesverfassungsgericht zu eigen gemacht habe. Danach könnten „zwingende“ bzw. „zureichende“ Gründe eine Abweichung von der Gleichbehandlung der Wählerstimmen rechtfertigen.

25

Der Landtag stellt hierzu heraus, dass die 5%-Klausel gerechtfertigt sei, um die Funktionsfähigkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung zu sichern und zu stärken. Es genüge insoweit, wenn ohne Sperrklausel die Integrationswirkung der Wahl gefährdet werde und eine Funktionsstörung des Landtages durch Zersplitterung des Parteienspektrums wahrscheinlich sei. Dies sei heute ebenso gegeben wie bei der Einführung der 5%-Klausel. Eine Sperrklausel sei geeignet, schwere politische Krisen zu verhindern oder zumindest deren Folgen abzumildern. Dies betreffe sowohl die Regierungsbildung als auch die Gesetzgebung und die Aufstellung des Haushaltes. Diese Einschätzung werde durch den internationalen Vergleich mit Ländern mit niedrigerer oder ohne Sperrklausel bestätigt: Dort sei die Regierungsbildung häufig schwierig und langwierig.

26

Die Landesregierung hält die 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ebenfalls für verfassungsmäßig. Sie meint, es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Funktionsfähigkeit des Parlaments als zwingenden Grund für Sperrklauseln gegen parlamentarische Splitterparteien anzusehen. Es gehe insoweit um die Fähigkeit des Parlaments, seine Aufgaben der Gesetzgebung und der Regierungsbildung zu erfüllen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts zu Kommunal- und Europawahlen seien auf die Landtagswahl nicht übertragbar, weil der Landtag die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten wähle, die oder der auf das fortlaufende Vertrauen einer Mehrheit des Landtages angewiesen sei. Angesichts der tatsächlichen politischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein drohten eine Zersplitterung des Parlaments und dadurch eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, was sich anhand der Wahlergebnisse aus den Landtagswahlen von 2009 und 2012 belegen lasse.

27

Der Landtag und die Landesregierung halten die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungsgemäß. Der Landtag macht insoweit geltend, dass das verfassungsrechtlich legitime Ziel die politische Integration der dänischen Minderheit sei, die nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung hat. Da nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen unter dem Schutz des Landes steht, sei das Land zumindest berechtigt, wenn nicht verpflichtet, Parteien der dänischen Minderheit die Wahl in den Landtag als Mittel der politischen Mitwirkung zu erleichtern.

28

§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG stelle keine Privilegierung der dänischen Minderheit dar, sondern gleiche den Nachteil aus, dass dieser Teil der Wählerschaft nicht groß genug sei, um mit Sicherheit die 5%-Hürde zu überwinden. Die Sorge um gute Beziehungen Deutschlands und Schleswig-Holsteins zum Nachbarstaat Dänemark habe den Gesetzgeber bewogen, die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel auszunehmen. Zudem habe er durch die Einbeziehung der dänischen Minderheit in die politische Willensbildung Spannungen abbauen wollen, die auf Grund der besonderen Lage im Grenzgebiet entstanden seien und jederzeit wieder entstehen könnten. Dadurch habe der Gesetzgeber einen wesentlichen Teil seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV erfüllt. Die Integration der dänischen Minderheit in die Landespolitik komme im Sinne eines gutnachbarlichen, vertrauensvollen Verhältnisses der Volksgruppen zueinander und störungsfreier Beziehungen zu Dänemark allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes zugute.

29

Nach Auffassung des Landtages werden Parteien der dänischen Minderheit auch nicht dadurch übermäßig begünstigt, dass sie in den landesweiten Verhältnisausgleich einbezogen werden. Dies sei vielmehr Folge des schleswig-holsteinischen Zweistimmenwahlrechts, das im gesamten Landesgebiet einheitlich und uneingeschränkt gilt.

30

Die Landesregierung betont, dass der Landesgesetzgeber im Rahmen der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG einen autonomen Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems habe, so dass er das Teilgebot der Erfolgswertgleichheit in begrenzter Weise ausgestalten dürfe. Hier ergebe sich ein zwingender Grund für die wahlrechtliche Sonderregelung für Parteien der dänischen Minderheit zunächst aus Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, aber auch unmittelbar aus bundesrechtlichen Erwägungen. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der im Wahlrecht nicht gelte. Unabhängig davon wäre das Benachteiligungsverbot wegen der Abstammung aber auch tatbestandlich nicht einschlägig, weil die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht aus der Familiengeschichte der Person folge, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit.

31

2. Die Landeswahlleiterin vertritt in ihrer Stellungnahme – wie bereits im Vorprüfungsverfahren – die Auffassung, dass kein Anlass bestehe, die Anerkennung des SSW als Partei der dänischen Minderheit in Frage zu stellen. Sie meint, sowohl die Regelung über die 5%-Klausel als auch die Ausnahme hiervon für Parteien der dänischen Minderheit seien nicht verfassungswidrig.

32

3. Auch nach Auffassung des SSW im Landtag ist die Wahlprüfungsbeschwerde unbegründet. Er macht geltend, dass er weiterhin als Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen eine Partei der dänischen Minderheit sei und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Sperrklausel erfülle. Insbesondere führten weder die Befassung mit allgemeinen Themen noch seine Regierungsbeteiligung dazu, dass er die Eigenschaft einer Partei der dänischen Minderheit verloren habe. Dies folge schon aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Aufgabenspektrum einer Partei und dem Umfang des Mandats von Abgeordneten. Er trägt anhand seiner Programme und Aktivitäten im Landtag seit der 1. Wahlperiode vor, dass er seit jeher zu allen Politikfeldern Stellung bezogen habe. Darüber hinaus sei seine Verflechtung mit den Institutionen der dänischen Minderheit evident.

33

Nach Ansicht des SSW im Landtag hält § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Die Befreiung von der 5%-Klausel greife nicht in die Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien ein, sondern sei gerechtfertigt, um einen Nachteil auszugleichen. Hierzu verweist er auf mathematische Berechnungen. Der SSW sei keine Splitterpartei. Als legitime Gründe für seine Befreiung von der 5%-Hürde seien unter anderem Art. 5 Abs. 2 LV, die Integrationsfunktion der Wahlen und die Bindung der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins an die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen anzuführen. Gleich geeignete und weniger einschneidende Mittel, die angestrebten Zwecke zu erreichen, gebe es nicht. Die Gründe für die Befreiung von der 5%-Klausel überwögen den verhältnismäßig geringen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit.

34

4. Die FDP-Landtagsfraktion ist der Auffassung, dass eine Mandatszuteilung zugunsten des SSW nur mit einem Sitz erfolgen dürfe. Hierzu verweist sie auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten (Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungs-rechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013). Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV gewährleiste noch eindringlicher als das Grundgesetz den Grundgedanken der Wahlgleichheit. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei eine Rückausnahme von einer Einschränkung des wahlrechtlichen Gleichheits-grundsatzes (der 5%-Klausel) und müsse im Zusammenhang mit dieser beurteilt werden. Parteien der dänischen Minderheit würden durch die Regelung gegenüber anderen Parteien begünstigt. Eine solche Ungleichbehandlung könne nicht allgemein mit der Integrationsfunktion der Wahl begründet werden. Die Integration nationaler Minderheiten sei zwar ein legitimes Ziel der schleswig-holsteinischen Wahlgesetzgebung, jedoch nach Art. 5 Abs. 2 LV nicht geboten. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei geeignet, das legitime Ziel zu erreichen, jedoch nicht erforderlich. Eine auf Südschleswig beschränkte regionalisierte Regelung wäre ein milderes Mittel. Ebenso wäre es möglich, bei Unterschreiten der 5%-Klausel durch eine Partei der dänischen Minderheit diese nur mit der ersten Person auf der Landesliste am Verhältnisausgleich teilnehmen zu lassen. Die dänische Minderheit sei nicht wegen ihrer Stimmenzahl, sondern auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bezugspersonen wesentlich. Ihre Integration werde nicht weiter dadurch gestärkt, dass sie mit mehreren Abgeordneten vertreten sei.

35

5. Nach Auffassung der Piratenfraktion im Landtag ist die 5%-Klausel nicht mehr zu rechtfertigen, weil die Bildung von Regierungskoalitionen auch ohne 5%-Sperrklausel möglich bleibe. Dies bewiesen die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten, in denen die Sperrklausel nicht gelte. Dann wäre auch die Sonderregelung für den SSW beseitigt, ohne die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag zu erschweren.

B.

36

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 ist gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 3 Nr. 5 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (LVerfGG) die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben. Danach ist Gegenstand der Wahlprüfung die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG). Wahlberechtigte, deren Einsprüche der Landtag verworfen hat, sind zur Beschwerde befugt (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG).

C.

37

Die zulässigen Wahlprüfungsbeschwerden sind unbegründet. Der Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 ist rechtmäßig. Zu Recht hat der SSW mit 4,6% der gültigen Zweitstimmen am Verhältnisausgleich teilgenommen und ist mit drei Abgeordneten im Landtag vertreten. Das festgestellte Ergebnis der Landtagswahl ist nicht zu beanstanden. Weder hat die Rüge der fehlerhaften Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auf den SSW (I.) noch die der Verfassungswidrigkeit von § 3 LWahlG (II.) Erfolg.

I.

38

Aus der einfachgesetzlichen Anwendung des Wahlrechts ergeben sich keine Wahlfehler. Dabei hat das Landesverfassungsgericht die einschlägigen Normen selbst auszulegen und zum Maßstab der Wahlprüfung zu machen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 46, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 50; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -, BVerfGE 97, 317 ff., Juris Rn. 15 und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 90; Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 49 Rn. 34 m.w.N.).

39

Für die Wahl zum 18. Landtag wurde § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG zu Recht auf den SSW angewandt.

40

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten die in Satz 1 der Vorschrift geregelten Einschränkungen zur Teilnahme am Verhältnisausgleich – für eine Partei muss entweder in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden sein oder sie muss insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt haben – nicht für Parteien der dänischen Minderheit. Um eine Partei der dänischen Minderheit handelt es sich, wenn diese eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Parteiengesetz (PartG) ist (1.), es unverändert eine dänische Minderheit gibt (2.), und die Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen ist und weiterhin von ihr getragen und geprägt wird (3). Danach ist der SSW eine Partei der dänischen Minderheit.

41

1. Der SSW ist eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG. Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Sie müssen nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.

42

Diese Voraussetzungen erfüllt der SSW, der seit seiner Gründung 1948 regelmäßig zu Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag angetreten ist

(vgl. Kühl, Dänische Minderheitenpolitik in Deutschland, Südschleswigscher Wählerverband , in: Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 142 <147 ff.>).

43

2. Es gibt in Schleswig-Holstein auch unverändert eine dänische Minderheit. Ihre Existenz wird mit dem erst mit der Verfassungsreform durch das Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) aufgenommenen Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV anerkannt. Der Landesverfassungsgeber hat diese Regelung aktuell bestätigt, indem erden Anspruch auf Schutz und Förderung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV mit Gesetz zur Änderung der Landesverfassung Schleswig-Holstein vom 28. Dezember 2012 (GVOBl 2013 S. 8) um „die Minderheit der deutschen Sinti und Roma“ ergänzt, die Vorschrift die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe betreffend aber unverändert gelassen hat. Auch die Bundesrepublik Deutschland setzte bei ihrer Zustimmung zum Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 (BGBl 1997 II S. 1406) voraus, dass eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein besteht. Die Bundesregierung hat bei der Zeichnung des Rahmenübereinkommens am 11. Mai 1995 ausdrücklich erklärt, dass nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit sind (BGBl 1997 II S. 1418). Schließlich belegen die Minderheitenberichte der Landesregierung die unveränderte Existenz und Aktivität der dänischen Minderheit im Einzelnen

(zuletzt: Bericht der Landesregierung zur Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in der 17. Legislaturperiode (2009 – 2012) – Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37 ff.).

44

Zudem tritt die dänische Minderheit zum Beispiel durch ihre Schulen, den dänischen Kulturverein – den Sydslesvigsk Forening (SSF) – mit seinen Einrichtungen und Veranstaltungen sowie durch die in dänischer Sprache erscheinende Zeitung Flensborg Avis im nördlichen Schleswig-Holstein (Südschleswig) wahrnehmbar in Erscheinung.

45

3. Eine Partei ist dann eine Partei der dänischen Minderheit, wenn sie aus der Minderheit hervorgegangen ist und sie gegenwärtig personell von der Minderheit getragen wird sowie programmatisch von ihr geprägt ist

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 36; Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 4; Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG SH>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 13).

Diese Voraussetzungen treffen auf den SSW zum Zeitpunkt der Landtagswahl im Jahr 2012 zu. Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.

46

Die genannten Merkmale folgen bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, der besagt, dass die Einschränkungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG nicht für Parteien „der“ dänischen Minderheit gelten. Da der Gesetzgeber nicht Parteien „für“ die dänische Minderheit von der Sperrklausel ausgenommen hat, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, dass sich die von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG erfassten Parteien personell, thematisch und programmatisch ausschließlich an die dänische Minderheit richten müssten oder nur von ihren Angehörigen wählbar wären. Sowohl die Wählbarkeit und Wahl durch alle Wählerinnen und Wähler, also auch Nicht-Angehörige der Minderheit, als auch die Befassung mit allen politischen Themen gehören zudem notwendig zu einer Partei, wie dies bundesrechtlich durch Art. 21 GG und § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG zwingend vorgegeben ist; sie sind Ausdruck der den Parteien im demokratischen Gefüge zukommenden Integrationsfunktion. Ohne personelle und programmatische Prägung durch die dänische Minderheit aber wäre eine Partei ihr nicht zuzuordnen, weil ansonsten der im Gesetz vorgegebene Bezug zur Minderheit fehlte. Insofern muss die Partei aus der Minderheit hervorgegangen sein und von ihr auch gegenwärtig noch getragen und geprägt werden.

47

a) Der SSW ist als Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen. Er wurde 1948 als Partei der dänischen Minderheit in Südschleswig und der nationalen Friesen in Nordfriesland als Südschleswigscher Wählerverband gegründet. Zuvor hatte die britische Besatzungsmacht der dänischen Minderheit bereits den Status einer nationalen Minderheit und deren kultureller Organisation, dem SSF, für die Landtagswahl 1947 vorübergehend den Status einer politischen Partei zuerkannt. Nach der Landtagswahl wurde dem SSF die Anerkennung wieder entzogen, weil sich dieser dafür einsetzte, den nördlichen Landesteil an Dänemark anzuschließen bzw. als unabhängiges Territorium zu behandeln. Daraufhin wurde der SSW als politische Interessenvertretung der Minderheit neben dem fortan ausschließlich auf kulturellem Gebiet tätigen SSF geschaffen

(vgl. Kühl, a.a.O., S. 142 ff.; Kühn, a.a.O., S. 43 f. m.w.N.).

48

aa) Die enge Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit spiegelt sich auch in der geschichtlichen Entwicklung des § 3 LWahlG wider:

49

Die erste Fassung von § 3 LWahlG vom 31. Januar 1947 (ABl S. 95) enthielt keine Sonderregelung für nationale Minderheiten. Der SSF errang bei der Landtagswahl 1947 9,27% der insgesamt im Land abgegebenen gültigen Stimmen. Mit zwei Wahlkreiskandidaten (Wahlkreise Flensburg I Stadt und Flensburg II Glücksburg) und vier weiteren Sitzen, die er über die Landesliste erhielt, war er im Landtag vertreten

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 20. April und 18. Mai 1947 vom 8. August 1947, ABl S. 399).

50

Der sodann gegründete SSW, der Kandidaten nur in Südschleswig aufgestellt hatte, erzielte bei der Landtagswahl 1950 5,5% der Stimmen; er war mit zwei Direktkandidaten und zwei weiteren von der Landesliste gewählten Kandidaten in den Landtag eingezogen

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 9. Juli 1950 vom 17. Juli 1950, ABl S. 328).

51

Das Landeswahlgesetz vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) enthielt erstmals eine 5%-Sperrklausel und eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten, nach der bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war. Die Vorschrift bezog sich sowohl nach dem Verständnis des Gesetzgebers

(vgl. Landtags-Protokolle vom 21. Dezember 1949, S. 33 ff. und vom 27. Februar 1950, S. 48; dazu auch Kühn, a.a.O., S. 67 ff. m.w.N.)

als auch nach der Rechtsprechung des seinerzeit zuständigen Oberverwaltungsgerichts

(vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 19. Juni 1950 - II OVG A 243/50 -, OVGE MüLü. Band 2, S. 157 <173>)

auf den SSW.

52

Die mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) eingeführte 7,5%-Klausel hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 5. April 1952 (- 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.) wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin hat der Landtag das Wahlgesetz geändert und in § 3 Abs. 1 LWahlG anstelle der 7,5%-Klausel die 5%-Klausel verankert (LWahlG vom 5. November 1952, GVOBl S. 175).

53

Nachdem der SSW bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 nur 3,3 % der in Schleswig-Holstein abgegebenen Zweitstimmen erhalten hatte (bei der Bundestagswahl 1949 waren es 5,4 % und bei der Landtagswahl 1950 5,5 %), rief er erneut das Bundesverfassungsgericht an, weil er die 5%-Klausel im Landeswahlgesetz ohne Sonderregelung für Parteien einer nationalen Minderheit für verfassungswidrig hielt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 11. August 1954 (- 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff.) die Norm unbeanstandet gelassen.

54

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurde die noch heute geltende Fassung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG mit Gesetz vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) eingeführt. Diese Regelung war auf den SSW zugeschnitten worden

(vgl. Antrag der SSW-Fraktion vom 9. April 1954, Landtags-Drucksache 2/573, PlPr 82. Sitzung vom 27. April 1954, S. 1531 ff.).

55

bb) Dass der SSW sich seit Beginn seiner Tätigkeit auch als Vertretung der Friesen versteht, vermag hieran nichts zu ändern. Er ist aus den historisch miteinander verknüpften Bewegungen der nationalen Friesen und der dänischen Minderheit hervorgegangen. Dies war dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG bekannt und für ihn kein Hindernis, den SSW als Partei der dänischen Minderheit anzusehen

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 44 mit weiteren Ausführungen dazu).

56

b) Der SSW wird auch gegenwärtig personell von der dänischen Minderheit getragen und programmatisch von ihr geprägt.

57

aa) Die personelle Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit ergibt sich insbesondere aus der Doppelmitgliedschaft einer großen Anzahl von Personen, die sowohl im SSW als auch in den weiteren Organisationen der Minderheit engagiert sind. Diese arbeiten im Südschleswigschen Gemeinsamen Rat für die dänische Minderheit (Det Sydslesvigske Samråd) zusammen und stimmen ihr gemeinsames Vorgehen ab

(vgl. Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37).

58

Zu den Organisationen der dänischen Minderheit gehören neben dem SSW und dem SSF unter anderem die Dänische Kirche in Südschleswig (Dansk Kirke i Sydslesvig), der Dänische Schulverein für Südschleswig (Dansk Skoleforening for Sydslesvig), die Dänischen Jugendverbände in Südschleswig (Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger ), die Dänische Zentralbibliothek für Südschleswig (Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig), der Dänische Gesundheitsdienst (Dansk Sundhedstjeneste for Sydslesvig), die Dänische Volkshochschule (Jaruplund Højskole) und die Tageszeitung Flensborg Avis

(vgl. Minderheitenbericht 2011, a.a.O., S. 153 f.).

59

Nach Angaben des Landesverbandes des SSW sind von den 3.660 SSW-Mitgliedern 78 % gleichzeitig Mitglied im SSF, dem dänischen Kulturverein, und ca. 2% Mitglied im Friisk Foriining, dem friesischen Kulturverein. Viele seien zusätzlich Mitglieder in Skoleforening, SdU, Dansk Kirke usw., worüber keine Statistik geführt werde. Alle führenden Politikerinnen und Politiker des SSW seien Mitglied im dänischen Kulturverein oder übten dort Funktionen aus. Die große Mehrheit der Vorsitzenden und Hauptamtlichen der Organisationen der dänischen Minderheit seien jedenfalls Mitglied im SSW oder sogar in der Kommunalpolitik und Organisation der Partei aktiv

(vgl. Dossier 08 Dokument 01 der Stellungnahme des SSW zum Verfahren).

Spezifische Gründe dafür, diese Angaben zu bezweifeln, sind im Verfahren nicht vorgetragen worden.

60

bb) Der SSW ist auch programmatisch durch die Minderheit geprägt, was sich aus seiner Satzung, seinen Programmen und seinem Zusammenwirken mit den örtlichen Vereinigungen in seinem Tätigkeitsgebiet Südschleswig und Helgoland, dem angestammten Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, ergibt. Daran ändert weder die Wählbarkeit der Liste im ganzen Land noch die Wahrnehmung eines allgemeinen politischen Mandats etwas.

61

(1) In § 2 Nr. 2 der Satzung des SSW heißt es:

(...) Die Partei wirkt auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, ihrer Satzung sowie der Rahmen- und Aktionsprogramme an der politischen Willensbildung mit. Der SSW ist die politische Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen in Südschleswig und fühlt sich diesen besonders verpflichtet, will zugleich aber auch dem Wohl aller Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein dienen. Der SSW tritt für eine demokratische Lebens- und Gesellschaftsform ein, die von sozialer Gerechtigkeit, gegenseitiger Achtung und dem Respekt gegenüber den Mitmenschen nach nordischem Vorbild geprägt ist. Der SSW will an der Verständigung zwischen den Völkern und an der Zusammenarbeit in Europa mitwirken. Seine Politik ist frei und unabhängig.

62

Das Verständnis der nordischen Rechtstradition, das für das Wirken maßgebend ist, wird in den verschiedenen Programmen des SSW aufgegriffen. So beschreibt das seit dem 13. Februar 1999 geltende Rahmenprogramm, dass

(...) die Grundwerte des SSW (…) vor allem von unserem besonderen Standpunkt als Minderheitenpartei, von der regionalen Verankerung im Norden Schleswig-Holsteins und von unserer besonderen Verbindung zu den nordischen Ländern geprägt (werden).

63

Das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012 enthält einerseits Aussagen zur allgemeinen Landespolitik. Andererseits gibt es Belege einer ausdrücklich dänischen Ausrichtung wie etwa bei der Schulpolitik, der Hochschulzusammenarbeit, der Anerkennung von Berufsabschlüssen, bei grenzüberschreitenden Gesundheitsangeboten, dem Erfahrungsaustausch mit Grenzregionen und bei der Verkehrsinfrastruktur zur Anbindung an Dänemark

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 20 ff.).

Dazu gehört auch die Forderung, dass im Schulgesetz des Landes wieder die Förderung des Dänischen Schulvereins mit 100 % der öffentlichen Schülerkostenansätze verankert und dadurch die Gleichstellung der Kinder an den dänischen Schulen wiederhergestellt wird

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 50).

64

(2) Der SSW verliert seine Prägung auch nicht durch seine über eine spezifische Minderheitenpolitik hinausreichende Tätigkeit.

65

(a) Der Umstand, dass der SSW seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts durch Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) im gesamten Land wählbar ist, steht seiner Eigenschaft als Partei der dänischen Minderheit nicht entgegen.

66

Allein die Änderung des Wahlrechts kann den Status des SSW als Minderheitenpartei nicht beeinflussen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004 - 2 BvL 18/02 -, NVwZ 2005, 205 ff. = NordÖR 2005, 19 ff., Juris Rn. 25 ff.).

Es läge sonst in der Hand der Mehrheit, durch ein entsprechendes Wahlrecht den Status der Minderheitenpartei aufzuheben. Der SSW hatte sich im Übrigen ausdrücklich gegen die Wahlrechtsänderung ausgesprochen

(vgl. Landtags-Drucksache 14/39, PlPr 14/37, S. 2449 – Zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des LWahlG, Redebeitrag der Abgeordneten Spoorendonk –).

67

Zudem werden Direktkandidatinnen und Direktkandidaten des SSW für den Landtag seit 1997 – wie zuvor – nur in Südschleswig und im Wahlkreis Pinneberg Nord (Helgoland) aufgestellt, obwohl es dem SSW schon vor der Wahlrechtsänderung möglich gewesen wäre, in allen Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004, a.a.O., Juris Rn. 27 unter Hinweis auf Ausschussprotokoll 14/32 der vorbereitenden Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses vom 13. August 1997, S. 14 sowie die Beiträge im PlPr 14/37, S. 2445 ff.).

68

Die Wahlrechtsänderung hat somit zwar zu einer Wählbarkeit der Liste des SSW im ganzen Land geführt, dessen Charakter als Partei der dänischen Minderheit aber in der politischen Wirklichkeit nicht wesentlich verändert. Die verstärkte Wahrnehmung des SSW, die im gesamten Land durch die Wählbarkeit seiner Liste entstanden ist, reicht für einen solchen grundlegenden Wandel seines Charakters als Minderheitenpartei nicht aus.

69

(b) Einschränkungen der programmatischen Ausrichtung auf minderheitenspezifische Themen – wie dies die Beschwerdeführer für angezeigt hielten – widersprächen nicht nur dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG, sondern auch seinem Sinn und Zweck, mit dem die Vorgaben der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfüllt werden sollen () und die dänische Minderheit in das allgemeinpolitische Gemeinwesen der Mehrheit integriert werden soll (). Eine Beschränkung der Wählbarkeit des SSW auf Angehörige der Minderheit stünde zudem im Widerspruch zu den spezifischen landesverfassungsrechtlichen Regelungen, in deren Kontext die Vorschrift steht ().

70

(aa) Als Ergebnis der deutsch-dänischen Besprechungen hat das Auswärtige Amt in der Protokollerklärung zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4) unter I. Nr. 3 ausdrücklich ausgeführt:

Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat die Bundesregierung davon unterrichtet, daß sie bereit ist:

a) darauf hinzuwirken, daß der Schleswig-Holsteinische Landtag eine Ausnahmebestimmung von der 5%-Klausel in § 3 des Schleswig-Holsteinischen Landeswahlgesetzes zu Gunsten der dänischen Minderheit baldmöglichst beschließt; (…).

Dem ist der schleswig-holsteinische Gesetzgeber nachgekommen, indem er mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) den bis heute unverändert geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG eingefügt hat.

71

(bb) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG will entsprechend dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung die Repräsentanz der dänischen Minderheit als politisch bedeutsame Strömung im Parlament sichern.

72

Die Vertretung anerkannter nationaler Minderheiten ist stets politisch bedeutsam

(so auch BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff., Juris Rn. 34 und vom 13. Juni 1956 - 1 BvR 315/53 u.a. -, BVerfGE 5, 77 ff., Juris Rn. 22; Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

An der Behandlung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein nimmt die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere Dänemark, Anteil. Denn nachdem die Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Zeichnung und Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich erklärt hatte, dass unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik seien (BGBl II vom 29. Juli 1997 S. 1418), hat Dänemark seinerseits erklärt, dass das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten auf die deutsche Minderheit in Südjütland (Nordschleswig) im Königreich Dänemark Anwendung findet

(vgl. Erklärung Dänemarks vom 22. September 1997 zur Anwendung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Abdruck bei Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 553).

Durch die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag wird verhindert, dass diese sich eher einem anderen Staat (Dänemark) zugehörig fühlt, und dass durch Ausgrenzung separatistische Tendenzen entstehen. Zudem wird ermöglicht, dass die spezifischen Belange der nationalen Minderheit in den politischen Willensbildungsprozess einfließen und die von der Minderheit vertretenen Werte das Wirken des Parlaments beeinflussen können.

73

Eine Partei der dänischen Minderheit übt die ihr in der politischen Willensbildung zukommende Mittlerfunktion zwar für einen bestimmten Teil des Staatsvolkes – für diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die sich zur dänischen Minderheit bekennen – aus

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 14).

Da aber politische Auseinandersetzung und Einflussnahme einer Partei im Sinne von Art. 21 GG, dessen Grundsätze nicht nur im Bund, sondern unmittelbar auch in den Ländern gelten

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff. Juris Rn. 64 und vom 24. Januar 1984 - 2 BvH 3/83 -, BVerfGE 66, 107 ff., Juris Rn. 23 m.w.N., stRspr.),

immanent ist, muss eine Partei nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG das Ziel verfolgen, dauernd oder für längere Zeit im Bund oder Land auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen und an der Vertretung des gesamten Volkes im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag mitzuwirken

(vgl. Lenski, PartG, 1. Aufl. 2011, § 2 Rn. 7).

74

Programmatische Prägung durch die Minderheit bedeutet deshalb nicht, dass die Partei auf minderheitenspezifische Themen beschränkt werden könnte. Dem Integrationsanliegen wird nur Genüge getan, wenn die Partei der dänischen Minderheit sich nicht auf Partikularinteressen beschränkt; andernfalls wäre sie auch für die Minderheit selbst unwählbar, weil keine Teilhabe an der politischen Willensbildung angestrebt würde

(vgl. Pieroth, a.a.O., S. 28 f.).

75

Die Aussage des SSW, sich für alle Menschen in seinem Tätigkeitsgebiet einsetzen und zu allen Fragen der Landespolitik Stellung beziehen zu wollen, ist Ausdruck dieses Integrationsgedankens. Das legitime Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, wird auch von der dänischen Minderheit mitgetragen. Der Südschleswigsche Gemeinsame Rat wollte sich nach der Resolution vom 24. Januar 2011 für einen Regierungswechsel einsetzen. Dies kann als Aufforderung an den SSW seitens der dänischen Minderheit verstanden werden, sich an einem Regierungswechsel zu beteiligen.

76

(cc) Schließlich liefen Beschränkungen der Wählbarkeit dem Grundsatz der geheimen Wahl (Art. 3 Abs. 1 LV) und der Freiheit des Bekenntnisses zur Minderheit (Art. 5 Abs. 1 Halbs. 1 LV) zuwider. Da sowohl das Verlangen nach Offenbarung der gewählten Partei verboten ist

(vgl. Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 3 Rn. 71 ff.; Achterberg/ Schulte, in: von Mangoldt/ Klein/ Starck, Band 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 151 f.; Trute, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 65 ff.),

als auch eine Nachprüfung des nationalen Bekenntnisses anhand objektiver Kriterien wie etwa Abstammung oder Fremdsprachigkeit ausgeschlossen ist

(vgl. Abschnitt II Ziff. 1 der „Kieler Erklärung“ vom 26. September 1949, GVOBl S. 183 f.; von Mutius, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung, 1995, Art. 5 Rn. 5; Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10; Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 34 ff.; Lemke, Nationale Minderheiten und Volksgruppen im schleswig-holsteinischen und übrigen deutschen Verfassungsrecht, Kiel 1998, S. 242 ff.),

sind der Adressatenkreis der Parteitätigkeit und die Wählerschaft nicht im Einzelnen personell eingrenzbar.

II.

77

Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel ist mit der Landesverfassung vereinbar. Sie verletzt weder den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 LV) noch das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG) (1.). Auch die in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG festgelegte Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel ist nicht zu beanstanden. Insoweit ist Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im vorliegenden Kontext kein geeigneter Maßstab (2.). § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (3.).

78

1. Die Wahlgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestag gelten. Auf sie ist das Land nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Deshalb kann für die Auslegung von Art 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden, soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 90 m.w.N., LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 95).

79

a) Die Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlgesetz gestaltet nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV das Nähere des in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV als personalisierte Verhältniswahl festgelegten Wahlsystems aus. Dabei müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten ex ante betrachtet den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 91 ff., a.a.O., Juris Rn. 96 ff.; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41).

80

Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die in Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 42).

81

Aus der Chancengleichheit der Parteien folgt für Verhältniswahlen, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind und dass jeder Partei und Wählergruppe grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden

(vgl. BVerfGE, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris, Rn. 99, 103 und vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Rn. 79, 82; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 -, DVBl 2013, 304 ff. = NordÖR 2013, 156 ff., Juris Rn. 71, 72).

82

b) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG berührt die Wahlgleichheit in der Ausprägung als Erfolgswertgleichheit. Denn die 5%-Klausel bewirkt eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der 5%-Klausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die daran gescheitert ist. Wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überwindet, bleiben die für sie abgegebenen Stimmen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG bei der Zuteilung der Mandate unberücksichtigt. Die 5%-Klausel nimmt diesen Stimmen insoweit ihren Erfolgswert

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011 - Lv 4/11 -, NVwZ-RR 2012, 169 ff., Juris Rn. 200).

83

Zugleich wird durch die 5%-Klausel das Recht der Parteien auf Chancengleichheit berührt. Denn nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG werden von einer festen Zahl von 69 Sitzen – vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen – 34 nach dem Zweitstimmenergebnis proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwunden haben. So verfügen die im Landtag vertretenen Parteien über mehr Sitze als es ihrem Anteil an der Gesamtstimmenzahl entspricht, während die Parteien, die an der 5%-Klausel scheitern, nicht an der Sitzverteilung teilnehmen

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011, a.a.O., Juris Rn. 201).

84

c) Die Wahlgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt. Es geht um die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise

(BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 25 f., und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 97, stRspr.).

85

Differenzierungen der Wahlgleichheit bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Mit diesem Begriff ist nicht gemeint, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 142 ff., a.a.O., Juris Rn.148 ff.; so auch: BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 108 f. und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 87; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 78).

86

Da zwischen der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen ein enger Zusammenhang besteht, folgt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Chancengleichheit der Parteien ebenfalls den gleichen Maßstäben

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 86 m.w.N.).

87

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlgleichheit mit anderen verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 148).

Er hat sich bei der Bewertung, ob ein zwingender Grund von verfassungsrechtlichem Gewicht die Sperrklausel rechtfertigt, nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(vgl. BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 110 und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 89; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 80).

Er hat zu prüfen und zu beurteilen, ob eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist

(vgl. BVerfG, Urteile vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 92 und vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 126; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 102).

88

Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Gegebenheiten zu prüfen, ob die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens bezüglich der Regelung eines Quorums überschritten sind

(vgl. BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31ff., Juris Rn. 36).

Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht prüft daher lediglich, ob bei der Abwägung des Gesetzgebers und der ihr zugrundeliegenden Prognose die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber die am meisten zweckmäßige oder eine rechtspolitisch besonders erwünschte Lösung gefunden hat

(vgl. zum entsprechenden Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 63, stRspr.).

89

Sofern eine differenzierende Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, kann das Landesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung des Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet

(vgl. Urteil vom 30. August 2010, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151; BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Rn. 49, und vom 25. Juli 2012, a.a.O., Juris Rn. 63 m.w.N.)

oder im Ergebnis unangemessen die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt.

90

d) Nach diesen Maßstäben verletzt die 5%-Klausel nicht die Gleichheit der Wahl und nicht die Chancengleichheit der Parteien.

91

aa) Da die Sperrklausel nicht in der Landesverfassung sondern einfachgesetzlich in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelt ist

(vgl. Diskussion des schleswig-holsteinischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassungsreform 1990: Ausschussprotokolle Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“, z.B. Sitzung vom 21. April 1989 12/6, S. 18 ff. und vom 2. Juni 1989 12/11, S. 10),

bedarf es hoher Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Allein der Umstand, dass die Sperrklausel keinen unmittelbaren Verfassungsrang hat, macht sie jedoch nicht verfassungswidrig.

92

bb) Verfassungsrechtlich legitimierte Gründe, die der Wahlgleichheit die Waage halten können, sind die Funktionsfähigkeit des Landtages und die Integrationsfunktion der Parteien.

93

(1) Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist im Zusammenhang mit der 5%-Sperrklausel als Differenzierungsgrund bei Landtags- und Bundestagswahlen anerkannt. Dies ist begründet durch die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 151, a.a.O., Juris Rn. 158; vgl. auch BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 11. August 1954, a.a.O., Juris Rn. 36 f.; vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 28; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 52 ff., und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, VerfGHE BY 59, 125 ff., Juris Rn. 24; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, LVerfGE 6, 28 ff., Juris Rn. 10; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 – St 4/99 -, StGHE BR 6, 253 ff., Juris Rn. 55; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010- 2/09, StGH 2/09 -, NdsVBl 2011, 77 f., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteil vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, LKRZ 2012, 209 ff., Juris Rn. 36 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 47, 50; Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41).

94

Diese Einschätzung ist bundesdeutsche Verfassungstradition im Bund und in allen Ländern. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu acht der sechzehn Landtage in der Bundesrepublik Deutschland gilt die Sperrklausel auch, ohne in der Verfassung verankert zu sein

(§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG; § 3 Abs. 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz; § 5 Abs. 2 Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft; § 4 Abs. 1 Landeswahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern; § 33 Abs. 2 Landeswahlgesetz Nordrhein-Westfalen; § 38 Abs. 1 Saarländisches Landtagswahlgesetz; § 6 Abs. 1 Sächsisches Wahlgesetz; § 35 Abs. 3 Wahlgesetz des Landes Sachsen-Anhalt und § 3 Abs. 1 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein).

In den anderen acht Ländern ist die Sperrklausel durch die Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben

(Art. 14 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Bayern; Art. 39 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 75 Abs. 3 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 8 Abs. 3 Niedersächsische Verfassung und Art. 49 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Thüringen)

oder zugelassen

(Art. 28 Abs. 3 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 75 Abs. 3 Verfassung des Landes Hessen und Art. 80 Abs. 4 Verfassung für Rheinland-Pfalz).

95

Ihre Zulässigkeit für den Deutschen Bundestag und die Landtage ist bisher durch die Verfassungsgerichte bestätigt worden

(BVerfG, Urteile vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46, und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 53 ff.; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, a.a.O., Juris Rn. 24 f.; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, a.a.O., Juris Rn. 11 ff.; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 - St 4/99 -, a.a.O., Juris Rn. 54 ff.; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010, a.a.O., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteile vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, a.a.O., Juris Rn. 36 ff., und vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, U.A. S. 7 ff.).

96

Die Sperrklausel kann auch in Schleswig-Holstein weiterhin gelten. Denn die Annahme des Gesetzgebers ist hinreichend plausibel, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments nur gewährleistet ist, wenn durch stabile Mehrheiten die Regierungsbildung, Gesetzgebung und Aufstellung des Haushalts sichergestellt sind. Ohne Sperrklausel wäre zwar ein genaueres Abbild des Wählervotums im Parlament gegeben, es zögen aber mit größerer Wahrscheinlichkeit partikulare Interessen und nur einzelne Programmpunkte vertretende kleine Parteien in den Landtag ein. Bei einer Aufsplitterung der im Parlament vertretenen Kräfte wäre es hinreichend wahrscheinlich, dass die Handlungs- und Funktionsfähigkeit beeinträchtigt würde, weil stabile Mehrheiten, die kontinuierliches Arbeiten ermöglichen, nicht gewährleistet wären. Dadurch könnte die Demokratie gefährdet werden, in der Meinungen und Willensäußerungen des Volkes nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern auch in staatliches Handeln umgesetzt werden müssen.

97

Soweit dagegen angeführt wird, auch unter Einbeziehung von Kleinstparteien sei eine effektive Staatstätigkeit – ggf. mit stets wechselnden Mehrheiten – möglich, trifft dies auf den Landtag nicht zu. Insbesondere bei der Bildung und Tätigkeit der Regierung, die das dauernde Vertrauen des Landtages benötigt (Art. 35, 36 LV), und bei der Haushaltswirtschaft kommt es darauf an, dass sich im Landtag längerfristig verlässliche Mehrheiten mit einem kohärenten Programm bilden können. Auch aus diesem Grund ist eine fünfjährige Wahlperiode festgesetzt (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 LV).

98

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und von Landesverfassungsgerichten aus jüngerer Zeit, wonach die Sperrklauseln bei Kommunalwahlen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff. zu Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein; StGH Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 - St 2/08 - zur Sperrklausel in Bremerhaven, NordÖR 2009, 251 ff.; VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 - 22/05 - zu Kommunalwahlen in Thüringen, NVwZ-RR 2009, 1 ff. und LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 - zur Wahl zu den Bezirksversammlungen, NordÖR 2013, 304 ff.)

und bei der Wahl der deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff.)

für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist nicht auf das Landtagswahlrecht übertragbar. Denn sowohl bei Europawahlen als auch bei Kommunalwahlen besteht eine andere Interessenlage als bei Landtagswahlen. Die auf europäischer und kommunaler Ebene gewählten Vertretungen haben anders als der Landtag, der die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten zu wählen hat (vgl. Art. 26 Abs. 2 LV) und für die Gesetzgebung zuständig ist (vgl. Art. 37 Abs. 2 LV), keine vergleichbare Kreations- und Gesetzgebungsfunktion

(so auch Morlok/ Kühr, JuS 2012, 385 <391>).

99

Dem Bestreben, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, kann nicht entgegengehalten werden, die Gesetzgebungstätigkeit des Landtages sei von minderer Bedeutung

(so aber Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, S. 282 f.).

Die demokratisch gebundene und rechtsstaatlich verfasste Staatsgewalt der Länder wird in Art. 28 Abs. 1, Art. 30, 51, 70, 83, 92 und 109 GG ausdrücklich hervorgehoben. Die Gesetzgebung des Landes zum Beispiel im Haushaltsrecht, im Kommunalrecht, im Polizei- und Ordnungsrecht sowie im Schul- und Hochschulrecht ist notwendig, um die Aufrechterhaltung des Gliedstaates Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.

100

Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber für die Wahl zum Europäischen Parlament herausgestellt, es fehle an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, weil das Europäische Parlament keine Unionsregierung wähle, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre; ebenso wenig seien die Gesetzgebung der Union und die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 118).

101

Bezogen auf die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein hat das Bundesverfassungsgericht die 5%-Klausel für verfassungswidrig erklärt, weil diese nicht zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretungen und Kreistage erforderlich sei. Denn diese übten anders als staatliche Parlamente keine Gesetzgebungstätigkeit aus, für die klare Mehrheiten zur Sicherung einer politisch aktionsfähigen Regierung unentbehrlich seien. Die kommunalen Vertretungsorgane hätten auch keine Kreationsfunktion für ein der Regierung vergleichbares Organ und schließlich unterlägen ihre Entscheidungen der Rechtsaufsicht

(BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 123).

102

Beide Entscheidungen sind nicht unumstritten und zwar einerseits im Hinblick auf die wichtigen Funktionen des Europäischen Parlaments gerade nach dem Vertrag von Lissabon

(vgl. BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., abweichende Meinung, Juris Rn. 147 ff.; Schönberger, JZ 2012, 80 ff.; Geerlings/ Hamacher, DÖV 2012, 671 <675 ff.>)

und andererseits auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Gefahr der Zersplitterung, die eine gemeinwohlverträgliche Arbeit der kommunalen Volksvertretung etwa im Zusammenhang mit dem Erlass der Haushaltssatzung, der Grundlage gemeindlicher Politik, gefährden könnte

(vgl. Theis, KommJur 2010, 168 <169 ff.>).

103

(2) Legitimer Zweck der 5%-Klausel ist zudem die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44, 53),

um der Parteienzersplitterung vorzubeugen und funktionsfähige Verfassungsorgane bilden zu können

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 35; § 20 Rn. 8).

Insoweit wird die Integrationsfunktion der Parteien unterstützt, die durch die Sperrklausel angehalten werden sollen, Interessen und politische Strömungen zu bündeln und zu strukturieren.

104

cc) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

105

(1) Die 5%-Klausel ist geeignet, die mit ihr verfolgten legitimen Zwecke zu fördern, indem sie den vermehrten Einzug kleinerer und nicht auf stärkere Zustimmung angelegter Parteien in den Landtag verhindert.

106

(2) Die bisherige Einschätzung des Landtages, die 5%-Klausel sei auch in Zukunft erforderlich, um einer zu erwartenden Funktionsstörung des Landtages entgegenzuwirken, ist derzeit nicht zu beanstanden. Einerseits ist es neuen Parteien – etwa der Partei DIE LINKE in der 17. Wahlperiode und den PIRATEN in der 18. Wahlperiode – trotz der 5%-Klausel gelungen, in den Landtag einzuziehen. Andererseits hat die Hürde verhindert, dass daneben weitere kleinere Parteien mit einem oder zwei Sitzen in den Landtag eingezogen wären und zu einer Zersplitterung beigetragen hätten.

107

Die Einführung einer zweiten Listenstimme im Sinne einer Ersatz- bzw. Eventualstimme, die nur dann zu berücksichtigen wäre, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei unter der 5%-Klausel bliebe

(vgl. Linck, DÖV 1984, 884 ff.; Wenner, a.a.O., S. 412 ff.),

ist kein gleich geeignetes milderes Mittel. Denn dieses Modell bedeutete eine Änderung des Konzepts des geltenden Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl durch Verstärkung der Erfolgschancen der großen Parteien.

108

Es unterliegt vielmehr dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, ob zur Zweckerreichung eine 5%-Klausel, eine niedrigere Sperrklausel oder aber andere Milderungsmaßnahmen in Betracht kommen

(so auch Linck, a.a.O., S. 884 und von Arnim, DÖV 2012, 224 <225>, die die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel nicht bezweifeln und Milderungsmaßnahmen dem politischen Ermessen zuschreiben).

109

(3) Die Sperrklausel ist auch angemessen. Das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein hat eine Sperrklausel von 7,5% als unangemessen und eine Sperrklausel von 5% als angemessen angesehen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 152 ff.)

und diese Auffassung auch für den Deutschen Bundestag vertreten

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 54).

Das erkennende Gericht hält an dieser Auffassung für den jetzigen Zeitpunkt fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits die Notwendigkeit aufgezeigt, die Sperrklausel in der jeweiligen politischen Situation zu bewerten, als es ausgeführt hat, es müssten „ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen“

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, a.a.O., Juris Rn. 153).

110

Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5%-Hürde zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat

(BVerfG, Urteile vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90 und vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 64 m.w.N.).

Der Prüfpflicht kommt der Schleswig-Holsteinische Landtag auf Gesetzesinitiative der PIRATEN zur Abschaffung der 5%-Klausel (vgl. Landtags-Drucksache 18/385) derzeit nach, obwohl er noch im Rahmen der Novellierung des Kommunalwahlrechts im Jahre 2008 die 5%-Klausel bei Landtagswahlen bewusst unangetastet gelassen hatte (vgl. Landtags-Drucksache 16/1879, PlPr 16/79 vom 27. Februar 2008, S. 5736 ff.).

111

Da das Wahlrecht und der politische Prozess in einem Wechselverhältnis stehen, ist die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel einer empirischen Überprüfung allein mit den Mitteln der politischen Wissenschaften oder der Mathematik nicht zugänglich. Die Ergebnisse vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang zukünftiger Wahlen. Das geltende Wahlrecht wirkt auf die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten zurück. Insoweit bleibt die Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Sperrklausel eine wertende Prognoseentscheidung.

112

dd) Nichts anderes ergibt sich für die Auslegung des schleswig-holsteinischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl 1956 II S. 1880), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, und von Art. 25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte (BGBl II 1973 S. 1534), der das Recht gewährt, ohne Unterschied bei gleichen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten die Menschenrechtsübereinkommen im Range einfachen Bundesrechts. Sie sind bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – als Auslegungshilfen zu berücksichtigen. Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besonders zu berücksichtigen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, BVerfGE 111, 307 ff., Juris Rn. 30, 38).

113

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen einen weiten Spielraum der nationalen Wahlgesetzgebung anerkannt und unter anderem Sperrklauseln von 10% in der Türkei, 6% in Spanien und 5% in Lettland als vereinbar mit Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK angesehen

(vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juli 2008 - 10226/03 -, Yumak und Sadak ./. Türkei -, NVwZ-RR 2010, 81 ff.; EGMR, Entscheidung vom 7. Juni 2001 - 56618/00 -, Federación Nacionalista Canaria ./. Spanien, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, 433 <443>; EGMR, Entscheidung vom 29. November 2007 - 10547/07 u.a. -, Partija „Jaunie Demokrati“ u. Partija „Musu Zeme ./. Lettland, http://www.hudoc.echr.coe.int., unter „EN DROIT“ A.2 b>).

Dabei wurden jedenfalls keine strengeren Maßstäbe an die Rechtfertigung von Sperrklauseln angelegt als nach dem deutschen Verfassungsrecht.

114

2. Die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) verstößt nicht gegen Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.Ungeachtet der Frage, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Zusammenhang mit Landtagswahlen Anwendung findet, oder die Wahlrechtsgleichheit demgegenüber lex specialis ist

(vgl. Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 43),

ist die Norm schon tatbestandlich nicht einschlägig. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit im vorliegenden Kontext folgt jedoch weder aus der Abstammung oder Herkunft einer Person, noch aus ihrer politischen Anschauung, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit

(vgl. Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10).

Letzteres ist kein verbotenes Differenzierungskriterium im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

115

3. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG als Rückausnahme von der Einschränkung der Berücksichtigung aller Stimmen bei der Mandatsverteilung berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien (a). Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (b).

116

a) Die Zweitstimme derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei der dänischen Minderheit wählen, die im Ergebnis die Sperrklausel nicht erreicht, hat einen höheren Erfolgswert als eine Stimme, die für eine andere Partei abgegeben wurde, die die Sperrklausel ebenfalls nicht erreicht. Die für eine Partei der dänischen Minderheit abgegebene Zweitstimme wird in jedem Fall berücksichtigt, wenn die Partei so viele Stimmen erzielt, dass ihr bei der Sitzverteilung ein Mandat zugerechnet werden kann. Die Zweitstimme dieser Wählerinnen und Wähler wird mit den Stimmen gleich behandelt, die für die Parteien abgegeben werden, die die Sperrklausel überwinden.

117

Auch für eine Rückausnahme, das heißt für eine Ausnahme von einem zulässigen Quorum, gelten die oben unter C.II.1.c) (Rn. 84 ff.) beschriebenen Grundsätze der Zulässigkeit von Differenzierungen bei Vorliegen von Gründen, die durch die Verfassung legitimiert sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückausnahme ist der Kontext der Sperrklausel und ihrer Rechtfertigung zu berücksichtigen.

118

Das Bundesverfassungsgericht hat zur schleswig-holsteinischen Regelung entschieden, dass es dem Gesetzgeber freisteht, von einem zulässigen Quorum Ausnahmen zu machen, wenn ein zureichender Grund dafür gegeben ist

(BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff., Juris Rn. 37).

Innerhalb des Quorums ist es dem Gesetzgeber überlassen, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 47 ff.).

119

Dabei ist die konkrete politische Situation zu beachten, zu der die Existenz von nationalen Minderheiten und ihre regionale Verteilung gehören

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 146, 158 und vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

120

Auch in anderen Zusammenhängen hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von einer unterschiedslos für das Wahlgebiet geltenden Sperrklausel gefordert oder gebilligt. So hat es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl nach der Wiedervereinigung gefordert, dass der Gesetzgeber berücksichtigt, dass besondere Umstände ein Quorum unzulässig werden lassen können. Regelungen, mit denen der Gesetzgeber an einer Sperrklausel festhält, aber ihre Auswirkungen mildert, müssen ihrerseits mit der Verfassung vereinbar sein und den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit genügen

(BVerfG, Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Leitsatz 2b).

121

Die Grundmandatsklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, nach der eine Partei auch dann am Verhältnisausgleich teilnimmt, wenn sie in drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG = § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG a.F.), hat das Bundesverfassungsgericht als zulässige Ausnahme vom Quorum angesehen. Eine entsprechende Regelung ist – für den Erwerb eines Direktmandats – auch im schleswig-holsteinischen Wahlrecht in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG enthalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass der Zugang zum Sitzverteilungsverfahren auch von mehreren alternativen Hürden abhängig gemacht werden darf, soweit dadurch keine höhere Sperrwirkung als durch eine 5%-Klausel erzeugt wird. Eine weitere Zugangsmöglichkeit nimmt den durch eine Sperrklausel bewirkten Eingriff in die Wahlgleichheit teilweise zurück und schwächt dessen Intensität ab. Die weitere Differenzierung bewirkt eine neue Ungleichheit und bedarf daher ihrerseits rechtfertigender Gründe. Dabei kann allerdings die Abmilderung der Intensität der Sperrklausel in Rechnung gestellt werden

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn 45 f.).

122

Davon ausgehend bestehen an die Rechtfertigung von Ausnahmen von der Sperrklausel zumindest keine höheren Anforderungen als an die Rechtfertigung der Sperrklausel selbst. Die Ausnahme kann vielmehr dazu beitragen, die Legitimation der Sperrklausel selbst zu sichern, indem sie Wirkungen der Sperrklausel abmildert, durch welche die Integrationsfunktion der Wahl oder andere Verfassungswerte gefährdet werden

(vgl. zur Milderung der Auswirkungen der 5%-Klausel auf Bundesebene: BVerfG, Urteil vom 29. September 1990, Juris Rn. 68 ff.).

123

Zudem ist die Rückausnahme für die Parteien der dänischen Minderheit jedenfalls durch zwingende Gründe gerechtfertigt, die in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein verankert sind.

124

b) Die Regelung zugunsten von Parteien der dänischen Minderheit – derzeit des SSW – ist durch die Schutzpflicht des Landes für die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit nach Art. 5 Abs. 2 LV legitimiert (aa-bb) und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (cc).

125

aa) Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV stellt die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten unter den Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Der nationalen dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe wird der Schutz der politischen Mitwirkung, der ihnen schon nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV zusteht, durch Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ausdrücklich als „Anspruch auf Schutz“ und zudem als „Anspruch auf Förderung“ zugebilligt.

126

Die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit ist ein Verfassungsgut von hohem Rang, dessen Schutz und Förderung dem Land aufgegeben ist. Es ist insofern geeignet, den die Sperrklausel begründenden Erwägungen sowie dem Anspruch konkurrierender Parteien auf Gleichbehandlung die Waage zu halten und als hinreichender und zwingender Grund für eine Rückausnahme anerkannt zu werden. Ob es sich im Übrigen bei Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV um eine nur objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung handelt

(so Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 19; Wuttke, Verfassungsrecht, in: Schmalz/ Ewer/ von Mutius/ Schmidt-Jortzig, Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, Rn. 28),

oder ob sich aus dem Wortlaut („Anspruch“) auch ein subjektives Recht der Gruppe oder von Einzelnen ergibt

(so Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 156 ff. m.w.N.),

kann hier offen bleiben.

127

Im Sinne des Wahlrechts „zwingende“ Gründe sind nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen, sondern auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können, wie etwa die vormals in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 150).

128

Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ist die verfassungsrechtliche Verankerung der Mitwirkung und Integration der dänischen Minderheit nach dem im Jahre 1990 – bei Schaffung von Art. 5 Abs. 2 LV – vorgefundenen und erprobten Konzept des Wahlrechts. Die bereits seit 1955 geltende Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG hat dazu geführt, dass der SSW seitdem in sämtlichen Legislaturperioden im Landtag vertreten war.

129

Diese beiden Regelungen zunächst im einfachen Wahlrecht und später auch im Verfassungsrecht waren eine Reaktion darauf, dass eine politische Mitwirkung der Minderheit durch die Sperrklausel erschwert bzw. unmöglich war. Denn bei der Landtagswahl vom 12. September 1954 hatte der SSW weder die 5%-Hürde übersprungen noch ein Direktmandat erzielt

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 12. September 1954 vom 23. September 1954, ABl Nr. 40 S. 398 <401 f.>).

130

Aus den Materialien zu Art. 5 Abs. 2 LV ergibt sich, dass die in Absatz 2 Satz 1 geregelte Schutzbestimmung zugunsten der kulturellen Eigenständigkeit und zugunsten der politischen Mitwirkung speziell für die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe ausdrücklich festgeschrieben und für diese beiden Gruppen zudem ein Grundsatz der Förderung aufgestellt werden sollte. Darin sollte der verfassungspolitische Wille zum Ausdruck kommen, die historischen Gegebenheiten und die faktische Situation im Lande zu berücksichtigen

(Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses zur Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ vom 28. November 1989, Landtags-Drucksache 12/620 (neu), S. 34).

131

Aus den Protokollen des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ geht hervor, dass zunächst daran gedacht worden war, die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien der dänischen Minderheit in die Verfassung aufzunehmen, letztlich aber davon Abstand genommen wurde, weil die Sperrklausel selbst nicht in der Verfassung verankert ist (vgl. SoAVP 12/6 vom 21. April 1989, S. 19). Ausdrücklich wurden aber Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit aufgenommen (vgl. SoAVP 12/11 vom 2. Juni 1989, S. 10).

132

Der Zweck der effektiven Integration der dänischen Minderheit in das Staatsvolk kann rechtfertigen, dass die Wahlrechtsgleichheit berührt wird. Denn der Charakter der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung wird gesichert, wenn die Regelungen des Wahlrechts die parlamentarische Repräsentanz der politisch bedeutsamen Strömungen im Wahlvolk ermöglichen

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 35 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 55).

133

So hat das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche Sonderregelung als gerechtfertigt angesehen, weil sie der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments eröffnet, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt

(vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

134

bb) Dieses Verständnis von Art. 5 Abs. 2 LV wird durch die Einbindung Schleswig-Holsteins in die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland verstärkt. Art. 5 Abs. 2 LV ist im Lichte der völkerrechtlichen Bindungen des Bundes durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 und des Rahmenübereinkommens des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten (BGBl 1997 II S. 1406 ff. im Folgenden: Rahmenübereinkommen) auszulegen. Denn das Land Schleswig-Holstein ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 LV), der zur Bundestreue verpflichtet ist. Die Bundestreue besagt, dass im deutschen Bundesstaat das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht ist

(vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 - 2 BvG 1/60 u.a. -, BVerfGE 12, 205 ff., Juris Rn. 173).

135

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen haben nach der gleichzeitigen Bekanntmachung der Ergebnisse der deutsch-dänischen Besprechungen durch das Auswärtige Amt zum Inhalt, dass die Sperrklausel nicht zum Hindernis der politischen Mitwirkung der Minderheit werden darf (vgl. Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4).

136

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen sind keine völkerrechtlichen Verträge sondern von zwei Regierungen abgegebene einseitige Willenserklärungen

(vgl. Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 284),

die den auswärtigen Beziehungen des Bundes zuzurechnen sind. Solche Erklärungen können Bindungswirkung entfalten, wenn sie öffentlich und mit dem Willen zur Bindung abgegeben worden sind

(vgl. IGH , I.C.J. Reports 1974, 457 <472 f.>).

Eine solche Bindungswirkung ist nach dem Wortlaut der Erklärungen anzunehmen, zumal sich beide Regierungen bei ihrer Abgabe auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Gebot des Minderheitenschutzes nach Art. 14 EMRK (BGBl 1952 II S. 690) berufen haben. Das Land Schleswig-Holstein ist indirekt daran beteiligt gewesen und aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue weiterhin daran gebunden.

137

Der Bundesgesetzgeber hat den Inhalt der Bonn-Kopenhagener Erklärungen in die geltenden Verpflichtungen eingeordnet und sich fortdauernd gebunden. Die bereits seit dem Bundeswahlgesetz von 1953 bestehende Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien nationaler Minderheiten, die aus außenpolitischen Erwägungen im Zusammenhang mit der dänischen Minderheit in Südschleswig eingeführt worden war

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2008, § 6 Rn. 47),

besteht seitdem unverändert und wurde zuletzt in der Fassung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) in § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG beibehalten.

138

Auch die Bundesregierung fühlt sich den Bonn-Kopenhagener Erklärungen weiterhin verpflichtet. Die Bonner Erklärung vom 29. März 1955 sowie die Kieler Erklärung vom 26. September 1949 sind im Jahre 1997 in der Denkschrift der Bundesregierung zum Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich in Bezug genommen worden (vgl. Bundestags-Drucksache 13/6912, S. 21 ff.).

139

Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern und in dieser Hinsicht in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten zu berücksichtigen. Das Rahmenübereinkommen ist als internationaler Vertrag ein rechtsverbindliches Instrument

(vgl. Klebes, EuGRZ 1995, 262 <264>),

das als Bundesrecht unmittelbar gilt

(vgl. Achter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen vom 16. Juli 2008, Bundestags-Drucksache 16/10037, S. 79 f.).

140

Nach Art. 1 des Rahmenübereinkommens und seinen Begründungserwägungen ist der Schutz nationaler Minderheiten Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Rahmenübereinkommen ist, nicht anders als die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bei der Auslegung nationalen Rechts, auch nationalen Verfassungsrechts, zu berücksichtigen (vgl. oben unter C.II.1.d>dd> ).

141

Das Rahmenübereinkommen wurde im Hinblick auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Protokolle dazu abgeschlossen. Insoweit ist das Rahmenübereinkommen auch zur Interpretation des Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (BGBl 1956 II S. 1879), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, heranzuziehen. Da die Bundesregierung und die Dänische Regierung bereits die Bonn-Kopenhagener Erklärungen in den Kontext der in Art. 14 EMRK enthaltenen Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung nationaler Minderheiten gestellt haben, haben sie insoweit auch eine Abwägung auf Ebene der Menschenrechte vorgenommen.

142

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zuletzt in einer Entscheidung zum rumänischen Wahlrecht keine Bedenken gegen eine Berücksichtigung nationaler Minderheiten im Wahlrecht erkennen lassen und ausgeführt, dass diese in mehreren europäischen Ländern praktiziert wird

(vgl. EGMR, Urteil vom 2. März 2010 - 78039/01 -, Grosaru ./. Rumänien, unter www.echr.coe.int/hudoc).

143

Auch wenn die in dem Abkommen festgelegten Grundsätze keine unmittelbar geltenden Rechtssätze, sondern Handlungsaufträge für die Unterzeichnerstaaten sind (vgl. Art. 19 des Rahmenübereinkommens), bestätigen sie doch, dass Minderheitenschutz nicht auf die Gewährung formaler Gleichheit beschränkt ist, sondern ausgleichende und fördernde Maßnahmen einschließt

(ebenso VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Juni 1998 - 27/97 -, LVerfGE 8, 97 ff., Juris Rn. 120).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und insbesondere Satz 2 LV entsprechen diesem Auftrag.

144

Ein Beispiel für die Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen und die Bindung an die Bonn-Kopenhagener Erklärungen liefert die Antwort der Bundesregierung vom 14. Februar 2008 auf eine Kleine Anfrage zur finanziellen Unterstützung für den Bund Deutscher Nordschleswiger. Darin teilt die Bundesregierung unter anderem unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens mit, dass die finanzielle Förderung der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig/ Dänemark auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfolge (vgl. Bundestags-Drucksache 16/8093, S. 2).

145

In der laufenden Wahlperiode hat sich die Bundesregierung erneut ausdrücklich zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen bekannt (Staatsministerin im Auswärtigen Amt Pieper am 7. Juli 2010, Bundestags-PlPr 17/54, S. 5537 f.).

146

cc) Die Regelung durch § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

147

Das Gericht prüft neben der Frage, ob die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, lediglich, ob die Regelung zur Erreichung dieses Zieles geeignet ist, nicht das Maß des Erforderlichen überschreitet und angemessen ist; denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele wie die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 49 m.w.N.).

148

Mit welcher Regelung der Verfassungsauftrag erfüllt wird, ist vom Gesetzgeber einzuschätzen. Er hat auch die Pflicht zu beobachten, wie sich die Regelung auswirkt, ob sie im Kontext der wahlrechtlichen Regelungen und der tatsächlichen Verhältnisse geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen, und ob zugleich andere Grundsätze des Wahlrechts nicht unangemessen beeinträchtigt werden (siehe oben C.II.1.c> entsprechend zur Sperrklausel). Angesichts des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers und der von ihm zu wählenden Gesamtsystematik des Wahlrechts kann das Gericht nicht seine eigene Einschätzung von einer zweckmäßigeren Lösung an dessen Stelle setzen, sondern hat nur zu kontrollieren, ob entweder die politische Mitwirkung der Minderheit nicht mehr hinreichend geschützt wird oder ob die dazu genutzte Regelung außer Verhältnis zur Beeinträchtigung anderer Wahlrechtsgrundsätze steht.

149

(1) Die Regelung ist geeignet, den angestrebten Zweck zu erfüllen. Sie hat seit ihrem Bestehen die politische Mitwirkung der dänischen Minderheit gesichert.

150

(2) Sie ist auch erforderlich. Ein anderes gleich geeignetes Mittel ist in der gegebenen Systematik des Wahlrechts nicht ersichtlich. Die gegenwärtige Regelung verwirklicht den in Art. 3 und 10 LV enthaltenen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl und hebt nur dessen Einschränkung durch die nicht in der Verfassung geregelte Sperrklausel auf. Die Regelung sichert den Parteien der Minderheit die Möglichkeit, auch unter den Bedingungen eines regional und personell beschränkten Aktionsradius für ihre Anschauungen zu werben und stärkere Zustimmung zu ihrer Politik auch in entsprechende Mandate umzusetzen, ohne dass sie dafür die 5%-Klausel überwinden müssen. Diese Möglichkeit würde durch eine Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat verkürzt. Eine solche würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern wie die jetzige Regelung, bei der die Zahl der Abgeordneten vom Zuspruch bei den Wahlen abhängt.

151

Die Beschränkung auf ein Mandat würde zudem die Repräsentanz einer Partei der Minderheit in der arbeitsteiligen Parlamentsarbeit, insbesondere in den Ausschüssen des Landtages, einschränken. Die Möglichkeit, Einfluss auf Regierungsbildung, Gesetzgebung und Haushalt zu nehmen und Wahlkreisarbeit zu leisten, wäre geringer. Außerdem könnte eine Partei bei einer stark verminderten Chance, ein zweites oder drittes Mandat zu erringen, die Wählerinnen und Wähler der Minderheit weniger gut durch ein zum Beispiel nach politischen Strömungen innerhalb der Minderheit, Regionen oder Geschlechtern ausgewogenes Personalangebot ansprechen, sondern wäre darauf verwiesen, sich durch eine Person repräsentieren zu lassen. Die Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat würde das dem jetzigen Wahlrecht zu Grunde liegende Konzept von Schutz und Förderung politischer Mitwirkung der Minderheit nicht mehr ausfüllen. Entsprechend kann das Gericht es nicht als gleich geeignetes „milderes Mittel“ zum Schutz und zur Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit ansehen. Ob und in welcher Form ein solches anderes Wahlrecht das Verfassungsgebot von Art. 5 Abs. 2 LV erfüllen würde, war hier nicht zu entscheiden.

152

Die Beschränkung der Befreiung von der 5%-Klausel auf ein Siedlungsgebiet der Minderheit wäre ebenfalls kein gleich geeignetes Mittel, um einer auf das ganze Land bezogenen Minderheitenposition gerecht zu werden. Da der Landtag auf das gesamte Gebiet des Landes hin ausgerichtet und insoweit verantwortlich ist, ist das Vorhandensein einer originären dänischen Minderheit in Südschleswig maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Entscheidung des Landesgesetzgebers, alle Teile des Landes bei der Wahl zum Landtag in die Sonderregelung einzubeziehen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 - als obiter dictum, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff. = BVerfGK 5, 96 ff., Juris Rn. 40).

153

Wollte man eine Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit auf den nördlichen Teil des Landes beschränken, forderte man ein anderes Wahlsystem

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005, a.a.O., Juris Rn. 41; Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 39),

dessen Einführung allein dem Gesetzgeber obläge. Im Übrigen wird auch im Bundeswahlrecht die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien nationaler Minderheiten nicht auf deren Siedlungsgebiet beschränkt (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG).

154

(3) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch angemessen im Verhältnis zur Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit anderer kleiner Parteien im Vergleich zu den Parteien der dänischen Minderheit. Während für die Befreiung der Minderheitenparteien Gründe von Verfassungsrang aus Art. 5 Abs. 2 LV sprechen, unterliegen die anderen kleinen Parteien der legitimen Beschränkung durch die Sperrklausel, haben aber als (potenziell) landes- und bundesweit tätige und auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft bezogene Parteien die jeweils gleiche Chance, diese Hürde zu überschreiten.

155

Die Angemessenheit der Sonderregelung könnte dann entfallen, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch Regelungen im Wahlrecht oder Veränderungen der politischen Wirklichkeit keinen Nachteil mehr hätte, der ausgeglichen werden müsste.

156

Dass der SSW in den letzten Jahrzehnten seinen Stimmenanteil bei Landtagswahlen steigern konnte und dass möglicherweise ein Teil der für ihn abgegebenen Stimmen von Personen kam, die sich nicht oder nicht fest der dänischen Minderheit zurechnen, spricht nicht gegen die Angemessenheit der geltenden Regelung. Der SSW ist seit 1955 bisher landesweit immer unter 5% der Stimmen geblieben. Bei insgesamt beweglicherem Wahlverhalten mag die Bereitschaft in der Wählerschaft steigen, einer Partei der dänischen Minderheit die Stimme zu geben. An der im Vergleich zu anderen Parteien regionalen und personellen Einschränkung ändert sich dadurch nichts.

157

Es wird weiterhin diskutiert, ob die durch das Zweistimmenwahlrecht notwendig eingetretene Wählbarkeit des SSW im ganzen Land die Angemessenheit der geltenden Regelung beeinflusst. Der durch das Einstimmenwahlrecht vor 1997 bestehende Nachteil als Partei einer Minderheit, die nur in den Wahlkreisen ihres Tätigkeitsgebiets wählbar war, besteht nicht mehr in gleicher Weise. Die durch die im ganzen Land wählbare Liste entstandenen Chancen haben diesen Nachteil abgemildert, aber nicht entfallen lassen. Der SSW ist als eine Partei der dänischen Minderheit weiterhin nach Satzung, Parteiorganisation, Teilnahme an der Kommunalpolitik und Wahlkreiskandidaturen nur in Südschleswig und auf Helgoland vertreten. Der SSW kandidiert direkt nur in elf von 35 Wahlkreisen, in acht von diesen erzielt er mehr als 5% der Zweitstimmen. Die meisten seiner Zweitstimmen erzielt er in diesem Gebiet

(vgl. Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersichten 3 und 4).

158

Soweit das Zweistimmenwahlrecht als Problem für eine möglichst schonende Regelung zum Minderheitenschutz im Wahlrecht angesehen wird, ist im Übrigen anzumerken, dass das Zweistimmenwahlrecht zwar trotz der mit ihm verbundenen Gefahr von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine legitime Gestaltung des Wahlrechts ist, das Zweistimmenwahlrecht aber anders als der Minderheitenschutz keinen Verfassungsrang hat. Angesichts des Stellenwertes des Minderheitenschutzes in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ist diese Folge des Zweistimmenwahlrechts hinzunehmen, solange ein solches Wahlrecht besteht.

159

Eine Änderung in der politischen Wirklichkeit, die eine veränderte Beurteilung auslösen könnte, würde eintreten, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch innere Verknüpfung mit regional und politisch in der Mehrheitsgesellschaft verankerten Strömungen den durch die Sperrklausel entstehenden Nachteil so ausgleichen könnte, dass es einer wahlrechtlichen Regelung nicht mehr bedürfte. Dies wäre möglich, wenn eine Partei der dänischen Minderheit neben ihrer Verankerung in der Minderheit regional und politisch gleichermaßen in der Mehrheit verankert und an sie adressiert wäre, zum Beispiel durch den Aufbau einer über die Minderheit hinausweisenden Parteiorganisation und durch entsprechende Kandidaturen in den Wahlkreisen des ganzen Landes.

III.

160

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Auslagen werden nicht erstattet (vgl. § 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

161

Das Urteil ist hinsichtlich des Tenors und der Gründe zu C.II.3. mit 4:3 Stimmen und im Übrigen einstimmig ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum der Richter Brock und Brüning und der Richterin Hillmann
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 13. September 2013

- LVerfG 9/12 -

1

Wir können die Entscheidung hinsichtlich des Tenors und hinsichtlich der Gründe insoweit nicht mittragen, als die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen wird. Das Gericht erkennt zutreffend, dass das Minderheitenprivileg für den SSW als Rückausnahme von der 5%-Klausel an denselben Maßstäben zu messen ist wie diese. In der Rechtsprechung des Gerichts wird die Bedeutung der Wahlgleichheit für die parlamentarische Demokratie in besonderem Maße hervorgehoben. Bei Anwendung dieser Maßstäbe kommt man unserer Ansicht nach jedoch zu dem Ergebnis, dass die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel für die Sicherstellung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit im Schleswig-Holsteinischen Landtag das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet und die Gleichheit der Wahl unangemessen beeinträchtigt.

2

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ist heute im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 91, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 96).

3

Nicht zuletzt durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV werden der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV gewahrt und gestärkt sowie der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit verfassungsfest gebunden, als er der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügen muss

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 124, a.a.O., Juris Rn. 129).

4

Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Die Wahlgleichheit hat strikt formalen Charakter; sie ist einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 125, a.a.O., Juris Rn. 130).

5

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit sind aber nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, a.a.O., Juris Rn. 148).

6

„Zwingend“ sind Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche Differenzierungen, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, a.a.O., Juris Rn. 150).

7

Solche differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. In welchem Ausmaß sie noch zulässig sind, richtet sich auch nach der Intensität des Eingriffs in das Wahlrecht. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151).

8

Gemessen daran ist die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel gerechtfertigt; insoweit kann auf die zutreffenden Gründe aus der Entscheidung Bezug genommen werden.

9

Für die Rückausnahme des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten dieselben Maßstäbe, schon weil sie ihrerseits zu einer weiteren Ungleichbehandlung führt im Verhältnis der Parteien der dänischen Minderheit zu anderen – kleinen – Parteien, die das 5%-Quorum nicht erreichen. Auch die Befreiung des SSW von der Sperrklausel bedarf daher eines durch die Verfassung legitimierten, zwingenden Grundes, muss zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, darf das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen nicht überschreiten und muss angemessen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die streitbefangene Befreiung von der Sperrklausel deren Auswirkungen – anders als im Falle einer Grundmandatsklausel oder einer regionalisierten 5%-Hürde – nur für bestimmte Minderheits-, nicht aber für alle Parteien gleichermaßen abmildert.

10

Die dänische Minderheit hat nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung. In Verbindung mit Satz 1 ist davon auch die politische Mitwirkung dieser nationalen Minderheit erfasst. Ob hieraus – auch unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik – ein Anspruch auf politische Repräsentation abzuleiten ist, die das Wahlgesetz nicht allen in dieser Vorschrift genannten Minderheiten gewährt, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann der hiermit verfassungsrechtlich verankerte Minderheitenschutz ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung und den damit verbundenen Eingriff in die Gleichheit der Wahl sein. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Gründe der Entscheidung Bezug genommen werden.

11

Die vollständige Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, von der 5%-Hürde ist aber durch den Minderheitenschutz in seiner Form des Anspruchs auf politische Repräsentation nicht gerechtfertigt. Denn insofern stehen ebenso geeignete, jedoch mildere Mittel zur Verfügung. Jedenfalls ist die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG unangemessen.

12

Je umfangreicher eine Rückausnahme erfolgt, desto stärker ist die damit verbundene Ungleichbehandlung gegenüber anderen kleinen Parteien. Die vollständige Rückausnahme der Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel ist daher ein stärkerer Eingriff in die Erfolgswertgleichheit als eine partielle Befreiung, etwa durch Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat. Die Sicherstellung der politischen Repräsentation wird schon mit einem Mandat erreicht. Das Argument, die Beschränkung auf ein Mandat würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern und etwa zu einer geringeren Mitwirkung in den Ausschüssen führen, trägt nicht. Zwingend ist der Minderheitenschutz als legitimer Grund für einen Eingriff in die Wahlgleichheit nur insoweit, als die Repräsentation der Minderheit überhaupt sichergestellt, ihr also ein politisches „Sprachrohr“ gegeben wird. Auch bei nur einem Sitz erhält die nationale Minderheit jedoch diese parlamentarische Stimme. Wird der Zuspruch im Wahlvolk größer, greift einerseits die Grundmandatsklausel mit anschließendem Verhältnisausgleich und andererseits – unabhängig davon – der Verhältnisausgleich bei Erreichen des Quorums. Im Übrigen wird eine Integration der Minderheit in die Gesellschaft des Landes durch mehr Abgeordnete im Landtag ohnehin nicht stärker befördert.

13

Der Regelungsgehalt der Landesverfassung, hier Art. 5 Abs. 2 LV, ist so offen, dass daraus keine verlässlichen Rückschlüsse auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts gezogen werden können. Hätte der Verfassungsgeber eine wahlrechtliche Privilegierung bestimmter einzelner nationaler Minderheiten gewollt, hätte er eine entsprechende Regelung in der Landesverfassung treffen können. Dies hat er nicht getan; er gewährleistet vielmehr allgemein „die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen“. Hieraus lässt sich kein verfassungsrechtlich verankertes Ziel einer möglichst umfangreichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Lande ableiten. Erst der einfache Wahlgesetzgeber hat nur die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel befreit. Dabei belegt das geltende Wahlrecht selbst, dass es nicht auf größtmögliche Repräsentanz aus Gründen des Minderheitenschutzes angelegt ist. Denn Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit können ohne weiteres vollständig leerlaufen. Wenn nämlich nicht die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl erreicht wird, ist die Partei der dänischen Minderheit gar nicht im Landtag vertreten.

14

Ungeachtet dessen könnte auch eine regionalisierte Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt der Privilegierung des SSW ist ein Umstand, der außerhalb des Wahlvorgangs liegt und der zudem eine räumliche Dimension in Gestalt des angestammten Siedlungsgebiets in Südschleswig hat. Damit geht es nicht nur um eine allgemeine Rückausnahme zur Sperrklausel. Vielmehr werden durch die besondere Befreiung bestimmter Parteien, hier des SSW, neue Ungleichbehandlungen gegenüber anderen kleineren Parteien bewirkt. Diese sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Insofern erschiene es nicht systemwidrig, wenn der Gesetzgeber das wahlvorgangsfremde Merkmal nicht nur privilegierend, sondern auch limitierend bemühte.

15

Selbst wenn man die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel mit dem Gericht als erforderlich ansehen wollte, wäre sie nicht angemessen, da sie zu einer Überkompensation führt.

16

Zwar kann einer Partei der dänischen Minderheit der Wahlerfolg ebenso wenig negativ angerechnet werden wie ein in Anspruch genommenes allgemeinpolitisches Mandat oder die Beteiligung an der Landesregierung. Das alles sind Folgen der Teilnahme an Wahlen und der Repräsentanz im Landtag. Die Annahme von Abgeordnetenmandaten zweiter Klasse oder eigener Art verbietet sich mit Blick auf Art. 11 LV. Hier geht es indes um die Vorfrage des Umfangs der Vertretung im Parlament aus Gründen des Minderheitenschutzes. Das geltende Wahlrecht sieht eine allgemeine Sperrklausel vor. Dann durchbricht der Gesetzgeber das von ihm festgelegte System, wenn er den zwingenden Grund für die 5%-Klausel nicht durchhält, sondern es zum Schutz für nationale Minderheiten über das notwendige Maß hinaus aufgibt. Staats- und parteipolitisch betrachtet erschwert auch eine Minderheitenpartei die Regierungs- und Mehrheitsbildung im Parlament.

17

Die dänische Minderheit umfasst laut Angaben des Bundesministeriums des Inneren und der Landesregierung etwa 50.000 Personen

(Broschüre „Nationale Minderheiten, Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“, Bundesministerium des Innern , November 2012, S. 12 sowie http://www.schleswig-holstein.de/ Portal/DE/LandLeute/Minderheiten/Daenisch/ daenisch_node.html; abgerufen am 1. August 2013).

Damit ist derzeit von einer relevanten dänischen Minderheit auszugehen. Deswegen kann dahinstehen, wie sich die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich im Einzelnen definiert, insbesondere ob das bloße Bekenntnis hierfür ausreicht.

18

Der SSW hat 61.025 Zweitstimmen erhalten und damit 4,6 % aller gültigen Zweitstimmen, hiervon einen erheblichen Anteil in Gebieten außerhalb des Siedlungsgebietes der dänischen Minderheit

(Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersicht 4).

Zwar verbietet es sich zu erheben, wie viele dieser Wählerinnen und Wähler Angehörige der dänischen Minderheit waren. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht alle Angehörigen der dänischen Minderheit wahlberechtigt sind und nicht alle Angehörigen der Minderheit den SSW gewählt haben dürften. Vor diesem Hintergrund lassen die Zahlen und die regionale Verteilung erkennen, dass der SSW erheblichen Zuspruch von Wählerinnen und Wählern gehabt haben muss, die nicht der Minderheit angehören. Diese politische Realität darf das Gericht bei seiner Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Wahlgleichheit aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht außer Betracht lassen.

19

Wenn man dem SSW sämtliche sich aus seinem Zweitstimmenergebnis rechnerisch ergebenden Sitze zuteilt, dann profitiert er zu einem großen Teil von seinem allgemeinpolitischen Erfolg, der nicht aus seinem Minderheitenstatus herrührt. Die hiermit, also mit der Zuteilung weiterer, über einen „Sitz für die nationale Minderheit“ hinausgehender Sitze bei einem Wahlergebnis unter 5 % insbesondere gegenüber anderen kleinen Parteien verbundene Vertiefung des Eingriffs in die Gleichheit der Wahl kann vorbehaltlich anderer Instrumente wie etwa einer regionalisierten Sperrklausel nicht mit dem Minderheitenschutz gerechtfertigt werden. Die Integrationskraft von Wahlen bei der politischen Willensbildung des Volkes verlangt eine effektive parlamentarische Repräsentanz der nach dem Wählervotum bedeutsamen politischen Strömungen. Soweit einer nationalen Minderheit der Zugang zum Parlament erleichtert wird, darf dabei nicht die Relation der wahlberechtigten Minderheit zum gesamten Wahlvolk außer Acht gelassen werden.

20

Die zwingende Wählbarkeit der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, im ganzen Land ist zwar eine (Neben-)Folge der Änderung des Wahlrechts durch Einführung der Zweitstimme. Mit der Zulässigkeit dieser Systementscheidung hat es aber nicht sein Bewenden. Vielmehr ist der Gesetzgeber nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet,

eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (...). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein (...) (und) zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (...). Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse (...)

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90).

21

Dieser Beobachtungs- und Prüfpflicht ist der Wahlgesetzgeber nicht nachgekommen. Die in Folge der Einführung der Zweitstimme eingetretene Überprivilegierung ist durch das Ziel des Minderheitenschutzes nicht (mehr) gedeckt. Eine Unterstützung durch Wählerinnen und Wähler, die nicht der dänischen Minderheit zuzurechnen sind – die jedoch stattfindet, wie insbesondere das Wahlergebnis des SSW außerhalb von Südschleswig dokumentiert –, erfolgt aus allgemeinpolitischen Motiven und unterliegt damit der allgemeinen Sperrklausel. Allein der Bezug zur nationalen Minderheit rechtfertigt die Ungleichbehandlung des SSW gegenüber Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte im Zuge des Verhältnisausgleichs. Zugleich wird durch Verbindung der Partei mit einer besonderen Wählergruppe die Zulässigkeit der wahlrechtlichen Ungleichbehandlung begrenzt. Dem Wahlgesetzgeber ist verwehrt, jenseits zwingender Gründe über den Einzug von Parteien in das Parlament zu disponieren.

22

Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstößt daher in ihrer derzeitigen Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 LV. Da die Mehrheit des Gerichts die Regelung für mit der Landesverfassung vereinbar hält, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, welche Rechtsfolge der Verstoß nach sich zöge.

23

Ebenso bedarf die in der mündlichen Verhandlung angesprochene Frage, ob der „Sitz für die nationale Minderheit“ dem SSW stets, also selbst dann zugeteilt werden sollte, wenn die Partei das für ein Mandat erforderliche Zweitstimmenergebnis nicht erreicht, hier keiner Entscheidung. Sie richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber.


Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerde wird als unzulässig verworfen, soweit sie gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung gerichtet ist.

Im Übrigen wird die Wahlprüfungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet verworfen.

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014, mit dem sein Einspruch gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 zurückgewiesen wurde. In der Sache beanstandet er die in § 6 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 BWahlG normierte Fünf-Prozent-Sperrklausel, den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung eines sogenannten Eventualstimmrechts und die "verschleierte Staats- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahen Stiftungen". Durch diese Verfassungsverstöße sei das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 erheblich beeinflusst und er in seinem "Grundrecht auf gleiche Wahl" verletzt worden.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 19. November 2013 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 eingelegt. Dabei hat er vorgetragen, dass die "ungekürzte", durch keine Eventualstimme in ihren Auswirkungen gemilderte Fünf-Prozent-Hürde sowie die seiner Ansicht nach "verschleierte" Parteien- und Wahlkampffinanzierung durch staatliche Mittel für Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verfassungswidrig seien.

3

a) Die in § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG verankerte Fünf-Prozent-Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb. Bei der Bundestagswahl 2013 seien diese Grundsätze in einer Intensität beeinträchtigt worden, die es bisher nicht gegeben habe. Zugleich habe die Fünf-Prozent-Sperrklausel die Regierungsbildung jedenfalls nicht erleichtert. Die Sperrklausel sei daher in ihrer gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und folglich verfassungswidrig.

4

b) Durch die Einführung einer Eventualstimme, mit welcher der Wähler die Partei bestimmen könne, der seine Stimme zugutekommen solle, wenn die zunächst gewählte Partei an der Sperrklausel scheitere, könne im Falle der Beibehaltung einer Sperrklausel der Eingriff in die Gleichheit des Wahlrechts der Bürger erheblich gemindert werden, ohne dass die Sperrklausel ihre Funktion schlechter erfülle. Daher sei jedenfalls eine Sperrklausel ohne die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Erforderlichkeit und des Übermaßverbotes verfassungswidrig.

5

c) Von den Bundestagsparteien seien die Begrenzungen der unmittelbaren staatlichen Parteienfinanzierung in verfassungswidriger Weise durch die Umleitung von "Staatsgeld" auf ihre Parlamentsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen unterlaufen worden. Die Vergabe der Mittel erfolge ohne eigene spezialgesetzliche Regelung; ihr Volumen sei gewaltig ausgedehnt worden. Die Kontrolle der Mittelverwendung sei unzureichend. Parteifunktionäre würden als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt; diese seien in großem Umfang im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden, wie ein Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 bestätigt habe.

6

d) Die dargestellten Verfassungsverstöße hätten jeder für sich und erst recht alle zusammen das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 massiv verfälscht und sich auf die Zusammensetzung des Bundestages ausgewirkt.

7

2. Der Bundestag hat den Wahleinspruch des Beschwerdeführers - nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel - mit Beschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Der Einspruch sei zulässig, aber unbegründet. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich kein Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften und damit kein Wahlfehler entnehmen.

8

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, sei darauf hinzuweisen, dass der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens die Verfassungsmäßigkeit der für die Wahl geltenden Rechtsvorschriften nicht überprüften. Eine derartige Kontrolle sei dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Allerdings habe der Wahlprüfungsausschuss schon in zahlreichen Wahlprüfungsentscheidungen früherer Wahlperioden keinen Anlass für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gesehen. Für die Bundestagswahl 2013 gelte nichts anderes, da die Sperrklausel nicht durch veränderte Verhältnisse infrage gestellt werde. Zwar sei der Anteil der wegen der Sperrklausel nicht in die Sitzverteilung eingeflossenen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 höher als bei früheren Bundestagswahlen gewesen. Jedoch habe es sich weder um einen atypischen noch zuvor unbekannten Umstand gehandelt. Auch sei es möglich, dass dieser bei kommenden Bundestagswahlen nicht mehr auftrete. Das vom Einspruchsführer befürwortete Konzept einer Eventualstimme sei verfassungswidrig, da es gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verstoße.

9

b) Soweit der Beschwerdeführer meine, es bestehe eine "verschleierte" Staats- und Wahlkampffinanzierung der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien durch Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen, welche die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verletze sowie die Bundestagswahl erheblich beeinflusst und ihr Ergebnis verfälscht habe, liege kein Wahlfehler vor. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich nämlich nicht entnehmen, inwieweit es zu einer "verschleierten" Wahlkampffinanzierung gekommen sein solle. Er mache nicht hinreichend deutlich, inwieweit die staatliche (Teil-)Finanzierung von Abgeordnetenmitarbeitern, Fraktionen und parteinahen Stiftungen den Wahlkampf der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien finanziell befördert oder gar - im Verhältnis zu nicht im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien - zu einer Bevorzugung geführt haben solle. Solche Ausführungen wären jedoch notwendig gewesen, um zu zeigen, dass gegen geltendes Recht verstoßen worden sei. Es bestünden nämlich gesetzliche Vorgaben, die eine Wahlkampffinanzierung durch Fraktionen, Stiftungen oder den Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern ausschlössen.

II.

10

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 27. August 2014 gemäß Art. 41 Abs. 2 GG Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014 eingelegt. Er beantragt die Aufhebung des angegriffenen Bundestagsbeschlusses, die Ungültigerklärung der Bundestagswahl 2013 und die Anordnung einer Wiederholungswahl. Darüber hinaus begehrt er festzustellen, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel nach § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG in ihrer gegenwärtigen Höhe gegen die Grundrechte der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt und dass die Sperrklausel ohne gleichzeitiges Eventualstimmrecht eine übermäßige, verfassungswidrige Beeinträchtigung des Grundrechts der Wahlgleichheit darstellt. Außerdem erstrebt er die Feststellung, dass die "verschleierte Parteien- und Wahlkampffinanzierung, die durch die Übernahme von Aufgaben und Ausgaben der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen und die Errichtung eines Geflechts systematischen Missbrauchs erfolgt und die Wirkung der Sperrklausel verdoppelt", gegen die Gleichheit des Wahlrechts und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt. Schließlich beantragt der Beschwerdeführer, falls die Wahl nicht für ungültig erklärt werden sollte, festzustellen, dass sein Grundrecht auf gleiche Wahl (Art. 3 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) durch die zu hohe Sperrklausel von 5 %, durch das Fehlen eines Eventualstimmrechts und durch die verdeckte Staatsfinanzierung der Parteien via Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verletzt ist.

11

2. Zur Begründung seiner Beschwerde wiederholt und vertieft der Beschwerdeführer sein Vorbringen aus dem Wahleinspruchsverfahren.

12

a) Hinsichtlich der Fünf-Prozent-Sperrklausel macht er geltend, dass bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 15,7 % der Stimmen nicht den Parteien und Kandidaten zugutegekommen seien, für die sie abgegeben worden seien. Zwei Parteien, die FDP mit 4,8 % und die AfD mit 4,7 %, seien nur ganz knapp an der Sperrklausel gescheitert. Angesichts dieser bislang nicht dagewesenen "Verfälschung" des Wahlergebnisses sei eine neuerliche Überprüfung der Rechtfertigung der Sperrklausel erforderlich. Während die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Stimmrechts der Bürger und in das Recht der Parteien auf Chancengleichheit erheblich zugenommen habe, habe das Gewicht der die Sperrklausel rechtfertigenden Gemeinwohlgründe gegenüber früheren Situationen deutlich abgenommen. Die Fünf-Prozent-Hürde verfälsche das quantitative Verhältnis zwischen den beiden großen politischen Lagern. Das Lager der "rechten Mitte" (CDU, CSU, FDP, AfD, Freie Wähler) habe bei der Bundestagswahl 2013 52 % der Wählerstimmen erreicht, das "linke Lager" (SPD, Grüne, Linke, Piraten) nur 45 %. Trotzdem habe das "linke Lager" eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ohne Sperrklausel wäre die Bildung einer Koalition von Union und SPD, die rund vier Fünftel der Bundestagsmandate mit der Folge innehabe, dass die Opposition viele Minderheitenrechte gar nicht wahrnehmen könne, nicht erforderlich gewesen. Die Regierungsbildung hätte sich zumindest nicht schwieriger dargestellt und der Bundestag vermutlich über eine voll funktionsfähige Opposition verfügt. Vor diesem Hintergrund könne man unter Berücksichtigung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten verschärften Prüfungsmaßstabs (verschärfte Kontrolle bei "Entscheidungen in eigener Sache") nur zu dem Ergebnis gelangen, dass die Sperrklausel bei Bundestagswahlen in der gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und damit verfassungswidrig sei.

13

Eine Sperrklausel in Höhe von 5 % sei überdies nicht erforderlich und verstoße gegen den Grundsatz des milderen Mittels. Eine niedrigere Klausel von 3 oder 4 % habe eine geringere Eingriffsintensität zur Folge, ohne dass der Zweck der Sperrklausel, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern, beeinträchtigt werde. Demgegenüber könne auch nicht darauf verwiesen werden, ein Wegfall der Sperrklausel stehe einer eventuell nötig werdenden Revision dieses Wegfalls entgegen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der Linken seien für die Sperrklausel und dürften daher bei einer Verschärfung der Situation bereit sein, diese wieder einzuführen.

14

Die Sperrklausel sei auch mandatsrelevant. Bei einer auf 3 oder 4 % abgesenkten Sperrklausel wären FDP und AfD mit jeweils etwa 30 Mandaten in den Bundestag eingezogen.

15

b) Außerdem habe das Fehlen eines Eventualstimmrechts die Bundestags-wahl 2013 verfassungswidrig gemacht. Die Pflicht zur Einführung einer Eventualstimme bestehe unabhängig von der Höhe der Sperrklausel. Durch die Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme nehme nicht nur die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Wahlrechts ab; die Eventualstimme stelle auch ein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Zweckerfüllung der Sperrklausel, nämlich Ermöglichung stabiler Regierungsmehrheiten, dar.

16

Die Eröffnung der Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Das Eventualstimmrecht verletze nicht die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Höchstpersönlichkeit der Wahl. Auch stehe ihm die Forderung nach der Unbedingtheit der Stimmabgabe nicht entgegen.

17

Falls ein Eventualstimmrecht bestanden hätte, wäre das Wahlergebnis anders ausgefallen. Entweder hätten FDP und/oder AfD, die nur knapp an der Sperrklausel gescheitert seien, diese überwunden und eine "bürgerliche Mehrheit" ermöglicht oder die Union hätte allein regieren können, da mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, dass FDP- und AfD-Wähler ihre Eventualstimme mit großer Mehrheit der Union gegeben hätten.

18

c) Der Beschwerdeführer macht weiterhin eine Verletzung der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien durch die seiner Ansicht nach "verschleierte staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien" bei der Bundestagswahl 2013 geltend.

19

aa) Durch die Umleitung staatlicher Geldmittel auf Fraktionen, Abgeordneten-mitarbeiter und parteinahe Stiftungen seien die verfassungsrechtlichen Grenzen und Kontrollen der staatlichen Parteienfinanzierung - namentlich die Obergrenzen der unmittelbaren Staatsfinanzierung, der Gesetzesvorbehalt bei Entscheidungen in eigener Sache und die Einbeziehung außerparlamentarischer Parteien in die Staatsfinanzierung - ausgehebelt worden. Trotz eines strikten Gesetzesvorbehalts habe eine gewaltige Ausdehnung dieser Mittel durch die bloße Erhöhung von Haushaltsansätzen stattgefunden. Im Jahr 2013 seien für die Bundestagsfraktionen 84,6 Millionen Euro, für die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten 161,5 Millionen Euro und für parteinahe Stiftungen allein an Globalzuschüssen 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden. Die Mittel überstiegen damit die unmittelbare Staatsfinanzierung der Parteien (2013: 154,1 Mio. Euro). Für die Entwicklung der Zuschüsse an die Bundestagsfraktionen ab 1965 ergebe sich ein Erhöhungsfaktor von 53 (1965 - 2013) und unter Berücksichtigung der Gehaltsentwicklung von über 6. Für die 1968 eingeführte Mitarbeiterpauschale ergebe sich pro Abgeordneten ein Erhöhungsfaktor von 28 und unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung von mehr als 5. Die Globalzuschüsse für parteinahe Stiftungen seien seit 1967 um den Faktor 29 und die projektgebundenen Zuschüsse um den Faktor 50 (1965 - 2013) erhöht worden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien hineinwüchsen, so dass deren Finanzierungen als funktionale Äquivalente der Parteienfinanzierung anzusehen seien. Infolgedessen müssten hierfür dieselben Rahmenbedingungen gelten wie bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Die parlamentarische Praxis, die staatlichen Geldmittel für Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen ohne Obergrenzen und ohne Gesetzesvorbehalt zu erhöhen beziehungsweise erhöhen zu können, stelle ein verfassungswidriges Verfahren dar. Außerdem finde eine Kontrolle der Mittelverwendung, die verfassungsrechtlichen Vorgaben genüge, nicht statt.

20

bb) Die Bereitstellung der staatlichen Mittel in der dargestellten Höhe führe zu "gewaltigen Wettbewerbsvorteilen" der im Bundestag vertretenen Parteien.

21

(1) Partei und Fraktion bildeten eine politische Einheit. Verlautbarungen der Fraktion kämen zwangsläufig der jeweiligen Mutterpartei zugute, was dem Verwendungsverbot der Fraktionsmittel für Parteizwecke zuwiderlaufe. § 47 Abs. 3 AbgG sei verfassungswidrig. Ein Beispiel unzulässiger Öffentlichkeitsarbeit sei die Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012.

22

(2) Auch die Aktivitäten der Stiftungen seien parteipolitisch geprägt. In der Realität wüchsen Stiftungen und Parteien zu Kooperationseinheiten zusammen. Die Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien aus dem Jahr 1998 sei auf eine krasse Privilegierung der im Bundestag vertretenen Parteien gerichtet.

23

(3) Die Abgeordnetenmitarbeiter würden für Parteizwecke eingesetzt. Dabei seien die den Abgeordneten für die Beschäftigung von Mitarbeitern zur Verfügung stehenden Mittel auf monatlich bis zu 21.000 Euro pro Abgeordneten aufgebläht worden. Ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten werde im Wahlkreis verwendet. Vielfach würden Parteisekretäre und Parteigeschäftsführer als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt. Soweit sie behaupteten, ihre Parteitätigkeit in ihrer Freizeit zu erbringen, treffe dies meist nicht zu, sei aber praktisch schwer zu widerlegen.

24

Die Abgeordnetenmitarbeiter hätten in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl im Bundestag nichts Wesentliches mehr zu tun. Dies bestätige § 13 AbgG, wonach ein Abgeordneter, der im letzten Vierteljahr der Wahlperiode in den Bundestag eintrete, keinen Anspruch auf die Bezahlung von Mitarbeitern habe. Da mit Beginn der Sommerferien im Bundestag normalerweise alle Räder stillstünden, bleibe den Mitarbeitern nur die Beteiligung am Wahlkampf.

25

Demgemäß seien auch im Bundestagswahlkampf 2013 Abgeordnetenmitarbeiter in großem Umfang für Parteizwecke eingesetzt worden. Dies sei in einem Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 deutlich geworden. Darin habe der Nürnberger Bundestagsabgeordnete Bx. (SPD) erklärt, dass seine Berliner Abgeordnetenmitarbeiter zum Wahlkampf vor Ort herangezogen worden seien, weil in Berlin ja nichts mehr los sei. Dies habe der Mitarbeiter eines Aachener Bundestagsabgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bestätigt. Die Büroleiterin des Abgeordneten Bx. habe in demselben Bericht erklärt, sie mache jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf. Auch der Abgeordnete By. (CDU) habe den Wert von hauptamtlichen Beschäftigten im Wahlkampf betont. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros habe bekannt, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu machen. Der Abgeordnete Bz. (DIE LINKE) habe erklärt, dass derjenige, der seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen könne, entweder über "verdammt viele finanzielle Ressourcen" verfüge oder den Wert seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verstanden habe. Schließlich habe ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion geäußert, dass "alle Abgeordneten, wirklich alle", Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken beschäftigten.

26

Ein solcher Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sei verfassungswidrig. Er verletze das Gebot der Chancengleichheit der Parteien. Weiterer Nachweise des missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern bei der Bundestagswahl 2013 bedürfe es nicht, da hinsichtlich der Verwendung der hierfür bereitgestellten Mittel jede wirksame Kontrolle ausgeschaltet sei. Der Bundestag verwehre dem Bundesrechnungshof seit 1993 die Kontrolle der Abgeordnetenmitarbeiter und ihrer Finanzierung. Auch müsse der Abgeordnete keinerlei öffentliche Rechenschaft über die Verwendung der Mittel für Mitarbeiter und deren Einsatz ablegen. Angesichts dieser gezielt herbeigeführten Kontrolllosigkeit genügten die angeführten exemplarischen Missbrauchsfälle, um "einen Beweis des ersten Anscheins missbräuchlicher Verwendung" zu begründen.

27

cc) Geradezu abwegig sei es zu behaupten, die verschleierte Wahlkampffinanzierung habe keinen Einfluss auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 gehabt. Vielmehr sei ein solcher nach der allgemeinen Lebenserfahrung - auf die es hier ankomme - mit Sicherheit anzunehmen.

28

d) Die zu hohe Sperrklausel und das Fehlen eines Eventualstimmrechts verletzten auch das subjektive Recht des Beschwerdeführers auf Gleichheit des Wahlrechts. Ebenso verletze die verfassungswidrige Parteienfinanzierung über Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen das Recht des Beschwerdeführers auf politische Gleichheit und gleiche politische Mitwirkung. Genau wie ein Bürger in seinem Recht auf Gleichheit der Wahl und der politischen Mitwirkung durch bestimmte, sich unterschiedlich auswirkende Regelungen der steuerlichen Spendenbegünstigung diskriminiert werden könne, so sei er auch in seinem Recht auf gleiche politische Mitwirkung verletzt, wenn unter den vorhandenen Parteien einige durch die verdeckte Parteienfinanzierung verfassungswidrig benachteiligt würden.

III.

29

Mit Schreiben vom 16. September 2015 hat der Beschwerdeführer den Richter Müller gemäß § 19 BVerfGG wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und beantragt, ihn vom vorliegenden Verfahren auszuschließen. Mit Beschluss vom 19. Juli 2016 hat der Senat die Ablehnung als unbegründet zurückgewiesen (BVerfGE 142, 302).

IV.

30

1. Insbesondere aufgrund der Sendung des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 nahm die Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen die Abgeordneten By. (CDU), Bx. (SPD) und Bz. (DIE LINKE) sowie gegen die Abgeordnete H. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wegen des Verdachts der Untreue auf (Az. 276 Js 1352/14). Dieses wurde mit Verfügung vom 9. November 2015 mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

31

2. Mit Verfügung des Berichterstatters vom 9. August 2016 sind die betreffenden Akten der Staatsanwaltschaft Berlin beigezogen worden. Sie zeigen, dass im Verlauf der Ermittlungen nahezu sämtliche bei den Abgeordneten beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Zeugen vernommen wurden. Nach einem Vermerk vom 6. Juli 2015 und der Einstellungsverfügung vom 9. November 2015 ergaben sich dabei aus Sicht der Staatsanwaltschaft lediglich in geringem Umfang Anhaltspunkte für klassische wahlkampfbezogene Tätigkeiten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten oder im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit ihrer Mitarbeiter. So sollen vereinzelt im Wahlkreisbüro der Beschuldigten H. und By. Wahlkampftüten gepackt worden sein. Die für den Beschuldigten By. tätige Zeugin M. habe zudem angegeben, ihren Dienst-PC auch für Wahlkampfaktionen genutzt zu haben, weil ihr die Einwahl ihres privaten Laptops zu umständlich gewesen sei. Hinsichtlich der Beschuldigten H. habe sich ergeben, dass deren Wahlkreisbüro aus Kostengründen in einer Bürogemeinschaft mit dem Büro des Kreisverbandes der Partei betrieben worden sei, so dass hierdurch eine Trennung zwischen Partei- und Mandatsarbeit schwierig erscheine. Im Übrigen hätten die vernommenen Zeugen übereinstimmend erklärt, dass, soweit überhaupt Wahlkampftätigkeiten wahrgenommen worden seien, dies ehrenamtlich oder aufgrund eines gesondert von der Partei erteilten Auftrags außerhalb der Bürozeiten geschehen sei. Des Weiteren hätten sie ausgeführt, dass die im Beitrag des Magazins "Report Mainz" gesendeten Einstellungen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Abgeordneten bei klassischen Wahlkampftätigkeiten zeigten, überwiegend auf ausdrückliche Bitte des Fernsehteams gestellt worden seien. Anfallende Mehrarbeit im Wahlkampf gehe auf eine erhöhte Zahl von Presse- und Bürgeranfragen an den Abgeordneten sowie einen erhöhten Aufwand zur Koordination und Vorbereitung von Terminen zurück. Eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenen Anfragen sei kaum möglich.

32

3. Nach erfolgter Einsichtnahme in die staatsanwaltschaftlichen Akten hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. November 2016 Stellung genommen. Er sieht seinen Vortrag durch die Ermittlungen bestätigt.

33

a) Die Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Untreue gegen die vier Abgeordneten stehe der Annahme verfassungswidriger parteiergreifender Tätigkeiten der Mitarbeiter nicht entgegen. Im Gegenteil: Die Auswertung bestätige, dass die Mitarbeiter in verfassungswidriger Weise parteiergreifend tätig gewesen seien, indem sie eine Fülle von sogenannten "nicht-klassischen" Wahlkampfaktivitäten vorgenommen hätten. Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nur für die klassischen Wahlkampfaktivitäten interessiert, worunter sie zum Beispiel Tür-zu-Tür-Aktionen, Ankleben von Plakaten, Verteilen von Flyern und Broschüren sowie die Ansprache von Bürgern an Parteiständen in der Fußgängerzone und Parteiwerbung durch Verschenken etwa von Brezeln gefasst habe.

34

b) Hinsichtlich der anderen Aktivitäten ergebe sich aus den Ermittlungsakten, dass zahlreiche Abgeordnetenmitarbeiter in der Vorwahlzeit im Wahlkreis eingesetzt worden seien und sich dabei "im Modus Wahlkampf" befunden hätten. Von ihnen seien in ihrer Arbeitszeit Anfragen der Presse und von Bürgern beantwortet worden, wobei die allermeisten Anfragen, auch die von Bürgern, "auch immer einen Bezug zur Wahl" gehabt hätten. Die Mitarbeiter hätten außerdem Grußworte und Reden für ihre Abgeordneten ausgearbeitet. In der Hand erfahrener Mitarbeiter habe auch die Vorbereitung von Vorortterminen, Podiumsdiskussionen, Pressegesprächen und ähnlichen Terminen sowie die Koordination der Veranstaltungen und Termine - auch "klassischer" Wahlkampftermine - gelegen. Alle diese Aktivitäten, die die Mitarbeiter in ihrer staatlich bezahlten Arbeitszeit vorgenommen hätten, hätten in der Vorwahlzeit, wie die Vernehmungen ergeben hätten, bedingt durch den Wahlkampf sprunghaft zugenommen und sich zunehmend unmittelbar auf den Wahlkampf bezogen.

35

c) Hinzu komme, dass die Zweifel der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der sogenannten klassischen Wahlkampfaktivitäten der Abgeordnetenmitarbeiter allein auf Aussagen der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter beruhten. Insoweit sei der Tatbestand der Befangenheit zu besorgen. Die Aussagen seien deshalb nicht glaubhaft. Soweit die Erklärung nachgeschoben worden sei, die Mitarbeiter würden sich im Wahlkampf ehrenamtlich engagieren, handele es sich um eine bloße Schutzbehauptung. Der Beschwerdeführer beantragt deshalb, die drei Autoren des Beitrags von "Report Mainz" vom 17. September 2013 als Zeugen dafür zu vernehmen, dass die entsprechenden Szenen von ihnen nicht fiktiv gestellt worden seien, sondern den üblichen Einsatz der Mitarbeiter wiedergegeben hätten. Außerdem beantragt er, auch die Abgeordnetenmitarbeiter als Zeugen zu vernehmen, damit der Senat sich ein Bild von deren Glaubwürdigkeit machen könne.

B.

36

Die Wahlprüfungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung richtet, weil sie den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht genügt. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit eines die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 berührenden Wahlfehlers durch die Mittelzuweisung oder das Handeln der politischen Stiftungen und der im Bundestag vertretenen Parteien nicht hinreichend dargetan.

I.

37

1. Gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die das Verfahren einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. Die allgemeinen Anforderungen an verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 23 Abs. 1 BVerfGG gelten auch für Wahlprüfungsbeschwerden (vgl. BVerfGE 21, 359 <361>; 24, 252 <258>; 122, 304 <308>). Erforderlich ist demgemäß eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>; 48, 271 <276>; 58, 175 <175>; 122, 304 <308>). Die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern oder die Äußerung einer dahingehenden, nicht belegten Vermutung genügen nicht (vgl. BVerfGE 40, 11 <31>). Der Grundsatz der Amtsermittlung befreit den Beschwerdeführer ebenfalls nicht davon, die Gründe der Wahlprüfungsbeschwerde in substantiierter Weise darzulegen, mag dies im Einzelfall auch mit Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich verbunden sein (vgl. BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <378 f.>; 122, 304 <309>). Im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde soll das Substantiierungsgebot sicherstellen, dass die sich auf der Grundlage der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses ergebende Zusammensetzung des Parlaments nicht vorschnell infrage gestellt wird und dadurch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit geweckt werden. Auch wenn die Anforderungen daran, was ein Beschwerdeführer vortragen muss, um eine Prüfung der Wahl auf die von ihm beanstandeten Fehler zu erreichen, nicht überspannt werden dürfen, sind deshalb Wahlbeanstandungen, die einen konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, als unsubstantiiert zurückzuweisen (vgl. BVerfGE 85, 148 <159 f.>).

38

2. a) Wahlfehler sind alle Verstöße gegen Wahlvorschriften während des gesamten Wahlverfahrens durch Wahlorgane oder Dritte (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 103 ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 21). Als Wahlvorschriften kommen vor allem die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung in Betracht (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>). Daneben können aber auch Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 41 Rn. 103 f. ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 26).

39

Relevant sind letztlich alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 104 ). Daher können sowohl die Missachtung der Regelungen des Parteienrechts und der staatlichen Parteienfinanzierung (vgl. BVerfGE 85, 264 <284 ff.>) als auch tatsächliche Handlungen ohne explizite einfachrechtliche Grundlage wie die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (vgl. BVerfGE 44, 125 <143 ff.>) oder parteiergreifende Äußerungen von Regierungsmitgliedern (vgl. BVerfGE 138, 102 <116 ff. Rn. 49 ff.>) grundsätzlich taugliche Gegenstände eines Wahlprüfungsverfahrens sein. Lediglich Sachverhalte, die "bei Gelegenheit" einer Wahl geschehen, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (vgl. Frommer/Engelbrecht, Bundeswahlrecht - Kommentar für die Praxis, § 49, S. 2 f. <30. Lieferung 2017>).

40

b) Neben der Möglichkeit eines Wahlfehlers hat der Beschwerdeführer grundsätzlich auch die Mandatsrelevanz dieses Fehlers substantiiert darzulegen. Es muss zwar nicht der Nachweis einer Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung erbracht werden. Die nur theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Rechtsverletzung und dem Ergebnis der angefochtenen Wahl genügt jedoch nicht (vgl. Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13). Vielmehr gilt der Grundsatz der potentiellen Kausalität (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 110 ; Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13; Schreiber, DVBl 2010, S. 609 <612>). Demgemäß hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit (BVerfGE 89, 243 <254>; 89, 291 <304>) handelt.

II.

41

Die Wahlprüfungsbeschwerde genügt diesen Anforderungen an die Darlegung einer ergebnisrelevanten Störung der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag nicht, soweit sie die Zuweisung öffentlicher Mittel an politische Stiftungen (1.) und die Staatsfinanzierung der Bundestagsfraktionen, insbesondere im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit (2.), angreift.

42

1. Der Vortrag des Beschwerdeführers lässt einen Wahlfehler aufgrund des Einsatzes staatlicher Mittel durch politische Stiftungen nicht erkennen. Seine Behauptung, die Finanzzuweisungen an politische Stiftungen und deren Verwendung hätten bei der Bundestagswahl 2013 als verdeckte Parteienfinanzierung zu einer Verletzung der Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG und der Wahlrechtsgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geführt, wird durch seinen Sachvortrag nicht hinreichend belegt. Weder können diesem Vortrag konkrete, die Bundestagswahl 2013 in irgendeiner Weise beeinflussende Sachverhalte entnommen werden (a), noch setzt sich der Beschwerdeführer im erforderlichen Umfang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Eigenständigkeit politischer Stiftungen gegenüber den diesen nahestehenden Parteien auseinander (b).

43

a) Konkrete Umstände, aus denen sich die Möglichkeit einer Beeinflussung des Ablaufs und Ergebnisses der Wahl ergibt, hat der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2013 bezogen auf das Handeln der politischen Stiftungen nicht dargelegt. Dabei können seine Ausführungen zu Höhe und Steigerungsraten der Mittelzuweisungen an politische Stiftungen sowie die in diesem Zusammenhang unter den Gesichtspunkten der Transparenz und der fehlenden Beachtung des Gesetzesvorbehalts vorgetragenen verfassungsrechtlichen Einwände gegen das Verfahren der Mittelfestsetzung dahinstehen. Diese allein begründen keine Bedenken gegen die Ordnungsgemäßheit der Durchführung der Bundestagswahl 2013 und die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, da ein hinreichender Wahlbezug insoweit nicht ersichtlich ist. Vielmehr hätte der Beschwerdeführer konkret darlegen müssen, durch welche Verhaltensweisen und Aktivitäten die politischen Stiftungen auf die Bundestagswahl 2013 eingewirkt und deren Ergebnis beeinflusst haben. Daran fehlt es. Der Beschwerdeführer vermag keinerlei konkrete Initiativen der politischen Stiftungen mit Bezug auf die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 zu benennen.

44

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der allgemein gehaltenen Behauptung des Beschwerdeführers, das Handeln der politischen Stiftungen komme im Sinne einer "Kooperationseinheit" der jeweiligen Mutterpartei zugute und beeinträchtige damit den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Er lässt insoweit die auf politische Stiftungen bezogene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 73, 1 <31 ff.>; 140, 1 <38 f. Rn. 106 ff.>) außer Betracht. Das Gericht hat sich der Sache nach auch mit der Frage der "Kooperationseinheit" auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Stiftungen ihre satzungsgemäßen Aufgaben in hinreichender organisatorischer und personeller Unabhängigkeit von den ihnen nahestehenden Parteien erfüllen. Die Stiftungen und die politischen Parteien verfolgen unterschiedliche, voneinander abgrenzbare Ziele. Die politische Bildungsarbeit der Stiftungen hat sich weitgehend verselbständigt und einen hohen Grad an Offenheit erreicht. Es ist den Stiftungen verwehrt, in den Wettbewerb der politischen Parteien einzugreifen, indem sie etwa im Auftrag der und für die ihnen nahestehenden Parteien geldwerte Leistungen oder Wahlkampfhilfe erbringen (BVerfGE 73, 1 <32>). Daher stellt die Gewährung von Globalzuschüssen an politische Stiftungen keine verdeckte Parteienfinanzierung dar und verletzt nicht das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 73, 1 <31 f.>; 140, 1 <38 Rn. 106>).

45

Zu alldem verhält sich der Beschwerdeführer nicht. Seinem Vorbringen kann nicht entnommen werden, warum eine von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Beurteilung geboten sein soll. Die Behauptung des Beschwerdeführers, politische Stiftungen wüchsen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien, ist durch keinen konkreten Sachvortrag unterlegt. Dies gilt auch, soweit der Beschwerdeführer auf die sogenannte Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien von 1998 verweist, da sich hieraus für die Frage parteinütziger Verwendung gewährter Zuschüsse nichts ergibt.

46

2. Auch soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für die Bundestagsfraktionen und insbesondere deren Öffentlichkeitsarbeit wendet, fehlt es an einer hinreichenden Substantiierung der Wahlprüfungsbeschwerde. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lassen sich konkret auf die Bundestagswahl 2013 bezogene Sachverhalte nicht entnehmen (a). Seine allgemeinen Ausführungen zu einer behaupteten verdeckten Parteienfinanzierung durch die Bereitstellung von Fraktionsmitteln, einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage und zur Verfassungswidrigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen und des Verfahrens der Mittelgewährung genügen den Begründungserfordernissen ebenfalls nicht (b).

47

a) Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist der auf den Einspruch des Beschwerdeführers ergangene Beschluss des Bundestages über die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013. Dem Substantiierungsgebot gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügt der Beschwerdeführer daher nur, wenn er einen konkreten Sachverhalt vorträgt, der sich auf die Gültigkeit dieser Wahl auszuwirken vermag, weil er eine mandatsrelevante Verfälschung des Wählerwillens möglich erscheinen lässt. Diese Voraussetzung erfüllt der Beschwerdeführer hinsichtlich des Handelns der Bundestagsfraktionen nicht. Konkret verweist er insoweit lediglich auf eine Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine Aktion im Vorfeld zweier Landtagswahlen (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) handelte, genügt dieser Hinweis den Anforderungen an die Darlegung eines mandatsrelevanten Wahlfehlers bei der angegriffenen Wahl bereits deshalb nicht, weil die FDP bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 die erforderliche Stimmenzahl zur Überwindung der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht erreicht hat und dem 18. Deutschen Bundestag nicht angehört. Ansonsten fehlt es an der Darlegung jeglicher auf die Bundestagswahl 2013 bezogener Aktivitäten und Initiativen der Bundestagsfraktionen.

48

b) Auch die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Fraktionsfinanzierung als "verdeckte Parteien- und Wahlkampffinanzierung" (aa) und einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien (bb) sowie zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung und der Verwendung der Fraktionsmittel (cc) genügen den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht.

49

aa) Soweit der Beschwerdeführer darauf verweist, die Zuweisung der Fraktionsmittel stelle eine den Grundsatz der Chancengleichheit verletzende und die gesetzlichen Vorgaben der staatlichen Parteienfinanzierung missachtende "verdeckte Parteienfinanzierung" dar, lässt er die Rechtsstellung der Fraktionen und die rechtlichen Bindungen der Gewährung und Verwendung von Fraktionsmitteln außer Betracht.

50

(1) Die Fraktionen, die als ständige Gliederungen des Bundestages der "organisierten Staatlichkeit" eingefügt sind (vgl. BVerfGE 20, 56 <104>; 62, 194 <202>), steuern und erleichtern die parlamentarische Arbeit, indem sie unterschiedliche politische Positionen von Abgeordneten zu handlungs- und verständigungsfähigen Einheiten zusammenfassen, eine Arbeitsteilung unter ihren Mitgliedern organisieren, gemeinsame Initiativen vorbereiten und aufeinander abstimmen sowie die Information der Fraktionsmitglieder unterstützen. Die Finanzierung der Fraktionen mit staatlichen Zuschüssen dient der Ermöglichung und Gewährleistung dieser Arbeit (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>; 140, 1 <26 Rn. 71>).

51

(2) Die Verwendung der den Fraktionen zur Verfügung gestellten Leistungen unterliegt strikter Zweckbindung (vgl. BVerfGE 140, 1 <31 Rn. 85>). Gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 AbgG dürfen die Fraktionen die ihnen gewährten Mittel nur für Aufgaben verwenden, die ihnen nach dem Grundgesetz, dem Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages obliegen. Eine Verwendung für Parteiaufgaben ist unzulässig (§ 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG). Über die Verwendung und Herkunft der Mittel haben die Fraktionen gemäß § 52 Abs. 1 AbgG öffentlich Rechenschaft zu geben. Ihre Rechnung muss von einem im Benehmen mit dem Bundesrechnungshof bestellten Abschlussprüfer geprüft und testiert werden (§ 52 Abs. 4 Satz 1 AbgG). Gemäß § 53 Abs. 1 AbgG unterliegen die Fraktionen hinsichtlich der wirtschaftlichen und ordnungsgemäßen Verwendung der ihnen zur Verfügung gestellten Geld- und Sachmittel der Überprüfung durch den Bundesrechnungshof. Schließlich ist es den Parteien verboten, Spenden von Parlamentsfraktionen entgegenzunehmen (§ 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG). Tun sie es dennoch, haben sie das Dreifache des rechtswidrig erlangten Betrages abzuführen (§ 31c Satz 1 PartG).

52

(3) Nach dem gesetzlichen Regelungskonzept ist die Verwendung von Fraktionsmitteln somit strikt auf die Wahrnehmung von Aufgaben begrenzt, die den Fraktionen als Teil der "organisierten Staatlichkeit" zugewiesen sind. Demgegenüber sind Parteien zwar berufen, in den Bereich der institutionellen Staatlichkeit hineinzuwirken, gehören diesem aber selbst nicht an (vgl. BVerfGE 20, 56 <101>). Daher hätte der Beschwerdeführer sich näher dazu verhalten müssen, inwieweit sich die Gewährung von Fraktionsmitteln trotzdem als Akt der Parteienfinanzierung darstellt.

53

bb) Dabei kann der Beschwerdeführer sich nicht auf den Hinweis beschränken, eine Trennung zwischen parlamentarischer und parteipolitischer Arbeit sei eine Fiktion, da Fraktionen die Rolle von Ersatzparteien übernommen hätten, ihre Verlautbarungen und sonstigen Aktivitäten der jeweiligen Partei zugutekämen und dies zu gewaltigen Wettbewerbsvorteilen führe. Er verkennt insoweit, dass die Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlgleichheit einen Eingriff in die vorgefundene Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. BVerfGE 69, 92 <109>; 73, 40 <89>; 85, 264 <297>; 104, 287 <300>; 111, 382 <398>; 140, 1 <28 Rn. 76>; stRspr). Dem Beschwerdeführer ist zwar zuzugestehen, dass das Handeln der einzelnen Bundestagsfraktionen mit den jeweiligen Parteien verbunden wird, in deren Bewertung einfließt und sich damit auf die Wahlchancen der im Wettbewerb stehenden Parteien auswirken kann. Dies ist jedoch Teil des Prozesses der freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht. Sich daraus ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer des politischen Wettbewerbs sind hinzunehmen (vgl. BVerfGE 140, 1 <28 Rn. 76>; siehe auch: BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>). Etwas anderes wäre lediglich dann anzunehmen, wenn die Fraktionen die ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen in einer nicht aufgabengerechten Weise parteinützig einsetzen würden.

54

cc) Vor diesem Hintergrund kommt es auf die verfassungsrechtlichen Einwände des Beschwerdeführers gegen das Verfahren zur Festsetzung der Fraktionsmittel unter den Gesichtspunkten fehlender Obergrenzen, einer Missachtung des Gesetzesvorbehalts und fehlender Transparenz mangels eines hinreichend konkreten Wahlbezugs nicht an. Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen bestreitet und die Verfassungswidrigkeit von § 47 Abs. 3 AbgG geltend macht.

55

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher zu den Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundestagsfraktionen aufgrund § 47 Abs. 3 AbgG nicht abschließend geäußert (vgl. BVerfGE 136, 190 <193 Rn. 8>). Auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens besteht hierzu kein Anlass. Die Wahlprüfungsbeschwerde dient nicht der abstrakten Normenkontrolle wahlrechtlicher Vorschriften. Vielmehr ist sie auf die Überprüfung der Ordnungsgemäßheit einer konkreten Wahl und der Zusammensetzung des jeweiligen Bundestages gerichtet. Anlass zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm besteht im Wahlprüfungsverfahren daher nur, wenn es im Hinblick auf das Vorliegen eines konkreten Wahlfehlers auf die Gültigkeit dieser Norm ankommt. Der Beschwerdeführer hat aber keine konkreten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit oder sonstige Initiativen der Bundestagsfraktionen dargelegt, aus denen eine die Chancengleichheit verletzende und mandatsrelevante Einflussnahme auf die Bundestagswahl 2013 abgeleitet werden könnte.

56

Unbeachtlich sind daher auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe und zu den Steigerungsraten der Fraktionsmittel. Insoweit fehlt es ebenfalls an einem konkreten Wahlbezug. Ohne entsprechende Anhaltspunkte kann nicht unterstellt werden, dass die Fraktionen die ihnen zugewendeten Geld- oder Sachleistungen trotz des gesetzlichen Verbots in § 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG für Parteiaufgaben oder Wahlkampfzwecke verwendet haben. Der Beschwerdeführer genügt seiner diesbezüglichen Darlegungslast nicht. Sein Vortrag reicht über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

C.

57

Im Übrigen ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet.

58

Begründet ist eine Wahlprüfungsbeschwerde, wenn gegen Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes oder Wahlrechtsvorschriften verstoßen worden ist (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>) und dies entweder mandatsrelevant ist und zur Ungültigerklärung der Wahl führt (vgl. BVerfGE 121, 266 <289, 311>) oder zumindest eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers zur Folge hat (§ 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG). Der Beschwerdeführer rügt einen Wahlfehler in Form einer mandatsrelevanten Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG (I.). Ein derartiger Wahlfehler, der auch mandatsrelevant ist, liegt nicht vor (II.). Eine Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers durch einen Wahlfehler ist ebenfalls nicht erkennbar (III.).

I.

59

1. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger (vgl. BVerfGE 41, 399 <413>; 51, 222 <234>; 85, 148 <157 f.>; 99, 1 <13>; 135, 259 <284 Rn. 44>) und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>). Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 82, 322 <337>; 85, 264 <315>; 135, 259 <284 Rn. 44>). Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 129, 300 <317 f.>). Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE 16, 130 <139>; 95, 335 <353>). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>; 129, 300 <318>; 135, 259 <284 Rn. 45>).

60

2. Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <319>; 135, 259 <285 Rn. 48>).

61

3. a) Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82 <106>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes (vgl. BVerfGE 6, 84 <92>; 51, 222 <236>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Das bedeutet nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 1, 208 <248>; 6, 84 <92>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>; 135, 259 <286 Rn. 51>).

62

b) Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (BVerfGE 95, 408 <418>) und, damit zusammenhängend, die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 f.>; 4, 31 <40>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <236>; 82, 322 <338>; 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden (vgl. BVerfGE 120, 82 <111 f.>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>), sondern bemisst sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs. Zudem kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeitet und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhängt (vgl. BVerfGE 129, 300 <323, 326 ff.>; 135, 259 <287 Rn. 52>).

63

c) aa) Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, kollidierende Ziele mit Verfassungsrang und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 266 <303>; 131, 316 <338>). Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <420>; 121, 266 <303 f.>; 131, 316 <338 f.>). Allerdings verbleibt dem Gesetzgeber für Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit nur ein eng bemessener Spielraum (vgl. BVerfGE 95, 408 <417 f.>; 129, 300 <322>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <322 f.>; 130, 212 <229>; 135, 259 <289 Rn. 57>).

64

bb) Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugungen und Rechtspraxis Beachtung finden (vgl. BVerfGE 1, 208 <249>; 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung allerdings nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>).

65

cc) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen infrage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (vgl. BVerfGE 73, 40 <94>; 82, 322 <338 f.>; 107, 286 <294 f.>; 120, 82 <108>; 129, 300 <321 f.>; 135, 259 <287 Rn. 54>). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (vgl. BVerfGE 1, 208 <259>; 82, 322 <338>; 120, 82 <108>; 129, 300 <322>; 135, 259 <288 Rn. 54>).

II.

66

Nach diesen Maßstäben ist ein mandatsrelevanter Wahlfehler weder bezogen auf die Fünf-Prozent-Sperrklausel (1.) und den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung einer Eventualstimme (2.) noch hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 (3.) gegeben.

67

1. a) Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl des Deutschen Bundestages für verfassungskonform erachtet (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 ff.>; 4, 31 <39 ff.>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <235 ff.>; 82, 322 <337 ff.>; 95, 335 <366>; 95, 408 <417 ff.>; 120, 82 <109 ff.>; 122, 304 <314 f.>). Sie findet ihre Rechtfertigung im Wesentlichen in dem verfassungslegitimen Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern (vgl. BVerfGE 82, 322 <338>; 95, 335 <366>; 95, 408 <419>; 120, 82 <111>; 131, 316 <344>). Dies setzt die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung voraus, die durch die Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet werden kann (vgl. BVerfGE 129, 300 <335 f.>). Die Bewertung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl ist, da die Rechtfertigung der Sperrklausel sich insbesondere nach der Wahrscheinlichkeit zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der zu wählenden Volksvertretung bemisst, nicht auf die Wahl anderer parlamentarischer Vertretungen übertragbar (vgl. BVerfGE 129, 300 <321>; 135, 259 <286 f. Rn. 52>).

68

b) Die Ausführungen des Beschwerdeführers geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG abzuweichen. Weder kann davon ausgegangen werden, dass eine deren Rechtfertigung in Wegfall bringende Änderung der tatsächlichen (aa) oder rechtlichen (bb) Verhältnisse eingetreten ist, noch ist feststellbar, dass die Regelung das zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels Erforderliche überschreitet (cc).

69

aa) Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass bei der Bundestagswahl aufgrund der Sperrklausel 15,7 % der abgegebenen Stimmen nicht den gewählten, sondern anderen Parteien zugutegekommen seien. Dies habe zu einer Verfälschung des Wahlergebnisses in bisher unbekanntem Umfang geführt und die Regierungsbildung zumindest nicht erleichtert. Außerdem sei durch das knappe Scheitern von FDP und AfD die Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern verschoben worden. Aus diesem Vortrag ergibt sich keine Infragestellung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG.

70

(1) Dies gilt zunächst, soweit der Beschwerdeführer auf den sperrklauselbedingten Ausfall von 15,7 % der Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 verweist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ziel der Verhinderung einer die Funktionsfähigkeit beeinträchtigenden Zersplitterung des Parlaments die Nichtberücksichtigung der Parteien, die bei der Bundestagswahl weniger als 5 % der Stimmen erhalten haben, grundsätzlich unabhängig davon rechtfertigt, wie viele Stimmen beziehungsweise welcher Stimmenanteil insgesamt auf diese Parteien entfällt. Zwar erhöht sich die Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit, je größer die Zahl derjenigen Stimmen ist, die bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt bleiben. Insoweit ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass es sich bei 15,7 % der Stimmen um eine beachtliche, bisher nicht erreichte Größenordnung handelt. Dies allein vermag jedoch ein Zurücktreten des Ziels, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern, nicht zu begründen. Hinzu kommt, dass der Anteil von 15,7 % bei der Mandatsverteilung unberücksichtigter Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 bisher einen Einzelfall darstellt, der auf das nur knappe Scheitern zweier Parteien zurückzuführen ist. Ob und inwieweit sich Derartiges bei künftigen Bundestagswahlen wiederholt, ist nicht absehbar.

71

Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könnte möglicherweise geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl (vgl. BVerfGE 95, 408 <419> m.w.N.) beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber muss die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration der politischen Kräfte des gesamten Volkes sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 14, 121 <135 f.>; 24, 300 <341>; 41, 399 <421>; 51, 222 <236>; 74, 81 <97>; 95, 408 <419>). Dies ist auch bei der Ausgestaltung und Anwendung der Sperrklausel zu beachten. Eine Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl wird aber weder vom Beschwerdeführer behauptet, noch ist sie in sonstiger Weise erkennbar.

72

(2) Die Rechtfertigung der Sperrklausel ist, anders als der Beschwerdeführer meint, grundsätzlich unabhängig davon, wie viele Parteien mit welchem Ergebnis an der Sperrklausel scheitern. Es kann - soweit die Integrationsfunktion der Wahl nicht betroffen ist - dahinstehen, ob wenige Parteien knapp, viele Parteien deutlich oder einige deutlich und andere knapp an der Sperrklausel scheitern (bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 23 Parteien mit zusammen 6,2 % der Stimmen).

73

(3) Der Argumentation des Beschwerdeführers, es sei bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bisher nicht bekannten Verfälschung des Wahlergebnisses gekommen, liegt eine unzureichende Unterscheidung zwischen der Feststellung des Wahlergebnisses einerseits und der Mandatsverteilung andererseits zugrunde. Für die Feststellung des Wahlergebnisses ist § 6 Abs. 3 BWahlG ohne Belang. Eine "Verfälschung" des Wahlergebnisses kann daher durch die Sperrklausel nicht herbeigeführt werden. Demgegenüber bleiben bei der Mandatsverteilung die Stimmen, die auf Parteien entfallen, welche die Sperrklausel nicht überwunden haben, von vornherein außer Betracht. Die Mandatsverteilung erfolgt ausschließlich zwischen den Parteien, die die Sperrklausel überwunden haben, aufgrund der von diesen Parteien selbst erreichten Stimmenzahl.

74

(4) Soweit der Beschwerdeführer von einer sperrklauselbedingten Verschiebung der Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern ("rechte Mitte" und "linkes Lager") ausgeht, erschließt sich die Relevanz dieses Vorbringens für das Vorliegen eines Wahlfehlers nicht. Unabhängig davon, dass der vom Beschwerdeführer behauptete Bestand zweier großer politischer "Lager" zu hinterfragen wäre, ist nicht erkennbar, inwieweit die vermutete Existenz politischer Lager in der von ihm beschriebenen Zusammensetzung die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien tangieren soll. Die Bildung von Koalitionen ist nicht Teil des Wahlprozesses, sondern schließt sich an diesen an.

75

bb) Auch eine für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel relevante Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt nicht vor. Sie liegt insbesondere nicht in der vom Beschwerdeführer geltend gemachten "Verschärfung der Maßstäbe" durch das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt einer "Entscheidung in eigener Sache" (vgl. Rn. 63). Unabhängig von der Frage, ob dieser erstmals im Jahr 2008 (BVerfGE 120, 82 <105>) ausdrücklich angeführte Gesichtspunkt für eine strenge verfassungsgerichtliche Prüfung von Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit überhaupt eine Verschärfung der Maßstäbe bedeutet hat, hat das Bundesverfassungsgericht auch vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung die Verfassungskonformität der Fünf-Prozent-Sperrklausel geprüft und bestätigt (vgl. zuletzt BVerfGE 131, 316 <344>).

76

Die Notwendigkeit einer Neubewertung der Norm ergibt sich ferner nicht aus den Urteilen zur Verfassungswidrigkeit der Fünf- beziehungsweise Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, da das Gericht in diesen Entscheidungen ausdrücklich auf die Nichtübertragbarkeit der dortigen Erwägungen, die Unterschiedlichkeit der Interessenlage angesichts des Umstands, dass das Europäische Parlament keine Regierung wählt, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen ist, und vor allem auf die im Bundestagswahlrecht nicht bestehende Möglichkeit hingewiesen hat, im Falle einer Schwächung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit einer Korrektur des nationalen Europawahlrechts zu reagieren (vgl. BVerfGE 129, 300 <336>; 135, 259 <291 Rn. 61>).

77

cc) (1) Schließlich fordert entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers auch nicht der Grundsatz des milderen Mittels die Abschaffung oder zumindest die Absenkung der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Er verweist insbesondere darauf, dass eine niedrigere Sperrklausel von 3 bis 4 % eine geringere Eingriffsintensität besäße, ohne deren Zweck zu beeinträchtigen. Bei der Bundestagswahl 2013 hätte eine solche niedrigere Sperrklausel nach seiner Behauptung die Regierungsbildung und die effektivere Wahrnehmung der Oppositionsaufgaben erleichtert. Dabei verkennt der Beschwerdeführer, dass es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, eigene Zweckmäßigkeitserwägungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (vgl. BVerfGE 51, 222 <238>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Das Bundesverfassungsgericht kann, sofern eine differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 95, 408 <420>; 120, 82 <107>; 121, 266 <304>; 129, 300 <321 f.>; 131, 316 <339>; 132, 39 <48 f. Rn. 27>).

78

(2) Vor diesem Hintergrund mag dahinstehen, ob mit Blick auf die konkreten Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 eine auf 3 oder 4 % abgesenkte Sperrklausel den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit oder die Chancengleichheit der Parteien gemindert hätte, ohne die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu beeinträchtigen. Für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Lösung kommt es auf das Ergebnis einer einzelnen Bundestagswahl nicht an. Die Ergebnisse einzelner vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang künftiger Wahlen. Insoweit handelt es sich bei der Entscheidung über die Höhe einer Sperrklausel um eine wertende Prognoseentscheidung (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 111; VerfGH Saarland, Urteil vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, juris, Rn. 28). Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Festlegung einer exakten Prozentzahl, bei deren Unterschreitung eine Zersplitterung des Bundestages eintritt, nicht möglich ist.

79

Entschließt sich der Gesetzgeber zur Einführung einer Sperrklausel, darf er in aller Regel kein höheres als ein Fünf-Prozent-Quorum - bezogen auf das Wahlgebiet - begründen (vgl. BVerfGE 51, 222 <237>; 71, 81 <97>; 82, 322 <338>; 95, 408 <419>; stRspr). Innerhalb dieser Grenze unterliegt es aber seiner Entscheidung, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Es steht ihm grundsätzlich frei, auf die Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Möglichkeiten zu ergreifen (vgl. BVerfGE 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Mit der Festlegung der Höhe der Sperrklausel auf 5 % hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, die zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheint. Ob auch mit einer niedrigeren Sperrklausel dieses Ziel in gleich geeigneter Weise dauerhaft erreicht werden kann, ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber das Maß des Erforderlichen nicht beachtet hat und nach dem Grundsatz des milderen Mittels verfassungsrechtlich verpflichtet war, eine niedrigere Sperrklausel festzulegen. Vielmehr hat er den ihm gemäß Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Spielraum nicht überschritten.

80

2. Hiervon ausgehend ist auch die Einführung einer Eventualstimme für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, verfassungsrechtlich nicht geboten. Dabei kann dahinstehen, ob und inwieweit einem Eventualstimmrecht verfassungsrechtliche Bedenken unter den Gesichtspunkten der Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl sowie der Unvereinbarkeit eines bedingten Votums mit dem Demokratieprinzip entgegenstehen (vgl. dazu Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 37; Buchwald/Rauber/Grzeszick, LKRZ 2012, S. 441 <444 f.>; Damm, DÖV 2013, S. 913 <917 ff.>; Heußner, LKRZ 2014, S. 7 <9 ff.>; Linck, DÖV 1984, S. 884 <885 f.>; Zimmer, DÖV 1985, S. 101; siehe auch VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 4 ff.).

81

Einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Einführung eines Eventualstimmrechts steht jedenfalls entgegen, dass dieses zwar einerseits den mit einer Sperrklausel verbundenen Eingriff in den Grundsatz der gleichen Wahl insoweit abzumildern geeignet ist, als sich damit die Zahl der Wählerinnen und Wähler verringern ließe, die im Deutschen Bundestag nicht repräsentiert sind wenn die von ihnen mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert (vgl. VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 10). Andererseits würde die Einführung einer Eventualstimme aber die Komplexität der Wahl erhöhen, so dass eine Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen erscheint. Vor allem aber wäre die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme ebenfalls in relevantem Umfang mit Eingriffen in den Grundsatz der Wahlgleichheit, möglicherweise auch der Unmittelbarkeit der Wahl verbunden. Dies gilt hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit, falls sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme an Parteien vergeben werden, die jeweils die Sperrklausel nicht überwinden. Daneben erscheint die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme aber auch mit Blick auf die Zählwertgleichheit nicht unproblematisch: Während die Stimmen derjenigen, die eine Partei wählen, die die Sperrklausel überwindet, nur einmal gezählt werden, ist dies bei Stimmen, mit denen in erster Priorität eine Partei gewählt wird, die an der Sperrklausel scheitert, nicht der Fall. Vielmehr wären sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme gültig. Die Hauptstimme würde bei der Feststellung des Wahlergebnisses berücksichtigt, wäre im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung relevant und bliebe lediglich bei der Mandatsverteilung ohne Erfolg. Daneben wäre auch die Eventualstimme eine gültige Stimme, die beim Wahlergebnis berücksichtigt und zusätzlich bei der Mandatsverteilung Relevanz entfalten würde. Mit Blick auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl kann die Eventualstimme Probleme aufwerfen, weil letztlich andere Wähler darüber entscheiden, für wen eine Stimme abgegeben wird.

82

Vor diesem Hintergrund lässt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Pflicht zur Einführung eines Eventualstimmrechts ableiten. Angesichts der ambivalenten Wirkungen einer Verbesserung der Integrationsfunktion der Wahl einerseits und einer erhöhten Komplexität und Fehleranfälligkeit des Wahlvorgangs sowie der Herbeiführung neuer Eingriffe in die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl andererseits kann das Eventualstimmrecht nicht als zweifelsfrei "gleich geeignetes, milderes Mittel" zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments angesehen werden (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 107). Vielmehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Gestaltungsauftrags verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und Wahlrechtsgrundsätze - auch im Verhältnis zueinander - zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 131, 316 <338>; 132, 39 <48 Rn. 26> m.w.N.). Dies gilt auch für die Abwägung zwischen den Belangen der Funktionsfähigkeit des Parlaments, dem Anliegen einer umfassenden Integrationswirkung und den Geboten der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>). Es wäre demgemäß Sache des Gesetzgebers, die mit einem Eventualstimmrecht verbundenen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen und auf dieser Grundlage über dessen Einführung zu entscheiden.

83

3. Schließlich ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet, soweit der Beschwerdeführer eine mandatsrelevante Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG aufgrund des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern annimmt. Dies gilt sowohl, soweit der Beschwerdeführer sich allgemein gegen die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern während des Wahlkampfes wendet (a), als auch, soweit er deren Beteiligung am Bundestagswahlkampf 2013 rügt (b).

84

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass sich aus der Beschäftigung der Abgeordnetenmitarbeiter während des Wahlkampfes erhebliche Wettbewerbsvorteile für die im Parlament vertretenen Parteien ergäben, da deren Tätigkeit immer auch einen Bezug zur Wahl habe, kann dem ein Wahlfehler nicht entnommen werden.

85

aa) Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG liegt das Bild eines Abgeordneten zugrunde, der im Parlament durch Plenar- und Ausschusssitzungen, in der Fraktion und Partei durch inhaltliche Arbeit sowie im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit durch Veranstaltungen der verschiedensten Art, nicht zuletzt durch Wahlvorbereitungen und Wahlversammlungen in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 40, 296 <312>; 134, 141 <173 f. Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Dass der Abgeordnete bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben auf die Unterstützung von Mitarbeitern angewiesen ist, ist angesichts der Komplexität der ihm übertragenen Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeiten, der personellen Überlegenheit des Regierungsapparates und der Vielfältigkeit seiner Beanspruchung im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit evident. Daher ist die Erstattung der damit verbundenen Aufwendungen sachgerecht. § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG begrenzt diesen Erstattungsanspruch auf den mandatsbedingten Aufwand. Die hiervon losgelöste Wahrnehmung von Partei- oder Wahlkampfaufgaben ist nicht erstattungsfähig (vgl. BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 94>). Staatliche Mittel zur Beschäftigung von Mitarbeitern werden dem Abgeordneten nur zur Verfügung gestellt, soweit sich deren Tätigkeit auf die Unterstützung bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit beschränkt.

86

bb) Als Verbindungsglied zwischen Parlament und Bürger gehört es zu den Hauptaufgaben des Abgeordneten, insbesondere im eigenen Wahlkreis engen Kontakt mit der Partei, den Verbänden und nicht organisierten Bürgern zu halten (vgl. BVerfGE 134, 141 <173 Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Diese Aufgabe endet nicht mit dem Beginn des Wahlkampfes, sondern erst, wenn der Abgeordnete aus dem Parlament ausscheidet. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe umfasst der Anspruch des Bundestagsabgeordneten auf Ersatz der Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG auch den Einsatz von Mitarbeitern im Wahlkreis (vgl. BVerfGE 140, 1 <33 Rn. 93>). Dabei ist die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen auch in diesem Fall auf Tätigkeiten beschränkt, die den Abgeordneten bei der Ausübung seines Mandats unterstützen.

87

cc) Zwar ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass die Wahlkreisarbeit des Abgeordneten in die Bewertung seiner Tätigkeit einfließt und auf die Wahlchancen seiner Person und der von ihm vertretenen Partei zurückwirkt. Auch geht gegen Ende der Legislaturperiode die Beanspruchung des Abgeordneten durch Tätigkeiten im Plenum, in den Ausschüssen und den Fraktionen des Parlaments zurück, während die Beanspruchung im Wahlkreis steigt. Dies allein rechtfertigt es jedoch nicht, den Anspruch des Abgeordneten auf Ersatz seines mandatsbedingten Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG während des Wahlkampfes dem Grunde nach von vornherein in Abrede zu stellen.

88

dd) Zutreffend ist freilich die Beobachtung, dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats und der Betätigung im Wahlkampf nicht in jedem Einzelfall möglich sein wird. Dies gilt beispielsweise für die vom Beschwerdeführer aufgeführten Fälle der Beantwortung von Presse- und Bürgeranfragen in Wahlkampfzeiten oder die Koordination von Veranstaltungen und öffentlichen Terminen. Selbst wenn, wie der Beschwerdeführer vorträgt, die wahlkreisbezogenen Aktivitäten der Abgeordneten und der Umfang der an sie gerichteten Anfragen in Vorwahlzeiten sprunghaft ansteigen, hindert dies den Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter jedoch nicht, soweit im Einzelfall ein hinreichender Mandatsbezug erkennbar vorliegt. Ist dieser gegeben, ist der dienstliche Einsatz des Abgeordnetenmitarbeiters als Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats nicht zu beanstanden. Daraus sich ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Die Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seiner Mandatspflichten durch eigene Mitarbeiter und die Erstattung des damit verbundenen Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG ist auch in Wahlkampfzeiten kein Eingriff in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien. Etwas anderes kann nur gelten, soweit Abgeordnetenmitarbeiter im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit auch jenseits der Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats für Parteiaufgaben oder Wahlkampfaktivitäten eingesetzt werden.

89

b) Soweit der Beschwerdeführer eine solche Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang geltend macht, ist der behauptete Wahlfehler nicht nachgewiesen (aa). Die dafür vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände scheiden als Indizien aus, weil sie von vornherein nicht geeignet sind, einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern in diesem Wahlkampf zu belegen oder sich nicht verifizieren lassen (bb). Soweit eine punktuelle Beteiligung einzelner Abgeordnetenmitarbeiter am Bundestagswahlkampf 2013 im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit möglich erscheint, fehlt es jedenfalls an der Mandatsrelevanz dieses Verhaltens (cc).

90

aa) (1) Nehmen Abgeordnetenmitarbeiter während der Dienstzeit an Wahlkampfeinsätzen teil und wird dem Abgeordneten der dabei entstehende Aufwand ersetzt, liegt eine unzulässige Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen zu Parteizwecken vor. Dann ist zugleich ein Wahlfehler in Form einer Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG gegeben. Voraussetzung der Begründetheit einer hierauf gestützten Wahlprüfungsbeschwerde ist allerdings, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachgewiesen werden kann und dieser nach dem Grundsatz potentieller Kausalität (siehe oben B. I. 2. b) Rn. 40) Mandatsrelevanz zukommt. Die bloße Möglichkeit oder Vermutung eines derartigen Verhaltens genügt demgegenüber nicht.

91

(2) Dabei ist für die Annahme einer "Art Beweis des ersten Anscheins" kein Raum. Ihr steht entgegen, dass die durch die Wahl hervorgebrachte Volksvertretung wegen der ihr zukommenden Funktionen größtmöglichen Bestandsschutz verlangt (vgl. BVerfGE 89, 246 <253>). Daher ist das festgestellte Wahlergebnis allein dann infrage zu stellen und kommt ein Eingriff in die sich daraus ergebende Zusammensetzung des Parlaments nur in Betracht, wenn feststeht, dass die Ordnungsgemäßheit der Wahl in einer Weise gestört wurde, die sich mandatsrelevant ausgewirkt haben kann. Auch wenn die Feststellung eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten im tatsächlichen Bereich stößt, vermindert dies die Anforderungen an den Nachweis des behaupteten Wahlfehlers nicht (vgl. zur Substantiierungspflicht trotz tatsächlicher Schwierigkeiten BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <379>; 122, 304 <309>).

92

(3) Vielmehr haben die Wahlprüfungsorgane auf der Grundlage eines hinreichend substantiierten Sachvortrags das Vorliegen des behaupteten Wahlfehlers von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmen sich Inhalt und Umfang dieser Ermittlungspflicht nach der Art des beanstandeten Wahlergebnisses und des gerügten Wahlmangels (vgl. BVerfGE 85, 148 <160>). Lässt sich letztendlich nicht aufklären, ob ein Wahlfehler vorliegt oder ein vorliegender Wahlfehler sich auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben kann, bleibt die Wahlprüfungsbeschwerde ohne Erfolg (vgl. Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 32).

93

bb) Der ganz überwiegende Teil der vom Beschwerdeführer angeführten Umstände ist zum Nachweis eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 von vornherein nicht geeignet. Dies gilt für die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe, zu den Steigerungsraten und zum Verfahren der Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter (1) sowie zur unzureichenden Transparenz und Kontrolle der Mittelverwendung (2) ebenso wie für die Darlegungen zur Beschäftigung von Parteifunktionären (3) und zur Verlagerung des Schwerpunktes der Abgeordnetentätigkeit während des Wahlkampfes vom Parlament in den Wahlkreis (4). Der anonymen Äußerung eines ehemaligen Fraktionsmitarbeiters kommt kein Beweiswert zu, weil sie sich nicht verifizieren lässt (5).

94

(1) (a) Der bloße Hinweis auf die Höhe der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern insgesamt und individuell zur Verfügung gestellten Mittel und deren Steigerungsraten sowie der Vergleich der Höhe dieser Mittel mit den angeblich geringeren Wahlkampfbudgets der Abgeordneten erlauben keinen Rückschluss auf einen missbräuchlichen, während ihrer Dienstzeit erfolgten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Eine dahingehende Indizwirkung könnte allenfalls in Betracht kommen, wenn feststellbar wäre, dass Mittel in einem Umfang bereitgestellt wurden, der zur Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit nicht erforderlich und daher geeignet war, einer Verwendung für Partei- oder Wahlkampfzwecke Vorschub zu leisten (vgl. dazu BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 95>). Dazu verhält sich der Beschwerdeführer aber nicht. Auch ansonsten ist nicht erkennbar, dass die Höhe der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter einen Umfang erreicht hätte, der das zur Erstattung des mandatsbedingten Aufwandes notwendige Maß übersteigt.

95

(b) Ebenso müssen die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter außer Betracht bleiben. Selbst wenn sein Vortrag zur Verletzung des Gesetzesvorbehalts zuträfe, rechtfertigte dies nicht die Annahme, dass mit den im Bundeshaushalt ausgewiesenen Mitteln der unzulässige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 finanziert wurde. Insoweit fehlt der konkrete Bezug zu der mit der Wahlprüfungsbeschwerde angegriffenen Bundestagswahl. Die behauptete Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel vermag deren zweckwidrige Verwendung nicht nachzuweisen.

96

(2) Auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur unzureichenden Kontrolle der Mittelverwendung lassen nicht den Schluss zu, Abgeordnetenmitarbeiter seien in großem Umfang während ihrer Dienstzeit im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden. Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass eine Kontrolle der Verwendung der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern festgesetzten Mittel durch den Bundesrechnungshof seit 1993 nicht mehr stattfinde und die Abgeordneten auch ansonsten keinerlei öffentliche Rechenschaft ablegen müssten. Diese vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände erlauben aber nicht den Rückschluss auf einen umfänglichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Allenfalls sind die behaupteten Defizite geeignet, unzulässige Wahlkampfeinsätze von Abgeordnetenmitarbeitern zu erleichtern. Der hinreichende Nachweis, dass derartige Einsätze im Bundestagswahlkampf 2013 tatsächlich stattgefunden haben, kann dadurch aber nicht ersetzt werden.

97

(3) Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, Parteifunktionäre würden häufig als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt und bildeten das eigentliche organisatorische Rückgrat der Parteien. Allein aus dem Umstand, dass Abgeordnetenmitarbeiter Parteifunktionen wahrnehmen, folgt nicht, dass sie dafür in unzulässiger Weise aus öffentlichen Mitteln entlohnt werden (vgl. BVerfGE 140, 1 <35 Rn. 99>). Ebenso wenig lässt sich aus der Beschäftigung von Funktionsträgern der Partei folgern, dass diese während der Dienstzeit in unzulässiger Weise an Wahlkampfeinsätzen teilnehmen. Konkret auf einzelne Parteifunktionäre bezogene Sachverhalte oder sonstige Belege hierfür benennt der Beschwerdeführer nicht. Auch insoweit reicht sein Vortrag über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

98

(4) Ebenfalls nicht geeignet, den missbräuchlichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf zu belegen ist der allgemeine Hinweis, dass in einem Wahljahr mit Beginn der Sommerferien im Parlament "alle Räder still" stünden, während die Zahl der Anfragen, Veranstaltungen und Pressetermine stark anwachse. Allein aus dem Umstand, dass sich während der Sommerpause - insbesondere in Wahljahren - der Tätigkeitsschwerpunkt des Abgeordneten in seinem Wahlkreis befindet, folgt nicht, dass die Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit keine mandatsbezogenen Tätigkeiten erledigen, sondern Parteiaufgaben oder Wahlkampfeinsätze wahrnehmen.

99

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 13 AbgG. Auch wenn nach dieser Vorschrift im Falle des Eintritts in den Deutschen Bundestag im letzten Vierteljahr der Wahlperiode ein Anspruch auf Aufwandsentschädigung nicht besteht, lässt dies keinen Rückschluss auf den mandatsbedingten Arbeitsanfall eines längerfristig dem Bundestag angehörenden Abgeordneten zu. Erst recht erlaubt dies nicht die Unterstellung, dass Mitarbeiter längerfristig tätiger Abgeordneter in dem genannten Zeitraum jenseits der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG eingesetzt würden.

100

Ob die Behauptung des Beschwerdeführers zutrifft, ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten würde im Wahlkreis eingesetzt, kann deshalb dahinstehen. Selbst wenn dem so wäre, folgte daraus nicht, dass diese Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit Aufgaben ohne Mandatsbezug wahrgenommen und sich am Bundestagswahlkampf 2013 beteiligt haben.

101

(5) Schließlich muss die Behauptung des Beschwerdeführers, ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe geäußert, alle Abgeordneten beschäftigten ihre Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken, außer Betracht bleiben. Es handelt sich insoweit um ein anonymes Zitat aus einer Presseerklärung des SWR vom 17. September 2013. Der Beschwerdeführer hat weder den Urheber dieses Zitats benannt, noch sonstige Möglichkeiten einer Verifizierung der Aussage aufgezeigt.

102

cc) Anhaltspunkte für einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 können sich daher nur aus den im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 angesprochenen Sachverhalten und Äußerungen ergeben (1). Insoweit kann aber nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin (2) der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf während der Dienstzeit nur in sehr geringem, punktuellem Umfang als nachgewiesen angesehen werden (3). Möglichkeiten zu einer weitergehenden Aufklärung der angesprochenen Sachverhalte von Amts wegen bestehen nicht (4). Soweit überhaupt ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 angenommen werden kann, kommt dem keine Mandatsrelevanz zu (5).

103

(1) In dem Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 kommen drei Bundestagsabgeordnete und drei ihrer Mitarbeiter zu Wort, deren Aussagen für einen Einsatz der Mitarbeiter im Wahlkampf sprechen. So erklärte der Bundestagsabgeordnete Bx., dass man im Wahlkampf die Mitarbeiter im Wahlkreis zusammenziehe und alle mithelfen würden. Seine Mitarbeiterin Z. behauptete, jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen. Der Abgeordnete By. bezeichnete es als Vorteil, "jemand Erfahrenen dann auch als Hauptamtlichen zu haben", und bezog auf Nachfrage diese Aussage auch auf den Wahlkampf. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros H. gab an, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu erledigen. Der Mitarbeiter P. der (damaligen) Bundestagsabgeordneten H. verwies darauf, dass die Mitarbeiter aktuell "vor allem im Wahlkampf" eingebunden seien. Schließlich bemerkte der (damalige) Bundestagsabgeordnete Bz., wer seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgreich machen könne, habe entweder "verdammt viele finanzielle Ressourcen oder den Wert seiner Mitarbeiter nicht verstanden". In dem Bericht des Politikmagazins waren diese Aussagen unter anderem mit Bildern unterlegt, die die Mitarbeiterin H. am 10. September 2013 um kurz nach sechs Uhr morgens beim Verteilen von Brezeln und die Mitarbeiterin Z. beim Verteilen von Blumen im Rahmen einer Tür-zu-Tür-Aktion zeigten.

104

(2) Demgegenüber erklärten in dem aufgrund des "Report Mainz"-Berichts wegen des Verdachts der Untreue eingeleiteten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin die hierzu fast vollzählig vernommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Bundestagsabgeordneten übereinstimmend, dass eine Beteiligung am Wahlkampf ausschließlich ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags und außerhalb der Dienstzeit stattgefunden habe. Seitens der Abgeordneten seien entsprechende Ansprachen in deutlicher Form erfolgt. Die im Filmbeitrag gezeigten Einstellungen seien auf Bitten des Fernsehteams gestellt worden. Weiterhin äußerten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass in Wahlkampfzeiten Mehrarbeit aufgrund einer erhöhten Zahl von Presse- und Bürgeranfragen und eines größeren Aufwandes zur Koordinierung und Vorbereitung von Terminen anfalle. Dabei wurde eingeräumt, dass eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenem Aufwand nicht immer möglich sei. Zugleich wurde teilweise detailliert dargelegt, in welcher Weise versucht worden sei, eine organisatorische, personelle und räumliche Trennung zwischen Wahlkampforganisation und Wahlkreisarbeit herbeizuführen. Die Mitarbeiterin Z. gab an, ihre Aussage, zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen, habe sich auf das quantitativ gestiegene Aufkommen an Terminen und Anfragen bezogen und sei vielleicht etwas übertrieben gewesen. Auch die Büroleiterin des Abgeordneten By. erklärte, grundsätzlich seien im Wahlkreisbüro keine Wahlkampfaufgaben angefallen. Man habe mal für die gefilmte Brezelaktion Aufkleber auf Wahlkampftüten geklebt. Die Teilnahme an dieser Aktion habe auf Wunsch der Projektleiterin des SWR außerhalb der Dienstzeiten stattgefunden. Die Aussage "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit" beziehe sich auf den erhöhten Koordinationsaufwand angesichts der Fülle von Terminen und Anfragen während des Wahlkampfes.

105

Die Staatsanwaltschaft Berlin sah danach eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit nur in geringem Umfang als nachgewiesen an (Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H., Benutzung eines PCs für Wahlkampfaktionen, Betrieb eines Wahlkreisbüros in einer Bürogemeinschaft mit dem Kreisverband einer Partei) und stellte das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 9. November 2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

106

(3) Vor diesem Hintergrund kann die Behauptung des Beschwerdeführers, im Bundestagswahlkampf 2013 seien in großem Umfang unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Abgeordnetenmitarbeiter eingesetzt worden, nicht als nachgewiesen angesehen werden.

107

(a) Dies gilt bereits hinsichtlich der im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" geschilderten Einzelfälle. Zwar sprechen die in diesem Bericht getätigten Aussagen für eine intensive Wahlkampfbeteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten. Zudem vermögen die Versuche einer Relativierung dieser Aussagen durch die Mitarbeiterinnen Z. und H. in dem durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht restlos zu überzeugen. Der Annahme eines umfänglichen dienstlichen Einsatzes im Bundestagswahlkampf 2013 stehen jedoch die übereinstimmenden Aussagen der nahezu vollzählig vernommenen übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten entgegen, wonach die Beteiligung am Wahlkampf außerhalb der Dienstzeiten ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags der jeweiligen Partei erfolgt sei. Angesichts dieser nicht widerlegbaren Einlassungen teilt der Senat die Einschätzung der Ermittlungsbehörde, dass lediglich in geringem Umfang ein dienstlicher Wahlkampfeinsatz der Abgeordnetenmitarbeiter erwiesen ist.

108

(b) Hinzu kommt, dass sich der Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 auf die Beschreibung weniger Einzelfälle beschränkt. Die Übertragbarkeit der beschriebenen Sachverhalte auf die Gesamtheit der Bundestagsabgeordneten wird vom Beschwerdeführer nicht begründet, sondern lediglich unterstellt. Sie ist auch nicht in sonstiger Weise ersichtlich.

109

(4) Eine weitergehende Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen kommt nicht in Betracht, da es an tauglichen Ansatzpunkten für ergänzende Ermittlungen fehlt.

110

(a) Soweit der Beschwerdeführer die Vernehmung der verantwortlichen Autoren des "Report Mainz"-Beitrags zum Beweis der Behauptung beantragt hat, dass die im Film gezeigten Szenen nicht gestellt seien, kommt es darauf nicht an. Selbst wenn es sich entgegen der Einlassung der im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren vernommenen Personen nicht um gestellte Szenen handeln würde, könnte daraus nicht gefolgert werden, dass ein Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang stattgefunden hat. Die Autoren des Fernsehbeitrags könnten allenfalls etwas zu den von ihnen gefilmten, punktuellen Situationen sagen. Außerdem wäre damit die Behauptung der ehrenamtlichen Betätigung im Wahlkampf - jedenfalls über die konkret gefilmten Situationen hinaus - nicht widerlegt. Aus den gleichen Gründen war die vom Beschwerdeführer begehrte Vernehmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der im "Report Mainz"-Bericht gezeigten Bundestagsabgeordneten nicht geboten.

111

(b) Sonstige Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen bestehen nicht. Weitere überprüfbare Umstände, die geeignet wären, die Behauptung des Beschwerdeführers zum umfänglichen Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 zu belegen, sind weder von diesem vorgetragen noch in sonstiger Weise ersichtlich.

112

In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sich öffentlich weitgehend nicht nachvollziehen lässt. Zugleich kann der Abgeordnete bei der Wahrnehmung seines Mandats in erheblichem Umfang auf staatlich finanzierte Ressourcen zurückgreifen. Neben den für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern zur Verfügung gestellten Mitteln (2017: 212,620 Mio. Euro - vgl. Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 vom 20. Dezember 2016, BGBl I S. 3016 ff. [Haushaltsgesetz 2017], Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 411 03), die in ihrem Volumen die Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung deutlich übersteigen (2017: 143,000 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 60 , Kapitel 6002, Titel 684 03), sind insoweit auch die den Fraktionen gewährten Zuschüsse (2017: 88,097 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 684 01) und die Möglichkeiten des Abgeordneten in Rechnung zu stellen, sich der Unterstützungsleistungen der Verwaltung des Deutschen Bundestages, insbesondere des Wissenschaftlichen Dienstes, zu bedienen. Die sich aus einem ordnungsgemäßen Einsatz dieser Ressourcen ergebenden Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind zwar als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Angesichts des erheblichen Umfangs der zur Verfügung gestellten Ressourcen gebietet der Grundsatz der Chancengleichheit aber eine strikte Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben beim Einsatz dieser Mittel. Ihrer zweckwidrigen Verwendung ist durch geeignete Vorkehrungen entgegenzuwirken (vgl. zum Einsatz von Druckwerken der Bundesregierung im Wahlkampf: BVerfGE 44, 125 <126 Leitsatz 9, 154>).

113

Dies gilt für die Mittel zur Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern in besonderer Weise. Die unvermeidbaren Überschneidungen zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats im Wahlkreis und der Beteiligung am Wahlkampf führen zu in hohem Maße missbrauchsanfälligen Situationen. Hinzu kommt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten regelmäßig ein großes politisches und nicht selten auch ein persönliches, auf eine weitere Beschäftigung gerichtetes Interesse am Wahlerfolg des einzelnen Abgeordneten haben. Umso notwendiger ist es, zur Gewährleistung eines chancengleichen Wettbewerbs der politischen Parteien durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Abgeordnetenmitarbeiter sich im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließlich auf die Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung seiner parlamentarischen Arbeit im Sinne von § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG beschränken.

114

Dieser gebotenen Sicherstellung eines hinreichenden Mandatsbezugs bei der Tätigkeit der Abgeordnetenmitarbeiter genügt der gegenwärtige Regelungsbestand nicht. Der Abgeordnete erhält zwar gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern nur "gegen Nachweis" ersetzt. Dabei hat er gemäß § 12 Abs. 3 Satz 5 AbgG das Haushaltsgesetz und die vom Ältestenrat erlassenen Ausführungsbestimmungen zu beachten und insbesondere einen Arbeitsvertrag vorzulegen, der mindestens die vom Ältestenrat in einem Musterarbeitsvertrag getroffenen Regelungen enthalten muss. Eine zweckwidrige Verwendung der Mittel hat der Bundestagspräsident zu unterbinden (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>) sowie zu viel gezahlte Beträge zurückzufordern. Außerdem sind bei einem Einsatz der Mittel zur unzulässigen Parteienfinanzierung Strafzahlungen gemäß § 31c PartG festzusetzen (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 140, 1 <36 f. Rn. 103>). Außerdem kann der rechtswidrige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern für Parteizwecke, wie der vorliegende Fall zeigt, auch gemäß § 266 StGB strafbar sein. Darüber hinausgehende Vorkehrungen zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Verwendung der dem Abgeordneten zur Verfügung stehenden Mittel und insbesondere zum Ausschluss des spezifischen Risikos eines unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf bestehen jedoch nicht. Insbesondere ist der Abgeordnete - im Unterschied zu den Fraktionen des Deutschen Bundestages (§ 52 Abs. 1 AbgG) - nicht verpflichtet, über den Einsatz dieser Mittel öffentlich Rechenschaft abzulegen. Eine externe Kontrolle der Mittelverwendung findet nicht statt. Spezifische Vorkehrungen zur Nachvollziehbarkeit der Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG fehlen. Damit wird der besonderen Missbrauchsanfälligkeit hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf nicht ausreichend Rechnung getragen. Der Deutsche Bundestag wird zur Wahrung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) durch ergänzende Regelungen des Abgeordnetengesetzes oder anderer untergesetzlicher Vorschriften dafür Sorge zu tragen haben, dass der Verwendung von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf verstärkt entgegengewirkt wird und die Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachvollziehbarer Kontrolle unterliegt.

115

(5) Der vorliegenden Wahlprüfungsbeschwerde vermag dieses Regelungsdefizit jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die bloße Möglichkeit des unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern genügt zur Feststellung eines die Gültigkeit der Wahl berührenden Wahlfehlers nicht. Erforderlich ist vielmehr der konkrete Nachweis, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit stattgefunden hat und dadurch der chancengleiche Wettbewerb zwischen den Parteien in mandatsrelevanter Weise gestört wurde. Dass dies - wie vom Beschwerdeführer behauptet - im Bundestagswahlkampf 2013 der Fall war, kann nach dem vorstehend Gesagten nicht festgestellt werden.

116

Soweit auf der Grundlage des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens punktuell ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 in Betracht kommt, fehlt es an der erforderlichen Mandatsrelevanz. Es ist nicht erkennbar, dass das Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. und die Benutzung eines Dienst-PCs anstelle eines privaten Laptops in mandatsrelevanter Weise auf die Wahl eingewirkt haben. Dem steht im Fall der Abgeordneten H. bereits entgegen, dass diese nicht erneut in den Bundestag eingezogen ist. Auch im Fall des Abgeordneten By. ist eine mandatsrelevante Auswirkung der festgestellten Sachverhalte fernliegend. Weder steht fest, in welchem Umfang und mit welchem Zeitaufwand Wahlkampftüten durch seine Mitarbeiter gepackt wurden, noch ist ersichtlich, dass die Verteilung dieser Tüten das Wahlergebnis in relevanter Weise beeinflusst hat.

III.

117

Auch eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG liegt nicht vor.

118

1. Soweit bereits kein Wahlfehler gegeben ist, ist eine Verletzung subjektiver Rechte ausgeschlossen. Dies gilt für die Sperrklausel (mit und ohne Eventualstimmrecht) und für den behaupteten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf in großem Umfang.

119

2. Hinsichtlich der sich aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergebenden Einzelfälle unzulässiger Wahlkampftätigkeit ist eine subjektive Rechtsverletzung nicht erkennbar. Eine unzulässige Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf greift primär in den Anspruch auf Chancengleichheit der politischen Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG ein. Eine darüber hinausgehende Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch die geschilderten Vorfälle in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. das Wahlrecht des Beschwerdeführers in irgendeiner Weise betroffen wurde.

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerde wird als unzulässig verworfen, soweit sie gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung gerichtet ist.

Im Übrigen wird die Wahlprüfungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet verworfen.

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014, mit dem sein Einspruch gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 zurückgewiesen wurde. In der Sache beanstandet er die in § 6 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 BWahlG normierte Fünf-Prozent-Sperrklausel, den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung eines sogenannten Eventualstimmrechts und die "verschleierte Staats- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahen Stiftungen". Durch diese Verfassungsverstöße sei das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 erheblich beeinflusst und er in seinem "Grundrecht auf gleiche Wahl" verletzt worden.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 19. November 2013 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 eingelegt. Dabei hat er vorgetragen, dass die "ungekürzte", durch keine Eventualstimme in ihren Auswirkungen gemilderte Fünf-Prozent-Hürde sowie die seiner Ansicht nach "verschleierte" Parteien- und Wahlkampffinanzierung durch staatliche Mittel für Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verfassungswidrig seien.

3

a) Die in § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG verankerte Fünf-Prozent-Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb. Bei der Bundestagswahl 2013 seien diese Grundsätze in einer Intensität beeinträchtigt worden, die es bisher nicht gegeben habe. Zugleich habe die Fünf-Prozent-Sperrklausel die Regierungsbildung jedenfalls nicht erleichtert. Die Sperrklausel sei daher in ihrer gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und folglich verfassungswidrig.

4

b) Durch die Einführung einer Eventualstimme, mit welcher der Wähler die Partei bestimmen könne, der seine Stimme zugutekommen solle, wenn die zunächst gewählte Partei an der Sperrklausel scheitere, könne im Falle der Beibehaltung einer Sperrklausel der Eingriff in die Gleichheit des Wahlrechts der Bürger erheblich gemindert werden, ohne dass die Sperrklausel ihre Funktion schlechter erfülle. Daher sei jedenfalls eine Sperrklausel ohne die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Erforderlichkeit und des Übermaßverbotes verfassungswidrig.

5

c) Von den Bundestagsparteien seien die Begrenzungen der unmittelbaren staatlichen Parteienfinanzierung in verfassungswidriger Weise durch die Umleitung von "Staatsgeld" auf ihre Parlamentsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen unterlaufen worden. Die Vergabe der Mittel erfolge ohne eigene spezialgesetzliche Regelung; ihr Volumen sei gewaltig ausgedehnt worden. Die Kontrolle der Mittelverwendung sei unzureichend. Parteifunktionäre würden als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt; diese seien in großem Umfang im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden, wie ein Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 bestätigt habe.

6

d) Die dargestellten Verfassungsverstöße hätten jeder für sich und erst recht alle zusammen das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 massiv verfälscht und sich auf die Zusammensetzung des Bundestages ausgewirkt.

7

2. Der Bundestag hat den Wahleinspruch des Beschwerdeführers - nach Einholung einer Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel - mit Beschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Der Einspruch sei zulässig, aber unbegründet. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich kein Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften und damit kein Wahlfehler entnehmen.

8

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, die Sperrklausel verstoße gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, sei darauf hinzuweisen, dass der Wahlprüfungsausschuss und der Deutsche Bundestag in ständiger Praxis im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens die Verfassungsmäßigkeit der für die Wahl geltenden Rechtsvorschriften nicht überprüften. Eine derartige Kontrolle sei dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Allerdings habe der Wahlprüfungsausschuss schon in zahlreichen Wahlprüfungsentscheidungen früherer Wahlperioden keinen Anlass für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gesehen. Für die Bundestagswahl 2013 gelte nichts anderes, da die Sperrklausel nicht durch veränderte Verhältnisse infrage gestellt werde. Zwar sei der Anteil der wegen der Sperrklausel nicht in die Sitzverteilung eingeflossenen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013 höher als bei früheren Bundestagswahlen gewesen. Jedoch habe es sich weder um einen atypischen noch zuvor unbekannten Umstand gehandelt. Auch sei es möglich, dass dieser bei kommenden Bundestagswahlen nicht mehr auftrete. Das vom Einspruchsführer befürwortete Konzept einer Eventualstimme sei verfassungswidrig, da es gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verstoße.

9

b) Soweit der Beschwerdeführer meine, es bestehe eine "verschleierte" Staats- und Wahlkampffinanzierung der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien durch Bundestagsfraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen, welche die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verletze sowie die Bundestagswahl erheblich beeinflusst und ihr Ergebnis verfälscht habe, liege kein Wahlfehler vor. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lasse sich nämlich nicht entnehmen, inwieweit es zu einer "verschleierten" Wahlkampffinanzierung gekommen sein solle. Er mache nicht hinreichend deutlich, inwieweit die staatliche (Teil-)Finanzierung von Abgeordnetenmitarbeitern, Fraktionen und parteinahen Stiftungen den Wahlkampf der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien finanziell befördert oder gar - im Verhältnis zu nicht im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien - zu einer Bevorzugung geführt haben solle. Solche Ausführungen wären jedoch notwendig gewesen, um zu zeigen, dass gegen geltendes Recht verstoßen worden sei. Es bestünden nämlich gesetzliche Vorgaben, die eine Wahlkampffinanzierung durch Fraktionen, Stiftungen oder den Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern ausschlössen.

II.

10

1. Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 27. August 2014 gemäß Art. 41 Abs. 2 GG Beschwerde gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 2014 eingelegt. Er beantragt die Aufhebung des angegriffenen Bundestagsbeschlusses, die Ungültigerklärung der Bundestagswahl 2013 und die Anordnung einer Wiederholungswahl. Darüber hinaus begehrt er festzustellen, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel nach § 6 Abs. 3 und 6 BWahlG in ihrer gegenwärtigen Höhe gegen die Grundrechte der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt und dass die Sperrklausel ohne gleichzeitiges Eventualstimmrecht eine übermäßige, verfassungswidrige Beeinträchtigung des Grundrechts der Wahlgleichheit darstellt. Außerdem erstrebt er die Feststellung, dass die "verschleierte Parteien- und Wahlkampffinanzierung, die durch die Übernahme von Aufgaben und Ausgaben der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen und die Errichtung eines Geflechts systematischen Missbrauchs erfolgt und die Wirkung der Sperrklausel verdoppelt", gegen die Gleichheit des Wahlrechts und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verstößt. Schließlich beantragt der Beschwerdeführer, falls die Wahl nicht für ungültig erklärt werden sollte, festzustellen, dass sein Grundrecht auf gleiche Wahl (Art. 3 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) durch die zu hohe Sperrklausel von 5 %, durch das Fehlen eines Eventualstimmrechts und durch die verdeckte Staatsfinanzierung der Parteien via Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen verletzt ist.

11

2. Zur Begründung seiner Beschwerde wiederholt und vertieft der Beschwerdeführer sein Vorbringen aus dem Wahleinspruchsverfahren.

12

a) Hinsichtlich der Fünf-Prozent-Sperrklausel macht er geltend, dass bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 15,7 % der Stimmen nicht den Parteien und Kandidaten zugutegekommen seien, für die sie abgegeben worden seien. Zwei Parteien, die FDP mit 4,8 % und die AfD mit 4,7 %, seien nur ganz knapp an der Sperrklausel gescheitert. Angesichts dieser bislang nicht dagewesenen "Verfälschung" des Wahlergebnisses sei eine neuerliche Überprüfung der Rechtfertigung der Sperrklausel erforderlich. Während die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Stimmrechts der Bürger und in das Recht der Parteien auf Chancengleichheit erheblich zugenommen habe, habe das Gewicht der die Sperrklausel rechtfertigenden Gemeinwohlgründe gegenüber früheren Situationen deutlich abgenommen. Die Fünf-Prozent-Hürde verfälsche das quantitative Verhältnis zwischen den beiden großen politischen Lagern. Das Lager der "rechten Mitte" (CDU, CSU, FDP, AfD, Freie Wähler) habe bei der Bundestagswahl 2013 52 % der Wählerstimmen erreicht, das "linke Lager" (SPD, Grüne, Linke, Piraten) nur 45 %. Trotzdem habe das "linke Lager" eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ohne Sperrklausel wäre die Bildung einer Koalition von Union und SPD, die rund vier Fünftel der Bundestagsmandate mit der Folge innehabe, dass die Opposition viele Minderheitenrechte gar nicht wahrnehmen könne, nicht erforderlich gewesen. Die Regierungsbildung hätte sich zumindest nicht schwieriger dargestellt und der Bundestag vermutlich über eine voll funktionsfähige Opposition verfügt. Vor diesem Hintergrund könne man unter Berücksichtigung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten verschärften Prüfungsmaßstabs (verschärfte Kontrolle bei "Entscheidungen in eigener Sache") nur zu dem Ergebnis gelangen, dass die Sperrklausel bei Bundestagswahlen in der gegenwärtigen Höhe nicht mehr zu rechtfertigen und damit verfassungswidrig sei.

13

Eine Sperrklausel in Höhe von 5 % sei überdies nicht erforderlich und verstoße gegen den Grundsatz des milderen Mittels. Eine niedrigere Klausel von 3 oder 4 % habe eine geringere Eingriffsintensität zur Folge, ohne dass der Zweck der Sperrklausel, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern, beeinträchtigt werde. Demgegenüber könne auch nicht darauf verwiesen werden, ein Wegfall der Sperrklausel stehe einer eventuell nötig werdenden Revision dieses Wegfalls entgegen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der Linken seien für die Sperrklausel und dürften daher bei einer Verschärfung der Situation bereit sein, diese wieder einzuführen.

14

Die Sperrklausel sei auch mandatsrelevant. Bei einer auf 3 oder 4 % abgesenkten Sperrklausel wären FDP und AfD mit jeweils etwa 30 Mandaten in den Bundestag eingezogen.

15

b) Außerdem habe das Fehlen eines Eventualstimmrechts die Bundestags-wahl 2013 verfassungswidrig gemacht. Die Pflicht zur Einführung einer Eventualstimme bestehe unabhängig von der Höhe der Sperrklausel. Durch die Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme nehme nicht nur die Intensität des Eingriffs in die Gleichheit des Wahlrechts ab; die Eventualstimme stelle auch ein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Zweckerfüllung der Sperrklausel, nämlich Ermöglichung stabiler Regierungsmehrheiten, dar.

16

Die Eröffnung der Möglichkeit zur Abgabe einer Eventualstimme sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Das Eventualstimmrecht verletze nicht die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Höchstpersönlichkeit der Wahl. Auch stehe ihm die Forderung nach der Unbedingtheit der Stimmabgabe nicht entgegen.

17

Falls ein Eventualstimmrecht bestanden hätte, wäre das Wahlergebnis anders ausgefallen. Entweder hätten FDP und/oder AfD, die nur knapp an der Sperrklausel gescheitert seien, diese überwunden und eine "bürgerliche Mehrheit" ermöglicht oder die Union hätte allein regieren können, da mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, dass FDP- und AfD-Wähler ihre Eventualstimme mit großer Mehrheit der Union gegeben hätten.

18

c) Der Beschwerdeführer macht weiterhin eine Verletzung der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien durch die seiner Ansicht nach "verschleierte staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien" bei der Bundestagswahl 2013 geltend.

19

aa) Durch die Umleitung staatlicher Geldmittel auf Fraktionen, Abgeordneten-mitarbeiter und parteinahe Stiftungen seien die verfassungsrechtlichen Grenzen und Kontrollen der staatlichen Parteienfinanzierung - namentlich die Obergrenzen der unmittelbaren Staatsfinanzierung, der Gesetzesvorbehalt bei Entscheidungen in eigener Sache und die Einbeziehung außerparlamentarischer Parteien in die Staatsfinanzierung - ausgehebelt worden. Trotz eines strikten Gesetzesvorbehalts habe eine gewaltige Ausdehnung dieser Mittel durch die bloße Erhöhung von Haushaltsansätzen stattgefunden. Im Jahr 2013 seien für die Bundestagsfraktionen 84,6 Millionen Euro, für die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten 161,5 Millionen Euro und für parteinahe Stiftungen allein an Globalzuschüssen 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden. Die Mittel überstiegen damit die unmittelbare Staatsfinanzierung der Parteien (2013: 154,1 Mio. Euro). Für die Entwicklung der Zuschüsse an die Bundestagsfraktionen ab 1965 ergebe sich ein Erhöhungsfaktor von 53 (1965 - 2013) und unter Berücksichtigung der Gehaltsentwicklung von über 6. Für die 1968 eingeführte Mitarbeiterpauschale ergebe sich pro Abgeordneten ein Erhöhungsfaktor von 28 und unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung von mehr als 5. Die Globalzuschüsse für parteinahe Stiftungen seien seit 1967 um den Faktor 29 und die projektgebundenen Zuschüsse um den Faktor 50 (1965 - 2013) erhöht worden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien hineinwüchsen, so dass deren Finanzierungen als funktionale Äquivalente der Parteienfinanzierung anzusehen seien. Infolgedessen müssten hierfür dieselben Rahmenbedingungen gelten wie bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Die parlamentarische Praxis, die staatlichen Geldmittel für Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen ohne Obergrenzen und ohne Gesetzesvorbehalt zu erhöhen beziehungsweise erhöhen zu können, stelle ein verfassungswidriges Verfahren dar. Außerdem finde eine Kontrolle der Mittelverwendung, die verfassungsrechtlichen Vorgaben genüge, nicht statt.

20

bb) Die Bereitstellung der staatlichen Mittel in der dargestellten Höhe führe zu "gewaltigen Wettbewerbsvorteilen" der im Bundestag vertretenen Parteien.

21

(1) Partei und Fraktion bildeten eine politische Einheit. Verlautbarungen der Fraktion kämen zwangsläufig der jeweiligen Mutterpartei zugute, was dem Verwendungsverbot der Fraktionsmittel für Parteizwecke zuwiderlaufe. § 47 Abs. 3 AbgG sei verfassungswidrig. Ein Beispiel unzulässiger Öffentlichkeitsarbeit sei die Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012.

22

(2) Auch die Aktivitäten der Stiftungen seien parteipolitisch geprägt. In der Realität wüchsen Stiftungen und Parteien zu Kooperationseinheiten zusammen. Die Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien aus dem Jahr 1998 sei auf eine krasse Privilegierung der im Bundestag vertretenen Parteien gerichtet.

23

(3) Die Abgeordnetenmitarbeiter würden für Parteizwecke eingesetzt. Dabei seien die den Abgeordneten für die Beschäftigung von Mitarbeitern zur Verfügung stehenden Mittel auf monatlich bis zu 21.000 Euro pro Abgeordneten aufgebläht worden. Ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten werde im Wahlkreis verwendet. Vielfach würden Parteisekretäre und Parteigeschäftsführer als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt. Soweit sie behaupteten, ihre Parteitätigkeit in ihrer Freizeit zu erbringen, treffe dies meist nicht zu, sei aber praktisch schwer zu widerlegen.

24

Die Abgeordnetenmitarbeiter hätten in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl im Bundestag nichts Wesentliches mehr zu tun. Dies bestätige § 13 AbgG, wonach ein Abgeordneter, der im letzten Vierteljahr der Wahlperiode in den Bundestag eintrete, keinen Anspruch auf die Bezahlung von Mitarbeitern habe. Da mit Beginn der Sommerferien im Bundestag normalerweise alle Räder stillstünden, bleibe den Mitarbeitern nur die Beteiligung am Wahlkampf.

25

Demgemäß seien auch im Bundestagswahlkampf 2013 Abgeordnetenmitarbeiter in großem Umfang für Parteizwecke eingesetzt worden. Dies sei in einem Bericht des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 deutlich geworden. Darin habe der Nürnberger Bundestagsabgeordnete Bx. (SPD) erklärt, dass seine Berliner Abgeordnetenmitarbeiter zum Wahlkampf vor Ort herangezogen worden seien, weil in Berlin ja nichts mehr los sei. Dies habe der Mitarbeiter eines Aachener Bundestagsabgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bestätigt. Die Büroleiterin des Abgeordneten Bx. habe in demselben Bericht erklärt, sie mache jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf. Auch der Abgeordnete By. (CDU) habe den Wert von hauptamtlichen Beschäftigten im Wahlkampf betont. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros habe bekannt, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu machen. Der Abgeordnete Bz. (DIE LINKE) habe erklärt, dass derjenige, der seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen könne, entweder über "verdammt viele finanzielle Ressourcen" verfüge oder den Wert seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verstanden habe. Schließlich habe ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Fraktion geäußert, dass "alle Abgeordneten, wirklich alle", Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken beschäftigten.

26

Ein solcher Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sei verfassungswidrig. Er verletze das Gebot der Chancengleichheit der Parteien. Weiterer Nachweise des missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern bei der Bundestagswahl 2013 bedürfe es nicht, da hinsichtlich der Verwendung der hierfür bereitgestellten Mittel jede wirksame Kontrolle ausgeschaltet sei. Der Bundestag verwehre dem Bundesrechnungshof seit 1993 die Kontrolle der Abgeordnetenmitarbeiter und ihrer Finanzierung. Auch müsse der Abgeordnete keinerlei öffentliche Rechenschaft über die Verwendung der Mittel für Mitarbeiter und deren Einsatz ablegen. Angesichts dieser gezielt herbeigeführten Kontrolllosigkeit genügten die angeführten exemplarischen Missbrauchsfälle, um "einen Beweis des ersten Anscheins missbräuchlicher Verwendung" zu begründen.

27

cc) Geradezu abwegig sei es zu behaupten, die verschleierte Wahlkampffinanzierung habe keinen Einfluss auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl 2013 gehabt. Vielmehr sei ein solcher nach der allgemeinen Lebenserfahrung - auf die es hier ankomme - mit Sicherheit anzunehmen.

28

d) Die zu hohe Sperrklausel und das Fehlen eines Eventualstimmrechts verletzten auch das subjektive Recht des Beschwerdeführers auf Gleichheit des Wahlrechts. Ebenso verletze die verfassungswidrige Parteienfinanzierung über Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe politische Stiftungen das Recht des Beschwerdeführers auf politische Gleichheit und gleiche politische Mitwirkung. Genau wie ein Bürger in seinem Recht auf Gleichheit der Wahl und der politischen Mitwirkung durch bestimmte, sich unterschiedlich auswirkende Regelungen der steuerlichen Spendenbegünstigung diskriminiert werden könne, so sei er auch in seinem Recht auf gleiche politische Mitwirkung verletzt, wenn unter den vorhandenen Parteien einige durch die verdeckte Parteienfinanzierung verfassungswidrig benachteiligt würden.

III.

29

Mit Schreiben vom 16. September 2015 hat der Beschwerdeführer den Richter Müller gemäß § 19 BVerfGG wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und beantragt, ihn vom vorliegenden Verfahren auszuschließen. Mit Beschluss vom 19. Juli 2016 hat der Senat die Ablehnung als unbegründet zurückgewiesen (BVerfGE 142, 302).

IV.

30

1. Insbesondere aufgrund der Sendung des ARD-Fernsehmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 nahm die Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen die Abgeordneten By. (CDU), Bx. (SPD) und Bz. (DIE LINKE) sowie gegen die Abgeordnete H. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wegen des Verdachts der Untreue auf (Az. 276 Js 1352/14). Dieses wurde mit Verfügung vom 9. November 2015 mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

31

2. Mit Verfügung des Berichterstatters vom 9. August 2016 sind die betreffenden Akten der Staatsanwaltschaft Berlin beigezogen worden. Sie zeigen, dass im Verlauf der Ermittlungen nahezu sämtliche bei den Abgeordneten beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Zeugen vernommen wurden. Nach einem Vermerk vom 6. Juli 2015 und der Einstellungsverfügung vom 9. November 2015 ergaben sich dabei aus Sicht der Staatsanwaltschaft lediglich in geringem Umfang Anhaltspunkte für klassische wahlkampfbezogene Tätigkeiten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten oder im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit ihrer Mitarbeiter. So sollen vereinzelt im Wahlkreisbüro der Beschuldigten H. und By. Wahlkampftüten gepackt worden sein. Die für den Beschuldigten By. tätige Zeugin M. habe zudem angegeben, ihren Dienst-PC auch für Wahlkampfaktionen genutzt zu haben, weil ihr die Einwahl ihres privaten Laptops zu umständlich gewesen sei. Hinsichtlich der Beschuldigten H. habe sich ergeben, dass deren Wahlkreisbüro aus Kostengründen in einer Bürogemeinschaft mit dem Büro des Kreisverbandes der Partei betrieben worden sei, so dass hierdurch eine Trennung zwischen Partei- und Mandatsarbeit schwierig erscheine. Im Übrigen hätten die vernommenen Zeugen übereinstimmend erklärt, dass, soweit überhaupt Wahlkampftätigkeiten wahrgenommen worden seien, dies ehrenamtlich oder aufgrund eines gesondert von der Partei erteilten Auftrags außerhalb der Bürozeiten geschehen sei. Des Weiteren hätten sie ausgeführt, dass die im Beitrag des Magazins "Report Mainz" gesendeten Einstellungen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jeweiligen Abgeordneten bei klassischen Wahlkampftätigkeiten zeigten, überwiegend auf ausdrückliche Bitte des Fernsehteams gestellt worden seien. Anfallende Mehrarbeit im Wahlkampf gehe auf eine erhöhte Zahl von Presse- und Bürgeranfragen an den Abgeordneten sowie einen erhöhten Aufwand zur Koordination und Vorbereitung von Terminen zurück. Eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenen Anfragen sei kaum möglich.

32

3. Nach erfolgter Einsichtnahme in die staatsanwaltschaftlichen Akten hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. November 2016 Stellung genommen. Er sieht seinen Vortrag durch die Ermittlungen bestätigt.

33

a) Die Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Untreue gegen die vier Abgeordneten stehe der Annahme verfassungswidriger parteiergreifender Tätigkeiten der Mitarbeiter nicht entgegen. Im Gegenteil: Die Auswertung bestätige, dass die Mitarbeiter in verfassungswidriger Weise parteiergreifend tätig gewesen seien, indem sie eine Fülle von sogenannten "nicht-klassischen" Wahlkampfaktivitäten vorgenommen hätten. Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nur für die klassischen Wahlkampfaktivitäten interessiert, worunter sie zum Beispiel Tür-zu-Tür-Aktionen, Ankleben von Plakaten, Verteilen von Flyern und Broschüren sowie die Ansprache von Bürgern an Parteiständen in der Fußgängerzone und Parteiwerbung durch Verschenken etwa von Brezeln gefasst habe.

34

b) Hinsichtlich der anderen Aktivitäten ergebe sich aus den Ermittlungsakten, dass zahlreiche Abgeordnetenmitarbeiter in der Vorwahlzeit im Wahlkreis eingesetzt worden seien und sich dabei "im Modus Wahlkampf" befunden hätten. Von ihnen seien in ihrer Arbeitszeit Anfragen der Presse und von Bürgern beantwortet worden, wobei die allermeisten Anfragen, auch die von Bürgern, "auch immer einen Bezug zur Wahl" gehabt hätten. Die Mitarbeiter hätten außerdem Grußworte und Reden für ihre Abgeordneten ausgearbeitet. In der Hand erfahrener Mitarbeiter habe auch die Vorbereitung von Vorortterminen, Podiumsdiskussionen, Pressegesprächen und ähnlichen Terminen sowie die Koordination der Veranstaltungen und Termine - auch "klassischer" Wahlkampftermine - gelegen. Alle diese Aktivitäten, die die Mitarbeiter in ihrer staatlich bezahlten Arbeitszeit vorgenommen hätten, hätten in der Vorwahlzeit, wie die Vernehmungen ergeben hätten, bedingt durch den Wahlkampf sprunghaft zugenommen und sich zunehmend unmittelbar auf den Wahlkampf bezogen.

35

c) Hinzu komme, dass die Zweifel der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der sogenannten klassischen Wahlkampfaktivitäten der Abgeordnetenmitarbeiter allein auf Aussagen der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter beruhten. Insoweit sei der Tatbestand der Befangenheit zu besorgen. Die Aussagen seien deshalb nicht glaubhaft. Soweit die Erklärung nachgeschoben worden sei, die Mitarbeiter würden sich im Wahlkampf ehrenamtlich engagieren, handele es sich um eine bloße Schutzbehauptung. Der Beschwerdeführer beantragt deshalb, die drei Autoren des Beitrags von "Report Mainz" vom 17. September 2013 als Zeugen dafür zu vernehmen, dass die entsprechenden Szenen von ihnen nicht fiktiv gestellt worden seien, sondern den üblichen Einsatz der Mitarbeiter wiedergegeben hätten. Außerdem beantragt er, auch die Abgeordnetenmitarbeiter als Zeugen zu vernehmen, damit der Senat sich ein Bild von deren Glaubwürdigkeit machen könne.

B.

36

Die Wahlprüfungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und Bundestagsfraktionen und deren Verwendung richtet, weil sie den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht genügt. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit eines die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag vom 22. September 2013 berührenden Wahlfehlers durch die Mittelzuweisung oder das Handeln der politischen Stiftungen und der im Bundestag vertretenen Parteien nicht hinreichend dargetan.

I.

37

1. Gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG sind Anträge, die das Verfahren einleiten, zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. Die allgemeinen Anforderungen an verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 23 Abs. 1 BVerfGG gelten auch für Wahlprüfungsbeschwerden (vgl. BVerfGE 21, 359 <361>; 24, 252 <258>; 122, 304 <308>). Erforderlich ist demgemäß eine hinreichend substantiierte und aus sich heraus verständliche Darlegung eines Sachverhalts, aus dem erkennbar ist, worin ein Wahlfehler liegen soll, der Einfluss auf die Mandatsverteilung haben kann (vgl. BVerfGE 40, 11 <30>; 48, 271 <276>; 58, 175 <175>; 122, 304 <308>). Die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern oder die Äußerung einer dahingehenden, nicht belegten Vermutung genügen nicht (vgl. BVerfGE 40, 11 <31>). Der Grundsatz der Amtsermittlung befreit den Beschwerdeführer ebenfalls nicht davon, die Gründe der Wahlprüfungsbeschwerde in substantiierter Weise darzulegen, mag dies im Einzelfall auch mit Schwierigkeiten insbesondere im tatsächlichen Bereich verbunden sein (vgl. BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <378 f.>; 122, 304 <309>). Im Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde soll das Substantiierungsgebot sicherstellen, dass die sich auf der Grundlage der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses ergebende Zusammensetzung des Parlaments nicht vorschnell infrage gestellt wird und dadurch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit geweckt werden. Auch wenn die Anforderungen daran, was ein Beschwerdeführer vortragen muss, um eine Prüfung der Wahl auf die von ihm beanstandeten Fehler zu erreichen, nicht überspannt werden dürfen, sind deshalb Wahlbeanstandungen, die einen konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, als unsubstantiiert zurückzuweisen (vgl. BVerfGE 85, 148 <159 f.>).

38

2. a) Wahlfehler sind alle Verstöße gegen Wahlvorschriften während des gesamten Wahlverfahrens durch Wahlorgane oder Dritte (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 103 ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 21). Als Wahlvorschriften kommen vor allem die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung in Betracht (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>). Daneben können aber auch Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 41 Rn. 103 f. ; Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 26).

39

Relevant sind letztlich alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 104 ). Daher können sowohl die Missachtung der Regelungen des Parteienrechts und der staatlichen Parteienfinanzierung (vgl. BVerfGE 85, 264 <284 ff.>) als auch tatsächliche Handlungen ohne explizite einfachrechtliche Grundlage wie die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (vgl. BVerfGE 44, 125 <143 ff.>) oder parteiergreifende Äußerungen von Regierungsmitgliedern (vgl. BVerfGE 138, 102 <116 ff. Rn. 49 ff.>) grundsätzlich taugliche Gegenstände eines Wahlprüfungsverfahrens sein. Lediglich Sachverhalte, die "bei Gelegenheit" einer Wahl geschehen, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (vgl. Frommer/Engelbrecht, Bundeswahlrecht - Kommentar für die Praxis, § 49, S. 2 f. <30. Lieferung 2017>).

40

b) Neben der Möglichkeit eines Wahlfehlers hat der Beschwerdeführer grundsätzlich auch die Mandatsrelevanz dieses Fehlers substantiiert darzulegen. Es muss zwar nicht der Nachweis einer Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung erbracht werden. Die nur theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der geltend gemachten Rechtsverletzung und dem Ergebnis der angefochtenen Wahl genügt jedoch nicht (vgl. Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13). Vielmehr gilt der Grundsatz der potentiellen Kausalität (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 110 ; Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 49 Rn. 13; Schreiber, DVBl 2010, S. 609 <612>). Demgemäß hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit (BVerfGE 89, 243 <254>; 89, 291 <304>) handelt.

II.

41

Die Wahlprüfungsbeschwerde genügt diesen Anforderungen an die Darlegung einer ergebnisrelevanten Störung der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag nicht, soweit sie die Zuweisung öffentlicher Mittel an politische Stiftungen (1.) und die Staatsfinanzierung der Bundestagsfraktionen, insbesondere im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit (2.), angreift.

42

1. Der Vortrag des Beschwerdeführers lässt einen Wahlfehler aufgrund des Einsatzes staatlicher Mittel durch politische Stiftungen nicht erkennen. Seine Behauptung, die Finanzzuweisungen an politische Stiftungen und deren Verwendung hätten bei der Bundestagswahl 2013 als verdeckte Parteienfinanzierung zu einer Verletzung der Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG und der Wahlrechtsgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geführt, wird durch seinen Sachvortrag nicht hinreichend belegt. Weder können diesem Vortrag konkrete, die Bundestagswahl 2013 in irgendeiner Weise beeinflussende Sachverhalte entnommen werden (a), noch setzt sich der Beschwerdeführer im erforderlichen Umfang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Eigenständigkeit politischer Stiftungen gegenüber den diesen nahestehenden Parteien auseinander (b).

43

a) Konkrete Umstände, aus denen sich die Möglichkeit einer Beeinflussung des Ablaufs und Ergebnisses der Wahl ergibt, hat der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2013 bezogen auf das Handeln der politischen Stiftungen nicht dargelegt. Dabei können seine Ausführungen zu Höhe und Steigerungsraten der Mittelzuweisungen an politische Stiftungen sowie die in diesem Zusammenhang unter den Gesichtspunkten der Transparenz und der fehlenden Beachtung des Gesetzesvorbehalts vorgetragenen verfassungsrechtlichen Einwände gegen das Verfahren der Mittelfestsetzung dahinstehen. Diese allein begründen keine Bedenken gegen die Ordnungsgemäßheit der Durchführung der Bundestagswahl 2013 und die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, da ein hinreichender Wahlbezug insoweit nicht ersichtlich ist. Vielmehr hätte der Beschwerdeführer konkret darlegen müssen, durch welche Verhaltensweisen und Aktivitäten die politischen Stiftungen auf die Bundestagswahl 2013 eingewirkt und deren Ergebnis beeinflusst haben. Daran fehlt es. Der Beschwerdeführer vermag keinerlei konkrete Initiativen der politischen Stiftungen mit Bezug auf die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 zu benennen.

44

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der allgemein gehaltenen Behauptung des Beschwerdeführers, das Handeln der politischen Stiftungen komme im Sinne einer "Kooperationseinheit" der jeweiligen Mutterpartei zugute und beeinträchtige damit den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Er lässt insoweit die auf politische Stiftungen bezogene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 73, 1 <31 ff.>; 140, 1 <38 f. Rn. 106 ff.>) außer Betracht. Das Gericht hat sich der Sache nach auch mit der Frage der "Kooperationseinheit" auseinandergesetzt und festgestellt, dass die Stiftungen ihre satzungsgemäßen Aufgaben in hinreichender organisatorischer und personeller Unabhängigkeit von den ihnen nahestehenden Parteien erfüllen. Die Stiftungen und die politischen Parteien verfolgen unterschiedliche, voneinander abgrenzbare Ziele. Die politische Bildungsarbeit der Stiftungen hat sich weitgehend verselbständigt und einen hohen Grad an Offenheit erreicht. Es ist den Stiftungen verwehrt, in den Wettbewerb der politischen Parteien einzugreifen, indem sie etwa im Auftrag der und für die ihnen nahestehenden Parteien geldwerte Leistungen oder Wahlkampfhilfe erbringen (BVerfGE 73, 1 <32>). Daher stellt die Gewährung von Globalzuschüssen an politische Stiftungen keine verdeckte Parteienfinanzierung dar und verletzt nicht das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 73, 1 <31 f.>; 140, 1 <38 Rn. 106>).

45

Zu alldem verhält sich der Beschwerdeführer nicht. Seinem Vorbringen kann nicht entnommen werden, warum eine von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Beurteilung geboten sein soll. Die Behauptung des Beschwerdeführers, politische Stiftungen wüchsen zunehmend in die Rolle von Ersatzparteien, ist durch keinen konkreten Sachvortrag unterlegt. Dies gilt auch, soweit der Beschwerdeführer auf die sogenannte Gemeinsame Erklärung der parteinahen Stiftungen und der sie tragenden politischen Parteien von 1998 verweist, da sich hieraus für die Frage parteinütziger Verwendung gewährter Zuschüsse nichts ergibt.

46

2. Auch soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Bereitstellung staatlicher Mittel für die Bundestagsfraktionen und insbesondere deren Öffentlichkeitsarbeit wendet, fehlt es an einer hinreichenden Substantiierung der Wahlprüfungsbeschwerde. Dem Vortrag des Beschwerdeführers lassen sich konkret auf die Bundestagswahl 2013 bezogene Sachverhalte nicht entnehmen (a). Seine allgemeinen Ausführungen zu einer behaupteten verdeckten Parteienfinanzierung durch die Bereitstellung von Fraktionsmitteln, einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage und zur Verfassungswidrigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen und des Verfahrens der Mittelgewährung genügen den Begründungserfordernissen ebenfalls nicht (b).

47

a) Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist der auf den Einspruch des Beschwerdeführers ergangene Beschluss des Bundestages über die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013. Dem Substantiierungsgebot gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG genügt der Beschwerdeführer daher nur, wenn er einen konkreten Sachverhalt vorträgt, der sich auf die Gültigkeit dieser Wahl auszuwirken vermag, weil er eine mandatsrelevante Verfälschung des Wählerwillens möglich erscheinen lässt. Diese Voraussetzung erfüllt der Beschwerdeführer hinsichtlich des Handelns der Bundestagsfraktionen nicht. Konkret verweist er insoweit lediglich auf eine Werbeaktion der FDP-Bundestagsfraktion im Jahr 2012. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine Aktion im Vorfeld zweier Landtagswahlen (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen) handelte, genügt dieser Hinweis den Anforderungen an die Darlegung eines mandatsrelevanten Wahlfehlers bei der angegriffenen Wahl bereits deshalb nicht, weil die FDP bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 die erforderliche Stimmenzahl zur Überwindung der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht erreicht hat und dem 18. Deutschen Bundestag nicht angehört. Ansonsten fehlt es an der Darlegung jeglicher auf die Bundestagswahl 2013 bezogener Aktivitäten und Initiativen der Bundestagsfraktionen.

48

b) Auch die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Fraktionsfinanzierung als "verdeckte Parteien- und Wahlkampffinanzierung" (aa) und einer damit verbundenen Verfälschung der Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien (bb) sowie zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung und der Verwendung der Fraktionsmittel (cc) genügen den Begründungsanforderungen gemäß § 48 Abs. 1 Halbsatz 2, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht.

49

aa) Soweit der Beschwerdeführer darauf verweist, die Zuweisung der Fraktionsmittel stelle eine den Grundsatz der Chancengleichheit verletzende und die gesetzlichen Vorgaben der staatlichen Parteienfinanzierung missachtende "verdeckte Parteienfinanzierung" dar, lässt er die Rechtsstellung der Fraktionen und die rechtlichen Bindungen der Gewährung und Verwendung von Fraktionsmitteln außer Betracht.

50

(1) Die Fraktionen, die als ständige Gliederungen des Bundestages der "organisierten Staatlichkeit" eingefügt sind (vgl. BVerfGE 20, 56 <104>; 62, 194 <202>), steuern und erleichtern die parlamentarische Arbeit, indem sie unterschiedliche politische Positionen von Abgeordneten zu handlungs- und verständigungsfähigen Einheiten zusammenfassen, eine Arbeitsteilung unter ihren Mitgliedern organisieren, gemeinsame Initiativen vorbereiten und aufeinander abstimmen sowie die Information der Fraktionsmitglieder unterstützen. Die Finanzierung der Fraktionen mit staatlichen Zuschüssen dient der Ermöglichung und Gewährleistung dieser Arbeit (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>; 140, 1 <26 Rn. 71>).

51

(2) Die Verwendung der den Fraktionen zur Verfügung gestellten Leistungen unterliegt strikter Zweckbindung (vgl. BVerfGE 140, 1 <31 Rn. 85>). Gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 AbgG dürfen die Fraktionen die ihnen gewährten Mittel nur für Aufgaben verwenden, die ihnen nach dem Grundgesetz, dem Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages obliegen. Eine Verwendung für Parteiaufgaben ist unzulässig (§ 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG). Über die Verwendung und Herkunft der Mittel haben die Fraktionen gemäß § 52 Abs. 1 AbgG öffentlich Rechenschaft zu geben. Ihre Rechnung muss von einem im Benehmen mit dem Bundesrechnungshof bestellten Abschlussprüfer geprüft und testiert werden (§ 52 Abs. 4 Satz 1 AbgG). Gemäß § 53 Abs. 1 AbgG unterliegen die Fraktionen hinsichtlich der wirtschaftlichen und ordnungsgemäßen Verwendung der ihnen zur Verfügung gestellten Geld- und Sachmittel der Überprüfung durch den Bundesrechnungshof. Schließlich ist es den Parteien verboten, Spenden von Parlamentsfraktionen entgegenzunehmen (§ 25 Abs. 2 Nr. 1 PartG). Tun sie es dennoch, haben sie das Dreifache des rechtswidrig erlangten Betrages abzuführen (§ 31c Satz 1 PartG).

52

(3) Nach dem gesetzlichen Regelungskonzept ist die Verwendung von Fraktionsmitteln somit strikt auf die Wahrnehmung von Aufgaben begrenzt, die den Fraktionen als Teil der "organisierten Staatlichkeit" zugewiesen sind. Demgegenüber sind Parteien zwar berufen, in den Bereich der institutionellen Staatlichkeit hineinzuwirken, gehören diesem aber selbst nicht an (vgl. BVerfGE 20, 56 <101>). Daher hätte der Beschwerdeführer sich näher dazu verhalten müssen, inwieweit sich die Gewährung von Fraktionsmitteln trotzdem als Akt der Parteienfinanzierung darstellt.

53

bb) Dabei kann der Beschwerdeführer sich nicht auf den Hinweis beschränken, eine Trennung zwischen parlamentarischer und parteipolitischer Arbeit sei eine Fiktion, da Fraktionen die Rolle von Ersatzparteien übernommen hätten, ihre Verlautbarungen und sonstigen Aktivitäten der jeweiligen Partei zugutekämen und dies zu gewaltigen Wettbewerbsvorteilen führe. Er verkennt insoweit, dass die Grundsätze der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlgleichheit einen Eingriff in die vorgefundene Wettbewerbslage zwischen den politischen Parteien nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. BVerfGE 69, 92 <109>; 73, 40 <89>; 85, 264 <297>; 104, 287 <300>; 111, 382 <398>; 140, 1 <28 Rn. 76>; stRspr). Dem Beschwerdeführer ist zwar zuzugestehen, dass das Handeln der einzelnen Bundestagsfraktionen mit den jeweiligen Parteien verbunden wird, in deren Bewertung einfließt und sich damit auf die Wahlchancen der im Wettbewerb stehenden Parteien auswirken kann. Dies ist jedoch Teil des Prozesses der freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht. Sich daraus ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer des politischen Wettbewerbs sind hinzunehmen (vgl. BVerfGE 140, 1 <28 Rn. 76>; siehe auch: BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>). Etwas anderes wäre lediglich dann anzunehmen, wenn die Fraktionen die ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen in einer nicht aufgabengerechten Weise parteinützig einsetzen würden.

54

cc) Vor diesem Hintergrund kommt es auf die verfassungsrechtlichen Einwände des Beschwerdeführers gegen das Verfahren zur Festsetzung der Fraktionsmittel unter den Gesichtspunkten fehlender Obergrenzen, einer Missachtung des Gesetzesvorbehalts und fehlender Transparenz mangels eines hinreichend konkreten Wahlbezugs nicht an. Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen bestreitet und die Verfassungswidrigkeit von § 47 Abs. 3 AbgG geltend macht.

55

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher zu den Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundestagsfraktionen aufgrund § 47 Abs. 3 AbgG nicht abschließend geäußert (vgl. BVerfGE 136, 190 <193 Rn. 8>). Auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens besteht hierzu kein Anlass. Die Wahlprüfungsbeschwerde dient nicht der abstrakten Normenkontrolle wahlrechtlicher Vorschriften. Vielmehr ist sie auf die Überprüfung der Ordnungsgemäßheit einer konkreten Wahl und der Zusammensetzung des jeweiligen Bundestages gerichtet. Anlass zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm besteht im Wahlprüfungsverfahren daher nur, wenn es im Hinblick auf das Vorliegen eines konkreten Wahlfehlers auf die Gültigkeit dieser Norm ankommt. Der Beschwerdeführer hat aber keine konkreten Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit oder sonstige Initiativen der Bundestagsfraktionen dargelegt, aus denen eine die Chancengleichheit verletzende und mandatsrelevante Einflussnahme auf die Bundestagswahl 2013 abgeleitet werden könnte.

56

Unbeachtlich sind daher auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe und zu den Steigerungsraten der Fraktionsmittel. Insoweit fehlt es ebenfalls an einem konkreten Wahlbezug. Ohne entsprechende Anhaltspunkte kann nicht unterstellt werden, dass die Fraktionen die ihnen zugewendeten Geld- oder Sachleistungen trotz des gesetzlichen Verbots in § 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG für Parteiaufgaben oder Wahlkampfzwecke verwendet haben. Der Beschwerdeführer genügt seiner diesbezüglichen Darlegungslast nicht. Sein Vortrag reicht über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

C.

57

Im Übrigen ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet.

58

Begründet ist eine Wahlprüfungsbeschwerde, wenn gegen Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes oder Wahlrechtsvorschriften verstoßen worden ist (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>) und dies entweder mandatsrelevant ist und zur Ungültigerklärung der Wahl führt (vgl. BVerfGE 121, 266 <289, 311>) oder zumindest eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers zur Folge hat (§ 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG). Der Beschwerdeführer rügt einen Wahlfehler in Form einer mandatsrelevanten Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG (I.). Ein derartiger Wahlfehler, der auch mandatsrelevant ist, liegt nicht vor (II.). Eine Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers durch einen Wahlfehler ist ebenfalls nicht erkennbar (III.).

I.

59

1. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger (vgl. BVerfGE 41, 399 <413>; 51, 222 <234>; 85, 148 <157 f.>; 99, 1 <13>; 135, 259 <284 Rn. 44>) und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>). Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 82, 322 <337>; 85, 264 <315>; 135, 259 <284 Rn. 44>). Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 129, 300 <317 f.>). Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE 16, 130 <139>; 95, 335 <353>). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwert- und Erfolgschancengleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>; 129, 300 <318>; 135, 259 <284 Rn. 45>).

60

2. Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <319>; 135, 259 <285 Rn. 48>).

61

3. a) Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82 <106>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes (vgl. BVerfGE 6, 84 <92>; 51, 222 <236>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 135, 259 <286 Rn. 51>). Das bedeutet nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 1, 208 <248>; 6, 84 <92>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>; 135, 259 <286 Rn. 51>).

62

b) Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (BVerfGE 95, 408 <418>) und, damit zusammenhängend, die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 f.>; 4, 31 <40>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <236>; 82, 322 <338>; 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>). Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden (vgl. BVerfGE 120, 82 <111 f.>; 129, 300 <321>; 135, 259 <286 Rn. 52>), sondern bemisst sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs. Zudem kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeitet und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhängt (vgl. BVerfGE 129, 300 <323, 326 ff.>; 135, 259 <287 Rn. 52>).

63

c) aa) Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, kollidierende Ziele mit Verfassungsrang und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>; 121, 266 <303>; 131, 316 <338>). Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 95, 408 <420>; 121, 266 <303 f.>; 131, 316 <338 f.>). Allerdings verbleibt dem Gesetzgeber für Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit nur ein eng bemessener Spielraum (vgl. BVerfGE 95, 408 <417 f.>; 129, 300 <322>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <322 f.>; 130, 212 <229>; 135, 259 <289 Rn. 57>).

64

bb) Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugungen und Rechtspraxis Beachtung finden (vgl. BVerfGE 1, 208 <249>; 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung allerdings nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>). Gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>; 135, 259 <287 Rn. 53>).

65

cc) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen infrage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (vgl. BVerfGE 73, 40 <94>; 82, 322 <338 f.>; 107, 286 <294 f.>; 120, 82 <108>; 129, 300 <321 f.>; 135, 259 <287 Rn. 54>). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (vgl. BVerfGE 1, 208 <259>; 82, 322 <338>; 120, 82 <108>; 129, 300 <322>; 135, 259 <288 Rn. 54>).

II.

66

Nach diesen Maßstäben ist ein mandatsrelevanter Wahlfehler weder bezogen auf die Fünf-Prozent-Sperrklausel (1.) und den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung einer Eventualstimme (2.) noch hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 (3.) gegeben.

67

1. a) Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl des Deutschen Bundestages für verfassungskonform erachtet (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 ff.>; 4, 31 <39 ff.>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <235 ff.>; 82, 322 <337 ff.>; 95, 335 <366>; 95, 408 <417 ff.>; 120, 82 <109 ff.>; 122, 304 <314 f.>). Sie findet ihre Rechtfertigung im Wesentlichen in dem verfassungslegitimen Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern (vgl. BVerfGE 82, 322 <338>; 95, 335 <366>; 95, 408 <419>; 120, 82 <111>; 131, 316 <344>). Dies setzt die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung voraus, die durch die Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet werden kann (vgl. BVerfGE 129, 300 <335 f.>). Die Bewertung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl ist, da die Rechtfertigung der Sperrklausel sich insbesondere nach der Wahrscheinlichkeit zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der zu wählenden Volksvertretung bemisst, nicht auf die Wahl anderer parlamentarischer Vertretungen übertragbar (vgl. BVerfGE 129, 300 <321>; 135, 259 <286 f. Rn. 52>).

68

b) Die Ausführungen des Beschwerdeführers geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG abzuweichen. Weder kann davon ausgegangen werden, dass eine deren Rechtfertigung in Wegfall bringende Änderung der tatsächlichen (aa) oder rechtlichen (bb) Verhältnisse eingetreten ist, noch ist feststellbar, dass die Regelung das zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels Erforderliche überschreitet (cc).

69

aa) Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass bei der Bundestagswahl aufgrund der Sperrklausel 15,7 % der abgegebenen Stimmen nicht den gewählten, sondern anderen Parteien zugutegekommen seien. Dies habe zu einer Verfälschung des Wahlergebnisses in bisher unbekanntem Umfang geführt und die Regierungsbildung zumindest nicht erleichtert. Außerdem sei durch das knappe Scheitern von FDP und AfD die Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern verschoben worden. Aus diesem Vortrag ergibt sich keine Infragestellung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG.

70

(1) Dies gilt zunächst, soweit der Beschwerdeführer auf den sperrklauselbedingten Ausfall von 15,7 % der Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 verweist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ziel der Verhinderung einer die Funktionsfähigkeit beeinträchtigenden Zersplitterung des Parlaments die Nichtberücksichtigung der Parteien, die bei der Bundestagswahl weniger als 5 % der Stimmen erhalten haben, grundsätzlich unabhängig davon rechtfertigt, wie viele Stimmen beziehungsweise welcher Stimmenanteil insgesamt auf diese Parteien entfällt. Zwar erhöht sich die Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit, je größer die Zahl derjenigen Stimmen ist, die bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt bleiben. Insoweit ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass es sich bei 15,7 % der Stimmen um eine beachtliche, bisher nicht erreichte Größenordnung handelt. Dies allein vermag jedoch ein Zurücktreten des Ziels, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern, nicht zu begründen. Hinzu kommt, dass der Anteil von 15,7 % bei der Mandatsverteilung unberücksichtigter Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 bisher einen Einzelfall darstellt, der auf das nur knappe Scheitern zweier Parteien zurückzuführen ist. Ob und inwieweit sich Derartiges bei künftigen Bundestagswahlen wiederholt, ist nicht absehbar.

71

Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könnte möglicherweise geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl (vgl. BVerfGE 95, 408 <419> m.w.N.) beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber muss die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration der politischen Kräfte des gesamten Volkes sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 14, 121 <135 f.>; 24, 300 <341>; 41, 399 <421>; 51, 222 <236>; 74, 81 <97>; 95, 408 <419>). Dies ist auch bei der Ausgestaltung und Anwendung der Sperrklausel zu beachten. Eine Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl wird aber weder vom Beschwerdeführer behauptet, noch ist sie in sonstiger Weise erkennbar.

72

(2) Die Rechtfertigung der Sperrklausel ist, anders als der Beschwerdeführer meint, grundsätzlich unabhängig davon, wie viele Parteien mit welchem Ergebnis an der Sperrklausel scheitern. Es kann - soweit die Integrationsfunktion der Wahl nicht betroffen ist - dahinstehen, ob wenige Parteien knapp, viele Parteien deutlich oder einige deutlich und andere knapp an der Sperrklausel scheitern (bei der Bundestagswahl 2013 insgesamt 23 Parteien mit zusammen 6,2 % der Stimmen).

73

(3) Der Argumentation des Beschwerdeführers, es sei bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bisher nicht bekannten Verfälschung des Wahlergebnisses gekommen, liegt eine unzureichende Unterscheidung zwischen der Feststellung des Wahlergebnisses einerseits und der Mandatsverteilung andererseits zugrunde. Für die Feststellung des Wahlergebnisses ist § 6 Abs. 3 BWahlG ohne Belang. Eine "Verfälschung" des Wahlergebnisses kann daher durch die Sperrklausel nicht herbeigeführt werden. Demgegenüber bleiben bei der Mandatsverteilung die Stimmen, die auf Parteien entfallen, welche die Sperrklausel nicht überwunden haben, von vornherein außer Betracht. Die Mandatsverteilung erfolgt ausschließlich zwischen den Parteien, die die Sperrklausel überwunden haben, aufgrund der von diesen Parteien selbst erreichten Stimmenzahl.

74

(4) Soweit der Beschwerdeführer von einer sperrklauselbedingten Verschiebung der Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern ("rechte Mitte" und "linkes Lager") ausgeht, erschließt sich die Relevanz dieses Vorbringens für das Vorliegen eines Wahlfehlers nicht. Unabhängig davon, dass der vom Beschwerdeführer behauptete Bestand zweier großer politischer "Lager" zu hinterfragen wäre, ist nicht erkennbar, inwieweit die vermutete Existenz politischer Lager in der von ihm beschriebenen Zusammensetzung die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien tangieren soll. Die Bildung von Koalitionen ist nicht Teil des Wahlprozesses, sondern schließt sich an diesen an.

75

bb) Auch eine für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel relevante Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt nicht vor. Sie liegt insbesondere nicht in der vom Beschwerdeführer geltend gemachten "Verschärfung der Maßstäbe" durch das Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt einer "Entscheidung in eigener Sache" (vgl. Rn. 63). Unabhängig von der Frage, ob dieser erstmals im Jahr 2008 (BVerfGE 120, 82 <105>) ausdrücklich angeführte Gesichtspunkt für eine strenge verfassungsgerichtliche Prüfung von Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit überhaupt eine Verschärfung der Maßstäbe bedeutet hat, hat das Bundesverfassungsgericht auch vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung die Verfassungskonformität der Fünf-Prozent-Sperrklausel geprüft und bestätigt (vgl. zuletzt BVerfGE 131, 316 <344>).

76

Die Notwendigkeit einer Neubewertung der Norm ergibt sich ferner nicht aus den Urteilen zur Verfassungswidrigkeit der Fünf- beziehungsweise Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, da das Gericht in diesen Entscheidungen ausdrücklich auf die Nichtübertragbarkeit der dortigen Erwägungen, die Unterschiedlichkeit der Interessenlage angesichts des Umstands, dass das Europäische Parlament keine Regierung wählt, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen ist, und vor allem auf die im Bundestagswahlrecht nicht bestehende Möglichkeit hingewiesen hat, im Falle einer Schwächung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mit einer Korrektur des nationalen Europawahlrechts zu reagieren (vgl. BVerfGE 129, 300 <336>; 135, 259 <291 Rn. 61>).

77

cc) (1) Schließlich fordert entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers auch nicht der Grundsatz des milderen Mittels die Abschaffung oder zumindest die Absenkung der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Er verweist insbesondere darauf, dass eine niedrigere Sperrklausel von 3 bis 4 % eine geringere Eingriffsintensität besäße, ohne deren Zweck zu beeinträchtigen. Bei der Bundestagswahl 2013 hätte eine solche niedrigere Sperrklausel nach seiner Behauptung die Regierungsbildung und die effektivere Wahrnehmung der Oppositionsaufgaben erleichtert. Dabei verkennt der Beschwerdeführer, dass es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, eigene Zweckmäßigkeitserwägungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (vgl. BVerfGE 51, 222 <238>; 135, 259 <289 Rn. 57>). Das Bundesverfassungsgericht kann, sofern eine differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <238>; 95, 408 <420>; 120, 82 <107>; 121, 266 <304>; 129, 300 <321 f.>; 131, 316 <339>; 132, 39 <48 f. Rn. 27>).

78

(2) Vor diesem Hintergrund mag dahinstehen, ob mit Blick auf die konkreten Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 eine auf 3 oder 4 % abgesenkte Sperrklausel den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit oder die Chancengleichheit der Parteien gemindert hätte, ohne die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu beeinträchtigen. Für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Lösung kommt es auf das Ergebnis einer einzelnen Bundestagswahl nicht an. Die Ergebnisse einzelner vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang künftiger Wahlen. Insoweit handelt es sich bei der Entscheidung über die Höhe einer Sperrklausel um eine wertende Prognoseentscheidung (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 111; VerfGH Saarland, Urteil vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, juris, Rn. 28). Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Festlegung einer exakten Prozentzahl, bei deren Unterschreitung eine Zersplitterung des Bundestages eintritt, nicht möglich ist.

79

Entschließt sich der Gesetzgeber zur Einführung einer Sperrklausel, darf er in aller Regel kein höheres als ein Fünf-Prozent-Quorum - bezogen auf das Wahlgebiet - begründen (vgl. BVerfGE 51, 222 <237>; 71, 81 <97>; 82, 322 <338>; 95, 408 <419>; stRspr). Innerhalb dieser Grenze unterliegt es aber seiner Entscheidung, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft (vgl. BVerfGE 6, 84 <94>; 51, 222 <237 f.>; 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Es steht ihm grundsätzlich frei, auf die Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Möglichkeiten zu ergreifen (vgl. BVerfGE 82, 322 <339>; 95, 408 <419>). Mit der Festlegung der Höhe der Sperrklausel auf 5 % hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, die zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet erscheint. Ob auch mit einer niedrigeren Sperrklausel dieses Ziel in gleich geeigneter Weise dauerhaft erreicht werden kann, ist nicht zweifelsfrei feststellbar. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber das Maß des Erforderlichen nicht beachtet hat und nach dem Grundsatz des milderen Mittels verfassungsrechtlich verpflichtet war, eine niedrigere Sperrklausel festzulegen. Vielmehr hat er den ihm gemäß Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumten Spielraum nicht überschritten.

80

2. Hiervon ausgehend ist auch die Einführung einer Eventualstimme für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, verfassungsrechtlich nicht geboten. Dabei kann dahinstehen, ob und inwieweit einem Eventualstimmrecht verfassungsrechtliche Bedenken unter den Gesichtspunkten der Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit der Wahl sowie der Unvereinbarkeit eines bedingten Votums mit dem Demokratieprinzip entgegenstehen (vgl. dazu Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 6 Rn. 37; Buchwald/Rauber/Grzeszick, LKRZ 2012, S. 441 <444 f.>; Damm, DÖV 2013, S. 913 <917 ff.>; Heußner, LKRZ 2014, S. 7 <9 ff.>; Linck, DÖV 1984, S. 884 <885 f.>; Zimmer, DÖV 1985, S. 101; siehe auch VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 4 ff.).

81

Einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Einführung eines Eventualstimmrechts steht jedenfalls entgegen, dass dieses zwar einerseits den mit einer Sperrklausel verbundenen Eingriff in den Grundsatz der gleichen Wahl insoweit abzumildern geeignet ist, als sich damit die Zahl der Wählerinnen und Wähler verringern ließe, die im Deutschen Bundestag nicht repräsentiert sind wenn die von ihnen mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert (vgl. VerfGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 1 VB 25/16 -, juris, Rn. 10). Andererseits würde die Einführung einer Eventualstimme aber die Komplexität der Wahl erhöhen, so dass eine Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen erscheint. Vor allem aber wäre die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme ebenfalls in relevantem Umfang mit Eingriffen in den Grundsatz der Wahlgleichheit, möglicherweise auch der Unmittelbarkeit der Wahl verbunden. Dies gilt hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit, falls sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme an Parteien vergeben werden, die jeweils die Sperrklausel nicht überwinden. Daneben erscheint die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme aber auch mit Blick auf die Zählwertgleichheit nicht unproblematisch: Während die Stimmen derjenigen, die eine Partei wählen, die die Sperrklausel überwindet, nur einmal gezählt werden, ist dies bei Stimmen, mit denen in erster Priorität eine Partei gewählt wird, die an der Sperrklausel scheitert, nicht der Fall. Vielmehr wären sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme gültig. Die Hauptstimme würde bei der Feststellung des Wahlergebnisses berücksichtigt, wäre im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung relevant und bliebe lediglich bei der Mandatsverteilung ohne Erfolg. Daneben wäre auch die Eventualstimme eine gültige Stimme, die beim Wahlergebnis berücksichtigt und zusätzlich bei der Mandatsverteilung Relevanz entfalten würde. Mit Blick auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl kann die Eventualstimme Probleme aufwerfen, weil letztlich andere Wähler darüber entscheiden, für wen eine Stimme abgegeben wird.

82

Vor diesem Hintergrund lässt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Pflicht zur Einführung eines Eventualstimmrechts ableiten. Angesichts der ambivalenten Wirkungen einer Verbesserung der Integrationsfunktion der Wahl einerseits und einer erhöhten Komplexität und Fehleranfälligkeit des Wahlvorgangs sowie der Herbeiführung neuer Eingriffe in die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl andererseits kann das Eventualstimmrecht nicht als zweifelsfrei "gleich geeignetes, milderes Mittel" zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments angesehen werden (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, juris, Rn. 107). Vielmehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen des ihm durch Art. 38 Abs. 3 GG zugewiesenen Gestaltungsauftrags verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter und Wahlrechtsgrundsätze - auch im Verhältnis zueinander - zum Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 131, 316 <338>; 132, 39 <48 Rn. 26> m.w.N.). Dies gilt auch für die Abwägung zwischen den Belangen der Funktionsfähigkeit des Parlaments, dem Anliegen einer umfassenden Integrationswirkung und den Geboten der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien (vgl. BVerfGE 95, 408 <420>). Es wäre demgemäß Sache des Gesetzgebers, die mit einem Eventualstimmrecht verbundenen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen und auf dieser Grundlage über dessen Einführung zu entscheiden.

83

3. Schließlich ist die Wahlprüfungsbeschwerde offensichtlich unbegründet, soweit der Beschwerdeführer eine mandatsrelevante Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG aufgrund des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern annimmt. Dies gilt sowohl, soweit der Beschwerdeführer sich allgemein gegen die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern während des Wahlkampfes wendet (a), als auch, soweit er deren Beteiligung am Bundestagswahlkampf 2013 rügt (b).

84

a) Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, dass sich aus der Beschäftigung der Abgeordnetenmitarbeiter während des Wahlkampfes erhebliche Wettbewerbsvorteile für die im Parlament vertretenen Parteien ergäben, da deren Tätigkeit immer auch einen Bezug zur Wahl habe, kann dem ein Wahlfehler nicht entnommen werden.

85

aa) Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG liegt das Bild eines Abgeordneten zugrunde, der im Parlament durch Plenar- und Ausschusssitzungen, in der Fraktion und Partei durch inhaltliche Arbeit sowie im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit durch Veranstaltungen der verschiedensten Art, nicht zuletzt durch Wahlvorbereitungen und Wahlversammlungen in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 40, 296 <312>; 134, 141 <173 f. Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Dass der Abgeordnete bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben auf die Unterstützung von Mitarbeitern angewiesen ist, ist angesichts der Komplexität der ihm übertragenen Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeiten, der personellen Überlegenheit des Regierungsapparates und der Vielfältigkeit seiner Beanspruchung im Wahlkreis und der sonstigen Öffentlichkeit evident. Daher ist die Erstattung der damit verbundenen Aufwendungen sachgerecht. § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG begrenzt diesen Erstattungsanspruch auf den mandatsbedingten Aufwand. Die hiervon losgelöste Wahrnehmung von Partei- oder Wahlkampfaufgaben ist nicht erstattungsfähig (vgl. BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 94>). Staatliche Mittel zur Beschäftigung von Mitarbeitern werden dem Abgeordneten nur zur Verfügung gestellt, soweit sich deren Tätigkeit auf die Unterstützung bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit beschränkt.

86

bb) Als Verbindungsglied zwischen Parlament und Bürger gehört es zu den Hauptaufgaben des Abgeordneten, insbesondere im eigenen Wahlkreis engen Kontakt mit der Partei, den Verbänden und nicht organisierten Bürgern zu halten (vgl. BVerfGE 134, 141 <173 Rn. 96>; 140, 1 <33 Rn. 92>). Diese Aufgabe endet nicht mit dem Beginn des Wahlkampfes, sondern erst, wenn der Abgeordnete aus dem Parlament ausscheidet. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe umfasst der Anspruch des Bundestagsabgeordneten auf Ersatz der Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG auch den Einsatz von Mitarbeitern im Wahlkreis (vgl. BVerfGE 140, 1 <33 Rn. 93>). Dabei ist die Erstattungsfähigkeit von Aufwendungen auch in diesem Fall auf Tätigkeiten beschränkt, die den Abgeordneten bei der Ausübung seines Mandats unterstützen.

87

cc) Zwar ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass die Wahlkreisarbeit des Abgeordneten in die Bewertung seiner Tätigkeit einfließt und auf die Wahlchancen seiner Person und der von ihm vertretenen Partei zurückwirkt. Auch geht gegen Ende der Legislaturperiode die Beanspruchung des Abgeordneten durch Tätigkeiten im Plenum, in den Ausschüssen und den Fraktionen des Parlaments zurück, während die Beanspruchung im Wahlkreis steigt. Dies allein rechtfertigt es jedoch nicht, den Anspruch des Abgeordneten auf Ersatz seines mandatsbedingten Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG während des Wahlkampfes dem Grunde nach von vornherein in Abrede zu stellen.

88

dd) Zutreffend ist freilich die Beobachtung, dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats und der Betätigung im Wahlkampf nicht in jedem Einzelfall möglich sein wird. Dies gilt beispielsweise für die vom Beschwerdeführer aufgeführten Fälle der Beantwortung von Presse- und Bürgeranfragen in Wahlkampfzeiten oder die Koordination von Veranstaltungen und öffentlichen Terminen. Selbst wenn, wie der Beschwerdeführer vorträgt, die wahlkreisbezogenen Aktivitäten der Abgeordneten und der Umfang der an sie gerichteten Anfragen in Vorwahlzeiten sprunghaft ansteigen, hindert dies den Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter jedoch nicht, soweit im Einzelfall ein hinreichender Mandatsbezug erkennbar vorliegt. Ist dieser gegeben, ist der dienstliche Einsatz des Abgeordnetenmitarbeiters als Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats nicht zu beanstanden. Daraus sich ergebende Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Die Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seiner Mandatspflichten durch eigene Mitarbeiter und die Erstattung des damit verbundenen Aufwands gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG ist auch in Wahlkampfzeiten kein Eingriff in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien. Etwas anderes kann nur gelten, soweit Abgeordnetenmitarbeiter im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit auch jenseits der Unterstützung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats für Parteiaufgaben oder Wahlkampfaktivitäten eingesetzt werden.

89

b) Soweit der Beschwerdeführer eine solche Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang geltend macht, ist der behauptete Wahlfehler nicht nachgewiesen (aa). Die dafür vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände scheiden als Indizien aus, weil sie von vornherein nicht geeignet sind, einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern in diesem Wahlkampf zu belegen oder sich nicht verifizieren lassen (bb). Soweit eine punktuelle Beteiligung einzelner Abgeordnetenmitarbeiter am Bundestagswahlkampf 2013 im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit möglich erscheint, fehlt es jedenfalls an der Mandatsrelevanz dieses Verhaltens (cc).

90

aa) (1) Nehmen Abgeordnetenmitarbeiter während der Dienstzeit an Wahlkampfeinsätzen teil und wird dem Abgeordneten der dabei entstehende Aufwand ersetzt, liegt eine unzulässige Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen zu Parteizwecken vor. Dann ist zugleich ein Wahlfehler in Form einer Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG gegeben. Voraussetzung der Begründetheit einer hierauf gestützten Wahlprüfungsbeschwerde ist allerdings, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachgewiesen werden kann und dieser nach dem Grundsatz potentieller Kausalität (siehe oben B. I. 2. b) Rn. 40) Mandatsrelevanz zukommt. Die bloße Möglichkeit oder Vermutung eines derartigen Verhaltens genügt demgegenüber nicht.

91

(2) Dabei ist für die Annahme einer "Art Beweis des ersten Anscheins" kein Raum. Ihr steht entgegen, dass die durch die Wahl hervorgebrachte Volksvertretung wegen der ihr zukommenden Funktionen größtmöglichen Bestandsschutz verlangt (vgl. BVerfGE 89, 246 <253>). Daher ist das festgestellte Wahlergebnis allein dann infrage zu stellen und kommt ein Eingriff in die sich daraus ergebende Zusammensetzung des Parlaments nur in Betracht, wenn feststeht, dass die Ordnungsgemäßheit der Wahl in einer Weise gestört wurde, die sich mandatsrelevant ausgewirkt haben kann. Auch wenn die Feststellung eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten im tatsächlichen Bereich stößt, vermindert dies die Anforderungen an den Nachweis des behaupteten Wahlfehlers nicht (vgl. zur Substantiierungspflicht trotz tatsächlicher Schwierigkeiten BVerfGE 40, 11 <32>; 59, 119 <124>; 66, 369 <379>; 122, 304 <309>).

92

(3) Vielmehr haben die Wahlprüfungsorgane auf der Grundlage eines hinreichend substantiierten Sachvortrags das Vorliegen des behaupteten Wahlfehlers von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmen sich Inhalt und Umfang dieser Ermittlungspflicht nach der Art des beanstandeten Wahlergebnisses und des gerügten Wahlmangels (vgl. BVerfGE 85, 148 <160>). Lässt sich letztendlich nicht aufklären, ob ein Wahlfehler vorliegt oder ein vorliegender Wahlfehler sich auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben kann, bleibt die Wahlprüfungsbeschwerde ohne Erfolg (vgl. Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 48 Rn. 32).

93

bb) Der ganz überwiegende Teil der vom Beschwerdeführer angeführten Umstände ist zum Nachweis eines missbräuchlichen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 von vornherein nicht geeignet. Dies gilt für die allgemeinen Ausführungen des Beschwerdeführers zur Höhe, zu den Steigerungsraten und zum Verfahren der Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter (1) sowie zur unzureichenden Transparenz und Kontrolle der Mittelverwendung (2) ebenso wie für die Darlegungen zur Beschäftigung von Parteifunktionären (3) und zur Verlagerung des Schwerpunktes der Abgeordnetentätigkeit während des Wahlkampfes vom Parlament in den Wahlkreis (4). Der anonymen Äußerung eines ehemaligen Fraktionsmitarbeiters kommt kein Beweiswert zu, weil sie sich nicht verifizieren lässt (5).

94

(1) (a) Der bloße Hinweis auf die Höhe der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern insgesamt und individuell zur Verfügung gestellten Mittel und deren Steigerungsraten sowie der Vergleich der Höhe dieser Mittel mit den angeblich geringeren Wahlkampfbudgets der Abgeordneten erlauben keinen Rückschluss auf einen missbräuchlichen, während ihrer Dienstzeit erfolgten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Eine dahingehende Indizwirkung könnte allenfalls in Betracht kommen, wenn feststellbar wäre, dass Mittel in einem Umfang bereitgestellt wurden, der zur Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung der parlamentarischen Arbeit nicht erforderlich und daher geeignet war, einer Verwendung für Partei- oder Wahlkampfzwecke Vorschub zu leisten (vgl. dazu BVerfGE 140, 1 <34 Rn. 95>). Dazu verhält sich der Beschwerdeführer aber nicht. Auch ansonsten ist nicht erkennbar, dass die Höhe der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter einen Umfang erreicht hätte, der das zur Erstattung des mandatsbedingten Aufwandes notwendige Maß übersteigt.

95

(b) Ebenso müssen die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel für Abgeordnetenmitarbeiter außer Betracht bleiben. Selbst wenn sein Vortrag zur Verletzung des Gesetzesvorbehalts zuträfe, rechtfertigte dies nicht die Annahme, dass mit den im Bundeshaushalt ausgewiesenen Mitteln der unzulässige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 finanziert wurde. Insoweit fehlt der konkrete Bezug zu der mit der Wahlprüfungsbeschwerde angegriffenen Bundestagswahl. Die behauptete Verfassungswidrigkeit des Verfahrens zur Festsetzung der Mittel vermag deren zweckwidrige Verwendung nicht nachzuweisen.

96

(2) Auch die Ausführungen des Beschwerdeführers zur unzureichenden Kontrolle der Mittelverwendung lassen nicht den Schluss zu, Abgeordnetenmitarbeiter seien in großem Umfang während ihrer Dienstzeit im Bundestagswahlkampf 2013 eingesetzt worden. Der Beschwerdeführer verweist darauf, dass eine Kontrolle der Verwendung der für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern festgesetzten Mittel durch den Bundesrechnungshof seit 1993 nicht mehr stattfinde und die Abgeordneten auch ansonsten keinerlei öffentliche Rechenschaft ablegen müssten. Diese vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände erlauben aber nicht den Rückschluss auf einen umfänglichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013. Allenfalls sind die behaupteten Defizite geeignet, unzulässige Wahlkampfeinsätze von Abgeordnetenmitarbeitern zu erleichtern. Der hinreichende Nachweis, dass derartige Einsätze im Bundestagswahlkampf 2013 tatsächlich stattgefunden haben, kann dadurch aber nicht ersetzt werden.

97

(3) Nichts anderes gilt, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, Parteifunktionäre würden häufig als Abgeordnetenmitarbeiter eingestellt und bildeten das eigentliche organisatorische Rückgrat der Parteien. Allein aus dem Umstand, dass Abgeordnetenmitarbeiter Parteifunktionen wahrnehmen, folgt nicht, dass sie dafür in unzulässiger Weise aus öffentlichen Mitteln entlohnt werden (vgl. BVerfGE 140, 1 <35 Rn. 99>). Ebenso wenig lässt sich aus der Beschäftigung von Funktionsträgern der Partei folgern, dass diese während der Dienstzeit in unzulässiger Weise an Wahlkampfeinsätzen teilnehmen. Konkret auf einzelne Parteifunktionäre bezogene Sachverhalte oder sonstige Belege hierfür benennt der Beschwerdeführer nicht. Auch insoweit reicht sein Vortrag über die bloße Vermutung eines Wahlfehlers nicht hinaus.

98

(4) Ebenfalls nicht geeignet, den missbräuchlichen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf zu belegen ist der allgemeine Hinweis, dass in einem Wahljahr mit Beginn der Sommerferien im Parlament "alle Räder still" stünden, während die Zahl der Anfragen, Veranstaltungen und Pressetermine stark anwachse. Allein aus dem Umstand, dass sich während der Sommerpause - insbesondere in Wahljahren - der Tätigkeitsschwerpunkt des Abgeordneten in seinem Wahlkreis befindet, folgt nicht, dass die Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit keine mandatsbezogenen Tätigkeiten erledigen, sondern Parteiaufgaben oder Wahlkampfeinsätze wahrnehmen.

99

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 13 AbgG. Auch wenn nach dieser Vorschrift im Falle des Eintritts in den Deutschen Bundestag im letzten Vierteljahr der Wahlperiode ein Anspruch auf Aufwandsentschädigung nicht besteht, lässt dies keinen Rückschluss auf den mandatsbedingten Arbeitsanfall eines längerfristig dem Bundestag angehörenden Abgeordneten zu. Erst recht erlaubt dies nicht die Unterstellung, dass Mitarbeiter längerfristig tätiger Abgeordneter in dem genannten Zeitraum jenseits der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG eingesetzt würden.

100

Ob die Behauptung des Beschwerdeführers zutrifft, ein immer größerer Teil der rund 4.400 persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten würde im Wahlkreis eingesetzt, kann deshalb dahinstehen. Selbst wenn dem so wäre, folgte daraus nicht, dass diese Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit Aufgaben ohne Mandatsbezug wahrgenommen und sich am Bundestagswahlkampf 2013 beteiligt haben.

101

(5) Schließlich muss die Behauptung des Beschwerdeführers, ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe geäußert, alle Abgeordneten beschäftigten ihre Mitarbeiter auch zu Wahlkampfzwecken, außer Betracht bleiben. Es handelt sich insoweit um ein anonymes Zitat aus einer Presseerklärung des SWR vom 17. September 2013. Der Beschwerdeführer hat weder den Urheber dieses Zitats benannt, noch sonstige Möglichkeiten einer Verifizierung der Aussage aufgezeigt.

102

cc) Anhaltspunkte für einen unzulässigen Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 können sich daher nur aus den im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 angesprochenen Sachverhalten und Äußerungen ergeben (1). Insoweit kann aber nach dem Ergebnis der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin (2) der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf während der Dienstzeit nur in sehr geringem, punktuellem Umfang als nachgewiesen angesehen werden (3). Möglichkeiten zu einer weitergehenden Aufklärung der angesprochenen Sachverhalte von Amts wegen bestehen nicht (4). Soweit überhaupt ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 angenommen werden kann, kommt dem keine Mandatsrelevanz zu (5).

103

(1) In dem Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 kommen drei Bundestagsabgeordnete und drei ihrer Mitarbeiter zu Wort, deren Aussagen für einen Einsatz der Mitarbeiter im Wahlkampf sprechen. So erklärte der Bundestagsabgeordnete Bx., dass man im Wahlkampf die Mitarbeiter im Wahlkreis zusammenziehe und alle mithelfen würden. Seine Mitarbeiterin Z. behauptete, jeden Tag zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen. Der Abgeordnete By. bezeichnete es als Vorteil, "jemand Erfahrenen dann auch als Hauptamtlichen zu haben", und bezog auf Nachfrage diese Aussage auch auf den Wahlkampf. Die Leiterin seines Wahlkreisbüros H. gab an, "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit im Moment" zu erledigen. Der Mitarbeiter P. der (damaligen) Bundestagsabgeordneten H. verwies darauf, dass die Mitarbeiter aktuell "vor allem im Wahlkampf" eingebunden seien. Schließlich bemerkte der (damalige) Bundestagsabgeordnete Bz., wer seinen Wahlkampf ohne seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgreich machen könne, habe entweder "verdammt viele finanzielle Ressourcen oder den Wert seiner Mitarbeiter nicht verstanden". In dem Bericht des Politikmagazins waren diese Aussagen unter anderem mit Bildern unterlegt, die die Mitarbeiterin H. am 10. September 2013 um kurz nach sechs Uhr morgens beim Verteilen von Brezeln und die Mitarbeiterin Z. beim Verteilen von Blumen im Rahmen einer Tür-zu-Tür-Aktion zeigten.

104

(2) Demgegenüber erklärten in dem aufgrund des "Report Mainz"-Berichts wegen des Verdachts der Untreue eingeleiteten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin die hierzu fast vollzählig vernommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der betroffenen Bundestagsabgeordneten übereinstimmend, dass eine Beteiligung am Wahlkampf ausschließlich ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags und außerhalb der Dienstzeit stattgefunden habe. Seitens der Abgeordneten seien entsprechende Ansprachen in deutlicher Form erfolgt. Die im Filmbeitrag gezeigten Einstellungen seien auf Bitten des Fernsehteams gestellt worden. Weiterhin äußerten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass in Wahlkampfzeiten Mehrarbeit aufgrund einer erhöhten Zahl von Presse- und Bürgeranfragen und eines größeren Aufwandes zur Koordinierung und Vorbereitung von Terminen anfalle. Dabei wurde eingeräumt, dass eine Trennung zwischen mandats- und wahlkampfbezogenem Aufwand nicht immer möglich sei. Zugleich wurde teilweise detailliert dargelegt, in welcher Weise versucht worden sei, eine organisatorische, personelle und räumliche Trennung zwischen Wahlkampforganisation und Wahlkreisarbeit herbeizuführen. Die Mitarbeiterin Z. gab an, ihre Aussage, zehn bis zwölf Stunden Wahlkampf zu machen, habe sich auf das quantitativ gestiegene Aufkommen an Terminen und Anfragen bezogen und sei vielleicht etwas übertrieben gewesen. Auch die Büroleiterin des Abgeordneten By. erklärte, grundsätzlich seien im Wahlkreisbüro keine Wahlkampfaufgaben angefallen. Man habe mal für die gefilmte Brezelaktion Aufkleber auf Wahlkampftüten geklebt. Die Teilnahme an dieser Aktion habe auf Wunsch der Projektleiterin des SWR außerhalb der Dienstzeiten stattgefunden. Die Aussage "achtzig Prozent Wahlkampf und zwanzig Prozent Wahlkreisarbeit" beziehe sich auf den erhöhten Koordinationsaufwand angesichts der Fülle von Terminen und Anfragen während des Wahlkampfes.

105

Die Staatsanwaltschaft Berlin sah danach eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit nur in geringem Umfang als nachgewiesen an (Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H., Benutzung eines PCs für Wahlkampfaktionen, Betrieb eines Wahlkreisbüros in einer Bürogemeinschaft mit dem Kreisverband einer Partei) und stellte das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 9. November 2015 gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

106

(3) Vor diesem Hintergrund kann die Behauptung des Beschwerdeführers, im Bundestagswahlkampf 2013 seien in großem Umfang unter Verstoß gegen § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Abgeordnetenmitarbeiter eingesetzt worden, nicht als nachgewiesen angesehen werden.

107

(a) Dies gilt bereits hinsichtlich der im Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" geschilderten Einzelfälle. Zwar sprechen die in diesem Bericht getätigten Aussagen für eine intensive Wahlkampfbeteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten. Zudem vermögen die Versuche einer Relativierung dieser Aussagen durch die Mitarbeiterinnen Z. und H. in dem durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht restlos zu überzeugen. Der Annahme eines umfänglichen dienstlichen Einsatzes im Bundestagswahlkampf 2013 stehen jedoch die übereinstimmenden Aussagen der nahezu vollzählig vernommenen übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Abgeordneten entgegen, wonach die Beteiligung am Wahlkampf außerhalb der Dienstzeiten ehrenamtlich oder aufgrund eines gesonderten Auftrags der jeweiligen Partei erfolgt sei. Angesichts dieser nicht widerlegbaren Einlassungen teilt der Senat die Einschätzung der Ermittlungsbehörde, dass lediglich in geringem Umfang ein dienstlicher Wahlkampfeinsatz der Abgeordnetenmitarbeiter erwiesen ist.

108

(b) Hinzu kommt, dass sich der Bericht des Politikmagazins "Report Mainz" vom 17. September 2013 auf die Beschreibung weniger Einzelfälle beschränkt. Die Übertragbarkeit der beschriebenen Sachverhalte auf die Gesamtheit der Bundestagsabgeordneten wird vom Beschwerdeführer nicht begründet, sondern lediglich unterstellt. Sie ist auch nicht in sonstiger Weise ersichtlich.

109

(4) Eine weitergehende Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen kommt nicht in Betracht, da es an tauglichen Ansatzpunkten für ergänzende Ermittlungen fehlt.

110

(a) Soweit der Beschwerdeführer die Vernehmung der verantwortlichen Autoren des "Report Mainz"-Beitrags zum Beweis der Behauptung beantragt hat, dass die im Film gezeigten Szenen nicht gestellt seien, kommt es darauf nicht an. Selbst wenn es sich entgegen der Einlassung der im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren vernommenen Personen nicht um gestellte Szenen handeln würde, könnte daraus nicht gefolgert werden, dass ein Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 in großem Umfang stattgefunden hat. Die Autoren des Fernsehbeitrags könnten allenfalls etwas zu den von ihnen gefilmten, punktuellen Situationen sagen. Außerdem wäre damit die Behauptung der ehrenamtlichen Betätigung im Wahlkampf - jedenfalls über die konkret gefilmten Situationen hinaus - nicht widerlegt. Aus den gleichen Gründen war die vom Beschwerdeführer begehrte Vernehmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der im "Report Mainz"-Bericht gezeigten Bundestagsabgeordneten nicht geboten.

111

(b) Sonstige Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen bestehen nicht. Weitere überprüfbare Umstände, die geeignet wären, die Behauptung des Beschwerdeführers zum umfänglichen Einsatz der Abgeordnetenmitarbeiter im Bundestagswahlkampf 2013 zu belegen, sind weder von diesem vorgetragen noch in sonstiger Weise ersichtlich.

112

In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass der Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern sich öffentlich weitgehend nicht nachvollziehen lässt. Zugleich kann der Abgeordnete bei der Wahrnehmung seines Mandats in erheblichem Umfang auf staatlich finanzierte Ressourcen zurückgreifen. Neben den für die Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern zur Verfügung gestellten Mitteln (2017: 212,620 Mio. Euro - vgl. Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 vom 20. Dezember 2016, BGBl I S. 3016 ff. [Haushaltsgesetz 2017], Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 411 03), die in ihrem Volumen die Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung deutlich übersteigen (2017: 143,000 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 60 , Kapitel 6002, Titel 684 03), sind insoweit auch die den Fraktionen gewährten Zuschüsse (2017: 88,097 Mio. Euro - vgl. Haushaltsgesetz 2017, Einzelplan 02 , Kapitel 0212, Titel 684 01) und die Möglichkeiten des Abgeordneten in Rechnung zu stellen, sich der Unterstützungsleistungen der Verwaltung des Deutschen Bundestages, insbesondere des Wissenschaftlichen Dienstes, zu bedienen. Die sich aus einem ordnungsgemäßen Einsatz dieser Ressourcen ergebenden Ungleichheiten für die Teilnehmer am politischen Wettbewerb sind zwar als Teil des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz sie versteht, hinzunehmen (vgl. BVerfGE 138, 102 <114 f. Rn. 44>; 140, 1 <28 Rn. 76, 33 f. Rn. 93>). Angesichts des erheblichen Umfangs der zur Verfügung gestellten Ressourcen gebietet der Grundsatz der Chancengleichheit aber eine strikte Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben beim Einsatz dieser Mittel. Ihrer zweckwidrigen Verwendung ist durch geeignete Vorkehrungen entgegenzuwirken (vgl. zum Einsatz von Druckwerken der Bundesregierung im Wahlkampf: BVerfGE 44, 125 <126 Leitsatz 9, 154>).

113

Dies gilt für die Mittel zur Beschäftigung von Abgeordnetenmitarbeitern in besonderer Weise. Die unvermeidbaren Überschneidungen zwischen der Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats im Wahlkreis und der Beteiligung am Wahlkampf führen zu in hohem Maße missbrauchsanfälligen Situationen. Hinzu kommt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten regelmäßig ein großes politisches und nicht selten auch ein persönliches, auf eine weitere Beschäftigung gerichtetes Interesse am Wahlerfolg des einzelnen Abgeordneten haben. Umso notwendiger ist es, zur Gewährleistung eines chancengleichen Wettbewerbs der politischen Parteien durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Abgeordnetenmitarbeiter sich im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließlich auf die Unterstützung des Abgeordneten bei der Erledigung seiner parlamentarischen Arbeit im Sinne von § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG beschränken.

114

Dieser gebotenen Sicherstellung eines hinreichenden Mandatsbezugs bei der Tätigkeit der Abgeordnetenmitarbeiter genügt der gegenwärtige Regelungsbestand nicht. Der Abgeordnete erhält zwar gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern nur "gegen Nachweis" ersetzt. Dabei hat er gemäß § 12 Abs. 3 Satz 5 AbgG das Haushaltsgesetz und die vom Ältestenrat erlassenen Ausführungsbestimmungen zu beachten und insbesondere einen Arbeitsvertrag vorzulegen, der mindestens die vom Ältestenrat in einem Musterarbeitsvertrag getroffenen Regelungen enthalten muss. Eine zweckwidrige Verwendung der Mittel hat der Bundestagspräsident zu unterbinden (vgl. BVerfGE 80, 188 <231>) sowie zu viel gezahlte Beträge zurückzufordern. Außerdem sind bei einem Einsatz der Mittel zur unzulässigen Parteienfinanzierung Strafzahlungen gemäß § 31c PartG festzusetzen (vgl. zum Ganzen: BVerfGE 140, 1 <36 f. Rn. 103>). Außerdem kann der rechtswidrige Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern für Parteizwecke, wie der vorliegende Fall zeigt, auch gemäß § 266 StGB strafbar sein. Darüber hinausgehende Vorkehrungen zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Verwendung der dem Abgeordneten zur Verfügung stehenden Mittel und insbesondere zum Ausschluss des spezifischen Risikos eines unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf bestehen jedoch nicht. Insbesondere ist der Abgeordnete - im Unterschied zu den Fraktionen des Deutschen Bundestages (§ 52 Abs. 1 AbgG) - nicht verpflichtet, über den Einsatz dieser Mittel öffentlich Rechenschaft abzulegen. Eine externe Kontrolle der Mittelverwendung findet nicht statt. Spezifische Vorkehrungen zur Nachvollziehbarkeit der Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG fehlen. Damit wird der besonderen Missbrauchsanfälligkeit hinsichtlich des Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf nicht ausreichend Rechnung getragen. Der Deutsche Bundestag wird zur Wahrung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) durch ergänzende Regelungen des Abgeordnetengesetzes oder anderer untergesetzlicher Vorschriften dafür Sorge zu tragen haben, dass der Verwendung von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf verstärkt entgegengewirkt wird und die Einhaltung der Grenzen des § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG nachvollziehbarer Kontrolle unterliegt.

115

(5) Der vorliegenden Wahlprüfungsbeschwerde vermag dieses Regelungsdefizit jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen. Die bloße Möglichkeit des unzulässigen Einsatzes von Abgeordnetenmitarbeitern genügt zur Feststellung eines die Gültigkeit der Wahl berührenden Wahlfehlers nicht. Erforderlich ist vielmehr der konkrete Nachweis, dass eine Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Wahlkampf während der Dienstzeit stattgefunden hat und dadurch der chancengleiche Wettbewerb zwischen den Parteien in mandatsrelevanter Weise gestört wurde. Dass dies - wie vom Beschwerdeführer behauptet - im Bundestagswahlkampf 2013 der Fall war, kann nach dem vorstehend Gesagten nicht festgestellt werden.

116

Soweit auf der Grundlage des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens punktuell ein unzulässiger Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Bundestagswahlkampf 2013 in Betracht kommt, fehlt es an der erforderlichen Mandatsrelevanz. Es ist nicht erkennbar, dass das Packen von Wahlkampftüten in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. und die Benutzung eines Dienst-PCs anstelle eines privaten Laptops in mandatsrelevanter Weise auf die Wahl eingewirkt haben. Dem steht im Fall der Abgeordneten H. bereits entgegen, dass diese nicht erneut in den Bundestag eingezogen ist. Auch im Fall des Abgeordneten By. ist eine mandatsrelevante Auswirkung der festgestellten Sachverhalte fernliegend. Weder steht fest, in welchem Umfang und mit welchem Zeitaufwand Wahlkampftüten durch seine Mitarbeiter gepackt wurden, noch ist ersichtlich, dass die Verteilung dieser Tüten das Wahlergebnis in relevanter Weise beeinflusst hat.

III.

117

Auch eine Verletzung subjektiver Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 48 Abs. 1 und 3 BVerfGG liegt nicht vor.

118

1. Soweit bereits kein Wahlfehler gegeben ist, ist eine Verletzung subjektiver Rechte ausgeschlossen. Dies gilt für die Sperrklausel (mit und ohne Eventualstimmrecht) und für den behaupteten Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf in großem Umfang.

119

2. Hinsichtlich der sich aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergebenden Einzelfälle unzulässiger Wahlkampftätigkeit ist eine subjektive Rechtsverletzung nicht erkennbar. Eine unzulässige Beteiligung von Abgeordnetenmitarbeitern am Bundestagswahlkampf greift primär in den Anspruch auf Chancengleichheit der politischen Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG ein. Eine darüber hinausgehende Verletzung der subjektiven Rechte des Beschwerdeführers ist nicht ersichtlich. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch die geschilderten Vorfälle in den Wahlkreisbüros der Abgeordneten By. und H. das Wahlrecht des Beschwerdeführers in irgendeiner Weise betroffen wurde.

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Verfahrens sind die Beschwerden mehrerer Wahlberechtigter gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Wahl vom 6. Mai 2012 (Landtags-Drucksache 18/163, PlPr 18/7, S. 427 <429>).

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauteten zum Zeitpunkt der Landtagswahl:

3

Artikel 3

Wahlen und Abstimmungen

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.
(2) […]
(3) Die Wahlprüfung und die Abstimmungsprüfung stehen den Volksvertretungen jeweils für ihr Wahlgebiet zu. Ihre Entscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung.
(4) […]
4

Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) Der Landtag ist das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung. Der Landtag wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Er übt die gesetzgebende Gewalt aus und kontrolliert die vollziehende Gewalt. Er behandelt öffentliche Angelegenheiten.
(2) Die Abgeordneten des Landtages werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
5

Artikel 5

Nationale Minderheiten und Volksgruppen

(1) Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
(2) Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.
6

2. § 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz – LWahlG –) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) bestimmt:

§ 3

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) - (7) […]

7

3. Bereits die Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949 (GVOBl 1950 S. 3) enthielt die seither unveränderte Regelung des heutigen Art. 5 Abs. 1 LV. Mit Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) ist Art. 5 Abs. 2 LV im Rahmen der Verfassungsreform auf Empfehlung des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ aufgenommen worden.

8

Die Vorschriften zur dänischen Minderheit in Art. 5 LV und in § 3 Abs. 1 LWahlG haben ihren Ursprung in der von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung mit Billigung des Schleswig-Holsteinischen Landtages abgegebenen Kieler Erklärung vom 26. September 1949 (GVOBl S. 183) und den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4). Letztere waren das Ergebnis von Beratungen der Dänischen Regierung und der deutschen Bundesregierung und bestanden aus je einer Erklärung der Bundesregierung im Einvernehmen mit der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung und der Dänischen Regierung. Der Deutsche Bundestag, der Schleswig-Holsteinische Landtag und das dänische Folketing haben diesen Erklärungen zugestimmt

(vgl. dazu im Einzelnen: Abdruck bei Jäckel, Die Schleswig-Frage seit 1945, Frankfurt am Main, Berlin 1959, S. 71 ff.).

9

Sowohl die Kieler Erklärung als auch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen wurden mit dem Ziel abgegeben,

das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung beiderseits der deutsch-dänischen Grenze und damit auch die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark allgemein zu fördern.

Sie bekräftigen, dass die Angehörigen der dänischen Minderheit wie alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 garantierten Rechte genießen. Schon in der Kieler Erklärung war unter anderem festgestellt worden, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist und von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden darf (a.a.O., S. 184, II. Nr. 1). Dieser Grundsatz wurde in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen übernommen (a.a.O., S. 5).

10

Der Gesetzgeber nahm erstmals mit § 3 Abs. 1 LWahlG vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) die Grundmandatsklausel, die 5%-Klausel sowie eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten in das Wahlrecht auf. Letztere beschränkte sich darauf, dass bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war.

11

Mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) wurden die Vorschrift über Parteien nationaler Minderheiten aufgehoben und die Sperrklausel auf 7,5% angehoben. Diese 7,5%-Klausel erklärte das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) für verfassungswidrig

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.).

Daraufhin wurde in § 3 Abs. 1 LWahlG vom 5. November 1952 (GVOBl S. 175) die bis heute geltende 5%-Klausel verankert.

12

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurden mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) die Parteien der dänischen Minderheit durch Einfügung des bis heute geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG von der 5%-Klausel ausgenommen.

13

Durch die Wahlrechtsänderung im Jahre 1997 (vgl. Gesetz zur Änderung des LWahlG vom 27. Oktober 1997, GVOBl S. 462) wurde die Zweitstimme bei Landtagswahlen eingeführt. § 3 Abs. 1 LWahlG ist im Wesentlichen unverändert geblieben; lediglich das Wort „Stimmen“ wurde durch „Zweitstimmen“ ersetzt.

14

4. Nach dem endgültigen Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 6. Mai 2012 (Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499) entfielen von den gültigen Zweitstimmen

auf die CDU

        

30,8 %,

auf die SPD

        

30,4 %,

auf die FDP

        

 8,2 %,

auf die GRÜNEN

        

13,2 %,

auf die LINKE

        

 2,3 %,

auf den SSW

        

 4,6 %,

auf die PIRATEN

        

 8,2 %,

auf die FREIEN WÄHLER

        

0,6 %,

auf die NPD

        

 0,7 %,

auf die FAMILIE

        

 1,0 %

und auf die MUD

        

 0,1 %.

15

An der Verteilung der Sitze aus den Landeslisten nach § 3 Abs. 1 LWahlG nahmen die CDU, die SPD, die FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der SSW und die PIRATEN teil.

16

Von den 69 zu vergebenden Sitzen entfielen gemäß § 3 Abs. 3 LWahlG aufgrund des Zweitstimmenergebnisses

auf die CDU

        

22 Sitze,

auf die SPD

        

22 Sitze,

auf die FDP

        

 6 Sitze,

auf die GRÜNEN

        

 10 Sitze,

auf den SSW

        

 3 Sitze

und auf die PIRATEN

        

 6 Sitze.

17

Sämtliche der von der CDU und 13 der von der SPD errungenen Sitze wurden als Direktmandate besetzt und nach § 3 Abs. 4 LWahlG auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet. Mehrsitze (§ 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG), die entstehen und verbleiben, wenn die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer ist als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, fielen nicht an.

18

Gegen das bekanntgemachte Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 gingen bei der Landeswahlleiterin 35 Einsprüche ein, die überwiegend – mit unterschiedlicher Begründung – die Teilnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) an der Sitzverteilung für rechtswidrig hielten. Nach entsprechender Vorprüfung leitete die Landeswahlleiterin die Einsprüche zur Vorbereitung der Wahlprüfung durch den Landtag an dessen Innen- und Rechtsausschuss als Wahlprüfungsausschuss weiter. Die Landeswahlleiterin teilte weder die in den Einsprüchen geltend gemachten Zweifel daran, dass der SSW eine Partei der dänischen Minderheit sei, noch diejenigen an der Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 LWahlG. Zudem wies sie darauf hin, dass allein das Landesverfassungsgericht das Landeswahlgesetz verfassungsrechtlich überprüfen kann (Vorprüfungsbericht vom 13. Juli 2012, Landtags-Umdruck 18/45).

19

Am 5. September 2012 empfahl der Wahlprüfungsausschuss dem Landtag, die Einsprüche zurückzuweisen und das vom Landeswahlausschuss festgestellte und von der Landeswahlleiterin bekannt gegebene Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 6. Mai 2012 zu bestätigen (Landtags-Drucksache 18/163). Am 26. September 2012 beschloss der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, FDP, SSW und zwei Stimmen aus der Fraktion der PIRATEN, diese Empfehlung anzunehmen (PlPr 18/7, S. 427 <429>). Dies teilte der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages den Einspruchführenden jeweils mit Bescheid vom 27. September 2012 mit.

II.

20

Gegen den Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 haben die wahlberechtigte Beschwerdeführerin und die wahlberechtigten Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben, die das Gericht mit Beschluss vom 8. März 2013 unter dem Aktenzeichen LVerfG 9/12 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat. Sie begehren eine Aufhebung des Landtagsbeschlusses mit dem Ziel, die Landtagswahl zu wiederholen; die Beschwerdeführerin verlangt vorrangig eine Änderung des Beschlusses und eine Neufeststellung des Wahlergebnisses, bei der nur diejenigen Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5% der Zweitstimmen erzielt haben.

21

Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer sind der Auffassung, es sei schon zweifelhaft, ob überhaupt eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein existiere, weil Angehörige der dänischen Minderheit nicht erkennbar seien und eine Assimilation stattgefunden habe, bzw. die Anzahl der Angehörigen nicht nachgewiesen sei. Darüber hinaus machen sie geltend, der SSW sei jedenfalls keine Partei der dänischen Minderheit mehr, so dass die Befreiung von der 5%-Klausel nach § 3 Abs. 1 LWahlG nicht auf ihn anwendbar sei. Ob die überwiegende Zahl der Mitglieder des SSW der dänischen Minderheit angehöre, sei nicht bekannt, zumal selbst der Vorsitzende des SSW im Landtag Friese sei. Ein besonderer Einsatz für dänische Belange sei nicht mehr erkennbar, der SSW decke vielmehr alle Politikfelder ab und unterscheide sich nicht von anderen Parteien. Dies zeige die angestrebte und realisierte Regierungsbeteiligung. Der hohe Anteil an Zweitstimmen, die der SSW außerhalb seines ursprünglichen Tätigkeitsbereichs erzielt habe, belege, dass der SSW keine Partei der dänischen Minderheit mehr sei.

22

Darüber hinaus halten die Beschwerdeführer § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungswidrig. Der Grundsatz der Wahlgleichheit in seiner Ausprägung als Erfolgswertgleichheit sowie der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien würden durch die Befreiung von Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verletzt; seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts seien diese überprivilegiert. Ein zwingender Grund, der eine Differenzierung rechtfertigen kann, sei nicht gegeben. Weder könne ein solcher aus der Landesverfassung noch aus den Bonn-Kopenhagener Erklärungen hergeleitet werden. Ein Teil der Beschwerdeführer meint zudem, § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch gegen Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen seiner Abstammung oder Sprache bevorzugt oder benachteiligt werden darf.

III.

23

1. Der Landtag und die Landesregierung haben Stellung genommen. Sie halten übereinstimmend die Wahlprüfungsbeschwerden für unbegründet. Sie sind der Auffassung, dass der SSW gegenwärtig unverändert eine Partei der dänischen Minderheit ist. Der SSW trete auf vielfältige Weise für Ziele und Interessen der dänischen Minderheit ein, was sich aus seiner Satzung und seinem Programm ergebe. Gegen seine Einstufung als Minderheitenpartei spreche nicht, dass der SSW sämtliche Politikfelder abdecke. Er habe seit jeher zu allen Feldern der Landespolitik Stellung bezogen. Dass er nun auch außerhalb seines satzungsmäßigen Tätigkeitsgebiets Südschleswig und Helgoland wählbar ist, beeinträchtige nicht seine unverändert fortbestehende Verwurzelung in der dänischen Minderheit.

24

Nach Auffassung des Landtages und der Landesregierung sind sowohl die 5%-Klausel selbst als auch die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel verfassungsmäßig. Beide verweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich das Landesverfassungsgericht zu eigen gemacht habe. Danach könnten „zwingende“ bzw. „zureichende“ Gründe eine Abweichung von der Gleichbehandlung der Wählerstimmen rechtfertigen.

25

Der Landtag stellt hierzu heraus, dass die 5%-Klausel gerechtfertigt sei, um die Funktionsfähigkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung zu sichern und zu stärken. Es genüge insoweit, wenn ohne Sperrklausel die Integrationswirkung der Wahl gefährdet werde und eine Funktionsstörung des Landtages durch Zersplitterung des Parteienspektrums wahrscheinlich sei. Dies sei heute ebenso gegeben wie bei der Einführung der 5%-Klausel. Eine Sperrklausel sei geeignet, schwere politische Krisen zu verhindern oder zumindest deren Folgen abzumildern. Dies betreffe sowohl die Regierungsbildung als auch die Gesetzgebung und die Aufstellung des Haushaltes. Diese Einschätzung werde durch den internationalen Vergleich mit Ländern mit niedrigerer oder ohne Sperrklausel bestätigt: Dort sei die Regierungsbildung häufig schwierig und langwierig.

26

Die Landesregierung hält die 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ebenfalls für verfassungsmäßig. Sie meint, es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Funktionsfähigkeit des Parlaments als zwingenden Grund für Sperrklauseln gegen parlamentarische Splitterparteien anzusehen. Es gehe insoweit um die Fähigkeit des Parlaments, seine Aufgaben der Gesetzgebung und der Regierungsbildung zu erfüllen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts zu Kommunal- und Europawahlen seien auf die Landtagswahl nicht übertragbar, weil der Landtag die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten wähle, die oder der auf das fortlaufende Vertrauen einer Mehrheit des Landtages angewiesen sei. Angesichts der tatsächlichen politischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein drohten eine Zersplitterung des Parlaments und dadurch eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, was sich anhand der Wahlergebnisse aus den Landtagswahlen von 2009 und 2012 belegen lasse.

27

Der Landtag und die Landesregierung halten die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG für verfassungsgemäß. Der Landtag macht insoweit geltend, dass das verfassungsrechtlich legitime Ziel die politische Integration der dänischen Minderheit sei, die nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung hat. Da nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen unter dem Schutz des Landes steht, sei das Land zumindest berechtigt, wenn nicht verpflichtet, Parteien der dänischen Minderheit die Wahl in den Landtag als Mittel der politischen Mitwirkung zu erleichtern.

28

§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG stelle keine Privilegierung der dänischen Minderheit dar, sondern gleiche den Nachteil aus, dass dieser Teil der Wählerschaft nicht groß genug sei, um mit Sicherheit die 5%-Hürde zu überwinden. Die Sorge um gute Beziehungen Deutschlands und Schleswig-Holsteins zum Nachbarstaat Dänemark habe den Gesetzgeber bewogen, die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel auszunehmen. Zudem habe er durch die Einbeziehung der dänischen Minderheit in die politische Willensbildung Spannungen abbauen wollen, die auf Grund der besonderen Lage im Grenzgebiet entstanden seien und jederzeit wieder entstehen könnten. Dadurch habe der Gesetzgeber einen wesentlichen Teil seiner verfassungsrechtlichen Pflicht aus Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV erfüllt. Die Integration der dänischen Minderheit in die Landespolitik komme im Sinne eines gutnachbarlichen, vertrauensvollen Verhältnisses der Volksgruppen zueinander und störungsfreier Beziehungen zu Dänemark allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes zugute.

29

Nach Auffassung des Landtages werden Parteien der dänischen Minderheit auch nicht dadurch übermäßig begünstigt, dass sie in den landesweiten Verhältnisausgleich einbezogen werden. Dies sei vielmehr Folge des schleswig-holsteinischen Zweistimmenwahlrechts, das im gesamten Landesgebiet einheitlich und uneingeschränkt gilt.

30

Die Landesregierung betont, dass der Landesgesetzgeber im Rahmen der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG einen autonomen Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlsystems habe, so dass er das Teilgebot der Erfolgswertgleichheit in begrenzter Weise ausgestalten dürfe. Hier ergebe sich ein zwingender Grund für die wahlrechtliche Sonderregelung für Parteien der dänischen Minderheit zunächst aus Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, aber auch unmittelbar aus bundesrechtlichen Erwägungen. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der im Wahlrecht nicht gelte. Unabhängig davon wäre das Benachteiligungsverbot wegen der Abstammung aber auch tatbestandlich nicht einschlägig, weil die Zugehörigkeit zu einer Minderheit nicht aus der Familiengeschichte der Person folge, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit.

31

2. Die Landeswahlleiterin vertritt in ihrer Stellungnahme – wie bereits im Vorprüfungsverfahren – die Auffassung, dass kein Anlass bestehe, die Anerkennung des SSW als Partei der dänischen Minderheit in Frage zu stellen. Sie meint, sowohl die Regelung über die 5%-Klausel als auch die Ausnahme hiervon für Parteien der dänischen Minderheit seien nicht verfassungswidrig.

32

3. Auch nach Auffassung des SSW im Landtag ist die Wahlprüfungsbeschwerde unbegründet. Er macht geltend, dass er weiterhin als Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen eine Partei der dänischen Minderheit sei und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Sperrklausel erfülle. Insbesondere führten weder die Befassung mit allgemeinen Themen noch seine Regierungsbeteiligung dazu, dass er die Eigenschaft einer Partei der dänischen Minderheit verloren habe. Dies folge schon aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Aufgabenspektrum einer Partei und dem Umfang des Mandats von Abgeordneten. Er trägt anhand seiner Programme und Aktivitäten im Landtag seit der 1. Wahlperiode vor, dass er seit jeher zu allen Politikfeldern Stellung bezogen habe. Darüber hinaus sei seine Verflechtung mit den Institutionen der dänischen Minderheit evident.

33

Nach Ansicht des SSW im Landtag hält § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Die Befreiung von der 5%-Klausel greife nicht in die Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien ein, sondern sei gerechtfertigt, um einen Nachteil auszugleichen. Hierzu verweist er auf mathematische Berechnungen. Der SSW sei keine Splitterpartei. Als legitime Gründe für seine Befreiung von der 5%-Hürde seien unter anderem Art. 5 Abs. 2 LV, die Integrationsfunktion der Wahlen und die Bindung der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins an die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen anzuführen. Gleich geeignete und weniger einschneidende Mittel, die angestrebten Zwecke zu erreichen, gebe es nicht. Die Gründe für die Befreiung von der 5%-Klausel überwögen den verhältnismäßig geringen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit.

34

4. Die FDP-Landtagsfraktion ist der Auffassung, dass eine Mandatszuteilung zugunsten des SSW nur mit einem Sitz erfolgen dürfe. Hierzu verweist sie auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten (Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungs-rechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013). Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV gewährleiste noch eindringlicher als das Grundgesetz den Grundgedanken der Wahlgleichheit. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei eine Rückausnahme von einer Einschränkung des wahlrechtlichen Gleichheits-grundsatzes (der 5%-Klausel) und müsse im Zusammenhang mit dieser beurteilt werden. Parteien der dänischen Minderheit würden durch die Regelung gegenüber anderen Parteien begünstigt. Eine solche Ungleichbehandlung könne nicht allgemein mit der Integrationsfunktion der Wahl begründet werden. Die Integration nationaler Minderheiten sei zwar ein legitimes Ziel der schleswig-holsteinischen Wahlgesetzgebung, jedoch nach Art. 5 Abs. 2 LV nicht geboten. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG sei geeignet, das legitime Ziel zu erreichen, jedoch nicht erforderlich. Eine auf Südschleswig beschränkte regionalisierte Regelung wäre ein milderes Mittel. Ebenso wäre es möglich, bei Unterschreiten der 5%-Klausel durch eine Partei der dänischen Minderheit diese nur mit der ersten Person auf der Landesliste am Verhältnisausgleich teilnehmen zu lassen. Die dänische Minderheit sei nicht wegen ihrer Stimmenzahl, sondern auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bezugspersonen wesentlich. Ihre Integration werde nicht weiter dadurch gestärkt, dass sie mit mehreren Abgeordneten vertreten sei.

35

5. Nach Auffassung der Piratenfraktion im Landtag ist die 5%-Klausel nicht mehr zu rechtfertigen, weil die Bildung von Regierungskoalitionen auch ohne 5%-Sperrklausel möglich bleibe. Dies bewiesen die Verhältnisse in anderen europäischen Staaten, in denen die Sperrklausel nicht gelte. Dann wäre auch die Sonderregelung für den SSW beseitigt, ohne die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag zu erschweren.

B.

36

Gegen die Entscheidung des Landtages vom 26. September 2012 über die Gültigkeit und das Ergebnis der Landtagswahl vom 6. Mai 2012 ist gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 3 Nr. 5 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht (LVerfGG) die Beschwerde zum Landesverfassungsgericht gegeben. Danach ist Gegenstand der Wahlprüfung die Rechtmäßigkeit des die Wahlprüfung abschließenden Beschlusses des Landtages und die von ihm angenommene Gültigkeit der Wahl (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 LV, § 50 Abs. 1 LVerfGG, § 43 Abs. 2 LWahlG). Wahlberechtigte, deren Einsprüche der Landtag verworfen hat, sind zur Beschwerde befugt (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 LVerfGG).

C.

37

Die zulässigen Wahlprüfungsbeschwerden sind unbegründet. Der Beschluss des Landtages vom 26. September 2012 ist rechtmäßig. Zu Recht hat der SSW mit 4,6% der gültigen Zweitstimmen am Verhältnisausgleich teilgenommen und ist mit drei Abgeordneten im Landtag vertreten. Das festgestellte Ergebnis der Landtagswahl ist nicht zu beanstanden. Weder hat die Rüge der fehlerhaften Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG auf den SSW (I.) noch die der Verfassungswidrigkeit von § 3 LWahlG (II.) Erfolg.

I.

38

Aus der einfachgesetzlichen Anwendung des Wahlrechts ergeben sich keine Wahlfehler. Dabei hat das Landesverfassungsgericht die einschlägigen Normen selbst auszulegen und zum Maßstab der Wahlprüfung zu machen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 46, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 50; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -, BVerfGE 97, 317 ff., Juris Rn. 15 und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 90; Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 49 Rn. 34 m.w.N.).

39

Für die Wahl zum 18. Landtag wurde § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG zu Recht auf den SSW angewandt.

40

Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten die in Satz 1 der Vorschrift geregelten Einschränkungen zur Teilnahme am Verhältnisausgleich – für eine Partei muss entweder in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden sein oder sie muss insgesamt fünf v.H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt haben – nicht für Parteien der dänischen Minderheit. Um eine Partei der dänischen Minderheit handelt es sich, wenn diese eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Parteiengesetz (PartG) ist (1.), es unverändert eine dänische Minderheit gibt (2.), und die Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen ist und weiterhin von ihr getragen und geprägt wird (3). Danach ist der SSW eine Partei der dänischen Minderheit.

41

1. Der SSW ist eine Partei im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG. Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Sie müssen nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.

42

Diese Voraussetzungen erfüllt der SSW, der seit seiner Gründung 1948 regelmäßig zu Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag angetreten ist

(vgl. Kühl, Dänische Minderheitenpolitik in Deutschland, Südschleswigscher Wählerverband , in: Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 142 <147 ff.>).

43

2. Es gibt in Schleswig-Holstein auch unverändert eine dänische Minderheit. Ihre Existenz wird mit dem erst mit der Verfassungsreform durch das Gesetz zur Änderung der Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) aufgenommenen Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV anerkannt. Der Landesverfassungsgeber hat diese Regelung aktuell bestätigt, indem erden Anspruch auf Schutz und Förderung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV mit Gesetz zur Änderung der Landesverfassung Schleswig-Holstein vom 28. Dezember 2012 (GVOBl 2013 S. 8) um „die Minderheit der deutschen Sinti und Roma“ ergänzt, die Vorschrift die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe betreffend aber unverändert gelassen hat. Auch die Bundesrepublik Deutschland setzte bei ihrer Zustimmung zum Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995 (BGBl 1997 II S. 1406) voraus, dass eine dänische Minderheit in Schleswig-Holstein besteht. Die Bundesregierung hat bei der Zeichnung des Rahmenübereinkommens am 11. Mai 1995 ausdrücklich erklärt, dass nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit sind (BGBl 1997 II S. 1418). Schließlich belegen die Minderheitenberichte der Landesregierung die unveränderte Existenz und Aktivität der dänischen Minderheit im Einzelnen

(zuletzt: Bericht der Landesregierung zur Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in der 17. Legislaturperiode (2009 – 2012) – Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37 ff.).

44

Zudem tritt die dänische Minderheit zum Beispiel durch ihre Schulen, den dänischen Kulturverein – den Sydslesvigsk Forening (SSF) – mit seinen Einrichtungen und Veranstaltungen sowie durch die in dänischer Sprache erscheinende Zeitung Flensborg Avis im nördlichen Schleswig-Holstein (Südschleswig) wahrnehmbar in Erscheinung.

45

3. Eine Partei ist dann eine Partei der dänischen Minderheit, wenn sie aus der Minderheit hervorgegangen ist und sie gegenwärtig personell von der Minderheit getragen wird sowie programmatisch von ihr geprägt ist

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 36; Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 4; Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG SH>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 13).

Diese Voraussetzungen treffen auf den SSW zum Zeitpunkt der Landtagswahl im Jahr 2012 zu. Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch.

46

Die genannten Merkmale folgen bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, der besagt, dass die Einschränkungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG nicht für Parteien „der“ dänischen Minderheit gelten. Da der Gesetzgeber nicht Parteien „für“ die dänische Minderheit von der Sperrklausel ausgenommen hat, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden, dass sich die von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG erfassten Parteien personell, thematisch und programmatisch ausschließlich an die dänische Minderheit richten müssten oder nur von ihren Angehörigen wählbar wären. Sowohl die Wählbarkeit und Wahl durch alle Wählerinnen und Wähler, also auch Nicht-Angehörige der Minderheit, als auch die Befassung mit allen politischen Themen gehören zudem notwendig zu einer Partei, wie dies bundesrechtlich durch Art. 21 GG und § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG zwingend vorgegeben ist; sie sind Ausdruck der den Parteien im demokratischen Gefüge zukommenden Integrationsfunktion. Ohne personelle und programmatische Prägung durch die dänische Minderheit aber wäre eine Partei ihr nicht zuzuordnen, weil ansonsten der im Gesetz vorgegebene Bezug zur Minderheit fehlte. Insofern muss die Partei aus der Minderheit hervorgegangen sein und von ihr auch gegenwärtig noch getragen und geprägt werden.

47

a) Der SSW ist als Partei aus der dänischen Minderheit hervorgegangen. Er wurde 1948 als Partei der dänischen Minderheit in Südschleswig und der nationalen Friesen in Nordfriesland als Südschleswigscher Wählerverband gegründet. Zuvor hatte die britische Besatzungsmacht der dänischen Minderheit bereits den Status einer nationalen Minderheit und deren kultureller Organisation, dem SSF, für die Landtagswahl 1947 vorübergehend den Status einer politischen Partei zuerkannt. Nach der Landtagswahl wurde dem SSF die Anerkennung wieder entzogen, weil sich dieser dafür einsetzte, den nördlichen Landesteil an Dänemark anzuschließen bzw. als unabhängiges Territorium zu behandeln. Daraufhin wurde der SSW als politische Interessenvertretung der Minderheit neben dem fortan ausschließlich auf kulturellem Gebiet tätigen SSF geschaffen

(vgl. Kühl, a.a.O., S. 142 ff.; Kühn, a.a.O., S. 43 f. m.w.N.).

48

aa) Die enge Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit spiegelt sich auch in der geschichtlichen Entwicklung des § 3 LWahlG wider:

49

Die erste Fassung von § 3 LWahlG vom 31. Januar 1947 (ABl S. 95) enthielt keine Sonderregelung für nationale Minderheiten. Der SSF errang bei der Landtagswahl 1947 9,27% der insgesamt im Land abgegebenen gültigen Stimmen. Mit zwei Wahlkreiskandidaten (Wahlkreise Flensburg I Stadt und Flensburg II Glücksburg) und vier weiteren Sitzen, die er über die Landesliste erhielt, war er im Landtag vertreten

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahlen zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 20. April und 18. Mai 1947 vom 8. August 1947, ABl S. 399).

50

Der sodann gegründete SSW, der Kandidaten nur in Südschleswig aufgestellt hatte, erzielte bei der Landtagswahl 1950 5,5% der Stimmen; er war mit zwei Direktkandidaten und zwei weiteren von der Landesliste gewählten Kandidaten in den Landtag eingezogen

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 9. Juli 1950 vom 17. Juli 1950, ABl S. 328).

51

Das Landeswahlgesetz vom 27. Februar 1950 (GVOBl S. 77) enthielt erstmals eine 5%-Sperrklausel und eine Sonderregelung für Parteien nationaler Minderheiten, nach der bei Parteien nationaler Minderheiten die Zulassung von Wahlvorschlägen in allen Wahlkreisen nicht Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich war. Die Vorschrift bezog sich sowohl nach dem Verständnis des Gesetzgebers

(vgl. Landtags-Protokolle vom 21. Dezember 1949, S. 33 ff. und vom 27. Februar 1950, S. 48; dazu auch Kühn, a.a.O., S. 67 ff. m.w.N.)

als auch nach der Rechtsprechung des seinerzeit zuständigen Oberverwaltungsgerichts

(vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 19. Juni 1950 - II OVG A 243/50 -, OVGE MüLü. Band 2, S. 157 <173>)

auf den SSW.

52

Die mit Landeswahlgesetz vom 22. Oktober 1951 (GVOBl S. 180) eingeführte 7,5%-Klausel hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 5. April 1952 (- 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff.) wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin hat der Landtag das Wahlgesetz geändert und in § 3 Abs. 1 LWahlG anstelle der 7,5%-Klausel die 5%-Klausel verankert (LWahlG vom 5. November 1952, GVOBl S. 175).

53

Nachdem der SSW bei der Bundestagswahl am 6. September 1953 nur 3,3 % der in Schleswig-Holstein abgegebenen Zweitstimmen erhalten hatte (bei der Bundestagswahl 1949 waren es 5,4 % und bei der Landtagswahl 1950 5,5 %), rief er erneut das Bundesverfassungsgericht an, weil er die 5%-Klausel im Landeswahlgesetz ohne Sonderregelung für Parteien einer nationalen Minderheit für verfassungswidrig hielt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 11. August 1954 (- 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff.) die Norm unbeanstandet gelassen.

54

Auf die Bonn-Kopenhagener Erklärungen hin wurde die noch heute geltende Fassung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG mit Gesetz vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) eingeführt. Diese Regelung war auf den SSW zugeschnitten worden

(vgl. Antrag der SSW-Fraktion vom 9. April 1954, Landtags-Drucksache 2/573, PlPr 82. Sitzung vom 27. April 1954, S. 1531 ff.).

55

bb) Dass der SSW sich seit Beginn seiner Tätigkeit auch als Vertretung der Friesen versteht, vermag hieran nichts zu ändern. Er ist aus den historisch miteinander verknüpften Bewegungen der nationalen Friesen und der dänischen Minderheit hervorgegangen. Dies war dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG bekannt und für ihn kein Hindernis, den SSW als Partei der dänischen Minderheit anzusehen

(so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 44 mit weiteren Ausführungen dazu).

56

b) Der SSW wird auch gegenwärtig personell von der dänischen Minderheit getragen und programmatisch von ihr geprägt.

57

aa) Die personelle Verknüpfung des SSW mit der dänischen Minderheit ergibt sich insbesondere aus der Doppelmitgliedschaft einer großen Anzahl von Personen, die sowohl im SSW als auch in den weiteren Organisationen der Minderheit engagiert sind. Diese arbeiten im Südschleswigschen Gemeinsamen Rat für die dänische Minderheit (Det Sydslesvigske Samråd) zusammen und stimmen ihr gemeinsames Vorgehen ab

(vgl. Minderheitenbericht 2011, Landtags-Drucksache 17/2025, S. 37).

58

Zu den Organisationen der dänischen Minderheit gehören neben dem SSW und dem SSF unter anderem die Dänische Kirche in Südschleswig (Dansk Kirke i Sydslesvig), der Dänische Schulverein für Südschleswig (Dansk Skoleforening for Sydslesvig), die Dänischen Jugendverbände in Südschleswig (Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger ), die Dänische Zentralbibliothek für Südschleswig (Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig), der Dänische Gesundheitsdienst (Dansk Sundhedstjeneste for Sydslesvig), die Dänische Volkshochschule (Jaruplund Højskole) und die Tageszeitung Flensborg Avis

(vgl. Minderheitenbericht 2011, a.a.O., S. 153 f.).

59

Nach Angaben des Landesverbandes des SSW sind von den 3.660 SSW-Mitgliedern 78 % gleichzeitig Mitglied im SSF, dem dänischen Kulturverein, und ca. 2% Mitglied im Friisk Foriining, dem friesischen Kulturverein. Viele seien zusätzlich Mitglieder in Skoleforening, SdU, Dansk Kirke usw., worüber keine Statistik geführt werde. Alle führenden Politikerinnen und Politiker des SSW seien Mitglied im dänischen Kulturverein oder übten dort Funktionen aus. Die große Mehrheit der Vorsitzenden und Hauptamtlichen der Organisationen der dänischen Minderheit seien jedenfalls Mitglied im SSW oder sogar in der Kommunalpolitik und Organisation der Partei aktiv

(vgl. Dossier 08 Dokument 01 der Stellungnahme des SSW zum Verfahren).

Spezifische Gründe dafür, diese Angaben zu bezweifeln, sind im Verfahren nicht vorgetragen worden.

60

bb) Der SSW ist auch programmatisch durch die Minderheit geprägt, was sich aus seiner Satzung, seinen Programmen und seinem Zusammenwirken mit den örtlichen Vereinigungen in seinem Tätigkeitsgebiet Südschleswig und Helgoland, dem angestammten Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, ergibt. Daran ändert weder die Wählbarkeit der Liste im ganzen Land noch die Wahrnehmung eines allgemeinen politischen Mandats etwas.

61

(1) In § 2 Nr. 2 der Satzung des SSW heißt es:

(...) Die Partei wirkt auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, ihrer Satzung sowie der Rahmen- und Aktionsprogramme an der politischen Willensbildung mit. Der SSW ist die politische Vertretung der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen in Südschleswig und fühlt sich diesen besonders verpflichtet, will zugleich aber auch dem Wohl aller Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein dienen. Der SSW tritt für eine demokratische Lebens- und Gesellschaftsform ein, die von sozialer Gerechtigkeit, gegenseitiger Achtung und dem Respekt gegenüber den Mitmenschen nach nordischem Vorbild geprägt ist. Der SSW will an der Verständigung zwischen den Völkern und an der Zusammenarbeit in Europa mitwirken. Seine Politik ist frei und unabhängig.

62

Das Verständnis der nordischen Rechtstradition, das für das Wirken maßgebend ist, wird in den verschiedenen Programmen des SSW aufgegriffen. So beschreibt das seit dem 13. Februar 1999 geltende Rahmenprogramm, dass

(...) die Grundwerte des SSW (…) vor allem von unserem besonderen Standpunkt als Minderheitenpartei, von der regionalen Verankerung im Norden Schleswig-Holsteins und von unserer besonderen Verbindung zu den nordischen Ländern geprägt (werden).

63

Das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2012 enthält einerseits Aussagen zur allgemeinen Landespolitik. Andererseits gibt es Belege einer ausdrücklich dänischen Ausrichtung wie etwa bei der Schulpolitik, der Hochschulzusammenarbeit, der Anerkennung von Berufsabschlüssen, bei grenzüberschreitenden Gesundheitsangeboten, dem Erfahrungsaustausch mit Grenzregionen und bei der Verkehrsinfrastruktur zur Anbindung an Dänemark

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 20 ff.).

Dazu gehört auch die Forderung, dass im Schulgesetz des Landes wieder die Förderung des Dänischen Schulvereins mit 100 % der öffentlichen Schülerkostenansätze verankert und dadurch die Gleichstellung der Kinder an den dänischen Schulen wiederhergestellt wird

(vgl. Wahlprogramm des SSW 2012, S. 50).

64

(2) Der SSW verliert seine Prägung auch nicht durch seine über eine spezifische Minderheitenpolitik hinausreichende Tätigkeit.

65

(a) Der Umstand, dass der SSW seit Einführung des Zweistimmenwahlrechts durch Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) im gesamten Land wählbar ist, steht seiner Eigenschaft als Partei der dänischen Minderheit nicht entgegen.

66

Allein die Änderung des Wahlrechts kann den Status des SSW als Minderheitenpartei nicht beeinflussen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004 - 2 BvL 18/02 -, NVwZ 2005, 205 ff. = NordÖR 2005, 19 ff., Juris Rn. 25 ff.).

Es läge sonst in der Hand der Mehrheit, durch ein entsprechendes Wahlrecht den Status der Minderheitenpartei aufzuheben. Der SSW hatte sich im Übrigen ausdrücklich gegen die Wahlrechtsänderung ausgesprochen

(vgl. Landtags-Drucksache 14/39, PlPr 14/37, S. 2449 – Zweite Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des LWahlG, Redebeitrag der Abgeordneten Spoorendonk –).

67

Zudem werden Direktkandidatinnen und Direktkandidaten des SSW für den Landtag seit 1997 – wie zuvor – nur in Südschleswig und im Wahlkreis Pinneberg Nord (Helgoland) aufgestellt, obwohl es dem SSW schon vor der Wahlrechtsänderung möglich gewesen wäre, in allen Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2004, a.a.O., Juris Rn. 27 unter Hinweis auf Ausschussprotokoll 14/32 der vorbereitenden Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses vom 13. August 1997, S. 14 sowie die Beiträge im PlPr 14/37, S. 2445 ff.).

68

Die Wahlrechtsänderung hat somit zwar zu einer Wählbarkeit der Liste des SSW im ganzen Land geführt, dessen Charakter als Partei der dänischen Minderheit aber in der politischen Wirklichkeit nicht wesentlich verändert. Die verstärkte Wahrnehmung des SSW, die im gesamten Land durch die Wählbarkeit seiner Liste entstanden ist, reicht für einen solchen grundlegenden Wandel seines Charakters als Minderheitenpartei nicht aus.

69

(b) Einschränkungen der programmatischen Ausrichtung auf minderheitenspezifische Themen – wie dies die Beschwerdeführer für angezeigt hielten – widersprächen nicht nur dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG, sondern auch seinem Sinn und Zweck, mit dem die Vorgaben der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfüllt werden sollen () und die dänische Minderheit in das allgemeinpolitische Gemeinwesen der Mehrheit integriert werden soll (). Eine Beschränkung der Wählbarkeit des SSW auf Angehörige der Minderheit stünde zudem im Widerspruch zu den spezifischen landesverfassungsrechtlichen Regelungen, in deren Kontext die Vorschrift steht ().

70

(aa) Als Ergebnis der deutsch-dänischen Besprechungen hat das Auswärtige Amt in der Protokollerklärung zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 (Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4) unter I. Nr. 3 ausdrücklich ausgeführt:

Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat die Bundesregierung davon unterrichtet, daß sie bereit ist:

a) darauf hinzuwirken, daß der Schleswig-Holsteinische Landtag eine Ausnahmebestimmung von der 5%-Klausel in § 3 des Schleswig-Holsteinischen Landeswahlgesetzes zu Gunsten der dänischen Minderheit baldmöglichst beschließt; (…).

Dem ist der schleswig-holsteinische Gesetzgeber nachgekommen, indem er mit Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 31. Mai 1955 (GVOBl S. 124) den bis heute unverändert geltenden § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG eingefügt hat.

71

(bb) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG will entsprechend dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung die Repräsentanz der dänischen Minderheit als politisch bedeutsame Strömung im Parlament sichern.

72

Die Vertretung anerkannter nationaler Minderheiten ist stets politisch bedeutsam

(so auch BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff., Juris Rn. 34 und vom 13. Juni 1956 - 1 BvR 315/53 u.a. -, BVerfGE 5, 77 ff., Juris Rn. 22; Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

An der Behandlung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein nimmt die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere Dänemark, Anteil. Denn nachdem die Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Zeichnung und Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich erklärt hatte, dass unter anderem die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit eine nationale Minderheit in der Bundesrepublik seien (BGBl II vom 29. Juli 1997 S. 1418), hat Dänemark seinerseits erklärt, dass das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten auf die deutsche Minderheit in Südjütland (Nordschleswig) im Königreich Dänemark Anwendung findet

(vgl. Erklärung Dänemarks vom 22. September 1997 zur Anwendung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Abdruck bei Kühl/ Bohn, Ein europäisches Modell? Bielefeld 2005, S. 553).

Durch die Vertretung der dänischen Minderheit im Landtag wird verhindert, dass diese sich eher einem anderen Staat (Dänemark) zugehörig fühlt, und dass durch Ausgrenzung separatistische Tendenzen entstehen. Zudem wird ermöglicht, dass die spezifischen Belange der nationalen Minderheit in den politischen Willensbildungsprozess einfließen und die von der Minderheit vertretenen Werte das Wirken des Parlaments beeinflussen können.

73

Eine Partei der dänischen Minderheit übt die ihr in der politischen Willensbildung zukommende Mittlerfunktion zwar für einen bestimmten Teil des Staatsvolkes – für diejenigen deutschen Staatsangehörigen, die sich zur dänischen Minderheit bekennen – aus

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 14).

Da aber politische Auseinandersetzung und Einflussnahme einer Partei im Sinne von Art. 21 GG, dessen Grundsätze nicht nur im Bund, sondern unmittelbar auch in den Ländern gelten

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff. Juris Rn. 64 und vom 24. Januar 1984 - 2 BvH 3/83 -, BVerfGE 66, 107 ff., Juris Rn. 23 m.w.N., stRspr.),

immanent ist, muss eine Partei nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG das Ziel verfolgen, dauernd oder für längere Zeit im Bund oder Land auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen und an der Vertretung des gesamten Volkes im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag mitzuwirken

(vgl. Lenski, PartG, 1. Aufl. 2011, § 2 Rn. 7).

74

Programmatische Prägung durch die Minderheit bedeutet deshalb nicht, dass die Partei auf minderheitenspezifische Themen beschränkt werden könnte. Dem Integrationsanliegen wird nur Genüge getan, wenn die Partei der dänischen Minderheit sich nicht auf Partikularinteressen beschränkt; andernfalls wäre sie auch für die Minderheit selbst unwählbar, weil keine Teilhabe an der politischen Willensbildung angestrebt würde

(vgl. Pieroth, a.a.O., S. 28 f.).

75

Die Aussage des SSW, sich für alle Menschen in seinem Tätigkeitsgebiet einsetzen und zu allen Fragen der Landespolitik Stellung beziehen zu wollen, ist Ausdruck dieses Integrationsgedankens. Das legitime Ziel, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, wird auch von der dänischen Minderheit mitgetragen. Der Südschleswigsche Gemeinsame Rat wollte sich nach der Resolution vom 24. Januar 2011 für einen Regierungswechsel einsetzen. Dies kann als Aufforderung an den SSW seitens der dänischen Minderheit verstanden werden, sich an einem Regierungswechsel zu beteiligen.

76

(cc) Schließlich liefen Beschränkungen der Wählbarkeit dem Grundsatz der geheimen Wahl (Art. 3 Abs. 1 LV) und der Freiheit des Bekenntnisses zur Minderheit (Art. 5 Abs. 1 Halbs. 1 LV) zuwider. Da sowohl das Verlangen nach Offenbarung der gewählten Partei verboten ist

(vgl. Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 3 Rn. 71 ff.; Achterberg/ Schulte, in: von Mangoldt/ Klein/ Starck, Band 2, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Rn. 151 f.; Trute, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 65 ff.),

als auch eine Nachprüfung des nationalen Bekenntnisses anhand objektiver Kriterien wie etwa Abstammung oder Fremdsprachigkeit ausgeschlossen ist

(vgl. Abschnitt II Ziff. 1 der „Kieler Erklärung“ vom 26. September 1949, GVOBl S. 183 f.; von Mutius, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung, 1995, Art. 5 Rn. 5; Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10; Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 34 ff.; Lemke, Nationale Minderheiten und Volksgruppen im schleswig-holsteinischen und übrigen deutschen Verfassungsrecht, Kiel 1998, S. 242 ff.),

sind der Adressatenkreis der Parteitätigkeit und die Wählerschaft nicht im Einzelnen personell eingrenzbar.

II.

77

Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel ist mit der Landesverfassung vereinbar. Sie verletzt weder den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 2 LV) noch das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG) (1.). Auch die in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG festgelegte Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel ist nicht zu beanstanden. Insoweit ist Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im vorliegenden Kontext kein geeigneter Maßstab (2.). § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (3.).

78

1. Die Wahlgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Deutschen Bundestag gelten. Auf sie ist das Land nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Deshalb kann für die Auslegung von Art 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden, soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 90 m.w.N., LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 95).

79

a) Die Gleichheit der Wahl gebietet, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlgesetz gestaltet nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV das Nähere des in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV als personalisierte Verhältniswahl festgelegten Wahlsystems aus. Dabei müssen die Stimmen aller Wahlberechtigten ex ante betrachtet den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 91 ff., a.a.O., Juris Rn. 96 ff.; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41).

80

Den gleichen Anforderungen hat das Wahlrecht auch im Hinblick auf die in Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit der Parteien zu genügen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 42).

81

Aus der Chancengleichheit der Parteien folgt für Verhältniswahlen, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind und dass jeder Partei und Wählergruppe grundsätzlich die gleichen Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden

(vgl. BVerfGE, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris, Rn. 99, 103 und vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Rn. 79, 82; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 -, DVBl 2013, 304 ff. = NordÖR 2013, 156 ff., Juris Rn. 71, 72).

82

b) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG berührt die Wahlgleichheit in der Ausprägung als Erfolgswertgleichheit. Denn die 5%-Klausel bewirkt eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der 5%-Klausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die daran gescheitert ist. Wenn eine Partei die Sperrklausel nicht überwindet, bleiben die für sie abgegebenen Stimmen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG bei der Zuteilung der Mandate unberücksichtigt. Die 5%-Klausel nimmt diesen Stimmen insoweit ihren Erfolgswert

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011 - Lv 4/11 -, NVwZ-RR 2012, 169 ff., Juris Rn. 200).

83

Zugleich wird durch die 5%-Klausel das Recht der Parteien auf Chancengleichheit berührt. Denn nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG werden von einer festen Zahl von 69 Sitzen – vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen – 34 nach dem Zweitstimmenergebnis proportional auf die Parteien verteilt, die die Sperrklausel überwunden haben. So verfügen die im Landtag vertretenen Parteien über mehr Sitze als es ihrem Anteil an der Gesamtstimmenzahl entspricht, während die Parteien, die an der 5%-Klausel scheitern, nicht an der Sitzverteilung teilnehmen

(so auch VerfGH Saarland, Urteil vom 29. September 2011, a.a.O., Juris Rn. 201).

84

c) Die Wahlgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlgleichheit, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt. Es geht um die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts in formal möglichst gleicher Weise

(BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 25 f., und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 97, stRspr.).

85

Differenzierungen der Wahlgleichheit bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes. Mit diesem Begriff ist nicht gemeint, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 142 ff., a.a.O., Juris Rn.148 ff.; so auch: BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 108 f. und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 87; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 78).

86

Da zwischen der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien bei Wahlen ein enger Zusammenhang besteht, folgt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Chancengleichheit der Parteien ebenfalls den gleichen Maßstäben

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 86 m.w.N.).

87

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlgleichheit mit anderen verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 148).

Er hat sich bei der Bewertung, ob ein zwingender Grund von verfassungsrechtlichem Gewicht die Sperrklausel rechtfertigt, nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(vgl. BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 110 und vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 89; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 80).

Er hat zu prüfen und zu beurteilen, ob eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist

(vgl. BVerfG, Urteile vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 92 und vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 126; LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013, a.a.O., Juris Rn. 102).

88

Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist es, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Gegebenheiten zu prüfen, ob die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens bezüglich der Regelung eines Quorums überschritten sind

(vgl. BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31ff., Juris Rn. 36).

Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht prüft daher lediglich, ob bei der Abwägung des Gesetzgebers und der ihr zugrundeliegenden Prognose die verfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber die am meisten zweckmäßige oder eine rechtspolitisch besonders erwünschte Lösung gefunden hat

(vgl. zum entsprechenden Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts: Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 63, stRspr.).

89

Sofern eine differenzierende Regelung einen legitimen Zweck verfolgt, kann das Landesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung des Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet

(vgl. Urteil vom 30. August 2010, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151; BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Rn. 49, und vom 25. Juli 2012, a.a.O., Juris Rn. 63 m.w.N.)

oder im Ergebnis unangemessen die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt.

90

d) Nach diesen Maßstäben verletzt die 5%-Klausel nicht die Gleichheit der Wahl und nicht die Chancengleichheit der Parteien.

91

aa) Da die Sperrklausel nicht in der Landesverfassung sondern einfachgesetzlich in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelt ist

(vgl. Diskussion des schleswig-holsteinischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassungsreform 1990: Ausschussprotokolle Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“, z.B. Sitzung vom 21. April 1989 12/6, S. 18 ff. und vom 2. Juni 1989 12/11, S. 10),

bedarf es hoher Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Allein der Umstand, dass die Sperrklausel keinen unmittelbaren Verfassungsrang hat, macht sie jedoch nicht verfassungswidrig.

92

bb) Verfassungsrechtlich legitimierte Gründe, die der Wahlgleichheit die Waage halten können, sind die Funktionsfähigkeit des Landtages und die Integrationsfunktion der Parteien.

93

(1) Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist im Zusammenhang mit der 5%-Sperrklausel als Differenzierungsgrund bei Landtags- und Bundestagswahlen anerkannt. Dies ist begründet durch die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen

(Urteil vom 30. August 2010, Rn. 151, a.a.O., Juris Rn. 158; vgl. auch BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 11. August 1954, a.a.O., Juris Rn. 36 f.; vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 28; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 52 ff., und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, VerfGHE BY 59, 125 ff., Juris Rn. 24; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, LVerfGE 6, 28 ff., Juris Rn. 10; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 – St 4/99 -, StGHE BR 6, 253 ff., Juris Rn. 55; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010- 2/09, StGH 2/09 -, NdsVBl 2011, 77 f., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteil vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, LKRZ 2012, 209 ff., Juris Rn. 36 ff.; OVG Schleswig, Beschluss vom 25. September 2002 - 2 K 2/01 -, SchlHA 2003, 19 ff. = NVwZ-RR 2003, 161 ff. = NordÖR 2003, 61 ff. = JZ 2003, 519 ff., Juris Rn. 47, 50; Caspar, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41).

94

Diese Einschätzung ist bundesdeutsche Verfassungstradition im Bund und in allen Ländern. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zu acht der sechzehn Landtage in der Bundesrepublik Deutschland gilt die Sperrklausel auch, ohne in der Verfassung verankert zu sein

(§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG; § 3 Abs. 1 Brandenburgisches Landeswahlgesetz; § 5 Abs. 2 Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft; § 4 Abs. 1 Landeswahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern; § 33 Abs. 2 Landeswahlgesetz Nordrhein-Westfalen; § 38 Abs. 1 Saarländisches Landtagswahlgesetz; § 6 Abs. 1 Sächsisches Wahlgesetz; § 35 Abs. 3 Wahlgesetz des Landes Sachsen-Anhalt und § 3 Abs. 1 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein).

In den anderen acht Ländern ist die Sperrklausel durch die Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben

(Art. 14 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Bayern; Art. 39 Abs. 2 Verfassung von Berlin; Art. 75 Abs. 3 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 8 Abs. 3 Niedersächsische Verfassung und Art. 49 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Thüringen)

oder zugelassen

(Art. 28 Abs. 3 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 75 Abs. 3 Verfassung des Landes Hessen und Art. 80 Abs. 4 Verfassung für Rheinland-Pfalz).

95

Ihre Zulässigkeit für den Deutschen Bundestag und die Landtage ist bisher durch die Verfassungsgerichte bestätigt worden

(BVerfG, Urteile vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46, und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 53 ff.; VerfGH Bayern, Entscheidung vom 18. Juli 2006 - Vf.9-VII-04 -, a.a.O., Juris Rn. 24 f.; VerfGH Berlin, Beschluss vom 17. März 1997 - 82/95 -, a.a.O., Juris Rn. 11 ff.; StGH Bremen, Urteil vom 29. August 2000 - St 4/99 -, a.a.O., Juris Rn. 54 ff.; StGH Niedersachsen, Beschluss vom 15. April 2010, a.a.O., Juris Rn. 25; VerfGH Saarland, Urteile vom 22. März 2012 - Lv 3/12 -, a.a.O., Juris Rn. 36 ff., und vom 18. März 2013 - Lv 12/12 -, U.A. S. 7 ff.).

96

Die Sperrklausel kann auch in Schleswig-Holstein weiterhin gelten. Denn die Annahme des Gesetzgebers ist hinreichend plausibel, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments nur gewährleistet ist, wenn durch stabile Mehrheiten die Regierungsbildung, Gesetzgebung und Aufstellung des Haushalts sichergestellt sind. Ohne Sperrklausel wäre zwar ein genaueres Abbild des Wählervotums im Parlament gegeben, es zögen aber mit größerer Wahrscheinlichkeit partikulare Interessen und nur einzelne Programmpunkte vertretende kleine Parteien in den Landtag ein. Bei einer Aufsplitterung der im Parlament vertretenen Kräfte wäre es hinreichend wahrscheinlich, dass die Handlungs- und Funktionsfähigkeit beeinträchtigt würde, weil stabile Mehrheiten, die kontinuierliches Arbeiten ermöglichen, nicht gewährleistet wären. Dadurch könnte die Demokratie gefährdet werden, in der Meinungen und Willensäußerungen des Volkes nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern auch in staatliches Handeln umgesetzt werden müssen.

97

Soweit dagegen angeführt wird, auch unter Einbeziehung von Kleinstparteien sei eine effektive Staatstätigkeit – ggf. mit stets wechselnden Mehrheiten – möglich, trifft dies auf den Landtag nicht zu. Insbesondere bei der Bildung und Tätigkeit der Regierung, die das dauernde Vertrauen des Landtages benötigt (Art. 35, 36 LV), und bei der Haushaltswirtschaft kommt es darauf an, dass sich im Landtag längerfristig verlässliche Mehrheiten mit einem kohärenten Programm bilden können. Auch aus diesem Grund ist eine fünfjährige Wahlperiode festgesetzt (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 LV).

98

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und von Landesverfassungsgerichten aus jüngerer Zeit, wonach die Sperrklauseln bei Kommunalwahlen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, BVerfGE 120, 82 ff. zu Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein; StGH Bremen, Urteil vom 14. Mai 2009 - St 2/08 - zur Sperrklausel in Bremerhaven, NordÖR 2009, 251 ff.; VerfGH Thüringen, Urteil vom 11. April 2008 - 22/05 - zu Kommunalwahlen in Thüringen, NVwZ-RR 2009, 1 ff. und LVerfG Hamburg, Urteil vom 15. Januar 2013 - HVerfG 2/11 - zur Wahl zu den Bezirksversammlungen, NordÖR 2013, 304 ff.)

und bei der Wahl der deutschen Abgeordneten zum Europäischen Parlament

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff.)

für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist nicht auf das Landtagswahlrecht übertragbar. Denn sowohl bei Europawahlen als auch bei Kommunalwahlen besteht eine andere Interessenlage als bei Landtagswahlen. Die auf europäischer und kommunaler Ebene gewählten Vertretungen haben anders als der Landtag, der die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten zu wählen hat (vgl. Art. 26 Abs. 2 LV) und für die Gesetzgebung zuständig ist (vgl. Art. 37 Abs. 2 LV), keine vergleichbare Kreations- und Gesetzgebungsfunktion

(so auch Morlok/ Kühr, JuS 2012, 385 <391>).

99

Dem Bestreben, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, kann nicht entgegengehalten werden, die Gesetzgebungstätigkeit des Landtages sei von minderer Bedeutung

(so aber Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, S. 282 f.).

Die demokratisch gebundene und rechtsstaatlich verfasste Staatsgewalt der Länder wird in Art. 28 Abs. 1, Art. 30, 51, 70, 83, 92 und 109 GG ausdrücklich hervorgehoben. Die Gesetzgebung des Landes zum Beispiel im Haushaltsrecht, im Kommunalrecht, im Polizei- und Ordnungsrecht sowie im Schul- und Hochschulrecht ist notwendig, um die Aufrechterhaltung des Gliedstaates Schleswig-Holstein und der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.

100

Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber für die Wahl zum Europäischen Parlament herausgestellt, es fehle an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, weil das Europäische Parlament keine Unionsregierung wähle, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre; ebenso wenig seien die Gesetzgebung der Union und die Informations- und Kontrollrechte des Parlaments von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 118).

101

Bezogen auf die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein hat das Bundesverfassungsgericht die 5%-Klausel für verfassungswidrig erklärt, weil diese nicht zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Gemeindevertretungen und Kreistage erforderlich sei. Denn diese übten anders als staatliche Parlamente keine Gesetzgebungstätigkeit aus, für die klare Mehrheiten zur Sicherung einer politisch aktionsfähigen Regierung unentbehrlich seien. Die kommunalen Vertretungsorgane hätten auch keine Kreationsfunktion für ein der Regierung vergleichbares Organ und schließlich unterlägen ihre Entscheidungen der Rechtsaufsicht

(BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008, a.a.O., Juris Rn. 123).

102

Beide Entscheidungen sind nicht unumstritten und zwar einerseits im Hinblick auf die wichtigen Funktionen des Europäischen Parlaments gerade nach dem Vertrag von Lissabon

(vgl. BVerfG, Urteil vom 9. November 2011, a.a.O., abweichende Meinung, Juris Rn. 147 ff.; Schönberger, JZ 2012, 80 ff.; Geerlings/ Hamacher, DÖV 2012, 671 <675 ff.>)

und andererseits auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Gefahr der Zersplitterung, die eine gemeinwohlverträgliche Arbeit der kommunalen Volksvertretung etwa im Zusammenhang mit dem Erlass der Haushaltssatzung, der Grundlage gemeindlicher Politik, gefährden könnte

(vgl. Theis, KommJur 2010, 168 <169 ff.>).

103

(2) Legitimer Zweck der 5%-Klausel ist zudem die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44, 53),

um der Parteienzersplitterung vorzubeugen und funktionsfähige Verfassungsorgane bilden zu können

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 35; § 20 Rn. 8).

Insoweit wird die Integrationsfunktion der Parteien unterstützt, die durch die Sperrklausel angehalten werden sollen, Interessen und politische Strömungen zu bündeln und zu strukturieren.

104

cc) § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

105

(1) Die 5%-Klausel ist geeignet, die mit ihr verfolgten legitimen Zwecke zu fördern, indem sie den vermehrten Einzug kleinerer und nicht auf stärkere Zustimmung angelegter Parteien in den Landtag verhindert.

106

(2) Die bisherige Einschätzung des Landtages, die 5%-Klausel sei auch in Zukunft erforderlich, um einer zu erwartenden Funktionsstörung des Landtages entgegenzuwirken, ist derzeit nicht zu beanstanden. Einerseits ist es neuen Parteien – etwa der Partei DIE LINKE in der 17. Wahlperiode und den PIRATEN in der 18. Wahlperiode – trotz der 5%-Klausel gelungen, in den Landtag einzuziehen. Andererseits hat die Hürde verhindert, dass daneben weitere kleinere Parteien mit einem oder zwei Sitzen in den Landtag eingezogen wären und zu einer Zersplitterung beigetragen hätten.

107

Die Einführung einer zweiten Listenstimme im Sinne einer Ersatz- bzw. Eventualstimme, die nur dann zu berücksichtigen wäre, wenn die mit der Hauptstimme gewählte Partei unter der 5%-Klausel bliebe

(vgl. Linck, DÖV 1984, 884 ff.; Wenner, a.a.O., S. 412 ff.),

ist kein gleich geeignetes milderes Mittel. Denn dieses Modell bedeutete eine Änderung des Konzepts des geltenden Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl durch Verstärkung der Erfolgschancen der großen Parteien.

108

Es unterliegt vielmehr dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, ob zur Zweckerreichung eine 5%-Klausel, eine niedrigere Sperrklausel oder aber andere Milderungsmaßnahmen in Betracht kommen

(so auch Linck, a.a.O., S. 884 und von Arnim, DÖV 2012, 224 <225>, die die Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel nicht bezweifeln und Milderungsmaßnahmen dem politischen Ermessen zuschreiben).

109

(3) Die Sperrklausel ist auch angemessen. Das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein hat eine Sperrklausel von 7,5% als unangemessen und eine Sperrklausel von 5% als angemessen angesehen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 152 ff.)

und diese Auffassung auch für den Deutschen Bundestag vertreten

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, a.a.O., Juris Rn. 54).

Das erkennende Gericht hält an dieser Auffassung für den jetzigen Zeitpunkt fest. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits die Notwendigkeit aufgezeigt, die Sperrklausel in der jeweiligen politischen Situation zu bewerten, als es ausgeführt hat, es müssten „ganz besondere, zwingende Gründe gegeben sein, um eine Erhöhung des Quorums über den gemeindeutschen Satz von 5% zu rechtfertigen“

(vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952, a.a.O., Juris Rn. 153).

110

Der Gesetzgeber ist daher verpflichtet, die politische Wirklichkeit zu beobachten und unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die Bedingungen und Gründe für die Aufrechterhaltung der bestehenden und nicht explizit in der Verfassung verankerten 5%-Hürde zu überprüfen; er hat eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat

(BVerfG, Urteile vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90 und vom 25. Juli 2012 - 2 BvE 9/11 u.a. -, BVerfGE 131, 316 ff., Juris Rn. 64 m.w.N.).

Der Prüfpflicht kommt der Schleswig-Holsteinische Landtag auf Gesetzesinitiative der PIRATEN zur Abschaffung der 5%-Klausel (vgl. Landtags-Drucksache 18/385) derzeit nach, obwohl er noch im Rahmen der Novellierung des Kommunalwahlrechts im Jahre 2008 die 5%-Klausel bei Landtagswahlen bewusst unangetastet gelassen hatte (vgl. Landtags-Drucksache 16/1879, PlPr 16/79 vom 27. Februar 2008, S. 5736 ff.).

111

Da das Wahlrecht und der politische Prozess in einem Wechselverhältnis stehen, ist die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel einer empirischen Überprüfung allein mit den Mitteln der politischen Wissenschaften oder der Mathematik nicht zugänglich. Die Ergebnisse vergangener Wahlen ermöglichen keine gesicherte Aussage über den Ausgang zukünftiger Wahlen. Das geltende Wahlrecht wirkt auf die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten zurück. Insoweit bleibt die Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Sperrklausel eine wertende Prognoseentscheidung.

112

dd) Nichts anderes ergibt sich für die Auslegung des schleswig-holsteinischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl 1956 II S. 1880), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, und von Art. 25 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte (BGBl II 1973 S. 1534), der das Recht gewährt, ohne Unterschied bei gleichen Wahlen zu wählen und gewählt zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten die Menschenrechtsübereinkommen im Range einfachen Bundesrechts. Sie sind bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – als Auslegungshilfen zu berücksichtigen. Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besonders zu berücksichtigen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, BVerfGE 111, 307 ff., Juris Rn. 30, 38).

113

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Entscheidungen einen weiten Spielraum der nationalen Wahlgesetzgebung anerkannt und unter anderem Sperrklauseln von 10% in der Türkei, 6% in Spanien und 5% in Lettland als vereinbar mit Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK angesehen

(vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juli 2008 - 10226/03 -, Yumak und Sadak ./. Türkei -, NVwZ-RR 2010, 81 ff.; EGMR, Entscheidung vom 7. Juni 2001 - 56618/00 -, Federación Nacionalista Canaria ./. Spanien, Reports of Judgments and Decisions 2001-VI, 433 <443>; EGMR, Entscheidung vom 29. November 2007 - 10547/07 u.a. -, Partija „Jaunie Demokrati“ u. Partija „Musu Zeme ./. Lettland, http://www.hudoc.echr.coe.int., unter „EN DROIT“ A.2 b>).

Dabei wurden jedenfalls keine strengeren Maßstäbe an die Rechtfertigung von Sperrklauseln angelegt als nach dem deutschen Verfassungsrecht.

114

2. Die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) verstößt nicht gegen Art. 2a LV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.Ungeachtet der Frage, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Zusammenhang mit Landtagswahlen Anwendung findet, oder die Wahlrechtsgleichheit demgegenüber lex specialis ist

(vgl. Becker, Die wahlrechtliche Privilegierung von Parteien der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein <§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG>, Gesetzliche Voraussetzungen und verfassungsrechtliche Rechtfertigung, Dänischenhagen 2013, S. 43),

ist die Norm schon tatbestandlich nicht einschlägig. Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit im vorliegenden Kontext folgt jedoch weder aus der Abstammung oder Herkunft einer Person, noch aus ihrer politischen Anschauung, sondern allein aus dem freien Bekenntnis zur Minderheit

(vgl. Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 10).

Letzteres ist kein verbotenes Differenzierungskriterium im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

115

3. § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG als Rückausnahme von der Einschränkung der Berücksichtigung aller Stimmen bei der Mandatsverteilung berührt zwar die Wahlrechtsgleichheit in ihrer Ausprägung als Erfolgswertgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien (a). Die Regelung ist jedoch durch zwingende Gründe gerechtfertigt (b).

116

a) Die Zweitstimme derjenigen Wählerinnen und Wähler, die eine Partei der dänischen Minderheit wählen, die im Ergebnis die Sperrklausel nicht erreicht, hat einen höheren Erfolgswert als eine Stimme, die für eine andere Partei abgegeben wurde, die die Sperrklausel ebenfalls nicht erreicht. Die für eine Partei der dänischen Minderheit abgegebene Zweitstimme wird in jedem Fall berücksichtigt, wenn die Partei so viele Stimmen erzielt, dass ihr bei der Sitzverteilung ein Mandat zugerechnet werden kann. Die Zweitstimme dieser Wählerinnen und Wähler wird mit den Stimmen gleich behandelt, die für die Parteien abgegeben werden, die die Sperrklausel überwinden.

117

Auch für eine Rückausnahme, das heißt für eine Ausnahme von einem zulässigen Quorum, gelten die oben unter C.II.1.c) (Rn. 84 ff.) beschriebenen Grundsätze der Zulässigkeit von Differenzierungen bei Vorliegen von Gründen, die durch die Verfassung legitimiert sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückausnahme ist der Kontext der Sperrklausel und ihrer Rechtfertigung zu berücksichtigen.

118

Das Bundesverfassungsgericht hat zur schleswig-holsteinischen Regelung entschieden, dass es dem Gesetzgeber freisteht, von einem zulässigen Quorum Ausnahmen zu machen, wenn ein zureichender Grund dafür gegeben ist

(BVerfG, Urteil vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff., Juris Rn. 37).

Innerhalb des Quorums ist es dem Gesetzgeber überlassen, wie weit er die Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 47 ff.).

119

Dabei ist die konkrete politische Situation zu beachten, zu der die Existenz von nationalen Minderheiten und ihre regionale Verteilung gehören

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 146, 158 und vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

120

Auch in anderen Zusammenhängen hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von einer unterschiedslos für das Wahlgebiet geltenden Sperrklausel gefordert oder gebilligt. So hat es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl nach der Wiedervereinigung gefordert, dass der Gesetzgeber berücksichtigt, dass besondere Umstände ein Quorum unzulässig werden lassen können. Regelungen, mit denen der Gesetzgeber an einer Sperrklausel festhält, aber ihre Auswirkungen mildert, müssen ihrerseits mit der Verfassung vereinbar sein und den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit genügen

(BVerfG, Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Leitsatz 2b).

121

Die Grundmandatsklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag, nach der eine Partei auch dann am Verhältnisausgleich teilnimmt, wenn sie in drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat (§ 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG = § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG a.F.), hat das Bundesverfassungsgericht als zulässige Ausnahme vom Quorum angesehen. Eine entsprechende Regelung ist – für den Erwerb eines Direktmandats – auch im schleswig-holsteinischen Wahlrecht in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG enthalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass der Zugang zum Sitzverteilungsverfahren auch von mehreren alternativen Hürden abhängig gemacht werden darf, soweit dadurch keine höhere Sperrwirkung als durch eine 5%-Klausel erzeugt wird. Eine weitere Zugangsmöglichkeit nimmt den durch eine Sperrklausel bewirkten Eingriff in die Wahlgleichheit teilweise zurück und schwächt dessen Intensität ab. Die weitere Differenzierung bewirkt eine neue Ungleichheit und bedarf daher ihrerseits rechtfertigender Gründe. Dabei kann allerdings die Abmilderung der Intensität der Sperrklausel in Rechnung gestellt werden

(BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn 45 f.).

122

Davon ausgehend bestehen an die Rechtfertigung von Ausnahmen von der Sperrklausel zumindest keine höheren Anforderungen als an die Rechtfertigung der Sperrklausel selbst. Die Ausnahme kann vielmehr dazu beitragen, die Legitimation der Sperrklausel selbst zu sichern, indem sie Wirkungen der Sperrklausel abmildert, durch welche die Integrationsfunktion der Wahl oder andere Verfassungswerte gefährdet werden

(vgl. zur Milderung der Auswirkungen der 5%-Klausel auf Bundesebene: BVerfG, Urteil vom 29. September 1990, Juris Rn. 68 ff.).

123

Zudem ist die Rückausnahme für die Parteien der dänischen Minderheit jedenfalls durch zwingende Gründe gerechtfertigt, die in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein verankert sind.

124

b) Die Regelung zugunsten von Parteien der dänischen Minderheit – derzeit des SSW – ist durch die Schutzpflicht des Landes für die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit nach Art. 5 Abs. 2 LV legitimiert (aa-bb) und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (cc).

125

aa) Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV stellt die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten unter den Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Der nationalen dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe wird der Schutz der politischen Mitwirkung, der ihnen schon nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LV zusteht, durch Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ausdrücklich als „Anspruch auf Schutz“ und zudem als „Anspruch auf Förderung“ zugebilligt.

126

Die politische Mitwirkung der nationalen dänischen Minderheit ist ein Verfassungsgut von hohem Rang, dessen Schutz und Förderung dem Land aufgegeben ist. Es ist insofern geeignet, den die Sperrklausel begründenden Erwägungen sowie dem Anspruch konkurrierender Parteien auf Gleichbehandlung die Waage zu halten und als hinreichender und zwingender Grund für eine Rückausnahme anerkannt zu werden. Ob es sich im Übrigen bei Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV um eine nur objektiv-rechtliche Staatszielbestimmung handelt

(so Riedinger, in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2006, Art. 5 Rn. 19; Wuttke, Verfassungsrecht, in: Schmalz/ Ewer/ von Mutius/ Schmidt-Jortzig, Staats- und Verwaltungsrecht für Schleswig-Holstein, 2002, Rn. 28),

oder ob sich aus dem Wortlaut („Anspruch“) auch ein subjektives Recht der Gruppe oder von Einzelnen ergibt

(so Köster, Der Minderheitenschutz nach der schleswig-holsteinischen Landesverfassung, Bredstedt 2009, S. 156 ff. m.w.N.),

kann hier offen bleiben.

127

Im Sinne des Wahlrechts „zwingende“ Gründe sind nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen, sondern auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können, wie etwa die vormals in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 150).

128

Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV ist die verfassungsrechtliche Verankerung der Mitwirkung und Integration der dänischen Minderheit nach dem im Jahre 1990 – bei Schaffung von Art. 5 Abs. 2 LV – vorgefundenen und erprobten Konzept des Wahlrechts. Die bereits seit 1955 geltende Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG hat dazu geführt, dass der SSW seitdem in sämtlichen Legislaturperioden im Landtag vertreten war.

129

Diese beiden Regelungen zunächst im einfachen Wahlrecht und später auch im Verfassungsrecht waren eine Reaktion darauf, dass eine politische Mitwirkung der Minderheit durch die Sperrklausel erschwert bzw. unmöglich war. Denn bei der Landtagswahl vom 12. September 1954 hatte der SSW weder die 5%-Hürde übersprungen noch ein Direktmandat erzielt

(vgl. Bekanntmachung des Landeswahlleiters über das endgültige Ergebnis der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag am 12. September 1954 vom 23. September 1954, ABl Nr. 40 S. 398 <401 f.>).

130

Aus den Materialien zu Art. 5 Abs. 2 LV ergibt sich, dass die in Absatz 2 Satz 1 geregelte Schutzbestimmung zugunsten der kulturellen Eigenständigkeit und zugunsten der politischen Mitwirkung speziell für die dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe ausdrücklich festgeschrieben und für diese beiden Gruppen zudem ein Grundsatz der Förderung aufgestellt werden sollte. Darin sollte der verfassungspolitische Wille zum Ausdruck kommen, die historischen Gegebenheiten und die faktische Situation im Lande zu berücksichtigen

(Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses zur Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ vom 28. November 1989, Landtags-Drucksache 12/620 (neu), S. 34).

131

Aus den Protokollen des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform“ geht hervor, dass zunächst daran gedacht worden war, die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien der dänischen Minderheit in die Verfassung aufzunehmen, letztlich aber davon Abstand genommen wurde, weil die Sperrklausel selbst nicht in der Verfassung verankert ist (vgl. SoAVP 12/6 vom 21. April 1989, S. 19). Ausdrücklich wurden aber Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit aufgenommen (vgl. SoAVP 12/11 vom 2. Juni 1989, S. 10).

132

Der Zweck der effektiven Integration der dänischen Minderheit in das Staatsvolk kann rechtfertigen, dass die Wahlrechtsgleichheit berührt wird. Denn der Charakter der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung wird gesichert, wenn die Regelungen des Wahlrechts die parlamentarische Repräsentanz der politisch bedeutsamen Strömungen im Wahlvolk ermöglichen

(vgl. Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 35 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 10. April 1997, - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 55).

133

So hat das Bundesverfassungsgericht die wahlrechtliche Sonderregelung als gerechtfertigt angesehen, weil sie der nationalen Minderheit zur Vertretung ihrer spezifischen Belange die Tribüne des Parlaments eröffnet, wenn sie nur die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl aufbringt

(vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 34).

134

bb) Dieses Verständnis von Art. 5 Abs. 2 LV wird durch die Einbindung Schleswig-Holsteins in die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland verstärkt. Art. 5 Abs. 2 LV ist im Lichte der völkerrechtlichen Bindungen des Bundes durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 und des Rahmenübereinkommens des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten (BGBl 1997 II S. 1406 ff. im Folgenden: Rahmenübereinkommen) auszulegen. Denn das Land Schleswig-Holstein ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 LV), der zur Bundestreue verpflichtet ist. Die Bundestreue besagt, dass im deutschen Bundesstaat das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht ist

(vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Februar 1961 - 2 BvG 1/60 u.a. -, BVerfGE 12, 205 ff., Juris Rn. 173).

135

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen haben nach der gleichzeitigen Bekanntmachung der Ergebnisse der deutsch-dänischen Besprechungen durch das Auswärtige Amt zum Inhalt, dass die Sperrklausel nicht zum Hindernis der politischen Mitwirkung der Minderheit werden darf (vgl. Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4).

136

Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen sind keine völkerrechtlichen Verträge sondern von zwei Regierungen abgegebene einseitige Willenserklärungen

(vgl. Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, Frankfurt am Main 1991, S. 284),

die den auswärtigen Beziehungen des Bundes zuzurechnen sind. Solche Erklärungen können Bindungswirkung entfalten, wenn sie öffentlich und mit dem Willen zur Bindung abgegeben worden sind

(vgl. IGH , I.C.J. Reports 1974, 457 <472 f.>).

Eine solche Bindungswirkung ist nach dem Wortlaut der Erklärungen anzunehmen, zumal sich beide Regierungen bei ihrer Abgabe auf ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Gebot des Minderheitenschutzes nach Art. 14 EMRK (BGBl 1952 II S. 690) berufen haben. Das Land Schleswig-Holstein ist indirekt daran beteiligt gewesen und aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue weiterhin daran gebunden.

137

Der Bundesgesetzgeber hat den Inhalt der Bonn-Kopenhagener Erklärungen in die geltenden Verpflichtungen eingeordnet und sich fortdauernd gebunden. Die bereits seit dem Bundeswahlgesetz von 1953 bestehende Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien nationaler Minderheiten, die aus außenpolitischen Erwägungen im Zusammenhang mit der dänischen Minderheit in Südschleswig eingeführt worden war

(vgl. Schreiber, Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2008, § 6 Rn. 47),

besteht seitdem unverändert und wurde zuletzt in der Fassung des Bundeswahlgesetzes vom 3. Mai 2013 (BGBl I S. 1082) in § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG beibehalten.

138

Auch die Bundesregierung fühlt sich den Bonn-Kopenhagener Erklärungen weiterhin verpflichtet. Die Bonner Erklärung vom 29. März 1955 sowie die Kieler Erklärung vom 26. September 1949 sind im Jahre 1997 in der Denkschrift der Bundesregierung zum Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten ausdrücklich in Bezug genommen worden (vgl. Bundestags-Drucksache 13/6912, S. 21 ff.).

139

Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern und in dieser Hinsicht in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten zu berücksichtigen. Das Rahmenübereinkommen ist als internationaler Vertrag ein rechtsverbindliches Instrument

(vgl. Klebes, EuGRZ 1995, 262 <264>),

das als Bundesrecht unmittelbar gilt

(vgl. Achter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen vom 16. Juli 2008, Bundestags-Drucksache 16/10037, S. 79 f.).

140

Nach Art. 1 des Rahmenübereinkommens und seinen Begründungserwägungen ist der Schutz nationaler Minderheiten Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Rahmenübereinkommen ist, nicht anders als die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bei der Auslegung nationalen Rechts, auch nationalen Verfassungsrechts, zu berücksichtigen (vgl. oben unter C.II.1.d>dd> ).

141

Das Rahmenübereinkommen wurde im Hinblick auf die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Protokolle dazu abgeschlossen. Insoweit ist das Rahmenübereinkommen auch zur Interpretation des Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (BGBl 1956 II S. 1879), der das Recht auf freie Wahlen garantiert, heranzuziehen. Da die Bundesregierung und die Dänische Regierung bereits die Bonn-Kopenhagener Erklärungen in den Kontext der in Art. 14 EMRK enthaltenen Verpflichtung zur Nichtdiskriminierung nationaler Minderheiten gestellt haben, haben sie insoweit auch eine Abwägung auf Ebene der Menschenrechte vorgenommen.

142

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zuletzt in einer Entscheidung zum rumänischen Wahlrecht keine Bedenken gegen eine Berücksichtigung nationaler Minderheiten im Wahlrecht erkennen lassen und ausgeführt, dass diese in mehreren europäischen Ländern praktiziert wird

(vgl. EGMR, Urteil vom 2. März 2010 - 78039/01 -, Grosaru ./. Rumänien, unter www.echr.coe.int/hudoc).

143

Auch wenn die in dem Abkommen festgelegten Grundsätze keine unmittelbar geltenden Rechtssätze, sondern Handlungsaufträge für die Unterzeichnerstaaten sind (vgl. Art. 19 des Rahmenübereinkommens), bestätigen sie doch, dass Minderheitenschutz nicht auf die Gewährung formaler Gleichheit beschränkt ist, sondern ausgleichende und fördernde Maßnahmen einschließt

(ebenso VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Juni 1998 - 27/97 -, LVerfGE 8, 97 ff., Juris Rn. 120).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und insbesondere Satz 2 LV entsprechen diesem Auftrag.

144

Ein Beispiel für die Umsetzung der Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen und die Bindung an die Bonn-Kopenhagener Erklärungen liefert die Antwort der Bundesregierung vom 14. Februar 2008 auf eine Kleine Anfrage zur finanziellen Unterstützung für den Bund Deutscher Nordschleswiger. Darin teilt die Bundesregierung unter anderem unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens mit, dass die finanzielle Förderung der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig/ Dänemark auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener Erklärungen erfolge (vgl. Bundestags-Drucksache 16/8093, S. 2).

145

In der laufenden Wahlperiode hat sich die Bundesregierung erneut ausdrücklich zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen bekannt (Staatsministerin im Auswärtigen Amt Pieper am 7. Juli 2010, Bundestags-PlPr 17/54, S. 5537 f.).

146

cc) Die Regelung durch § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch verhältnismäßig.

147

Das Gericht prüft neben der Frage, ob die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, lediglich, ob die Regelung zur Erreichung dieses Zieles geeignet ist, nicht das Maß des Erforderlichen überschreitet und angemessen ist; denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele wie die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments, das Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der politischen Parteien zum Ausgleich zu bringen

(vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 -, BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 49 m.w.N.).

148

Mit welcher Regelung der Verfassungsauftrag erfüllt wird, ist vom Gesetzgeber einzuschätzen. Er hat auch die Pflicht zu beobachten, wie sich die Regelung auswirkt, ob sie im Kontext der wahlrechtlichen Regelungen und der tatsächlichen Verhältnisse geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen, und ob zugleich andere Grundsätze des Wahlrechts nicht unangemessen beeinträchtigt werden (siehe oben C.II.1.c> entsprechend zur Sperrklausel). Angesichts des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers und der von ihm zu wählenden Gesamtsystematik des Wahlrechts kann das Gericht nicht seine eigene Einschätzung von einer zweckmäßigeren Lösung an dessen Stelle setzen, sondern hat nur zu kontrollieren, ob entweder die politische Mitwirkung der Minderheit nicht mehr hinreichend geschützt wird oder ob die dazu genutzte Regelung außer Verhältnis zur Beeinträchtigung anderer Wahlrechtsgrundsätze steht.

149

(1) Die Regelung ist geeignet, den angestrebten Zweck zu erfüllen. Sie hat seit ihrem Bestehen die politische Mitwirkung der dänischen Minderheit gesichert.

150

(2) Sie ist auch erforderlich. Ein anderes gleich geeignetes Mittel ist in der gegebenen Systematik des Wahlrechts nicht ersichtlich. Die gegenwärtige Regelung verwirklicht den in Art. 3 und 10 LV enthaltenen Grundsatz der Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl und hebt nur dessen Einschränkung durch die nicht in der Verfassung geregelte Sperrklausel auf. Die Regelung sichert den Parteien der Minderheit die Möglichkeit, auch unter den Bedingungen eines regional und personell beschränkten Aktionsradius für ihre Anschauungen zu werben und stärkere Zustimmung zu ihrer Politik auch in entsprechende Mandate umzusetzen, ohne dass sie dafür die 5%-Klausel überwinden müssen. Diese Möglichkeit würde durch eine Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat verkürzt. Eine solche würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern wie die jetzige Regelung, bei der die Zahl der Abgeordneten vom Zuspruch bei den Wahlen abhängt.

151

Die Beschränkung auf ein Mandat würde zudem die Repräsentanz einer Partei der Minderheit in der arbeitsteiligen Parlamentsarbeit, insbesondere in den Ausschüssen des Landtages, einschränken. Die Möglichkeit, Einfluss auf Regierungsbildung, Gesetzgebung und Haushalt zu nehmen und Wahlkreisarbeit zu leisten, wäre geringer. Außerdem könnte eine Partei bei einer stark verminderten Chance, ein zweites oder drittes Mandat zu erringen, die Wählerinnen und Wähler der Minderheit weniger gut durch ein zum Beispiel nach politischen Strömungen innerhalb der Minderheit, Regionen oder Geschlechtern ausgewogenes Personalangebot ansprechen, sondern wäre darauf verwiesen, sich durch eine Person repräsentieren zu lassen. Die Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat würde das dem jetzigen Wahlrecht zu Grunde liegende Konzept von Schutz und Förderung politischer Mitwirkung der Minderheit nicht mehr ausfüllen. Entsprechend kann das Gericht es nicht als gleich geeignetes „milderes Mittel“ zum Schutz und zur Förderung der politischen Mitwirkung der Minderheit ansehen. Ob und in welcher Form ein solches anderes Wahlrecht das Verfassungsgebot von Art. 5 Abs. 2 LV erfüllen würde, war hier nicht zu entscheiden.

152

Die Beschränkung der Befreiung von der 5%-Klausel auf ein Siedlungsgebiet der Minderheit wäre ebenfalls kein gleich geeignetes Mittel, um einer auf das ganze Land bezogenen Minderheitenposition gerecht zu werden. Da der Landtag auf das gesamte Gebiet des Landes hin ausgerichtet und insoweit verantwortlich ist, ist das Vorhandensein einer originären dänischen Minderheit in Südschleswig maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Entscheidung des Landesgesetzgebers, alle Teile des Landes bei der Wahl zum Landtag in die Sonderregelung einzubeziehen

(so auch BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 - als obiter dictum, SchlHA 2005, 128 ff. = NVwZ 2005, 568 ff. = NordÖR 2005, 106 ff. = BVerfGK 5, 96 ff., Juris Rn. 40).

153

Wollte man eine Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit auf den nördlichen Teil des Landes beschränken, forderte man ein anderes Wahlsystem

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2005, a.a.O., Juris Rn. 41; Pieroth, Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegierung im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht, Landtags-Umdruck 15/634, S. 39),

dessen Einführung allein dem Gesetzgeber obläge. Im Übrigen wird auch im Bundeswahlrecht die Befreiung von der 5%-Klausel für Parteien nationaler Minderheiten nicht auf deren Siedlungsgebiet beschränkt (vgl. § 6 Abs. 3 Satz 2 BWahlG).

154

(3) § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG ist auch angemessen im Verhältnis zur Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit anderer kleiner Parteien im Vergleich zu den Parteien der dänischen Minderheit. Während für die Befreiung der Minderheitenparteien Gründe von Verfassungsrang aus Art. 5 Abs. 2 LV sprechen, unterliegen die anderen kleinen Parteien der legitimen Beschränkung durch die Sperrklausel, haben aber als (potenziell) landes- und bundesweit tätige und auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft bezogene Parteien die jeweils gleiche Chance, diese Hürde zu überschreiten.

155

Die Angemessenheit der Sonderregelung könnte dann entfallen, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch Regelungen im Wahlrecht oder Veränderungen der politischen Wirklichkeit keinen Nachteil mehr hätte, der ausgeglichen werden müsste.

156

Dass der SSW in den letzten Jahrzehnten seinen Stimmenanteil bei Landtagswahlen steigern konnte und dass möglicherweise ein Teil der für ihn abgegebenen Stimmen von Personen kam, die sich nicht oder nicht fest der dänischen Minderheit zurechnen, spricht nicht gegen die Angemessenheit der geltenden Regelung. Der SSW ist seit 1955 bisher landesweit immer unter 5% der Stimmen geblieben. Bei insgesamt beweglicherem Wahlverhalten mag die Bereitschaft in der Wählerschaft steigen, einer Partei der dänischen Minderheit die Stimme zu geben. An der im Vergleich zu anderen Parteien regionalen und personellen Einschränkung ändert sich dadurch nichts.

157

Es wird weiterhin diskutiert, ob die durch das Zweistimmenwahlrecht notwendig eingetretene Wählbarkeit des SSW im ganzen Land die Angemessenheit der geltenden Regelung beeinflusst. Der durch das Einstimmenwahlrecht vor 1997 bestehende Nachteil als Partei einer Minderheit, die nur in den Wahlkreisen ihres Tätigkeitsgebiets wählbar war, besteht nicht mehr in gleicher Weise. Die durch die im ganzen Land wählbare Liste entstandenen Chancen haben diesen Nachteil abgemildert, aber nicht entfallen lassen. Der SSW ist als eine Partei der dänischen Minderheit weiterhin nach Satzung, Parteiorganisation, Teilnahme an der Kommunalpolitik und Wahlkreiskandidaturen nur in Südschleswig und auf Helgoland vertreten. Der SSW kandidiert direkt nur in elf von 35 Wahlkreisen, in acht von diesen erzielt er mehr als 5% der Zweitstimmen. Die meisten seiner Zweitstimmen erzielt er in diesem Gebiet

(vgl. Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersichten 3 und 4).

158

Soweit das Zweistimmenwahlrecht als Problem für eine möglichst schonende Regelung zum Minderheitenschutz im Wahlrecht angesehen wird, ist im Übrigen anzumerken, dass das Zweistimmenwahlrecht zwar trotz der mit ihm verbundenen Gefahr von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine legitime Gestaltung des Wahlrechts ist, das Zweistimmenwahlrecht aber anders als der Minderheitenschutz keinen Verfassungsrang hat. Angesichts des Stellenwertes des Minderheitenschutzes in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ist diese Folge des Zweistimmenwahlrechts hinzunehmen, solange ein solches Wahlrecht besteht.

159

Eine Änderung in der politischen Wirklichkeit, die eine veränderte Beurteilung auslösen könnte, würde eintreten, wenn eine Partei der dänischen Minderheit durch innere Verknüpfung mit regional und politisch in der Mehrheitsgesellschaft verankerten Strömungen den durch die Sperrklausel entstehenden Nachteil so ausgleichen könnte, dass es einer wahlrechtlichen Regelung nicht mehr bedürfte. Dies wäre möglich, wenn eine Partei der dänischen Minderheit neben ihrer Verankerung in der Minderheit regional und politisch gleichermaßen in der Mehrheit verankert und an sie adressiert wäre, zum Beispiel durch den Aufbau einer über die Minderheit hinausweisenden Parteiorganisation und durch entsprechende Kandidaturen in den Wahlkreisen des ganzen Landes.

III.

160

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Auslagen werden nicht erstattet (vgl. § 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

161

Das Urteil ist hinsichtlich des Tenors und der Gründe zu C.II.3. mit 4:3 Stimmen und im Übrigen einstimmig ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum der Richter Brock und Brüning und der Richterin Hillmann
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 13. September 2013

- LVerfG 9/12 -

1

Wir können die Entscheidung hinsichtlich des Tenors und hinsichtlich der Gründe insoweit nicht mittragen, als die Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit von der 5%-Klausel (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG) für verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen wird. Das Gericht erkennt zutreffend, dass das Minderheitenprivileg für den SSW als Rückausnahme von der 5%-Klausel an denselben Maßstäben zu messen ist wie diese. In der Rechtsprechung des Gerichts wird die Bedeutung der Wahlgleichheit für die parlamentarische Demokratie in besonderem Maße hervorgehoben. Bei Anwendung dieser Maßstäbe kommt man unserer Ansicht nach jedoch zu dem Ergebnis, dass die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel für die Sicherstellung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit im Schleswig-Holsteinischen Landtag das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet und die Gleichheit der Wahl unangemessen beeinträchtigt.

2

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ist heute im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 91, LVerfGE 21, 434 ff. = SchlHA 2010, 276 ff. = NordÖR 2010, 401 ff. = JZ 2011, 254 ff., Juris Rn. 96).

3

Nicht zuletzt durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV werden der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV gewahrt und gestärkt sowie der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit verfassungsfest gebunden, als er der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügen muss

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 124, a.a.O., Juris Rn. 129).

4

Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Die Wahlgleichheit hat strikt formalen Charakter; sie ist einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 125, a.a.O., Juris Rn. 130).

5

Innerhalb dieses engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit sind aber nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 142, a.a.O., Juris Rn. 148).

6

„Zwingend“ sind Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt, oder solche Differenzierungen, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 143, a.a.O., Juris Rn. 150).

7

Solche differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. In welchem Ausmaß sie noch zulässig sind, richtet sich auch nach der Intensität des Eingriffs in das Wahlrecht. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren

(Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, Rn. 144, a.a.O., Juris Rn. 151).

8

Gemessen daran ist die in § 3 Abs. 1 Satz 1 LWahlG geregelte 5%-Klausel gerechtfertigt; insoweit kann auf die zutreffenden Gründe aus der Entscheidung Bezug genommen werden.

9

Für die Rückausnahme des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG gelten dieselben Maßstäbe, schon weil sie ihrerseits zu einer weiteren Ungleichbehandlung führt im Verhältnis der Parteien der dänischen Minderheit zu anderen – kleinen – Parteien, die das 5%-Quorum nicht erreichen. Auch die Befreiung des SSW von der Sperrklausel bedarf daher eines durch die Verfassung legitimierten, zwingenden Grundes, muss zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, darf das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen nicht überschreiten und muss angemessen sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die streitbefangene Befreiung von der Sperrklausel deren Auswirkungen – anders als im Falle einer Grundmandatsklausel oder einer regionalisierten 5%-Hürde – nur für bestimmte Minderheits-, nicht aber für alle Parteien gleichermaßen abmildert.

10

Die dänische Minderheit hat nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LV Anspruch auf Schutz und Förderung. In Verbindung mit Satz 1 ist davon auch die politische Mitwirkung dieser nationalen Minderheit erfasst. Ob hieraus – auch unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik – ein Anspruch auf politische Repräsentation abzuleiten ist, die das Wahlgesetz nicht allen in dieser Vorschrift genannten Minderheiten gewährt, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann der hiermit verfassungsrechtlich verankerte Minderheitenschutz ein hinreichender Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung und den damit verbundenen Eingriff in die Gleichheit der Wahl sein. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Gründe der Entscheidung Bezug genommen werden.

11

Die vollständige Befreiung der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, von der 5%-Hürde ist aber durch den Minderheitenschutz in seiner Form des Anspruchs auf politische Repräsentation nicht gerechtfertigt. Denn insofern stehen ebenso geeignete, jedoch mildere Mittel zur Verfügung. Jedenfalls ist die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG unangemessen.

12

Je umfangreicher eine Rückausnahme erfolgt, desto stärker ist die damit verbundene Ungleichbehandlung gegenüber anderen kleinen Parteien. Die vollständige Rückausnahme der Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel ist daher ein stärkerer Eingriff in die Erfolgswertgleichheit als eine partielle Befreiung, etwa durch Beschränkung der Befreiung auf ein Mandat. Die Sicherstellung der politischen Repräsentation wird schon mit einem Mandat erreicht. Das Argument, die Beschränkung auf ein Mandat würde die politische Mitwirkung der Minderheit nicht in gleichem Maße schützen und fördern und etwa zu einer geringeren Mitwirkung in den Ausschüssen führen, trägt nicht. Zwingend ist der Minderheitenschutz als legitimer Grund für einen Eingriff in die Wahlgleichheit nur insoweit, als die Repräsentation der Minderheit überhaupt sichergestellt, ihr also ein politisches „Sprachrohr“ gegeben wird. Auch bei nur einem Sitz erhält die nationale Minderheit jedoch diese parlamentarische Stimme. Wird der Zuspruch im Wahlvolk größer, greift einerseits die Grundmandatsklausel mit anschließendem Verhältnisausgleich und andererseits – unabhängig davon – der Verhältnisausgleich bei Erreichen des Quorums. Im Übrigen wird eine Integration der Minderheit in die Gesellschaft des Landes durch mehr Abgeordnete im Landtag ohnehin nicht stärker befördert.

13

Der Regelungsgehalt der Landesverfassung, hier Art. 5 Abs. 2 LV, ist so offen, dass daraus keine verlässlichen Rückschlüsse auf die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts gezogen werden können. Hätte der Verfassungsgeber eine wahlrechtliche Privilegierung bestimmter einzelner nationaler Minderheiten gewollt, hätte er eine entsprechende Regelung in der Landesverfassung treffen können. Dies hat er nicht getan; er gewährleistet vielmehr allgemein „die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen“. Hieraus lässt sich kein verfassungsrechtlich verankertes Ziel einer möglichst umfangreichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Lande ableiten. Erst der einfache Wahlgesetzgeber hat nur die Parteien der dänischen Minderheit von der Sperrklausel befreit. Dabei belegt das geltende Wahlrecht selbst, dass es nicht auf größtmögliche Repräsentanz aus Gründen des Minderheitenschutzes angelegt ist. Denn Schutz und Förderung der politischen Mitwirkung der dänischen Minderheit können ohne weiteres vollständig leerlaufen. Wenn nämlich nicht die für ein Mandat erforderliche Stimmenzahl erreicht wird, ist die Partei der dänischen Minderheit gar nicht im Landtag vertreten.

14

Ungeachtet dessen könnte auch eine regionalisierte Sperrklausel für Parteien der dänischen Minderheit in Betracht kommen. Anknüpfungspunkt der Privilegierung des SSW ist ein Umstand, der außerhalb des Wahlvorgangs liegt und der zudem eine räumliche Dimension in Gestalt des angestammten Siedlungsgebiets in Südschleswig hat. Damit geht es nicht nur um eine allgemeine Rückausnahme zur Sperrklausel. Vielmehr werden durch die besondere Befreiung bestimmter Parteien, hier des SSW, neue Ungleichbehandlungen gegenüber anderen kleineren Parteien bewirkt. Diese sind auf ein Mindestmaß zu beschränken. Insofern erschiene es nicht systemwidrig, wenn der Gesetzgeber das wahlvorgangsfremde Merkmal nicht nur privilegierend, sondern auch limitierend bemühte.

15

Selbst wenn man die vollständige Befreiung des SSW von der Sperrklausel mit dem Gericht als erforderlich ansehen wollte, wäre sie nicht angemessen, da sie zu einer Überkompensation führt.

16

Zwar kann einer Partei der dänischen Minderheit der Wahlerfolg ebenso wenig negativ angerechnet werden wie ein in Anspruch genommenes allgemeinpolitisches Mandat oder die Beteiligung an der Landesregierung. Das alles sind Folgen der Teilnahme an Wahlen und der Repräsentanz im Landtag. Die Annahme von Abgeordnetenmandaten zweiter Klasse oder eigener Art verbietet sich mit Blick auf Art. 11 LV. Hier geht es indes um die Vorfrage des Umfangs der Vertretung im Parlament aus Gründen des Minderheitenschutzes. Das geltende Wahlrecht sieht eine allgemeine Sperrklausel vor. Dann durchbricht der Gesetzgeber das von ihm festgelegte System, wenn er den zwingenden Grund für die 5%-Klausel nicht durchhält, sondern es zum Schutz für nationale Minderheiten über das notwendige Maß hinaus aufgibt. Staats- und parteipolitisch betrachtet erschwert auch eine Minderheitenpartei die Regierungs- und Mehrheitsbildung im Parlament.

17

Die dänische Minderheit umfasst laut Angaben des Bundesministeriums des Inneren und der Landesregierung etwa 50.000 Personen

(Broschüre „Nationale Minderheiten, Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“, Bundesministerium des Innern , November 2012, S. 12 sowie http://www.schleswig-holstein.de/ Portal/DE/LandLeute/Minderheiten/Daenisch/ daenisch_node.html; abgerufen am 1. August 2013).

Damit ist derzeit von einer relevanten dänischen Minderheit auszugehen. Deswegen kann dahinstehen, wie sich die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich im Einzelnen definiert, insbesondere ob das bloße Bekenntnis hierfür ausreicht.

18

Der SSW hat 61.025 Zweitstimmen erhalten und damit 4,6 % aller gültigen Zweitstimmen, hiervon einen erheblichen Anteil in Gebieten außerhalb des Siedlungsgebietes der dänischen Minderheit

(Bekanntmachung der Landeswahlleiterin vom 18. Mai 2012, ABl Nr. 23 S. 499 ff., Übersicht 4).

Zwar verbietet es sich zu erheben, wie viele dieser Wählerinnen und Wähler Angehörige der dänischen Minderheit waren. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht alle Angehörigen der dänischen Minderheit wahlberechtigt sind und nicht alle Angehörigen der Minderheit den SSW gewählt haben dürften. Vor diesem Hintergrund lassen die Zahlen und die regionale Verteilung erkennen, dass der SSW erheblichen Zuspruch von Wählerinnen und Wählern gehabt haben muss, die nicht der Minderheit angehören. Diese politische Realität darf das Gericht bei seiner Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Wahlgleichheit aus Gründen des Minderheitenschutzes nicht außer Betracht lassen.

19

Wenn man dem SSW sämtliche sich aus seinem Zweitstimmenergebnis rechnerisch ergebenden Sitze zuteilt, dann profitiert er zu einem großen Teil von seinem allgemeinpolitischen Erfolg, der nicht aus seinem Minderheitenstatus herrührt. Die hiermit, also mit der Zuteilung weiterer, über einen „Sitz für die nationale Minderheit“ hinausgehender Sitze bei einem Wahlergebnis unter 5 % insbesondere gegenüber anderen kleinen Parteien verbundene Vertiefung des Eingriffs in die Gleichheit der Wahl kann vorbehaltlich anderer Instrumente wie etwa einer regionalisierten Sperrklausel nicht mit dem Minderheitenschutz gerechtfertigt werden. Die Integrationskraft von Wahlen bei der politischen Willensbildung des Volkes verlangt eine effektive parlamentarische Repräsentanz der nach dem Wählervotum bedeutsamen politischen Strömungen. Soweit einer nationalen Minderheit der Zugang zum Parlament erleichtert wird, darf dabei nicht die Relation der wahlberechtigten Minderheit zum gesamten Wahlvolk außer Acht gelassen werden.

20

Die zwingende Wählbarkeit der Parteien der dänischen Minderheit, das heißt des SSW, im ganzen Land ist zwar eine (Neben-)Folge der Änderung des Wahlrechts durch Einführung der Zweitstimme. Mit der Zulässigkeit dieser Systementscheidung hat es aber nicht sein Bewenden. Vielmehr ist der Gesetzgeber nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet,

eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat (...). Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein (...) (und) zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht (...). Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse (...)

(BVerfG, Urteil vom 9. November 2011 - 2 BvC 4/10 u.a. -, BVerfGE 129, 300 ff., Juris Rn. 90).

21

Dieser Beobachtungs- und Prüfpflicht ist der Wahlgesetzgeber nicht nachgekommen. Die in Folge der Einführung der Zweitstimme eingetretene Überprivilegierung ist durch das Ziel des Minderheitenschutzes nicht (mehr) gedeckt. Eine Unterstützung durch Wählerinnen und Wähler, die nicht der dänischen Minderheit zuzurechnen sind – die jedoch stattfindet, wie insbesondere das Wahlergebnis des SSW außerhalb von Südschleswig dokumentiert –, erfolgt aus allgemeinpolitischen Motiven und unterliegt damit der allgemeinen Sperrklausel. Allein der Bezug zur nationalen Minderheit rechtfertigt die Ungleichbehandlung des SSW gegenüber Parteien mit geringer Stimmenzahl und Parteien ohne örtliche Schwerpunkte im Zuge des Verhältnisausgleichs. Zugleich wird durch Verbindung der Partei mit einer besonderen Wählergruppe die Zulässigkeit der wahlrechtlichen Ungleichbehandlung begrenzt. Dem Wahlgesetzgeber ist verwehrt, jenseits zwingender Gründe über den Einzug von Parteien in das Parlament zu disponieren.

22

Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 LWahlG verstößt daher in ihrer derzeitigen Fassung gegen Art. 3 Abs. 1 LV. Da die Mehrheit des Gerichts die Regelung für mit der Landesverfassung vereinbar hält, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, welche Rechtsfolge der Verstoß nach sich zöge.

23

Ebenso bedarf die in der mündlichen Verhandlung angesprochene Frage, ob der „Sitz für die nationale Minderheit“ dem SSW stets, also selbst dann zugeteilt werden sollte, wenn die Partei das für ein Mandat erforderliche Zweitstimmenergebnis nicht erreicht, hier keiner Entscheidung. Sie richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber.