Landessozialgericht NRW Urteil, 01. Sept. 2016 - L 6 AS 84/16
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 23.12.2015 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger begehrt die Aufhebung des "Bescheides" des Beklagten vom 05.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2015. Mit dem als "Mahnung" bezeichneten Schreiben vom 05.03.2014 forderte der von dem Beklagten hierzu beauftragte Inkassoservice der Bundesagentur für Arbeit den Kläger zur Zahlung eines geltend gemachten Erstattungsbetrags zuzüglich einer Mahngebühr auf und wies darauf hin, dass die Forderung i.H.v. 2368,08 EUR aus dem Erstattungsbescheid des Beklagten vom 13.01.2012 resultiere und zudem eine Mahngebühr von 12,00 Euro zu zahlen sei. Gegen die Festsetzung der Mahngebühr sei der Widerspruch zulässig.
3Mit Schreiben vom 30.03.2015 legte der Kläger "gegen den Mahnbescheid vom 05.03.2015" Widerspruch ein. Das gerichtliche Verfahren sei noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Solange es keinen zu Lasten des Klägers unterlegenen Titel gebe, habe die Klage aufschiebende Wirkung.
4Der Beklagte verwarf den Widerspruch als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 30.04.2015). Der Rechtsbehelf richte sich gegen die Mahnung vom 05.03.2015, mit der aber lediglich die Zahlungsmodalitäten des Erstattungsbescheides vom 13.01.2012 bekannt gegeben würden; Verwaltungsaktqualität komme der Mahnung nicht zu.
5Mit Gerichtsbescheid vom 23.12.2015 hat das Sozialgericht die hiergegen am 13.05.2015 erhobene Klage abgewiesen. Die Klage sei unbegründet. Der Beklagte habe den gegen das Schreiben vom 05.03.2015 gerichteten Widerspruch zu Recht als unzulässig verworfen. Bei dem Mahnschreiben handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern vielmehr um eine Mahnung im Sinne des § 3 Abs. 3 VwVG, die als unselbstständige Vorbereitungshandlung zur Vollstreckungsanordnung oder zu den eigentlichen Vollstreckungshandlungen nicht anfechtbar sei. Verwaltungsaktqualität komme lediglich der Festsetzung der Mahngebühren zu, gegen diese habe der Kläger sich aber nicht gewendet, sondern gegen die Mahnung.
6Hiergegen hat der Kläger am 08.01.2016 Berufung eingelegt und Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten für das Berufungsverfahren beantragt. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, es handele sich bei einer Mahnung mit der Mahngebühr um einen Verwaltungsakt. Gegen den Mahnbescheid sei Widerspruch eingelegt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.04.2015 sei dieser als unzulässig verworfen worden mit der Begründung, ein Verwaltungsakt läge nicht vor.
7Mit Beschluss vom 21.04.2016 hat der Senat den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren abgelehnt. Zur Begründung hat er auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen. Ergänzend hat er ausgeführt, dass der Beklagte den Widerspruch zutreffend als unzulässig verworfen habe. Zwar sei grundsätzlich die Festsetzung von Mahngebühren ein anfechtbarer Verwaltungsakt, der Widerspruch des Klägers vom 30.03.2015 sei aber nicht gegen die Festsetzung der Mahngebühr, sondern gegen die Mahnung gerichtet, die nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren sei. Sowohl der Wortlaut "lege gegen ihren Mahnbescheid Widerspruch ein" als auch die Begründung "das gerichtliche Verfahren ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Solange es keine zu Lasten meines Mandanten unterlegenen Titel gibt, hat auch die Klage aufschiebende Wirkung" ließen keine andere Auslegung zu, als dass sich der Widerspruch nur gegen die Mahnung richte. Dies gelte umso mehr, wenn - wie hier - der Widerspruch durch eine erfahrene Prozessbevollmächtigte erhoben werde, die dabei aber nicht der zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung im Schreiben/Bescheid vom 05.03.2015 gefolgt sei.
8Gegen diesen Beschluss hat der Kläger am 04.05.2016 Anhörungsrüge erhoben und geltend gemacht, der Beschluss sei eine Überraschungsentscheidung. Der Widerspruch des Klägers sei selbstverständlich gegen die Festsetzung der Mahngebühr gerichtet worden. Der Wortlaut sei eindeutig. Das Wort Mahnung komme darin nicht vor. Ein Mahnbescheid sei ein Verwaltungsakt. Der Verwaltungsakt könne nur die Festsetzung der Mahngebühr sein. Die Begründung, "das gerichtliche Verfahren ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen, solange es keinen zulasten meines Mandanten unterlegenen Titel gibt, hat auch die Klage aufschiebende Wirkung", interpretiere das Gericht falsch. Dies gelte umso mehr, als der Widerspruch durch eine erfahrene Prozessbevollmächtigte erhoben worden sei, der das Gericht nicht zutrauen sollte, einen falschen Rechtsbehelf einzulegen. Dieser Satz sei so gemeint, dass das gerichtliche Verfahren gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid noch nicht abgeschlossen sei und deswegen die Klage gegen diese zu Grunde liegenden Bescheide aufschiebende Wirkung habe und deswegen kein Mahnbescheid (keine Festsetzung von Mahngebühren) erfolgen dürfe. Hätte das Landessozialgericht der Prozessbevollmächtigten, deren erfahrene Position nicht zu ihren Lasten, sondern zu ihren Gunsten gewertet werden müsse, vorab mitgeteilt, wie es zu entscheiden gedenke und mit welcher Begründung, hätte sie Obiges dargestellt und noch weiter ausgeführt, dass eine Aufklärung vor einer Auslegung komme. Spätestens vor dem Sozialgericht in Köln hätte erkannt werden müssen, dass die Auslegung des eingelegten Rechtsmittels nur so von der Prozessbevollmächtigten gemeint werden konnte, wie sie es erklärt habe. Das Gericht habe auch nicht davon ausgehen dürfen, dass einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung im Wortlaut zu folgen sei. Der Wortlaut sei nicht entscheidend, sondern das Gemeinte.
9Mit Beschluss vom 16.06.2016 hat der Senat die Anhörungsrüge zurückgewiesen. Auf den Inhalt der Begründung wird verwiesen (Bl. 55-58 Prozessakte).
10Am Tag der mündlichen Verhandlung hat die Prozessbevollmächtigte mit Fax um 9.18 Uhr mitgeteilt, dass sie nicht reisefähig sei und um mündliche Verhandlung ohne ihre Anwesenheit bitte.
11Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten; dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
12Entscheidungsgründe:
13Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesend und auch nicht vertreten war. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers ist auf diese prozessuale Möglichkeit mit der Terminsbenachrichtigung hingewiesen worden. Diese ist ihr ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 15.08.2016 zugestellt worden. Zudem hat die Prozessbevollmächtigte mit Fax vom 01.09.2016 (9.18 Uhr) mitgeteilt, dass sie am 01.09.2016 nicht reisefähig sei und um mündliche Verhandlung ohne ihre Anwesenheit bitte.
14Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
15Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides, soweit sie oben wiedergegeben worden sind, und die des Beschlusses des Senats vom 21.04.2016 Bezug und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
16Das Vorbringen im Berufungsverfahren führt zu keiner anderen Beurteilung.
17Zutreffend hat der Kläger darauf hingewiesen, dass der Wortlaut des Antrags nicht entscheidend sei, sondern das Gemeinte. Bei der Erforschung des Gemeinten sind alle (erkennbaren) Umstände des Einzelfalles von Bedeutung, unerheblich ist es allerdings mit Blick auf die strengeren Anforderungen an eine Erklärung als Verfahrenshandlung, welcher Inhalt der Erklärung von dem erklärenden Beteiligten später - ggfs. nach Ablauf von Verfahrensfristen - klarstellend zugeschrieben wird. Wenn diese Zuschreibung von der Auslegung bezogen auf den Zeitpunkt der Verfahrenshandlung nicht gedeckt ist, ist die so klargestellte Erklärung erst im Zeitpunkt der Klarstellung wirksam erfolgt.
18Bei der Auslegung entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass der Formulierung verfahrensrechtlicher Erklärungen bei anwaltlich vertretenen Klägern eine größere Bedeutung zukommt (vgl. etwa BVerwG Beschluss vom 13.01.2012 - 9 B 56/11). Deshalb ist es naheliegend in die Überlegungen den Umstand einzubeziehen, dass die bevollmächtigte Rechtsanwältin, wenn sie für den Kläger hätte Widerspruch gegen die Festsetzung der Mahngebühr einlegen wollen, dieses so ja hätte erklären können, zumal es die Rechtsbehelfsbelehrung im Schreiben vom 05.03.2015 so vorsieht. Wenn die Bevollmächtigte als Rechtsanwältin eine Fehlbezeichnung ("Mahnbescheid") vornimmt, da ein Mahnbescheid nach den Vorschriften der ZPO nicht ergangen ist, eröffnet sie selbst den Raum für die Auslegung. Wenn sie vom Naheliegendsten, nämlich der schlichten sprachlichen Umsetzung der Rechtsbehelfsbelehrung abweicht, lässt dies sinnfällig die Möglichkeit zu anzunehmen, sie habe für den Kläger diesen Rechtsbehelf nicht einlegen wollen. Als erfahrene Rechtsanwältin weiß sie darum, dass unklare und/oder falsche Anträge zusätzliche Haftungsrisiken aus dem Mandatsverhältnis in sich bergen. Der Gehalt der danach auslegungsbedürftigen Erklärung und Verfahrenshandlung hat sich dann für den Beklagten über die beigefügte Begründung erschlossen, die sich nur zu der Hauptforderung verhält. Vor diesem Hintergrund war es keinesfalls fernliegend, sondern zutreffend, den Widerspruch eben nicht als Widerspruch (auch) gegen die Festsetzung der Mahngebühr einzuordnen. Wenn der Kläger vorträgt, andere Gerichte bezeichneten die Festsetzung der Mahngebühr als "Mahnbescheid", führt dies nicht zu der von ihm reklamierten Eindeutigkeit, hier sei Widerspruch "gegen die Festsetzung der Mahngebühren" eingelegt worden. Der Begriff "Mahnbescheid" beinhaltet dann immer noch eine Mehrdeutigkeit, die über die oben dargelegten Auslegungshilfen jedenfalls nicht mit der für Verfahrenshandlungen notwendigen Klarheit zu der Auslegung führt, es habe (auch) Widerspruch gegen die Festsetzung der Mahngebühren eingelegt werden sollen.
19Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
20Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.
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(1) Die Vollstreckung wird gegen den Vollstreckungsschuldner durch Vollstreckungsanordnung eingeleitet; eines vollstreckbaren Titels bedarf es nicht.
(2) Voraussetzungen für die Einleitung der Vollstreckung sind:
- a)
der Leistungsbescheid, durch den der Schuldner zur Leistung aufgefordert worden ist; - b)
die Fälligkeit der Leistung; - c)
der Ablauf einer Frist von einer Woche seit Bekanntgabe des Leistungsbescheides oder, wenn die Leistung erst danach fällig wird, der Ablauf einer Frist von einer Woche nach Eintritt der Fälligkeit.
(3) Vor Anordnung der Vollstreckung soll der Schuldner ferner mit einer Zahlungsfrist von einer weiteren Woche besonders gemahnt werden.
(4) Die Vollstreckungsanordnung wird von der Behörde erlassen, die den Anspruch geltend machen darf.
(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.
(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.
(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.
Gründe
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Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Zwar rechtfertigt das Beschwerdevorbringen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (1.). Jedoch hat die Verfahrensrüge mit dem Ergebnis Erfolg (2.), dass der Rechtsstreit in dem im Tenor bezeichneten Umfang zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).
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1. Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greift nicht durch. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtsfrage dann, wenn für die Entscheidung des vorinstanzlichen Gerichts eine konkrete fallübergreifende Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) von Bedeutung war, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; vgl. Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>, vom 23. April 1996 - BVerwG 11 B 96.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 10 S. 15, vom 30. März 2005 - BVerwG 1 B 11.05 - NVwZ 2005, 709 und vom 2. August 2006 - BVerwG 9 B 9.06 - NVwZ 2006, 1290). Daran fehlt es.
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a) Soweit die Beschwerde die Frage aufwirft,
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"Ist es mit dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem aus Art. 3 GG folgenden Willkürverbot vereinbar, wenn § 3 Abs. 3 KAG NRW dahingehend ausgelegt wird, dass es als zwingende Voraussetzung für die Prognoseentscheidung der Gemeinde bezüglich zu erhebender Vorauszahlungen keiner Steuerfestsetzung aus dem Vorjahr bedarf?",
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wendet sie sich gegen die Auslegung von Landesrecht (§ 3 Abs. 3 KAG NRW), die vom Revisionsgericht nicht nachgeprüft wird und eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung deswegen nicht begründen kann. Abweichendes folgt nicht daraus, dass die Frage die Vereinbarkeit der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung mit Bestimmungen des Bundesverfassungsrechts thematisiert. Revisibilität könnte sie nur erlangen, wenn die angeführten bundesrechtlichen Maßstabsnormen, an denen die Auslegung und Anwendung der landesrechtlichen Vorschrift zu messen sind, ihrerseits ungeklärte Fragen von fallübergreifender Bedeutung aufwerfen würden (stRspr; vgl. etwa Beschluss vom 7. März 1996 - BVerwG 6 B 11.96 - Buchholz 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 7). Das ist nicht ansatzweise dargetan.
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b) Zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führt ebenfalls nicht die Frage,
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"Wie ist § 139 BGB analog in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem aus Art. 3 GG folgenden Willkürverbot auszulegen, wenn eine Gemeinde in einer Satzung bewusst ein zweigleisiges Festsetzungssystem dergestalt geschaffen hat, dass dem Steuerschuldner zwei Festsetzungs- und Zahlungsmodalitäten eröffnet werden."
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Bei sachgerechter Auslegung dieser Frage will die Beschwerde die Voraussetzungen einer Teil- oder Gesamtnichtigkeit von Satzungen mit den genannten Regelungen geklärt wissen. Dazu bedarf es jedoch keiner revisionsgerichtlichen Entscheidung. Die abstrakt-generellen, von der entsprechenden Anwendung des § 139 BGB ausgehenden Fragen der Gesamt- oder bloßen Teilnichtigkeit von Satzungen sind höchstrichterlich bereits geklärt. Danach steht fest, dass die Entscheidung, ob ein Rechtsmangel zur Gesamtnichtigkeit der Satzung oder nur zur Nichtigkeit einzelner Vorschriften führt, davon abhängt, ob - erstens - die Beschränkung der Nichtigkeit eine mit höherrangigem Recht vereinbare sinnvolle (Rest-)Regelung des Lebenssachverhalts belässt und ob - zweitens - hinreichend sicher ein entsprechender hypothetischer Wille des Normgebers angenommen werden kann (vgl. u.a. Beschlüsse vom 20. August 1991 - BVerwG 4 NB 3.91 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 59 S. 81 ff. und vom 28. August 2008 - BVerwG 9 B 40.08 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 56 Rn. 13). Von diesen Grundsätzen ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Im Übrigen hängt die Beantwortung der Frage maßgeblich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, die einer verallgemeinerungsfähigen Beantwortung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich sind.
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2. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) macht die Klägerin geltend, das Oberverwaltungsgericht habe ihr Klagebegehren unter Verstoß gegen § 88 VwGO unzutreffend ausgelegt und deshalb über einen Teil der Klage entgegen dem Klageantrag nicht in der Sache entschieden. Es habe zu Unrecht angenommen, das Verwaltungsgericht sei - seinerseits unter Verstoß gegen § 88 VwGO - mit der Aufhebung der Vorauszahlungsfestsetzungen für 2009 und die Folgejahre über das Klagebegehren hinausgegangen. Demgegenüber ergebe sich aus der Klagebegründung vom 7. Mai 2009, wie auch aus der Interessenlage der Klägerin, dass das Verwaltungsgericht das Klageziel zutreffend erkannt habe. Diese Rüge greift durch.
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Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln (Urteil vom 3. Juli 1992 - BVerwG 8 C 72.90 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19 S. 4 f.; Beschlüsse vom 5. Februar 1998 - BVerwG 2 B 56.97 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 25 und vom 17. Dezember 2009 - BVerwG 6 B 30.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 38 Rn. 3). Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (stRspr; Urteil vom 3. Juli 1992 a.a.O.; Beschluss vom 25. Juni 2009 - BVerwG 9 B 20.09 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 2). Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (Urteil vom 27. April 1990 - BVerwG 8 C 70.88 - Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5; Beschluss vom 19. Juni 2010 - BVerwG 6 B 12.10 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 55 Rn. 4). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. Urteil vom 18. November 1982 - BVerwG 1 C 62.81 - Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 11 S. 5 f.; Beschlüsse vom 17. Dezember 2009 a.a.O. und vom 19. Juni 2010 a.a.O.).
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Ist aber der Kläger bei der Fassung des Klageantrages anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht.
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Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Oberverwaltungsgericht das Klagebegehren nicht zutreffend ausgelegt. Es ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass nach dem Klageantrag die Aufhebung des Bescheides vom 12. Dezember 2008 nur hinsichtlich der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr 2007 und der Festsetzung von Vorauszahlungen für das Kalenderjahr 2008, nicht aber für das Kalenderjahr 2009 beantragt war. Dagegen hat es die Klagebegründung unberücksichtigt gelassen, die im Zusammenhang mit der Interessenlage der Klägerin deutlich erkennen lässt, dass Klageziel die Aufhebung der Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt war. In der Klagebegründung hat die Klägerin ihr Aufhebungsbegehren auf die Rechtsauffassung gestützt, die Vergnügungssteuersatzung der Beklagten sei nichtig. Diese Satzung bildete die Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Vorausleistungen nicht nur für das Jahr 2008, sondern in gleicher Weise für die Folgejahre. Indem die Klagebegründung daraus den Schluss gezogen hat, "die angefochtene Festsetzung von Vorausleistungen (sei) ebenfalls unwirksam", hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Festsetzung uneingeschränkt angegriffen werden sollte. Gestützt wird dieses Auslegungsergebnis durch die Interessenlage. Die Klägerin wurde durch die Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt belastet. Ein sachlicher Grund, warum sie gegen diese Belastung nur teilweise hätte vorgehen sollen, ist nicht erkennbar.
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Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel. Denn das Oberverwaltungsgericht hat den Teil des erstinstanzlichen Urteils, der die Festsetzung der Vergnügungssteuervorauszahlung für das Jahr 2009 betrifft, wegen Verstoßes gegen § 88 VwGO aufgehoben, aber nicht in der Sache entschieden.
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Da weitere Zulassungsgründe nicht eingreifen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil im Umfang des Verfahrensfehlers aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.
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3. Die Kostenentscheidung folgt, soweit über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden war, aus § 154 Abs. 2 VwGO. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde entsteht eine Gerichtsgebühr nur, soweit die Beschwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Die sonstigen Kosten des Beschwerdeverfahrens, namentlich die außergerichtlichen Kosten, waren verhältnismäßig zu teilen, und zwar in der Weise, dass die Klägerin die Kosten im Maße ihres Unterliegens trägt und die Entscheidung über diejenigen Kosten, die dem Anteil der erfolgreichen Beschwerde am gesamten Beschwerdeverfahren entsprechen, der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgt.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.