Finanzgericht München Urteil, 27. Juli 2015 - 7 K 1718/14

bei uns veröffentlicht am27.07.2015

Gericht

Finanzgericht München

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und zog im März 2010 gemeinsam mit ihrem Ehemann und dem Sohn S, geboren am xx.10.1997, nach Deutschland mit dem Wohnsitz …. Ihr Sohn D,  geboren am xx.04.1995, zog im Juli 2010 in die gemeinsame Wohnung. Die Klägerin beantragte erstmals mit einem bei der Beklagten am 1. Februar 2011 eingegangenen Schreiben für ihre beiden Kinder Kindergeld. In der Folgezeit forderte die Beklagte von der Klägerin folgende Unterlagen an:

  • 1.Mit Schreiben vom 11. Februar 2011 forderte sie eine Schulbescheinigung für S und, falls bisher kein Kindergeld gezahlt wurde, eine schriftliche Begründung dafür, warum bisher keine Antragstellung erfolgte. Die Klägerin reichte die Schulbescheinigung nach und teilte mit, dass sie, seit sie in ... (Anmerkung des Dokumentars: Deutschland) wohnt, kein Kindergeld bezogen hat, weil sie keine Arbeitserlaubnis hatte. Da sie diese jetzt hat, stellte sie jetzt den Antrag.

  • 2.Mit Schreiben vom 28. Februar 2011 forderte sie den Nachweis über die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Deutschland (Bescheinigung des Arbeitgebers) bzw. bei Selbständigkeit eine Gewerbeanmeldung, eine Kopie des Mietvertrages mit Nachweisen über laufende Mietzahlungen seit 1.3.2010, Nachweise, bis wann und von wem für die Kinder in Bulgarien Kindergeld bezogen wurde und die Mitteilung, wer (die Klägerin oder ihr Ehegatte), wo, wann und bei welcher Firma außerhalb Deutschlands als Arbeitnehmer oder Selbstständiger tätig ist, da entsprechende Angaben im Kindergeldantrag gemacht worden sein sollen (die Frage im Kindergeldantrag lautete, ob der Antragsteller oder sein Ehegatte in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung außerhalb Deutschlands als Arbeitnehmer, Selbstständiger usw. tätig war). Die Klägerin teilte mit, dass in Bulgarien für die Kinder kein Kindergeld bezogen worden sei und weder sie noch ihr Ehegatte außerhalb Deutschlands gearbeitet hätten. Sie legte eine Arbeitgeberbescheinigung vom 4.3.2011 vor, dass sie seit 18.01.2011 im hiesigen Betrieb bis auf weiteres beschäftigt ist sowie einen Mietvertrag ab 1.1.2011 nebst Quittungen über Mietzahlungen.

  • 3.Mit Schreiben vom 18. Mai 2011 forderte die Familienkasse die Vorlage des Mietvertrags ab März 2010 bis Dezember 2010 und Nachweise über die Mietzahlungen, Beschäftigungsnachweise für den Zeitraum März 2010 bis Dezember 2010, die Einreichung des Formulars „Auskunftsersuchen E411“, welches für die Klägerin und ihren Ehegatten in Bulgarien zu bestätigen ist, den Abmeldungsbescheid der bulgarischen Sozialversicherung, die Angabe seit wann die Klägerin verheiratet ist, die Angabe, bei welcher Person D vom 1.3.2010 bis 23.7.2010 gelebt hat sowie für das Kind D eine Schulbescheinigung ab Beginn des Schulbesuchs. Bei der Familienkasse ging nur das für die Klägerin von der bulgarischen Behörde ausgefüllte Formular E 411 ein.

  • 4.Mit Schreiben vom 25. Oktober 2011 wurde an die Vorlage der mit Schreiben vom  18. Mai 2011 angeforderten Unterlagen erinnert und mitgeteilt, dass das von der bulgarischen Behörde ausgefüllte Auskunftsersuchen E 411 für den Ehegatten der Klägerin fehlt. Außerdem wurde die Klägerin aufgefordert, die beiliegende Schulbescheinigung für die Kinder D und S bestätigen zu lassen. Die angeforderten Unterlagen wurden nicht vorgelegt.

Mit Bescheid vom 16. Dezember 2011 lehnte die Familienkasse den Kindergeldantrag ab mit der Begründung, dass die erforderlichen Unterlagen und Nachweise nicht vorgelegt wurden. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 6. März 2013 stellte die Klägerin erneut einen Kindergeldantrag und fügte eine Bestätigung der bulgarischen Behörde bei, dass in Bulgarien für die Kinder kein Kindergeld bezogen wurde. Erneut forderte die Familienkasse diverse Unterlagen und Bescheinigungen, darunter das Auskunftsersuchen mit dem Vordruck E411, an. Die Klägerin legte wiederum eine Vielzahl von Unterlagen und Nachweise vor, darunter ein Schreiben des C-Zentrums vom 29. April 2013, bei dem sich die Klägerin in Migrationsberatung befand und das die Klägerin nach eigenen Angaben bei der Kindergeldantragstellung unterstützte. Darin teilte der Mitarbeiter des C-Zentrums mit, dass die Unterlagen komplett sein müssten, es fehle jedoch der Vordruck E411, da es trotz Bemühungen nicht gelungen sei, diesen von den bulgarischen Behörden zu bekommen. Statt dieses Vordrucks werde ein vergleichbares Dokument, das die entsprechende Behörde ausgestellt habe, vorgelegt.

Mit Bescheid vom 8. Mai 2013 setzte die Familienkasse Kindergeld ab Januar 2012 fest. Eine Festsetzung für die Zeit vor Januar 2012 lehnte die Familienkasse ab, da dieser Festsetzung der bestandskräftige Kindergeldablehnungsbescheid vom 16. Dezember 2011 entgegenstehe. Eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO scheide aus, weil der Klägerin ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der maßgebenden Tatsachen/Beweismittel treffe. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 2. Juni 2014).

Dagegen erhob die Klägerin Klage. Zur Begründung trägt sie vor, die Beklagte habe von ihr, wenn sie die geforderten Unterlagen vorgelegt hat, immer wieder neue Unterlagen angefordert und sie somit einer Zermürbungstaktik unterzogen. Die angeforderten Unterlagen waren für die Frage der Kindergeldberechtigung überwiegend irrelevant, so dass nicht erkennbar war, aus welchen Gründen diese eingefordert wurden. Nachgewiesen wurde, dass die Kinder S ab März 2010 und D ab Juli 2010 sich in Deutschland mit der gesamten Familie befunden hatten, so dass ab diesen Zeitpunkten ein Kindergeldanspruch bestand. Ein grobes Verschulden kann ihr daher nicht vorgeworfen werden. Vielmehr sind der Familienkasse schwerwiegende Fehler unterlaufen, die die Nichtigkeit des Ablehnungsbescheides vom 16.12.2011 nach sich ziehen. So hat die Beklagte sie zunächst fehlerhaft informiert und ihr einen falschen Vordruck ausgehändigt. Denn es wurde nicht beachtet, dass sie als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der EU wie eine Inländerin zu behandeln ist und dementsprechend der Vordruck KG 1 ausgereicht hätte. Dieser Fehler wurde auch in späterer Zeit nicht korrigiert. Vielmehr ist sie mit immer neuen Aufforderungsschreiben konfrontiert worden, nach jeder Unterlageneinreichung wurden wiederum weitere unnötige Unterlagen eingefordert, dies stets mit dem Hinweis, andernfalls könne über den Kindergeldanspruch nicht entschieden werden und es müsse mit einer Ablehnung gerechnet werden. Allein die aufmerksame Durchsicht der Bescheinigung des Einwohnermeldeamts und die Heranziehung der allgemein bekannten Tatsache, dass Bulgarien ein Mitglied der EU ist, hätten schon genügt, um von weiteren Aufforderungsschreiben Abstand zu nehmen und das beantragte Kindergeld zu gewähren. Ihre Diskriminierung als EU-Bürgerin wäre auf diese Weise vermieden worden. Fehlerhaft gewesen war auch die Aufforderung, den Mietvertrag mitsamt des Nachweises der Mietzahlungen vorzulegen, ferner Beschäftigungsnachweise und die erneute Vorlage bereits vorgelegter Schulbescheinigungen. All diese Bescheinigungen sind für den Kindergeldanspruch irrelevant. Die Frage, ob in Bulgarien Kindergeld bezahlt wurde, hat sie wahrheitsgemäß mit nein beantwortet. Dennoch ist die Beklagte davon ausgegangen, dass in Bulgarien für Kinder Kindergeld bezahlt wird, auch wenn die Kinder und die Eltern keinen Wohnsitz mehr in Bulgarien haben. Die Beklagte hätte sich in den vom Bundeszentralamt für Steuern veröffentlichten Weisungen zu § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG informieren können, in welchem Mitgliedsstaat wann, wie lange und in welcher Höhe Leistungen bezahlt werden. Daher muss es ihr als bekannt zugerechnet werden, dass in Bulgarien kein Kindergeldanspruch besteht, wenn die Eltern und die Kinder ihren Wohnsitz außerhalb von Bulgarien haben. Auch das Verlangen, den Vordruck E411 für sich und den Ehemann auszufüllen und von der bulgarischen Behörde bestätigen zu lassen, hat nur dem Zweck gedient, sie zu zermürben. Denn der Vordruck E 411 betrifft eine Anfrage bezüglich eines Anspruchs auf Familienleistungen in dem Mitgliedstaat, in dem die Familienangehörigen wohnen. Hierfür hat jedoch der zuständige Träger selbst den Vordruck auszufüllen und an den Träger des Wohnortsstaates zu senden, nicht aber ist dies vom Antragsteller zu übernehmen. Zudem ist dieser Vordruck nur dann notwendig, wenn „der für die Gewährung der Familienleistungen im Mitgliedstaat der Erwerbstätigkeit zuständige Träger zu erfahren wünscht, ob im Wohnmitgliedstaats der Familienangehörigen ein Anspruch auf Familienleistungen besteht“. Voraussetzung ist somit, dass der Antragsteller in Deutschland wohnt bzw. einer Erwerbstätigkeit nachgeht, während die Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat der EU wohnhaft sind. Dieser Sachverhalt liegt im Streitfall jedoch nicht vor, da alle Familienangehörigen in dem Zeitraum, für den Kindergeld beantragt wird, ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Nachdem der Beklagten schließlich der - zu Unrecht angeforderte - Vordruck E411 der Klägerin vorlag, verlangte diese zusätzlich die Vorlage des Vordrucks des Ehemannes. Dies, obwohl sie wusste, dass in Bulgarien grundsätzlich die Mutter die Anspruchsinhaberin des Kindergelds ist, nicht der Vater. Auch war ihr bekannt, dass die beiden Söhne und auch der Ehemann ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Dass mit Bescheid vom 16.12.2011 der Antrag auf Kindergeld abgelehnt wurde, stellt in diesem Fall einen Akt reiner Willkür dar, was zur Folge hat, dass der Bescheid nach § 125 AO nichtig ist. Die Vorgehensweise der Beklagten weicht krass von den gesetzlichen Vorgaben und ihren eigenen Dienstanweisungen ab und steht mit tragenden Prinzipien der Rechtsordnung nicht in Einklang.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Bescheids vom 8. Mai 2013 und der hierzu erlassenen Einspruchsentscheidung vom 2. Juni 2014, soweit darin die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum vor Januar 2012 abgelehnt wurde, die Beklagte zu verpflichten, Kindergeld für S von März 2010 bis Dezember 2011 und für D von März  2010 bis Dezember 2011 festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen und beruft sich zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend führt sie aus, dass die Klägerin, wenn sie bei der erstmaligen Beantragung des Kindergelds im Jahre 2011 Probleme bei der Beschaffung der Unterlagen gehabt hat, diese Hinderungsgründe spätestens im Einspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 16.12.2011 hätte vortragen können und müssen. Sie habe jedoch auf den Bescheid überhaupt nicht reagiert und in bestandskräftig werden lassen. Insoweit sei ihr sehr wohl grobes Verschulden vorzuwerfen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet. Eine Änderung des bestandskräftigen Kindergeldablehnungsbescheids vom 16. Dezember 2011 ist mangels einer vorliegenden Änderungsnorm nicht möglich.

  • 1.Der Kindergeldablehnungsbescheid vom 16. Dezember 2011 ist in formelle Bestandskraft erwachsen, da er wirksam bekannt gegeben wurde und gegen ihn kein Einspruch eingelegt worden ist. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist er auch nicht nach § 125 Abgabenordnung (AO) nichtig. Nichtig ist ein Verwaltungsakt dann, wenn er an einen besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (BFH-Urteil vom 15. Mai 2002 X R 33/99, BFH/NV 2002, 1415). Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschrift beurteilt werden (BFH-Urteil vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381, m.w.N.).

Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO darstellen. Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Wenn etwa ein Schätzungsbescheid trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und somit ein "objektiv willkürlicher" Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das Finanzamt grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen (BFH in BStBl II 2001, 381). Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten; „Strafschätzungen" eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden (BFH-Urteil vom 15. Juli 2014 X R 42/12, BFH/NV 2015, 145).

Eine vergleichbare Willkürmaßnahme stellt der Ablehnungsbescheid vom 16. Dezember 2011 nicht dar. Zwar trifft der Vorwurf der Klägerin zu, dass die Beklagte Bescheinigungen und Nachweise angefordert hat, die für den Kindergeldanspruch im konkreten Fall irrelevant waren. Insbesondere ist es nicht ohne weiteres erkennbar, warum die Vorlage des Vordrucks E411 verlangt wurde, obwohl dieser nur dann anzufordern ist, wenn der Antragsteller nicht in dem Mitgliedstaat, in dem die Familienangehörigen wohnen, den Kindergeldantrag stellt (Beschluss Nr. 201 vom 15. Dezember 2004 über die Muster der zur Durchführung der Verordnungen EWG Nr. 1408/71 und EWG Nr. 574/72 des Rates erforderlichen Vordrucke – Reihe E 400 - ). Im Streitfall wurde Kindergeld für den Zeitraum beantragt, in dem die Klägerin zusammen mit ihrer Familie ihren Wohnsitz in Deutschland hatte. Offenbar  diente die Anforderung des Vordrucks, der von der Klägerin auch vorgelegt wurde, dem Zweck sicherzustellen, dass nicht zeitweise sowohl in Deutschland wie auch in Bulgarien Kindergeld beantragt wurde; dies hat der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Allerdings beträgt das bulgarische Kindergeld lediglich 35 BGN, umgerechnet rund 18 € monatlich, so dass die Ablehnung des vollen deutschen Kindergeldes wegen nicht auszuschließender Gewährung bulgarischen Kindergeldes in jedem Fall rechtswidrig war; angemessen wäre allenfalls eine Kürzung des deutschen Kindergeldes um das bulgarische Kindergeld gewesen. Auch für weitere im Schreiben vom 18. Mai 2011 angeforderte Unterlagen gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, wie etwa den Abmeldebescheid bei der bulgarischen Sozialversicherung oder die Angabe seit wann die Klägerin verheiratet ist. Trotz dieser teilweise offensichtlich  zu weitgehenden und damit gegen das Übermaßverbot verstoßenden Ermittlungsmaßnahmen (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO, § 92 Rz. 7) hält das Gericht die Annahme für fernliegend  dass die Beklagte damit bewusst zum Nachteil der Klägerin handeln wollte. Zwar ist es nachvollziehbar, dass für die Klägerin angesichts der immer neuen von der Beklagten geforderten Nachweise und Unterlagen der Eindruck entstehen musste, die Familienkasse beabsichtige sie zu zermürben, d.h. sie durch immer neue Anforderungen zur Aufgabe der Anspruchsstellung zu bewegen. Es fehlt jedoch jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagte bewusst zum Nachteil der Klägerin gehandelt hat, d.h. in der Absicht, sie zur Aufgabe ihres Antrages zu bewegen und sie als Ausländerin zu diskriminieren. Zu weitgehende Ermittlungsmaßnahmen, die zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht erforderlich sind, begründen einen einfachen Fehler im Verwaltungsverfahren, die den erlassenen Verwaltungsakt zwar rechtswidrig, jedoch nicht nichtig machen. Die Klägerin hätte den Ablehnungsbescheid daher fristgemäß anfechten und geltend machen müssen, dass sie die für die Kindergeldfestsetzung notwendigen Nachweise erbracht hat.

b) Die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheides, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt wird, erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (BFH-Urteile vom  25. Juli 2001 VI R 78/98, Bundessteuerblatt - BStBl II - 2002, 88; BFH-Urteil vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BStBl II 2007, 530). Eine Durchbrechung der Bestandskraft des Bescheids vom 16. Dezember 2011 ist nur möglich, wenn einer der in §§ 172 ff. AO normierten Änderungstatbestände eingreift.

Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist eine Änderung eines bestandskräftigen Bescheids zulässig, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer bzw. wie im Streitfall zur Festsetzung der Steuervergütung führen. Neue Tatsachen sind der Beklagten nach Erlass des Bescheids vom 16. Dezember 2011 jedoch nicht bekannt geworden. Alle erforderlichen Informationen lagen zu diesem Zeitpunkt bereits vor. Auf die Frage, ob für die Kinder in Bulgarien Kindergeld bezogen wurde, hat die Klägerin auch in ihrer Antwort vom 10.3.2011 geantwortet, dass dies nicht der Fall sei. Bei der mit den Kindergeldantrag vom Januar 2013 vorgelegten Bescheinigung der bulgarischen Behörde, dass die Klägerin für die Kinder in Bulgarien kein Kindergeld bezogen hat, handelt es sich zwar um ein Beweismittel, da es sich insoweit um ein Erkenntnismittel handelt, das der Aufklärung des Sachverhaltes dient und das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen beweisen soll (BFH-Urteile vom 20. Dezember 1988 VIII R 121/83, BStBl II 1989, 585). Beweismittel können jedoch nur zu einer Aufhebung oder Änderung nach § 173 AO führen, wenn sie im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Bescheids bereits vorhanden und der Behörde nur nicht bekannt waren (BFH-Urteil vom 25. Februar 2003 VIII R 98/01, DStRE 2003, 949). Nachträglich entstandene Beweismittel fallen dagegen nicht unter § 173 AO und – anders als nachträglich entstandene Tatsachen – auch nicht unter § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO (vgl. Forchhammer in Leopold/Madle/Rader, AO, § 173 Rz. 14). Die vorgelegte Bescheinigung der bulgarischen Behörde trägt das Datum vom 13. August 2012 und wurde somit erst nach Erlass des bestandskräftigen Bescheides vom 16. Dezember 2011 ausgestellt. Sie kann daher nicht zu einer Änderung wegen eines nachträglich bekannt gewordenen Beweismittels führen.

Auf die Frage, ob die  Klägerin ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismittel trifft, kommt es somit nicht an.

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Finanzgerichtsordnung - FGO | § 135


(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werd

Abgabenordnung - AO 1977 | § 173 Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel


(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,1.soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen,2.soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer

Abgabenordnung - AO 1977 | § 175 Änderung von Steuerbescheiden auf Grund von Grundlagenbescheiden und bei rückwirkenden Ereignissen


(1) Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,1.soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird,2.soweit ein Ereignis eintritt, das steu

Abgabenordnung - AO 1977 | § 125 Nichtigkeit des Verwaltungsakts


(1) Ein Verwaltungsakt ist nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. (2) Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des

Einkommensteuergesetz - EStG | § 65 Andere Leistungen für Kinder


1Kindergeld wird nicht für ein Kind gezahlt, für das eine der folgenden Leistungen zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre:1.Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder der Kinderzulage aus

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Bundesfinanzhof Urteil, 15. Juli 2014 - X R 42/12

bei uns veröffentlicht am 15.07.2014

Tatbestand 1 I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), die in den Streitjahren 2008 und 2009 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt wurden, erzielten jeweils Einkünft

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(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,

1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen,
2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.

(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.

1Kindergeld wird nicht für ein Kind gezahlt, für das eine der folgenden Leistungen zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre:

1.
Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder der Kinderzulage aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 217 Absatz 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zum 30. Juni 2020 geltenden Fassung oder dem Kinderzuschuss aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 270 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zum 16. November 2016 geltenden Fassung vergleichbar sind,
2.
Leistungen für Kinder, die von einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung gewährt werden und dem Kindergeld vergleichbar sind.
2Soweit es für die Anwendung von Vorschriften dieses Gesetzes auf den Erhalt von Kindergeld ankommt, stehen die Leistungen nach Satz 1 dem Kindergeld gleich.3Steht ein Berechtigter in einem Versicherungspflichtverhältnis zur Bundesagentur für Arbeit nach § 24 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch oder ist er versicherungsfrei nach § 28 Absatz 1 Nummer 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch oder steht er im Inland in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis, so wird sein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind nicht nach Satz 1 Nummer 2 mit Rücksicht darauf ausgeschlossen, dass sein Ehegatte als Beamter, Ruhestandsbeamter oder sonstiger Bediensteter der Europäischen Union für das Kind Anspruch auf Kinderzulage hat.

(1) Ein Verwaltungsakt ist nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

(2) Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 ist ein Verwaltungsakt nichtig,

1.
der schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist, die erlassende Finanzbehörde aber nicht erkennen lässt,
2.
den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann,
3.
der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht,
4.
der gegen die guten Sitten verstößt.

(3) Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil

1.
Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind,
2.
eine nach § 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 6 und Satz 2 ausgeschlossene Person mitgewirkt hat,
3.
ein durch Rechtsvorschrift zur Mitwirkung berufener Ausschuss den für den Erlass des Verwaltungsakts vorgeschriebenen Beschluss nicht gefasst hat oder nicht beschlussfähig war,
4.
die nach einer Rechtsvorschrift erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde unterblieben ist.

(4) Betrifft die Nichtigkeit nur einen Teil des Verwaltungsakts, so ist er im Ganzen nichtig, wenn der nichtige Teil so wesentlich ist, dass die Finanzbehörde den Verwaltungsakt ohne den nichtigen Teil nicht erlassen hätte.

(5) Die Finanzbehörde kann die Nichtigkeit jederzeit von Amts wegen feststellen; auf Antrag ist sie festzustellen, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), die in den Streitjahren 2008 und 2009 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt wurden, erzielten jeweils Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und Kapitalvermögen, die Klägerin daneben aus Gewerbebetrieb (Vermietung von Spielgeräten und Durchführung von Freizeitaktivitäten).

2

Da die Kläger für die Streitjahre --wie auch für die Vorjahre-- zunächst ihrer Pflicht zur Abgabe der Einkommensteuererklärung nicht nachkamen, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Besteuerungsgrundlagen. Hinsichtlich der Einkünfte der Klägerin aus Gewerbebetrieb ging es dabei von Einkünften in Höhe von 19.000 € für das Streitjahr 2008 und in Höhe von 21.000 € für das Streitjahr 2009 aus. Für das Vorjahr 2007 hatten die Kläger in ihrer nachgereichten Einkommensteuererklärung einen Verlust geltend gemacht, der vom FA anerkannt worden war.

3

Die Schätzungsbescheide für die Streitjahre, jeweils vom 1. Februar 2011, ergingen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Sie wurden den Klägern förmlich zugestellt, die Postzustellungsurkunden sind am 2. Februar 2011 in den Briefkasten der Kläger eingeworfen worden.

4

Die Kläger haben am 3. März 2011 Einspruch eingelegt und angekündigt, die Steuererklärungen nachzureichen. Nach entsprechendem Hinweis des FA beantragten die Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die sie mit einer starken psychischen Belastung durch Arzt- und Krankenhaustermine des Vaters/ Schwiegervaters begründeten. Sie führten weiter aus, irrigerweise von einer Aufgabe der Bescheide zur Post und damit von der Geltung der Dreitagefiktion ausgegangen zu sein.

5

In den mit den nachgereichten Einkommensteuererklärungen übersandten Anlagen G sind Gewinne aus Gewerbebetrieb der Klägerin von 2.231 € (2008) bzw. 1.595 € (2009) ausgewiesen worden.

6

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Mit Urteil vom 20. November 2012  10 K 766/12 E wies das Finanzgericht (FG) die Klage ab. Es sei Bestandskraft eingetreten. Der Schätzungsbescheid sei nicht schon deshalb nichtig, weil sich im Nachhinein herausgestellt habe, dass die Einkünfte der Klägerin geringer ausgefallen seien. Es gebe keine stichhaltigen Anhaltspunkte für eine willkürliche Schätzung. Der von den Klägern für 2007 deklarierte Verlust lasse keinen Schluss auf die Streitjahre zu. Es sei deshalb ausreichend gewesen, dass das FA mit einem Gewinn von rund 20.000 € in der absoluten Größenordnung nicht überzogen habe.

7

Mit ihrer Revision rügen die Kläger, die Schätzung sei grob fehlerhaft und objektiv willkürlich. Erwägungen, wie FA und FG zu der Schätzung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 19.000 € bzw. 21.000 € gekommen seien, seien nicht erkennbar.

8

Die Kläger beantragen sinngemäß,
das angefochtene Urteil und die Einspruchsentscheidungen vom 27. Januar 2012 aufzuheben und die Einkommensteuer für 2008 und 2009 jeweils entsprechend den eingereichten Einkommensteuererklärungen neu festzusetzen.

9

Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

10

Es ist der Ansicht, es liege weder eine krasse Abweichung von der Realität vor noch fehle die Schätzmethode. Vielmehr beruhe die Schätzung auf einem Vorjahresvergleich unter Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlags.

Entscheidungsgründe

11

II. Die Revision der Kläger ist als unbegründet zurückzuweisen.

12

Die Kläger haben die einmonatige Einspruchsfrist nicht gewahrt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war nicht zu gewähren (unten 1.). Die Einkommensteuerbescheide sind wirksam; die Schätzungen der gewerblichen Einkünfte der Klägerin begründen keine Nichtigkeit (unten 2.).

13

1. Das FA ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Einspruch nicht innerhalb der Monatsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) eingelegt worden ist.

14

a) Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO war --auch von Amts wegen-- nicht zu gewähren. Soweit die Kläger auf eine besondere Belastung durch Arzt- und Krankenhaustermine des Vaters/Schwiegervaters verweisen, hätten sie weitere Tatsachen darlegen und --spätestens im Klageverfahren (vgl. Klein/Rätke, AO, 11. Aufl., § 110 Rz 9; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 110 Rz 89, jeweils m.w.N.)-- gemäß § 110 Abs. 2 Satz 2 AO auch glaubhaft machen müssen, inwiefern dies für die Fristversäumung ursächlich gewesen sei. Die Kläger erklären selbst die Rechtsbehelfsbelehrung nicht studiert zu haben. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, etwaige Zweifel in Bezug auf die Zustellung der Bescheide rechtzeitig zu klären (Senatsbeschluss vom 17. März 2010 X B 114/09, BFH/NV 2010, 1239). Zu Recht hat das FA deshalb eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund des Verschuldens der Kläger abgelehnt.

15

b) Die Einspruchsfrist ist nicht gemäß § 356 Abs. 2 Satz 1 AO auf ein Jahr seit Bekanntgabe der Bescheide verlängert worden, da die Rechtsbehelfsbelehrungen der streitigen Bescheide vollständig und richtig erteilt worden sind. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Wirkungen der Zustellung mittels Zustellungsurkunde, auf die in beiden Bescheiden ausdrücklich hingewiesen wird, sondern auch in Bezug auf die Erläuterungen zu den Rechtsbehelfsbelehrungen zu den Anforderungen an die Form der Einspruchseinlegung. Insoweit reicht es --wie hier geschehen-- aus, in den Rechtsbehelfsbelehrungen den Wortlaut des § 357 Abs. 1 Satz 1 AO wiederzugeben (vgl. weiterführend: Senatsurteil vom 20. November 2013 X R 2/12, BFHE 243, 158, BStBl II 2014, 236).

16

2. Die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre sind aufgrund der eingetretenen Bestandskraft --mangels Vorliegens von Korrekturvorschriften-- nicht änderbar. Sie sind auch nicht nichtig.

17

a) Eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet aufgrund des groben Verschuldens der Kläger aus. Diese haben die Einspruchsfristen versäumt und es damit unterlassen, entscheidungserhebliche Tatsachen --hier die in ihren Steuererklärungen angegebenen Beträge-- innerhalb der Einspruchsfrist mitzuteilen (vgl. insoweit nur Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Dezember 2013 VIII R 10/11, BFH/NV 2014, 820, m.w.N.).

18

b) Die Einkommensteuerschätzungsbescheide vom 1. Februar 2011 sind nicht nichtig.

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aa) Dem Grunde nach war das FA nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen der Kläger, insbesondere auch der Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Klägerin, berechtigt und verpflichtet, weil es die Besteuerungsgrundlagen in Folge von Verstößen der Kläger gegen ihre Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nicht ermitteln oder berechnen konnte (§ 162 Abs. 2 Satz 1 AO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO). Sie haben ihre Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre, zu deren Abgabe sie nach § 149 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 25 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes, § 56 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung verpflichtet waren, nicht fristgerecht abgegeben.

20

bb) Das FG hat zu Recht erkannt, dass die Schätzung nicht nichtig war.

21

(1) Nach § 162 Abs. 1 Satz 2 AO sind bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (vgl. BFH-Beschluss vom 28. März 2001 VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N.). Verlässt die Schätzung den durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen, ist sie --lediglich-- rechtswidrig. Ausnahmsweise kann eine fehlerhafte Schätzung die Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Verwaltungsakts zur Folge haben, wenn sich das FA nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat (Senatsurteil vom 15. Mai 2002 X R 33/99, BFH/NV 2002, 1415; BFH-Urteile vom 26. April 2006 II R 58/04, BFHE 213, 207, BStBl II 2006, 793; vom 7. Februar 2002 VI R 80/00, BFHE 197, 554, BStBl II 2002, 438; vom 20. Dezember 2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381, jeweils m.w.N.).

22

Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig oder gar nichtig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt.

23

(2) Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige --wie im Streitfall-- seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will. Verlässt eine Schätzung diesen Rahmen, hat dies aber im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht deren Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Etwas anderes ist nach dieser Rechtsprechung, der der Senat bereits in BFH/NV 2002, 1415 gefolgt ist, zu erwägen, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2002, 1415, m.w.N.).

24

(3) Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein "objektiv willkürlicher" Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, "die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten" (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381); "Strafschätzungen" eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden.

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(4) Lässt hingegen der Bescheid nicht erkennen, dass überhaupt und welche Schätzungserwägungen angestellt worden sind, liegen Mängel bei der Begründung der Schätzung vor, die nicht zur Nichtigkeit, sondern allenfalls zur Anfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes führen (BFH-Urteil vom 17. März 2009 VII R 40/08, BFH/NV 2009, 1287, m.w.N.).

26

(5) Nach diesen Grundsätzen sind die Bescheide nicht nichtig. Es ist schon nicht erkennbar, dass das FA bewusst zum Nachteil der Kläger geschätzt hat. Vielmehr waren die Schätzungen aufgrund der fehlenden Einkommensteuererklärungen notwendig geworden und verließen den durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen nicht. Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 19.000 € bzw. 21.000 € sind auch nebenberuflich und auch bei dem Gewerbe der Klägerin denkbar und möglich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das FA Schätzungen an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens vornehmen darf und dem FA keine Erkenntnisse dafür vorlagen, dass und warum die Einkünfte der Klägerin diese Größenordnung schlechterdings nicht sollten erreichen können. Allein der Umstand, dass sie in einem anderen Veranlagungszeitraum Verluste erklärt hatte, beweist --ungeachtet der Frage, ob diese Erklärungen überhaupt zutrafen-- nicht, dass es sich in den Streitjahren ebenso verhalten musste. Soweit die nachgereichten Erklärungen deutlich geringere Einkünfte auswiesen, wären etwaige --deren inhaltliche Richtigkeit wiederum unterstellt-- sich hieraus ergebende Abweichungen von den tatsächlichen Verhältnissen notwendige Folge der Schätzungen.

27

Im vorliegenden Fall ist weiter nicht erkennbar, dass das FA durch diese Schätzungen die Steuererklärungspflichtverletzungen der Kläger sanktionieren wollte. Das FA hat vielmehr eine wenn auch grobe Schätzung vorgenommen, da ihm konkretere Anhaltspunkte für die Schätzung nicht zur Verfügung standen. Andere Mittel, die Einkünfte aus Gewerbetrieb der Klägerin zu bestimmen, gab es nicht, so dass die griffweise Schätzung, sollte sie überhaupt rechtswidrig gewesen sein, jedenfalls nicht nichtig war.

28

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,

1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen,
2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.

(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.

(1) Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,

1.
soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird,
2.
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt.

(2) Als rückwirkendes Ereignis gilt auch der Wegfall einer Voraussetzung für eine Steuervergünstigung, wenn gesetzlich bestimmt ist, dass diese Voraussetzung für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, oder wenn durch Verwaltungsakt festgestellt worden ist, dass sie die Grundlage für die Gewährung der Steuervergünstigung bildet. Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung gilt nicht als rückwirkendes Ereignis.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.