Bundessozialgericht Beschluss, 18. Jan. 2011 - B 2 U 256/10 B


Gericht
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Juni 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Landessozialgerichts zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten um die Feststellung und Entschädigung der Berufskrankheit nach Nr 2108 der Anlage (ab 1.7.2009 Anlage 1) zur Berufskrankheiten-Verordnung (Bescheid vom 18.3.1997 und Widerspruchsbescheid vom 6.10.1997 der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover). Das SG Hannover hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25.10.1999). Das LSG Niedersachsen-Bremen hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 14.6.2004). Auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Senat die zweitinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen, weil dem Antrag auf ergänzende Befragung des Sachverständigen Dr. S. nicht nachgekommen worden sei. Nach Anhörung von Dr. S. hat das LSG erneut die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 17.6.2010).
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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Richterin des Berufungssenats J. habe am 10. und 15.6.2010 mit der Beklagten telefoniert. Auf dieses einseitige Verhalten, das ein Befangenheitsgesuch gerechtfertigt hätte, sei in der mündlichen Verhandlung am 17.6.2010 nicht hingewiesen worden.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Prozessgericht auch, die Beteiligten über einen möglichen Ablehnungsgrund zu unterrichten. Die von der Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) umfasste Unparteilichkeit des Gerichts wird ua durch das Recht eines Beteiligten gesichert, Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen ( § 60 Abs 1 SGG iVm §§ 42 ff Z PO). Damit ein Beteiligter von diesem prozessualen Recht Gebrauch machen kann, muss das Gericht ihn auf einen ihm verborgenen Sachverhalt hinweisen, der aus der Sicht einer objektiv und vernünftig urteilenden Partei Anlass für einen Befangenheitsantrag sein kann (BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 2 RdNr 7). Ein solcher Sachverhalt lag im Berufungsverfahren vor.
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Die Richterin J. hat die Beklagte wegen der vom Kläger beanstandeten Beweiserhebung am 10.6.2010 in einem Telefonat um Stellungnahme zu § 200 SGB VII sowie zu der Frage gebeten, ob und ggf seit wann mit Herrn Dr. O. vertragliche Beziehungen beständen (Aktenvermerk der Beklagten vom 10.6.2010). In einem weiteren Anruf am 15.6.2010 hat die Richterin in Kenntnis des Umstandes, dass ein Beratungsarztvertrag nicht bestehe, auf eine schriftliche Stellungnahme verzichtet und vorgeschlagen, dass sich der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht von sich aus zu dieser Problematik äußern, sondern er nur auf etwaige Fragen des Gerichts reagieren sollte (Aktenvermerk der Beklagten vom 16.6.2010). Solche Besprechungen über den Prozessstoff mit nur einem Beteiligten können die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 60 RdNr 8n). Sie sind geeignet, an der Unvoreingenommenheit sowie objektiven Einstellung des Gerichts zu zweifeln und sind daher den anderen Beteiligten mitzuteilen.
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Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es ohne den Gehörsverstoß zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
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Angesichts dieses Verfahrensmangels kann die vom Kläger außerdem erhobene Rüge der Verletzung des § 200 SGB VII dahingestellt bleiben. Allerdings erscheint es tunlich, auf das Urteil des Senats vom 20.7.2010 (B 2 U 17/09 R - juris, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) hinzuweisen.
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Im Übrigen wird der Verbleib der CD zu klären sein, die in dem Umschlag Blatt 291 der Gerichtsakte abgelegt war, um die gutachterlichen Ausführungen nachvollziehbar und transparent und damit überprüfbar zu gestalten.
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Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen(§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Im Hinblick darauf, dass das Berufungsverfahren bereits seit Januar 2000 anhängig ist und um dem Kläger bei einer neuerlichen Befassung des LSG mit dem vorliegenden Rechtsstreit effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (Art 19 Abs 4 GG), hält der erkennende Senat die Zurückverweisung des Rechtstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat dieses LSG für angezeigt und unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens auch für geboten (§ 202 SGG iVm § 563 Abs 1 Satz 2 ZPO). Angesichts einer Verfahrensdauer von mehr als zehn Jahren und das durch Art 6 Abs 1 EMRK sowie Art 19 Abs 4 GG garantierte Recht auf ein zügiges Verfahren erscheint es zudem erforderlich, den vorliegenden Rechtstreit vorrangig vor jüngeren Verfahren zur Entscheidungsreife zu führen und zu entscheiden.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.
(1) Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 46 Absatz 1 und die §§ 47 bis 49 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(2) Von der Ausübung des Amtes als Richter ist auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat.
(3) Die Besorgnis der Befangenheit nach § 42 der Zivilprozeßordnung gilt stets als begründet, wenn der Richter dem Vorstand einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts angehört, deren Interessen durch das Verfahren unmittelbar berührt werden.
(4) (weggefallen)
(1) § 76 Abs. 2 Nr. 1 des Zehnten Buches gilt mit der Maßgabe, daß der Unfallversicherungsträger auch auf ein gegenüber einem anderen Sozialleistungsträger bestehendes Widerspruchsrecht hinzuweisen hat, wenn dieser nicht selbst zu einem Hinweis nach § 76 Abs. 2 Nr. 1 des Zehnten Buches verpflichtet ist.
(2) Vor Erteilung eines Gutachtenauftrages soll der Unfallversicherungsträger dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen; die betroffene Person ist außerdem auf ihr Widerspruchsrecht nach § 76 Abs. 2 des Zehnten Buches hinzuweisen und über den Zweck des Gutachtens zu informieren.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
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die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.
(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen.
(2) Das Berufungsgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(3) Das Revisionsgericht hat jedoch in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist.
(4) Kommt im Fall des Absatzes 3 für die in der Sache selbst zu erlassende Entscheidung die Anwendbarkeit von Gesetzen, auf deren Verletzung die Revision nach § 545 nicht gestützt werden kann, in Frage, so kann die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.