Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Feb. 2016 - XII ZB 38/15

ECLI:ECLI:DE:BGH:2016:100216BXIIZB38.15.0
bei uns veröffentlicht am10.02.2016
vorgehend
Amtsgericht München, 517 F 8888/14, 15.10.2014
Oberlandesgericht München, 12 UF 1821/14, 22.01.2015

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 38/15
vom
10. Februar 2016
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Brüssel IIa-VO Art. 8, 20, 28 ff.
a) Enthält die eine einstweilige Maßnahme anordnende Entscheidung keine eindeutige Begründung
für die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts in der Hauptsache unter Bezugnahme
auf eine der in den Art. 8 bis 14 Brüssel IIa-VO genannten Zuständigkeiten, und ergibt
sich die Hauptsachezuständigkeit auch nicht offensichtlich aus der erlassenen Entscheidung
, ist davon auszugehen, dass die Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften
der Brüssel IIa-VO ergangen ist. In diesem Fall ist zu prüfen, ob die Entscheidung
unter die Öffnungsklausel des Art. 20 Brüssel IIa-VO fällt (im Anschluss an Senatsbeschluss
BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).
b) Sind auch die Voraussetzungen des Art. 20 Brüssel IIa-VO nicht gegeben, kommt eine
Anerkennung und Vollstreckung der von einem nach der Brüssel IIa-VO unzuständigen
Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahme nicht in Betracht (im Anschluss an Senatsbeschluss
BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).
c) Dringlichkeit i.S.d. Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO bezieht sich sowohl auf die Lage, in der
sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit, den die elterliche Verantwortung
betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der
Hauptsache zuständig ist (im Anschluss an EuGH FamRZ 2010, 525).
d) Einstweilige Maßnahmen i.S.v. Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO können nur in Bezug auf Personen
erlassen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass
dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat. Das gilt in Verfahren über die elterliche
Verantwortung nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für den Elternteil, dem
durch den Erlass der Maßnahme das Sorgerecht genommen wird (im Anschluss an EuGH
FamRZ 2010, 525).
BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016 - XII ZB 38/15 - OLG München
AG München
ECLI:DE:BGH:2016:100216BXIIZB38.15.0

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Februar 2016 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. NeddenBoeger und Dr. Botur
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des 12. Zivilsenats - Familiensenat - des Oberlandesgerichts München vom 22. Januar 2015 aufgehoben. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 15. Oktober 2014 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin. Wert: 3.000 €

Gründe:

A.

1
Die Antragstellerin begehrt die Vollstreckbarerklärung einer polnischen Entscheidung über die Kindesherausgabe.
2
Aus der Ehe der Antragstellerin und des Antragsgegners ging das am 10. September 2012 in Augsburg geborene Kind R. hervor. Die nunmehr getrennt lebenden Eltern - beide polnische Staatsangehörige - wohnten gemeinsam mit dem Kind in Augsburg. Im Mai 2013 reiste die Antragstellerin mit dem Kind nach Polen und verblieb dort. Der Antragsgegner, der hiermit nicht einverstanden war, leitete daraufhin in Polen ein Verfahren nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (BGBl. 1990 II S. 206; im Folgenden: Haager Kindesentführungsübereinkommen - HKÜ) ein. Anfang September 2013 kehrte die Antragstellerin mit dem Kind nach Augsburg zurück. Bereits am 30. September 2013 zog sie mit dem Kind gegen den Willen des Antragsgegners wieder nach Polen. Der Antragsgegner stellte daraufhin erneut in Polen einen Antrag nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen auf Rückführung des Kindes. Vor einer Entscheidung hierüber verbrachte er das Kind am 13. Juli 2014 eigenmächtig wieder nach Deutschland. Sein Rückführungsantrag wurde daraufhin abgewiesen.
3
Zwischen den Eltern ist in Polen ein Scheidungsverfahren anhängig, in dessen Rahmen auch ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet wurde. In diesem Verfahren ordnete das Bezirksgericht L. am 14. Juli 2014 auf Antrag der Antragstellerin in einer Sicherungsverfügung an, dass der Aufenthalt des Kindes für die Dauer des Verfahrens bei der Mutter liege. Zudem verpflichtete es den Antragsgegner, das Kind an die Antragstellerin herauszugeben.
4
Die Antragstellerin hat in Deutschland beantragt, die Sicherungsverfügung für vollstreckbar zu erklären und sodann die Vollstreckung vorzunehmen. Das Amtsgericht hat die Anträge abgewiesen. Auf die Beschwerde der Antragstellerin hat das Beschwerdegericht die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und die Sicherungsverfügung hinsichtlich der Herausgabeverpflichtung mit einer Vollstreckungsklausel versehen. Hiergegen wendet sich der Antragsgegner mit der Rechtsbeschwerde.

B.

5
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und zur Zurückweisung der Beschwerde der Antragstellerin.

I.

6
Die nach §§ 28 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz - IntFamRVG), 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Senats ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§§ 28 IntFamRVG, 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Mit Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, dass die Beschwerdeentscheidung auf einer Abweichung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 42) beruht.

II.

7
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
8
1. Das Beschwerdegericht hat seine in FamRZ 2015, 777 veröffentlichte Entscheidung wie folgt begründet:
9
Für die Vollstreckung der Sicherungsverfügung sei die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. EU Nr. L 338 S. 1; im Folgenden: Brüssel IIa-VO) grundsätzlich anwendbar. Die Entscheidung sei aber nicht nach Art. 11 Abs. 8, 40 Abs. 1 lit. b, 42 Brüssel IIa-VO unmittelbar vollstreckbar. Eine vollstreckbare Entscheidung im Sinne von Art. 28 Brüssel IIa-VO liege ebenfalls nicht vor, weil nicht ersichtlich sei, dass das polnische Gericht seine internationale Zuständigkeit auf die Art. 8 ff. Brüssel IIa-VO gestützt habe.
10
Damit handele es sich allenfalls um eine Entscheidung nach Art. 20 Brüssel IIa-VO, auf die die Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO nicht anwendbar seien. Art. 20 Brüssel IIa-VO lasse aber unter den dort genannten Voraussetzungen den Rückgriff auch auf an sich nachrangige Übereinkommen und gegebenenfalls das nationale Recht zu. Hier habe sich das polnische Gericht auf Art. 20 Brüssel IIa-VO stützen können, denn aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens des Antragstellers, der das Kind in einem Akt der Selbstjustiz entführt und nach Deutschland verbracht habe, habe ein dringendes Regelungsbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Maßnahme bestanden, um die Rückführung des Kindes zur Antragstellerin anzuordnen. Hier könne für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung auf das Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. Oktober 1996 (ABl. 2003 Nr. L 48 S. 3; im Folgenden: KSÜ) zurückgegriffen werden. Die Sicherungsverfügung sei gemäß Art. 26 Abs. 1 KSÜ für vollstreckbar zu erklären. Ein Ausschlussgrund nach Art. 23 Abs. 2 KSÜ liege nicht vor, insbesondere sei das Bezirksgericht L. international zuständig gewesen. Zwar habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland; es habe während des Aufenthalts in Polen noch keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt dort begründet. Die Zuständigkeit ergebe sich aber aus Art. 11 KSÜ, weil sich das Kind in Polen befunden habe und ein dringender Fall vorgelegen habe.
11
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.
12
a) Zutreffend ist allerdings, dass die in der Sicherungsverfügung angeordnete - aus der elterlichen Sorge resultierende - Aufenthaltsbestimmung und die damit einhergehende Herausgabeverpflichtung in den sachlichen Anwendungsbereich der Brüssel IIa-Verordnung fallen (Art. 1 Abs. 1 lit. b Alt. 2, Art. 2 Nr. 7 und Nr. 9 Brüssel IIa-VO) und dass die Voraussetzungen für eine Vollstreckung ohne Vollstreckbarerklärung nach Art. 42 Abs. 1, 40 Abs. 1 lit. b, 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO nicht vorliegen.
13
b) Ebenso wenig ist etwas dagegen zu erinnern, dass das Berufungsgericht das Vorliegen einer vollstreckbaren Entscheidung im Sinne von Art. 28 Brüssel IIa-VO verneint hat, weil nicht ersichtlich sei, dass das polnische Gericht seine internationale Zuständigkeit auf die Art. 8 ff. Brüssel IIa-VO gestützt habe.
14
aa) Erlässt das Gericht eine einstweilige Maßnahme, die den Bereich der elterlichen Sorge betrifft, ist für die Anwendung der Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO darauf abzustellen, ob das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf Art. 8 ff. Brüssel IIa-VO gestützt hat. Ist dies zweifelhaft, ist anhand der Ausführungen in der Entscheidung zu prüfen, ob das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf eine Vorschrift der Brüssel IIa-Verordnung stützen wollte (Senatsbeschlüsse BGHZ 205, 10 = FamRZ 2015, 1011 Rn. 19 und BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 23; EuGH FamRZ 2010, 1521 Rn. 73 ff.). Kann das nicht festgestellt werden, so ist davon auszugehen, dass die zu vollstreckende Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-Verordnung er- gangen ist (EuGH FamRZ 2010, 1521 Rn. 76; Senatsbeschluss BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 24). In diesem Fall kann eine Maßnahme nach Art. 20 Brüssel IIa-VO vorliegen. Diese Vorschrift begründet aber keine Zuständigkeit im Sinne der Verordnung, weshalb auf derartige Verfahren die Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO nicht anwendbar sind (EuGH FamRZ 2010, 1521 Rn. 83 ff.; Senatsbeschluss BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 17).
15
bb) Gemessen hieran hat das Beschwerdegericht zu Recht die Anwendbarkeit der Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO verneint.
16
Das Bezirksgericht L. hat in seiner Entscheidung auf die Brüssel IIaVerordnung nicht Bezug genommen. Soweit es ausführt, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen habe, gibt es nur den Vortrag der Antragstellerin wieder, ohne dass erkennbar wird, inwieweit hieraus ein Grund für die internationale Zuständigkeit abgeleitet werden soll. Zutreffend hat das Beschwerdegericht ausgeführt, dass es für die Zuständigkeit vielmehr ausschließlich Normen des polnischen Rechts zitiert und diese im Wesentlichen aus dem laufenden Verfahren in der Hauptsache hergeleitet hat, ohne dass die Zuständigkeit hierfür begründet wird. Damit liegt weder eine eindeutige Begründung der Zuständigkeit nach der Brüssel IIa-Verordnung vor, noch ergibt sich diese offensichtlich aus der Entscheidung.
17
c) Nicht zutreffend ist jedoch die Annahme des Beschwerdegerichts, dass die Voraussetzungen der Öffnungsklausel des Art. 20 Brüssel IIa-VO vorgelegen hätten.
18
aa) Die fehlende Anwendbarkeit der Art. 21 ff. Brüssel IIa-VO steht indes der Anerkennung und Vollstreckung einer auf der Grundlage des Art. 20 Brüssel IIa-VO ergangenen Maßnahme in anderen Mitgliedstaaten nicht von vornherein entgegen. Vielmehr handelt es sich bei Art. 20 Brüssel IIa-VO um eine Öffnungsklausel. Während die Brüssel IIa-Verordnung grundsätzlich unter den in Art. 59 bis 63 der Verordnung genannten Voraussetzungen Vorrang vor den meisten einschlägigen internationalen Übereinkommen hat, lässt Art. 20 Brüssel IIa-VO unter den dort genannten Voraussetzungen den Rückgriff auch auf an sich nachrangige Übereinkommen und gegebenenfalls auf das nationale Recht zu. Dies bedeutet nicht nur, dass sich die Zuständigkeit für einstweilige Maßnahmen unter den Voraussetzungen des Art. 20 Brüssel IIa-VO aus nachrangigen Übereinkommen und dem nationalen Recht ergeben kann, sondern auch, dass die Anerkennung und Vollstreckung solcher Maßnahmen auf der Grundlage der dort enthaltenen Rechtsinstrumente in Betracht kommt (Senatsbeschluss BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 18 mwN).
19
bb) Jedoch liegen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO nach den getroffenen Feststellungen nicht vor.
20
(1) Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO hat drei Voraussetzungen, die allesamt erfüllt sein müssen, damit die Öffnungsklausel Platz greift. Die Maßnahme muss dringlich sein, sie muss in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das Gericht seinen Sitz hat, und sie muss vorübergehender Art sein (EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 39 und FamRZ 2010, 1521 Rn. 77; Senatsbeschluss BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 19).
21
(a) Der Begriff der Dringlichkeit bezieht sich dabei sowohl auf die Situation des Kindes als auch auf die praktische Unmöglichkeit, eine Entscheidung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts zur elterlichen Verantwortung herbeizuführen (EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 42 und FamRZ 2010, 1521 Rn. 94). Bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals ist das Ziel der Brüssel IIaVerordnung zu beachten, die Beteiligten davon abzuhalten, die Kinder rechtswidrig in einen anderen Mitgliedstaat zu verbringen oder in einem solchen zu- rückzuhalten. Dürfte eine Maßnahme, die zu einer Veränderung der elterlichen Verantwortung und damit zu einer Verfestigung der aus rechtswidrigem Handeln entstandenen tatsächlichen Situation führt, nach Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO erlassen werden, liefe das darauf hinaus, die Position des hierfür verantwortlichen Elternteils zu stärken (vgl. EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 49, 57).
22
(b) Daneben ist schon dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO zu entnehmen, dass einstweilige Maßnahmen nur in Bezug auf Personen zu erlassen sind, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat. Handelt es sich bei der einstweiligen Maßnahme um eine Sorgerechtsentscheidung (hier in Form der Aufenthaltsbestimmung und Herausgabeverpflichtung), wird diese nicht nur in Bezug auf das Kind, sondern auch in Bezug auf den Elternteil getroffen, dem die elterliche Sorge entzogen wird, so dass die Anwesenheit des Kindes und des betroffenen Elternteils im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts erforderlich ist (vgl. EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 50 f.).
23
(c) Schließlich muss die Maßnahme vorübergehender Art sein, es darf sich also nicht um eine Hauptsacheentscheidung handeln.
24
(2) Hier hat das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft Art. 20 Brüssel IIa-VO angewandt, obgleich weder die Dringlichkeit noch die Anwesenheit der betroffenen Personen gegeben waren.
25
(a) Das Beschwerdegericht hat einen dringenden Fall i.S.d. Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO angenommen ohne zu prüfen, ob es der Antragstellerin nicht möglich war, rechtzeitig eine Entscheidung zur elterlichen Verantwortung durch die deutschen Gerichte herbeizuführen. Von deren Zuständigkeit gemäß Art. 8 i.V.m. Art. 10 Brüssel IIa-VO ist nach den getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen auszugehen. Das Kind hatte vor dem widerrechtlichen Verbringen durch seine Mutter seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Die Voraussetzungen des Art. 10 Brüssel IIa-VO für einen Wechsel der Zuständigkeit liegen ersichtlich nicht vor; ebenso wenig sind die Voraussetzungen der Zuständigkeit der polnischen Gerichte nach Art. 12 Brüssel IIa-VO erkennbar. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts hat das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach wie vor in Deutschland. Gründe,warum die Anrufung der deutschen Gerichte nicht möglich gewesen sein soll, sind nach alledem nicht ersichtlich.
26
Gegen die Annahme, dass hier ein dringender Fall vorliegt, spricht im Übrigen das Ziel der Brüssel IIa-Verordnung, die Beteiligten von einem rechtswidrigen Verbringen oder Zurückhalten der Kinder abzuhalten. Denn die Vollstreckung der Sicherungsverfügung hätte zur Folge, dass der Aufenthalt des Kindes in Polen verfestigt und legitimiert wird, obgleich die Antragstellerin das Kind nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts zuvor wiederholt widerrechtlich nach Polen verbracht hat. Dass der Antragsgegner durch die eigenmächtige Rückholung des Kindes selbst rechtswidrig gehandelt hat, führt für sich genommen nicht zu einer anderen Bewertung der Dringlichkeit.
27
(b) Des Weiteren hat das Beschwerdegericht nicht beachtet, dass es an der nach Art. 20 Abs. 1 Brüssel IIa-VO erforderlichen Anwesenheit der von der Maßnahme Betroffenen fehlt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Antragsgegner mit dem Kind Polen bereits am 13. Juli 2014 verlassen. Die Sicherungsverfügung datiert demgegenüber vom 14. Juli 2014. Die Voraussetzungen des Art. 20 Brüssel IIa-VO, wonach der Antragsgegner und das Kind - als die von der Sicherungsverfügung betroffenen Personen - bei Erlass der Sicherungsverfügung in Polen hätten anwesend sein müssen, waren demnach nicht erfüllt.
28
d) Sind schließlich - wie hier - auch die Voraussetzungen des Art. 20 Brüssel IIa-VO nicht gegeben, kommt eine Anerkennung und Vollstreckung der von einem nach der Brüssel IIa-Verordnung unzuständigen Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahme nicht in Betracht. Art. 20 Brüssel IIa-VO erlaubt den Rückgriff auf die genannten anderen Rechtsinstrumente nur, wenn die zu treffende Maßnahme dringlich ist, einstweiligen Charakter hat und sich auf Personen oder Vermögensgegenstände bezieht, die sich in dem Mitgliedstaat befinden , in dem das mit der Sache befasste Gericht seinen Sitz hat. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei dem abschließenden Charakter der Brüssel IIa-Verordnung (Senatsbeschluss BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542 Rn. 19 mwN; vgl. auch EuGH FamRZ 2010, 525 Rn. 38 ff.; Helms FamRZ 2011, 546).
29
e) Da eine Vollstreckbarerklärung damit ohnehin ausscheidet, kann die Frage dahinstehen, ob auch Art. 16 HKÜ einer Vollstreckbarerklärung der während des laufenden HKÜ-Verfahrens erlassenen Sicherungsverfügung entgegensteht (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 28. April 2011 - XII ZB 170/11 - FamRZ 2011, 959 Rn. 13 mwN).
30
3. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben. Da keine weiteren Ermittlungen erforderlich sind, kann der Senat in der Sache abschließend entscheiden. Weil weder eine unmittelbare Vollstreckung aus der Sicherungsverfügung noch deren Vollstreckbarerklärung in Betracht kommt, hat das Amtsgericht die Anträge im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Die Beschwerde der Antragstellerin war daher unbegründet und ist zurückzuweisen.
Dose Schilling Günter Nedden-Boeger Botur
Vorinstanzen:
AG München, Entscheidung vom 15.10.2014 - 517 F 8888/14 -
OLG München, Entscheidung vom 22.01.2015 - 12 UF 1821/14 -

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Bundesgerichtshof Beschluss, 25. Juli 2012 - XII ZB 170/11

bei uns veröffentlicht am 25.07.2012

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XII ZB 170/11 vom 25. Juli 2012 in der Familiensache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja Brüssel II a-Verordnung Art. 21 ff.; IntFamRVG §§ 28, 29, 32; ZPO §§ 574 Abs. 2, 575 Abs. 3 Nr. 2 a) Gegen d

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Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts findet die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nach Maßgabe des § 574 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 der Zivilprozessordnung statt.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 170/11
vom
25. Juli 2012
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Brüssel II a-Verordnung Art. 21 ff.; IntFamRVG §§ 28, 29, 32; ZPO §§ 574
Abs. 2, 575 Abs. 3 Nr. 2

a) Gegen die in einem Verfahren auf Nichtanerkennung einer in einem Mitgliedstaat
ergangenen Entscheidung gemäß Art. 21 Abs. 3 Brüssel II a-VO ist die Rechtsbeschwerde
statthaft.

b) Die Rechtsbeschwerde ist nach §§ 32, 28 IntFamRVG i.V.m. § 574 Abs. 2 ZPO
nur zulässig, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung
des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der Rechtsbeschwerdeführer
hat diese Zulässigkeitsvoraussetzungen darzulegen (§§ 32, 29 IntFamRVG
BGH, Beschluss vom 25. Juli 2012 - XII ZB 170/11 - OLG Bamberg
AG Bamberg
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Juli 2012 durch den Vorsitzenden
Richter Dose, die Richterinnen Weber-Monecke und Dr. Vézina und
die Richter Schilling und Dr. Botur

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 2. Zivilsenats - Familiensenat - des Oberlandesgerichts Bamberg vom 21. März 2011 wird auf Kosten des Antragstellers verworfen. Beschwerdewert: 3.000 €

Gründe:

I.

1
Der Antragsteller begehrt die Nichtanerkennung einer ungarischen Sorgerechtsentscheidung.
2
Aus der Beziehung des Antragstellers (im Folgenden: Vater) mit der Antragsgegnerin (im Folgenden: Mutter) ist das Kind A., geboren am 6. August 2006, hervorgegangen. Mit Beschluss vom 15. November 2010 übertrug das Gericht des II. und III. Stadtbezirks in Budapest unter Abänderung vorangegangener Regelungen im Wege der einstweiligen Anordnung die Betreuung und die Erziehung des Kindes der Mutter. Der mit dem Kind in Deutschland lebende Vater wurde u. a. verpflichtet, das Kind innerhalb von drei Tagen nach Ungarn zu verbringen und an die Mutter zu übergeben.
3
Das Amtsgericht hat dem Antrag des Vaters, die vorgenannte Entscheidung nicht anzuerkennen, stattgegeben. Auf die hierauf von der Mutter eingelegte Beschwerde hat das Oberlandesgericht den Antrag zurückgewiesen und unter anderem die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses angeordnet. Hiergegen wendet sich der Vater mit seiner Rechtsbeschwerde.
4
Seinen Antrag, die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des angefochtenen Beschlusses aufzuheben, hat der Senat mit Beschluss vom 28. April 2011 (XII ZB 170/11 - FamRZ 2011, 959) als unzulässig zurückgewiesen.

II.

5
Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig.
6
1. Allerdings ist die Rechtsbeschwerde gemäß §§ 1 Nr. 1, 32, 28 des Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts vom 26. Januar 2005 (BGBl. I S. 162 - im Folgenden: IntFamRVG) iVm Art. 21 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (im Folgenden: Brüssel II a-VO) statthaft (zur Anwendung des IntFamRVG - und damit auch dessen § 28 - im vorliegenden Verfahren s. Senatsbeschluss vom 28. April 2011 - XII ZB 170/11 - FamRZ 2011, 959 Rn. 8 ff.).
7
2. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unzulässig, weil der Vater die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht dargelegt hat.
8
a) Gemäß § 32 i.V.m. § 28 IntFamRVG findet gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nach Maßgabe des § 574 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO statt. Nach § 32 i.V.m. § 29 Satz 1 IntFamRVG ist § 575 Abs. 1 bis 4 ZPO entsprechend anzuwenden. Gemäß § 575 Abs. 3 Nr. 2 ZPO muss die Begründung der Rechtsbeschwerde in den Fällen des § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, also wenn die Rechtsbeschwerde - wie hier - aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung statthaft ist, eine Darlegung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO enthalten. Danach ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1) oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (Nr. 2).
9
Der Beschwerdeführer muss den Zulassungsgrund bzw. die Zulassungsvoraussetzungen nicht nur benennen, sondern auch zu den jeweiligen Voraussetzungen substantiiert vortragen (BGH Beschluss vom 25. März 2010 - V ZB 159/09 - NJW-RR 2010, 784 Rn. 5).
10
b) Diesen Anforderungen wird die Rechtsbeschwerdebegründung nicht gerecht. Zutreffend hat die Mutter in ihrer Rechtsbeschwerdeerwiderung dargetan , dass sich die Rechtsbeschwerde hierzu nicht ausdrücklich äußert. In seiner Begründung führt der Vater zwar aus, dass - seiner Auffassung nach - ein Verstoß gegen Art. 23 b Brüssel II a-VO vorliege, weil das seinerzeit vier Jahre alte Kind von dem ungarischen Gericht nicht angehört wurde. Damit genügt die Rechtsbeschwerdebegründung den Zulässigkeitsanforderungen jedoch nicht. Dose Weber-Monecke Vézina Schilling Botur
Vorinstanzen:
AG Bamberg, Entscheidung vom 12.01.2011 - 211 F 1651/10 -
OLG Bamberg, Entscheidung vom 21.03.2011 - 2 UF 59/11 -