Bundesgerichtshof Beschluss, 13. Aug. 2009 - I ZB 11/09

bei uns veröffentlicht am13.08.2009
vorgehend
Amtsgericht Wedding, 32 M 8042/08, 06.10.2008
Landgericht Berlin, 51 T 668/08, 20.01.2009

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I ZB 11/09
vom
13. August 2009
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Die Prüfung, ob die Räumungsvollstreckung bei einem hochbetagten Schuldner
wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten
unvereinbare Härte i.S. des § 765a ZPO darstellt, ist nicht auf eine akute Lebensgefahr
während des Räumungsvorgangs selbst zu beschränken; in die
Beurteilung einzubeziehen sind auch schwerwiegende gesundheitliche Risiken,
die aus einem Wechsel der gewohnten Umgebung resultieren.
BGH, Beschluss vom 13. August 2009 - I ZB 11/09 - LG Berlin
AG Berlin-Wedding
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. August 2009 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Prof.
Dr. Büscher, Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Koch

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss der Zivilkammer 51 des Landgerichts Berlin vom 20. Januar 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 11.043,96 € festgesetzt.

Gründe:


1
I. Die am 7. Januar 1910 geborene Schuldnerin ist durch Urteil des Amtsgerichts Wedding vom 20. November 2006 verurteilt, das Haus F. straße in B. zu räumen. Gegen die vom Gläubiger betriebene Räumungsvollstreckung hat die Schuldnerin nach § 765a ZPO Räumungsschutz beantragt.
2
Das Amtsgericht hat den Räumungsschutzantrag der Schuldnerin mit Beschluss vom 6. Oktober 2008 zurückgewiesen. Ihre dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben.
3
Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Schuldnerin ihren Räumungsschutzantrag weiter. Der Gläubiger hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
4
II. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
5
1. Das Beschwerdegericht hat eine besondere Härte auf Seiten der Schuldnerin, die es bei Würdigung der Gläubigerinteressen rechtfertigt, die Zwangsvollstreckung befristet oder unbefristet einzustellen, verneint und hierzu ausgeführt:
6
Allein das hohe Alter der Schuldnerin und die bei ihr vorhandene leichte senile Demenz rechtfertigten keinen Räumungsschutz. Der Verlust der vertrauten Umgebung werde zwar ihre Orientierungsschwierigkeiten verstärken und negative gesundheitliche Folgen haben. Lebensgefahr bestehe für die Schuldnerin im Falle einer Räumung aber nicht. Zu berücksichtigen sei, dass die Schuldnerin seit mehr als zwei Jahren von ihrer Verpflichtung zur Räumung Kenntnis habe. Dass sie Anstrengungen zur Anmietung anderer Räume unternommen habe, habe sie nicht dargelegt. Für die Lebensqualität der Schuldnerin sei auch die Aufrechterhaltung des sozialen Kontakts mit den übrigen Mitgliedern der Wohngemeinschaft von Bedeutung. Dieser lasse sich aber auch in einer anderen Wohnung erhalten.
7
2. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Rechtsbeschwerde haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Die Annahme des Beschwerdegerichts, die Einstellung der Zwangsvollstreckung sei zur Vermeidung einer mit den guten Sitten unvereinbaren Härte i.S. des § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht erforderlich, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
8
a) Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist stets eine Abwägung der - in solchen Fällen ganz besonders gewichtigen - Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.). Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für den Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (BGH, Beschl. v. 22.11.2007 - I ZB 104/06, NJW 2008, 1000 Tz. 9).
9
b) Das Beschwerdegericht ist davon ausgegangen, eine Gefahr für das Leben der Schuldnerin bestehe im Falle einer Räumung nicht. Aufgrund ihrer Erkrankung und des hohen Alters bestehe bei der Schuldnerin nur eine verringerte Fähigkeit der Anpassung an eine neue Umgebung, wodurch sie bei einer Zwangsräumung Lebensqualität verliere und sich ihre gesundheitliche Prognose verschlechtere.
10
c) Zu Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, das Beschwerdegericht habe den Vortrag zu den Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin nur unzureichend gewürdigt. Bei vollständiger Berücksichtigung des Vorbringens der Schuldnerin hätte das Beschwerdegericht ohne weitere Beweiserhebungen eine Lebensgefahr für die Schuldnerin im Falle einer Räumung nicht ausschließen dürfen.
11
Nach der Bescheinigung des Facharztes für Innere Medizin Dr. F. vom 13. Mai 2008 leidet die Schuldnerin an arterieller Hypertonie und hypertensiver Herzkrankheit mit Herzinsuffizienz. Nach dem Attest der Fachärztin für Neurologie Dr. B. vom selben Tag liegt bei der Schuldnerin eine fortschreitende dementielle Erkrankung und eine hundertprozentige Schwerbehinderung vor. Aufgrund des hohen Alters und der Demenzerkrankung bezeichnet die Ärztin den Zustand der Schuldnerin bei einer Zwangsräumung wegen der damit verbundenen Aufregung als lebensbedrohend. Zu demselben Ergebnis kommt die Fachärztin Dr. S. in ihrer Stellungnahme vom 22. Juni 2008. Auch der ärztliche Gutachter der zentralen medizinischen Gutachtenstelle des Landesamtes für Gesundheit und Soziales von Berlin gelangt in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 14. Juli 2008 zu dem Ergebnis, im Hinblick auf die negativen Folgen für ihre Gesundheit bestehe bei der Schuldnerin Räumungsunfähigkeit. Mit den in diesen ärztlichen Stellungnahmen prognostizierten Gefahren für Leben und Ge- sundheit der Schuldnerin hat das Beschwerdegericht sich nicht auseinandergesetzt , sondern nur auf die ärztliche Stellungnahme des Bezirksamtes Reinickendorf von Berlin vom 24. Juli 2008 abgestellt, nach der bei einem erzwungenen Umzug keine unmittelbare Lebensgefahr bestehe. Dies reicht für eine vollständige Würdigung der mit einer Zwangsräumung verbundenen Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin in Anbetracht der unterschiedlichen Ergebnisse der ärztlichen Stellungnahmen vom 13. Mai, 22. Juni und 14. Juli 2008 einerseits und vom 24. Juli 2008 andererseits nicht aus. Hierzu hätte das Beschwerdegericht vielmehr eine ergänzende ärztliche Begutachtung unter Einbeziehung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen einholen müssen.
12
Das Beschwerdegericht durfte die Prüfung der Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin durch eine Zwangsräumung auch nicht auf eine akute Lebensgefahr während des Räumungsvorgangs beschränken. Die Schuldnerin hatte geltend gemacht, aufgrund der bestehenden Erkrankungen und ihres hohen Alters sei nach einer Zwangsräumung mit einer Beschleunigung des gesundheitlichen Verfalls und einer Verkürzung ihrer Lebenserwartung zu rechnen; zum Beweis hat sie sich auf die Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme berufen. Die Gefahr entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen nach Durchführung des Räumungsvorgangs ist in die nach § 765a ZPO gebotene Abwägung einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist zudem eine altersentsprechende und krankheitsbedingte deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung, wenn eine gewohnte langjährige Umgebung im Falle einer Zwangsräumung verloren geht (vgl. BVerfG NJW 1998, 295).
13
3. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann danach keinen Bestand haben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, das weitere Feststellungen zu etwaigen aus der Zwangsräumung herrührenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Schuldnerin zu treffen hat.
14
Sollten für die Schuldnerin danach erhebliche Gesundheitsrisiken mit einem Wohnsitzwechsel wegen Verlustes der bekannten Umgebung verbunden sein, darf das Beschwerdegericht bei der nach § 765a ZPO erforderlichen Interessenabwägung nicht zu Lasten der Schuldnerin berücksichtigen, dass diese nach dem Räumungsurteil keine Anstrengungen unternommen hat, eine andere Wohnung zu finden. Denn durch einen Umzug bestünde gerade die Gefahr, dass sich die mit dem Wohnungswechsel verbundenen Gesundheitsrisiken realisieren. Zudem wird das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall auch dem Umstand ein nicht unerhebliches Gewicht beizumessen haben, dass die Schuldnerin eine laufende Nutzungsentschädigung in Höhe der zwischen den Parteien ursprünglich vereinbarten Miete zahlt, nach ihrem - unbestrittenen - Vortrag nur noch geringe Zahlungsrückstände bestehen und vom Gläubiger auch keine anderen Umstände geltend gemacht worden sind, aus denen sich ein vorrangiges Interesse an der Räumung ergeben könnte.
Bornkamm Büscher Schaffert
Kirchhoff Koch
Vorinstanzen:
AG Berlin-Wedding, Entscheidung vom 06.10.2008 - 32 M 8042/08 -
LG Berlin, Entscheidung vom 20.01.2009 - 51 T 668/08 -

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 574 Rechtsbeschwerde; Anschlussrechtsbeschwerde


(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn1.dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder2.das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.§ 542 Ab

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 14


(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der All

Zivilprozessordnung - ZPO | § 765a Vollstreckungsschutz


(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers we

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(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.

(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.

(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.

(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.

(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.

(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn

1.
dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder
2.
das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
§ 542 Abs. 2 gilt entsprechend.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Der Rechtsbeschwerdegegner kann sich bis zum Ablauf einer Notfrist von einem Monat nach der Zustellung der Begründungsschrift der Rechtsbeschwerde durch Einreichen der Rechtsbeschwerdeanschlussschrift beim Rechtsbeschwerdegericht anschließen, auch wenn er auf die Rechtsbeschwerde verzichtet hat, die Rechtsbeschwerdefrist verstrichen oder die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen worden ist. Die Anschlussbeschwerde ist in der Anschlussschrift zu begründen. Die Anschließung verliert ihre Wirkung, wenn die Rechtsbeschwerde zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird.

(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.

(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.

(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.

(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.

(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I ZB 104/06
vom
22. November 2007
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. November 2007
durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Pokrant,
Prof. Dr. Büscher, Dr. Bergmann und Dr. Kirchhoff

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubiger wird der Beschluss der 25. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 7. November 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 16.680 € festgesetzt.

Gründe:


1
I. Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 19. Mai 2005 wurden die Schuldner verurteilt, die Wohnung im Hause M. Straße in D. , erstes Obergeschoss rechts, zu räumen. Nachdem die Schuldner die Wohnung nicht innerhalb der ihnen in dem Urteil gesetzten Frist geräumt hatten, wurde Räumungstermin bestimmt. Daraufhin haben die Schuldner beantragt, die Räumungsvollstreckung gemäß § 765a ZPO aufzuheben. Sie haben geltend gemacht, die Schuldnerin leide an einer schweren Erkrankung , bei der die Durchführung der Räumung eine lebensbedrohliche Situation herbeiführe.
2
Das Amtsgericht hat die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil vom 19. Mai 2005 ohne Befristung eingestellt. Das Beschwerdegericht hat die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Gläubiger zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.
3
Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Gläubiger ihren Antrag weiter, den die Räumungsvollstreckung einstellenden Beschluss des Amtsgerichts Düsseldorf aufzuheben.
4
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Gesetzes (§ 576 Abs. 1 ZPO).
5
1. Das Landgericht hat angenommen, dass die Räumungsvollstreckung das Leben der Schuldnerin erheblich gefährden würde. Nach dem Gutachten des Sachverständigen K. im Betreuungsverfahren leide die Schuldnerin an einer chronischen neurotoxischen Schädigung sämtlicher Organsysteme sowie allergischen Reaktionen im Sinne eines MCS-Syndroms (Multiple Chemical Sensitivity). Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. P. vom 15. Februar 2006 für das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen führte die Schädigung der Schuldnerin durch Insektizide im August 2005 zum Verlust der Sprechfähigkeit, dem teilweise vollständigen Verlust des Hörvermögens, Polyneuropathien , Dysästhesien, Parästhesien, Trigeminusneuralgie und starken, sehr schmerzhaften Myopathien am gesamten Körper. Die Krankheit sei von einer derartigen Schwere, dass ein Umzug ohne gesundheitlich nachteilige Folgen für die Schuldnerin nur aufgrund gründlicher medizinischer Vorbereitung durchführbar sei. Eine solche Vorbereitung sei bei einer Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher und der damit verbundenen Einweisung in eine Notunterkunft nicht gewährleistet. Für die Gewährung von Räumungsschutz komme es nicht darauf an, dass möglicherweise die Schuldner die Gefährdung durch Suche einer neuen und angemessenen Unterkunft ausschließen könnten und diese schuldhaft unterließen. Anders als in dem in BGHZ 163, 66 behandelten Fall der Suizidgefahr könne im Streitfall der vitalen Gefährdung auch nicht durch eine Unterbringung nach polizeirechtlichen Vorschriften begegnet werden , die seitens des Vollstreckungsgerichts veranlasst werden könnte.
6
2. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Rechtsbeschwerde haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
7
a) Auf der Grundlage des im Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellenden Sachverhalts kann derzeit der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht zugestimmt werden, dass eine für die Schuldnerin bestehende Lebensgefährdung eine Räumungsvollstreckung unbefristet ausschließe.
8
aa) Selbst dann, wenn mit einer Zwangsvollstreckung eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden ist, kann eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung nicht ohne weiteres gem. § 765a ZPO eingestellt werden. Erforderlich ist stets die Abwägung der - in solchen Fällen ganz besonders gewichtigen - Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen auch keine Aufgaben überbürdet werden, die aufgrund des Sozialstaatsprinzips dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.).
9
Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auch auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Mögliche Maßnahmen betreffen die Art und Weise, wie die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird. Nicht zuletzt kann aber auch vom Schuldner selbst erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner mit ihm gemeinsam in der zu räumenden Wohnung lebenden Angehörigen möglichst auszuschließen (BGHZ 163, 66, 74; vgl. auch BGH, Beschl. v. 19.10.2005 - VIII ZR 208/05, ZMR 2006, 33). Dabei ist die Feststellung, welche Handlungen dem Räumungsschuldner konkret zumutbar sind, Aufgabe des Vollstreckungsgerichts. Allerdings kann die Würdigung aller Umstände, die unter Beachtung der Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte vorgenommen wird, in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Räumungsvollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (BVerfG (Kammer), Beschl. v. 27.6.2005 - 1 BvR 224/05, NZM 2005, 657, 658 f.).
10
bb) Nach diesen Grundsätzen erweist sich die Interessenabwägung des Beschwerdegerichts als unvollständig. Auf dieser unvollständigen Grundlage durfte das Beschwerdegericht die unbefristete Einstellung der Zwangsräumung durch das Amtsgericht nicht bestätigen.
11
Das Beschwerdegericht geht, allerdings ohne dafür die tatsächlichen Grundlagen zu nennen, davon aus, dass bei gründlicher medizinischer Vorbereitung ein Umzug für die Schuldnerin ohne gesundheitlich nachteilige Folgen durchführbar wäre. Das Beschwerdegericht hätte deshalb Feststellungen dazu treffen müssen, ob für die Schuldnerin eine derartige medizinische Vorbereitung sichergestellt werden kann. Insofern war es nicht ausreichend anzunehmen, die gründliche medizinische Vorbereitung sei bei einer Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher, die mit der Einweisung in eine Notunterkunft verbunden sei, nicht gewährleistet. Vielmehr waren Feststellungen insbesondere dazu erforderlich , ob die notwendige medizinische Vorbereitung vor dem Räumungstermin vom Gesundheitsamt oder durch die Inanspruchnahme fachlicher Hilfe seitens des Schuldners für seine Ehefrau, gegebenenfalls einschließlich einer vorübergehenden stationären Betreuung, sichergestellt werden könnte.
12
Das Beschwerdegericht hätte auch prüfen müssen, ob es dem Schuldner zumutbar ist, die Gefährdung seiner Ehefrau durch Suche einer neuen und angemessenen Unterkunft auszuschließen. Dann wäre die Zwangsräumung nur befristet einzustellen, bis eine andere Wohnung gefunden und bezugsfertig ist.
13
b) Im Rahmen der erneuten Entscheidung wird das Beschwerdegericht allerdings auch seine Annahme, bei gründlicher medizinischer Vorbereitung sei ein Umzug für die Schuldnerin ohne gesundheitlich nachteilige Folgen durchführbar , einer Überprüfung unterziehen müssen. Die vom Beschwerdegericht in Bezug genommene Stellungnahme des psychiatrischen und neurologischen Dienstes der Stadt Düsseldorf vom 11. Juli 2006 führt aus, dass von fortbestehender Räumungsunfähigkeit ausgegangen werden müsse. Daraus lässt sich nicht ohne weiteres entnehmen, dass bei entsprechender ärztlicher Vorbereitung Räumungsfähigkeit besteht. In dem ebenfalls vom Beschwerdegericht herangezogenen Gutachten Dr. P. (GA 47 ff.) heißt es, ein Briefwechsel zwi- schen dem Schuldner und einem Düsseldorfer Hospiz belege eindrucksvoll, dass für die bedarfsgerechte Pflege der Schuldnerin zurzeit keine pflegerische Einrichtung die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen könne (GA 59). Aus dem Gutachten ergibt sich im Übrigen anschaulich die Hypersensibilität der Schuldnerin gegenüber Duft- und Reizstoffen. Bisher nicht erkennbar in die Abwägung des Beschwerdegerichts eingeflossen ist auch das hohe Alter der Schuldner.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
Vorinstanzen:
AG Düsseldorf, Entscheidung vom 20.06.2006 - 666 M 1625/06 -
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 07.11.2006 - 25 T 564/06 -

(1) Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Es ist befugt, die in § 732 Abs. 2 bezeichneten Anordnungen zu erlassen. Betrifft die Maßnahme ein Tier, so hat das Vollstreckungsgericht bei der von ihm vorzunehmenden Abwägung die Verantwortung des Menschen für das Tier zu berücksichtigen.

(2) Eine Maßnahme zur Erwirkung der Herausgabe von Sachen kann der Gerichtsvollzieher bis zur Entscheidung des Vollstreckungsgerichts, jedoch nicht länger als eine Woche, aufschieben, wenn ihm die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 glaubhaft gemacht werden und dem Schuldner die rechtzeitige Anrufung des Vollstreckungsgerichts nicht möglich war.

(3) In Räumungssachen ist der Antrag nach Absatz 1 spätestens zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, dass die Gründe, auf denen der Antrag beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war.

(4) Das Vollstreckungsgericht hebt seinen Beschluss auf Antrag auf oder ändert ihn, wenn dies mit Rücksicht auf eine Änderung der Sachlage geboten ist.

(5) Die Aufhebung von Vollstreckungsmaßregeln erfolgt in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 4 erst nach Rechtskraft des Beschlusses.