Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 640/09
vom
9. März 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 9. März 2010 gemäß § 349 Abs. 4
StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Bochum bei dem Amtsgericht Recklinghausen vom 8. September 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten der Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge für schuldig befunden und deshalb gegen ihn eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in vollem Umfang Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen überließ der Angeklagte den anderweitig Verfolgten W. A. und S. Sch. einen ihm gehörenden Pkw VW Golf in Kenntnis davon, dass diese das Fahrzeug zum Transport von zum Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmitteln aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland verwenden würden. Am 7. August 2008 führten A. und Sch. 3.657 g Heroingemisch (Wirkstoffmenge: 2.150 g) und 138 g Kokaingemisch (Wirkstoffmenge: 110 g) nebst ca. 4,5 kg Streckmittel, die jeweils in Hohlräumen des vom Angeklagten zur Verfügung gestellten VW Golf versteckt waren, von den Niederlanden nach Deutschland ein. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten - für sich gesehen rechtsfehlerfrei - als Beihilfehandlung gewertet. Zur Haupttat hat es im Rahmen der rechtlichen Würdigung ausgeführt: „Die für eine Beihilfehandlung erforderliche Haupttat liegt in der von den Zeugen A. und Sch. begangenen Tat, festgestellt durch das rechtskräftige Urteil 29 KLs 34 Js 468/08 AK 76/08, welches im Schuldspruch Bindungswirkung entfaltet“. A. und Sch. waren in diesem Urteil auf Grund des Tatgeschehens vom 7. August 2008 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln jeweils in nicht geringer Menge (A. ) bzw. wegen Beihilfe hierzu (Sch. ) verurteilt worden.
3
2. Die Annahme einer Bindungswirkung des früheren Urteils hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Feststellungen rechtskräftiger Urteile zu früheren Tatgeschehen einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (BGHSt 43, 106, 107 f.; Senat, Beschl. vom 17. Juni 2008 - 4 StR 77/08, NStZ 2008, 685; Meyer-Goßner 52. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.). Das Landgericht hätte sich daher in Bezug auf das Tatgeschehen vom 7. August 2008 – ohne Bindung an das frühere Urteil – eine eigene Überzeugung verschaffen müssen. Feststellungen aus früheren rechtskräftigen Strafurteilen können zwar gegebenenfalls im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden; der neue Tatrichter darf sie jedoch nicht ungeprüft übernehmen (BGH aaO).
4
3. Der aufgezeigte Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung des Urteils. Die neu erkennende Strafkammer wird auch zu prüfen haben, ob mit der durch Urteil des Amtsgerichts Meschede vom 31. März 2009 gegen den Angeklagten verhängten Geldstrafe nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden ist (§ 55 StGB). Dies wäre der Fall, wenn – wozu sich das Urteil nicht verhält – diese Strafe zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils noch nicht erledigt war. Die zur Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten getroffenen Feststellungen werden zudem Anlass geben, die Frage einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) einer Prüfung zu unterziehen.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke

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Bundesgerichtshof Beschluss, 09. März 2010 - 4 StR 640/09 zitiert 4 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 64 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt


Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb

Strafgesetzbuch - StGB | § 55 Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe


(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen h

Strafprozeßordnung - StPO | § 249 Führung des Urkundenbeweises durch Verlesung; Selbstleseverfahren


(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind. (2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen

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Bundesgerichtshof Beschluss, 17. Juni 2008 - 4 StR 77/08

bei uns veröffentlicht am 17.06.2008

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 77/08 vom 17. Juni 2008 in der Strafsache gegen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 17. Jun
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Beschluss, 09. März 2010 - 4 StR 640/09.

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 24. Jan. 2017 - 2 B 75/16

bei uns veröffentlicht am 24.01.2017

Gründe 1 Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen ist.

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 77/08
vom
17. Juni 2008
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 17. Juni 2008 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 19. September 2007 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und exhibitionistischer Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Ferner hat es seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg, soweit es sich gegen die Anordnung der Unterbrin- gung in der Sicherungsverwahrung richtet; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Die auf § 66 Abs. 1 StGB gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand, da die Strafkammer das Vorliegen von Rückfallverjährung (§ 66 Abs. 4 Satz 3 StGB) mit nicht tragfähiger Begründung ausgeschlossen hat.
3
a) Das Landgericht hat als frühere Verurteilungen im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB das Urteil des Amtsgerichts Koblenz vom 13. Dezember 1983 und das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 13. Dezember 1995 herangezogen. Bezüglich der Verurteilung durch das Amtsgericht Koblenz hat es rechtsfehlerfrei den 7. Oktober 1983 als Tatzeitpunkt festgestellt. Zum Tatzeitpunkt der letzten durch das Urteil des Landgerichts Koblenz abgeurteilten Tat hat es Folgendes ausgeführt: Die damals erkennende Strafkammer habe zwar den Zeitpunkt der letzten Tat auf die Zeit zwischen Dezember 1992 und die erste Jahreshälfte 1993 bestimmt. Wenigstens eine der damals abgeurteilten insgesamt vier Missbrauchstaten sei jedoch im Frühjahr 1993 begangen worden, und zwar nach Aussage der Geschädigten, “als es bereits Sommer war, da es noch warm gewesen sei“. Hieraus ergebe sich – so das Landgericht – dass wenigstens eine Tat in der ersten Jahreshälfte 1993 nach Sommeranfang begangen worden sei. Obwohl nach der Angabe der damaligen Geschädigten, es sei noch warm gewesen , eher der Spätsommer 1993 als Tatzeitraum in Betracht komme, sei für die Berechnung der Rückfallverjährung in Bezug auf die Anlasstat zu Gunsten des Angeklagten vom Sommeranfang, mithin dem 1. Juni 1993, als „frühestmöglichen“ Tattag auszugehen.
4
b) Diese Ausführungen begegnen durchgreifenden Bedenken.
5
aa) Feststellungen rechtskräftiger Urteile zu früheren Tatgeschehen einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (BGHSt 43, 106, 107; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. Einl. 170 m.w.N.). Solche Feststellungen können zwar im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden; der neue Tatrichter darf sie jedoch nicht ungeprüft übernehmen (BGH aaO).
6
bb) Nach den Feststellungen ist das Landgericht Koblenz in den Gründen seines Urteils vom 13. Dezember 1995 davon ausgegangen, dass die letzte der abgeurteilten Taten im Zeitraum Dezember 1992 und erste Jahreshälfte 1993 begangen wurde. Danach wäre zu Gunsten des Angeklagten bezogen auf die Anlasstat von Rückfallverjährung auszugehen, da die Fünfjahresfrist des § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB unter Berücksichtigung der - allerdings nur pauschal - mitgeteilten Verwahrungszeiten (§ 66 Abs. 4 Satz 4 StGB) am 15. April 1993, d.h. innerhalb des bezeichneten Tatzeitraumes, abgelaufen wäre.
7
cc) Die Strafkammer war - wie ausgeführt - an die Bestimmung des Tatzeitraums durch das Landgericht Koblenz nicht gebunden, sondern befugt, den Tatzeitpunkt zu präzisieren oder aber auch abweichend neu zu bestimmen. Ihre Annahme, „zu Gunsten“ des Angeklagten sei vom 1. Juni 1993 als dem „frühestmöglichen“ Tatzeitpunkt auszugehen, ist jedoch nicht tragfähig begründet. Das Landgericht stützt sich insoweit ausschließlich auf die - in sich widersprüchliche - Angabe der damaligen Geschädigten, es „sei bereits Sommer gewesen, da es noch warm war“. Näheres wird hierzu nicht mitgeteilt, insbesondere bleibt offen, bei welcher Gelegenheit und in welchem Zusammenhang diese Aussage erfolgte. In Anbetracht des widersprüchlichen Inhalts der Aussage hätte ihre Verlässlichkeit jedoch näherer Erörterung bedurft. Dies gilt umso mehr, als auch der frühere Tatrichter ersichtlich diesen Teil der Aussage der Geschädigten nicht zum Anlass genommen hat, den Tatzeitpunkt näher zu konkretisieren, sondern es bei der zeitlichen Einordnung „Dezember 1992 bzw. in der ersten Jahreshälfte 1993“ belassen hat.
8
2. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Maßregelausspruchs. In der neuen Hauptverhandlung wird die Frage des Zeitpunktes der letzten durch das Landgericht Koblenz vom 13. Dezember 1995 abgeurteilten Tat im Wege des Strengbeweises (vgl. BGHSt 43, 106 ff.) zu klären sein. Des Weiteren sind die Verwahrungszeiten (vgl. § 66 Abs. 4 Satz 4 StGB) im Einzelnen , d.h. jeweils unter konkreter Bezeichnung von Beginn und Ende, festzustellen (vgl. auch Fischer StGB 55. Aufl. § 66 Rdn. 21 m.w.N.). Tepperwien Kuckein Athing Solin-Stojanović Ernemann

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden.

Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.