Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Nov. 2006 - 1 StR 180/06

bei uns veröffentlicht am22.11.2006

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 180/06
vom
22. November 2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. November 2006 beschlossen
:
1. Der Antrag des Angeklagten vom 23. Oktober 2006 auf Nachholung
rechtlichen Gehörs gegen das Urteil des Senats vom
16. Oktober 2006 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Ablehnung des Vorsitzenden Richters am Bundesgerichtshof
Nack sowie der weiteren Mitglieder des 1. Strafsenats des
Bundesgerichtshofs in der Besetzung anlässlich der Hauptverhandlung
vor dem Senat am 12. und 16. Oktober 2006 wegen
Besorgnis der Befangenheit wird als unstatthaft zurückgewiesen.

Gründe:


1
1. Für eine Entscheidung gemäß § 356a StPO ist kein Raum. Der Senat hat bei seiner Entscheidung weder Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet , zu denen der Angeklagte zuvor nicht gehört worden war, noch zu berücksichtigendes Vorbringen übergangen oder sonst dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
2
§ 356a StPO erfasst auch Urteile der Revisionsgerichte, „da Hauptverhandlungen vor dem Revisionsgericht auch ohne den Angeklagten und seinen Verteidiger stattfinden können und es dann möglich ist, dass sie ihren Anspruch auf rechtliches Gehör deshalb nicht wahrnehmen können, weil ihnen der Zeitpunkt der Hauptverhandlung versehentlich nicht oder nicht rechtzeitig mitgeteilt wurde oder weil sie durch andere Gründe am Erscheinen verhindert sind“. Demgegenüber ist aber „eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kaum vorstellbar , wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger vor dem Revisionsgericht anwesend sind, weil sie sich dann umfassend äußern können“ (BT-Drucks. 15/3706, S. 17).
3
In der Revisionshauptverhandlung dieses Verfahrens wurden die im Hinblick auf die Sachrüge maßgeblichen Aspekte der Beweiswürdigung der Strafkammer zu Beginn der Hauptverhandlung im ausführlichen Vortrag des Berichterstatters (§ 351 Abs. 1 StPO) dargelegt. Nicht nur der Vorsitzende, sondern bereits der Berichterstatter hat in seinem Vortrag auch darauf hingewiesen , dass die Ausführungen des Nebenklägervertreters im Rahmen der Begründung der Sachrüge zur Nichtberücksichtigung der in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer verlesenen Passage aus „H. ’s Tagebuch“ zum Brief mit den Worten „Wenn sie sagt 'ja ich war’s', bin ich für Jahre im Knast“ im Urteil des Landgerichts als Formalrüge - Verletzung des § 261 StPO - angesehen werden könnten (Rechtsgedanke des § 300 StPO). Auch im Übrigen hat der Senat bei seiner Entscheidungsfindung keine Umstände berücksichtigt, die nicht in den Revisionsbegründungen angesprochen wurden oder Gegenstand der Erörterung während der Revisionshauptverhandlung waren. Zu all dem Stellung zu nehmen, hatten sowohl der Angeklagte als auch der Verteidiger in der Revisionshauptverhandlung am 12. Oktober 2006 umfassend Gelegenheit. Dies geschah nicht.
4
2. Der Befangenheitsantrag ist nicht statthaft, da er nach dem letzten Wort des Angeklagten gestellt wurde (§ 25 Abs. 2 Satz 2 StPO).
5
Anderes folgt auch nicht daraus, dass mit dem Befangenheitsantrag die Gehörsrüge gemäß § 356a StPO erhoben wurde und der Senat zunächst darüber befinden muss, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt wurde. Denn diese Vorschrift - und entsprechende Normen in anderen Verfahrensgesetzen - wurden geschaffen, um dem Gericht, das in der Sache entschieden hat, im Falle von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, Gelegenheit zu geben, selbst dem Mangel abzuhelfen, ohne dass es der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde bedarf. Die Gehörsrüge dient jedoch nicht dazu, unstatthaften (§ 25 Abs. 2 Satz 2 StPO) Befangenheitsanträgen Geltung zu verschaffen.
6
Ob etwas anderes zu gelten hätte, wenn das rechtliche Gehör tatsächlich verletzt und deshalb nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nachzuholen wäre, kann dahinstehen, da ein solcher Fall hier nicht vorliegt. Der Angeklagte konnte im Revisionsverfahren umfassend Stellung nehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2001 - 3 StR 187/01 -).
Nack Wahl Boetticher Hebenstreit Graf

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Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 356a Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei einer Revisionsentscheidung


Hat das Gericht bei einer Revisionsentscheidung den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, versetzt es insoweit auf Antrag das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der

Strafprozeßordnung - StPO | § 300 Falschbezeichnung eines zulässigen Rechtsmittels


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(1) Die Ablehnung eines erkennenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, in der Hauptverhandlung über die Berufung oder die Revision bis zum Beginn de

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(1) Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Vortrag eines Berichterstatters. (2) Hierauf werden die Staatsanwaltschaft sowie der Angeklagte und sein Verteidiger mit ihren Ausführungen und Anträgen, und zwar der Beschwerdeführer zuerst, gehört. Dem A

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Hat das Gericht bei einer Revisionsentscheidung den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, versetzt es insoweit auf Antrag das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand. Der Antrag ist binnen einer Woche nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Revisionsgericht zu stellen und zu begründen. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Hierüber ist der Angeklagte bei der Bekanntmachung eines Urteils, das ergangen ist, obwohl weder er selbst noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht anwesend war, zu belehren. § 47 gilt entsprechend.

(1) Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Vortrag eines Berichterstatters.

(2) Hierauf werden die Staatsanwaltschaft sowie der Angeklagte und sein Verteidiger mit ihren Ausführungen und Anträgen, und zwar der Beschwerdeführer zuerst, gehört. Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.

(1) Die Ablehnung eines erkennenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, in der Hauptverhandlung über die Berufung oder die Revision bis zum Beginn des Vortrags des Berichterstatters, zulässig. Ist die Besetzung des Gerichts nach § 222a Absatz 1 Satz 2 schon vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden, so muss das Ablehnungsgesuch unverzüglich angebracht werden. Alle Ablehnungsgründe sind gleichzeitig vorzubringen.

(2) Im Übrigen darf ein Richter nur abgelehnt werden, wenn

1.
die Umstände, auf welche die Ablehnung gestützt wird, erst später eingetreten oder dem zur Ablehnung Berechtigten erst später bekanntgeworden sind und
2.
die Ablehnung unverzüglich geltend gemacht wird.
Nach dem letzten Wort des Angeklagten ist die Ablehnung nicht mehr zulässig.

Hat das Gericht bei einer Revisionsentscheidung den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, versetzt es insoweit auf Antrag das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand. Der Antrag ist binnen einer Woche nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Revisionsgericht zu stellen und zu begründen. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Hierüber ist der Angeklagte bei der Bekanntmachung eines Urteils, das ergangen ist, obwohl weder er selbst noch ein Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht anwesend war, zu belehren. § 47 gilt entsprechend.

(1) Die Ablehnung eines erkennenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, in der Hauptverhandlung über die Berufung oder die Revision bis zum Beginn des Vortrags des Berichterstatters, zulässig. Ist die Besetzung des Gerichts nach § 222a Absatz 1 Satz 2 schon vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden, so muss das Ablehnungsgesuch unverzüglich angebracht werden. Alle Ablehnungsgründe sind gleichzeitig vorzubringen.

(2) Im Übrigen darf ein Richter nur abgelehnt werden, wenn

1.
die Umstände, auf welche die Ablehnung gestützt wird, erst später eingetreten oder dem zur Ablehnung Berechtigten erst später bekanntgeworden sind und
2.
die Ablehnung unverzüglich geltend gemacht wird.
Nach dem letzten Wort des Angeklagten ist die Ablehnung nicht mehr zulässig.