Bundesfinanzhof Urteil, 10. Jan. 2012 - I R 49/11

bei uns veröffentlicht am10.01.2012

Tatbestand

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I. Streitig ist eine inländische Steuerpflicht auf der Grundlage der sog. überdachenden Besteuerung gemäß Art. 4 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweiz) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 12. März 2002 (BGBl II 2003, 68, BStBl I 2003, 166) --DBA-Schweiz 1971/2002--.

2

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine deutsche Staatsangehörige, war in den Jahren vor dem Streitjahr 2006 im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Im Streitjahr war sie bis zum 30. April 2006 bei der X GmbH in Deutschland angestellt. Sie bewarb sich nach der Insolvenz der X GmbH wegen einer neuen beruflichen Betätigung nicht nur bei inländischen, sondern auch bei schweizerischen Arbeitgebern. Am 14. Juni 2006 schloss sie mit der inländischen Firma Y GmbH einen zunächst auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag ab (Laufzeit ab dem 19. Juni 2006); der Arbeitsvertrag wurde noch im Juli 2006 um ein Jahr bis zum 18. Juni 2008 verlängert.

3

Nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bei der X GmbH verlegte die Klägerin am 2. Mai 2006 ihren Wohnsitz von ihrem bisherigen Wohnort in A nach B (Deutschland). Am 14. Juni 2006 stellte sie beim Migrationsamt C (Schweiz) ein Gesuch auf Ausländerbewilligung EU-17/EFTA (Formular A1). Als Zweck des Aufenthalts gab sie "Wohnen in … (Schweiz)" an. Unter "Arbeitgeberdaten" wies sie auf den Arbeitsvertrag mit der Y GmbH hin. Das Migrationsamt erteilte am 9. Oktober 2006 die Zusicherung der Aufenthaltsbewilligung. Als Aufenthaltszweck ist "Im Ausland erwerbstätig" vermerkt.

4

Am 14. Juli 2006 zog die Klägerin von B nach D (Schweiz). Ein inländischer Wohnsitz bestand seitdem nicht mehr. Auch nach ihrem Umzug in die Schweiz bewarb sich die Klägerin um eine Arbeitsstelle sowohl bei schweizerischen als auch bei deutschen Arbeitgebern. Am 10. Januar 2008 wurde von der Y GmbH die fristlose Kündigung ausgesprochen. Nach vorübergehender Arbeitslosigkeit war die Klägerin vom 12. Januar bis 23. Februar 2009 bei einer Firma in Deutschland beschäftigt, vom 24. März 2009 bis 30. September 2009 arbeitete sie für eine Firma in der Schweiz. Vom 20. Januar bis 20. März 2010 war sie wiederum bei einer Firma in Deutschland angestellt, ebenfalls vom 25. Oktober 2010 bis zum 31. Januar 2011 bei einer anderen Firma. Seit dem 1. Februar 2011 arbeitet sie für eine Firma in der Schweiz.

5

In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr erklärte die Klägerin Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 34.128 €. Dieser Betrag setzt sich aus den Vergütungen der X GmbH (1. Januar bis 30. April - in Höhe von 20.272,96 €) und der Y GmbH (19. Juni bis 14. Oktober - in Höhe von 13.855,61 €) zusammen. Den vom 15. Oktober bis 31. Dezember 2006 erzielten Bruttoarbeitslohn aus ihrer Tätigkeit für die Y GmbH in Höhe von 10.317,89 € ließ die Klägerin außer Ansatz. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erhöhte allerdings bei der Einkommensteuerveranlagung des Streitjahres die Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit um jenen Betrag auf insgesamt 44.446 €. Das Einspruchsbegehren der Klägerin, den in der Zeit vom 15. Juli bis 31. Dezember 2006 bezogenen Arbeitslohn (Einkünfte: 20.377 €) steuerfrei zu belassen, blieb erfolglos, ebenso die gegen die Einspruchsentscheidung erhobene Klage (Finanzgericht --FG-- Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 24. Mai 2011 11 K 2375/09, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2011, 1891).

6

Die Klägerin rügt mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den geänderten Einkommensteuerbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Mai 2009 in der Weise abzuändern, dass unter Wegfall des Steuerabzugs für ausländische Einkünfte in Höhe von 988 € bislang berücksichtigte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 20.377 € steuerfrei belassen und lediglich bei der Berechnung des Steuersatzes (Progressionsvorbehalt) berücksichtigt werden.

7

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat die im Streitjahr nach dem Umzug in die Schweiz erzielten Einnahmen der Klägerin ohne Rechtsfehler in die Veranlagung zur unbeschränkten Steuerpflicht einbezogen.

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1. Die Klägerin war ab ihrem Wegzug in die Schweiz zum 15. Juli 2006 nicht mehr unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--), da sie seitdem nach den Feststellungen des FG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen wurden und deshalb für den Senat bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), weder einen inländischen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt innehatte. Sie unterlag jedoch ab diesem Zeitpunkt der beschränkten Steuerpflicht gemäß § 1 Abs. 4 i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG, da sie im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses im Inland eine nichtselbständige Beschäftigung ausübte. Jene Einkünfte waren im Rahmen der Veranlagung für das Streitjahr zusammen mit den während des Bestehens der unbeschränkten Steuerpflicht erzielten Einkünften der Besteuerung zugrunde zu legen (§ 2 Abs. 7 Satz 3 EStG).

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2. Die im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht von der --nach der Maßgabe des Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/2002 in der Schweiz ansässigen-- Klägerin erzielten Einkünfte unterlagen auch abkommensrechtlich der deutschen Besteuerung (Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/2002); die Klägerin kann sich insoweit nicht auf ein bloßes beschränktes Quellenbesteuerungsrecht für Deutschland berufen.

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a) Nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2002 können zwar Löhne, Gehälter und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger (Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2002) aus unselbständiger Arbeit bezieht, im Ansässigkeitsstaat besteuert werden. Die Klägerin erfüllte auch seit ihrem Wegzug in die Schweiz die entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist. Allerdings wird im Rahmen der Grenzgängerregelung gemäß Art. 15a Abs. 1 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002 der sog. überdachenden Besteuerung (Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/2002) Vorrang eingeräumt. Dann ist --wie im Streitfall-- die Wirkung des Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/2002 aufgehoben.

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b) Nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2002 kann Deutschland bei einer in der Schweiz ansässigen natürlichen Person, die nicht die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt und die in Deutschland insgesamt mindestens fünf Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war, in dem Jahr, in dem die unbeschränkte Steuerpflicht zuletzt geendet hat, und in den folgenden fünf Jahren die aus Deutschland stammenden Einkünfte und die in Deutschland belegenen Vermögenswerte, ungeachtet anderer Vorschriften des Abkommens, besteuern. Inhalt der Regelung ist eine Verzögerung der Gewährung der Abkommensvorteile für den sog. Wegzüger, um einer "Steuerflucht" entgegenzuwirken (s. Senatsurteile vom 2. September 2009 I R 111/08, BFHE 226, 276, 282, BStBl II 2010, 387, 390; vom 19. Oktober 2010 I R 109/09, BFHE 232, 325, BStBl II 2011, 443; Senatsbeschluss vom 27. Juli 2011 I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005). Allerdings gilt diese Zuweisung des Besteuerungsrechts zu Deutschland nicht, wenn die natürliche Person in der Schweiz ansässig geworden ist, um hier eine echte unselbständige Arbeit für einen Arbeitgeber auszuüben, an dem sie über das Arbeitsverhältnis hinaus weder unmittelbar noch mittelbar durch Beteiligung oder in anderer Weise wirtschaftlich wesentlich interessiert ist (Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002). Die Klägerin, die den Tatbestand des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2002 erfüllt, was unter den Beteiligten unstreitig ist und keiner weiteren Erörterung bedarf, kann sich nicht mit Erfolg auf die Ausnahmeregelung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002 berufen.

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aa) Nach der Senatsrechtsprechung sind die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002 nur erfüllt, wenn das Ansässigwerden in der Schweiz in der Absicht erfolgt, um dort eine unselbständige Tätigkeit auszuüben. Dabei muss diese Absicht nicht der alleinige Beweggrund für den Zuzug in die Schweiz sein. Es ist denkbar, dass andere Beweggründe (u.U. sogar vorrangiges) Motiv für den Umzug in die Schweiz waren, z.B. eine Heirat, wenn nur die Absicht hinzukommt, dort einer unselbständigen Arbeit nachzugehen. Es ist auch nicht erforderlich, dass die beabsichtigte Arbeitsaufnahme schon konkrete Formen angenommen hat. Insbesondere müssen weder der Arbeitgeber noch der Arbeitsplatz noch die Art der auszuübenden Tätigkeit beim Zuzug in die Schweiz feststehen. Schließlich genügt es, wenn beim Zuzug in die Schweiz die Absicht der Arbeitsaufnahme vorhanden gewesen ist, selbst wenn diese Absicht dann später endgültig und auf Dauer aufgegeben wird (Senatsurteil in BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387). Im Übrigen schadet auch nicht, wenn der Umzug in die Schweiz erst (mehrere Jahre) nach Aufnahme der dortigen Arbeitstätigkeit erfolgt ist (Senatsurteil in BFHE 232, 325, BStBl II 2011, 443).

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bb) Das FG hat sein Urteil zum Einen darauf gestützt, dass nach seiner Auffassung eine bloße, nicht auf ein konkretes Arbeitsverhältnis bezogene Absicht der Arbeitsaufnahme in der Schweiz nur dann ausreichen kann, wenn der Steuerpflichtige seine bisherige Beschäftigung im Inland aufgegeben oder verloren hat und er jetzt in der Schweiz eine abhängige Beschäftigung sucht. Davon unabhängig scheide eine Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002 im Streitfall aus, da sich das Gericht nicht davon habe überzeugen können, dass die Klägerin überhaupt zur Verwirklichung einer Absicht der Arbeitsaufnahme in der Schweiz zugezogen sei. Zweifel an dieser Absicht ergäben sich nicht nur aus der Fortführung des vor dem Zuzug in die Schweiz begründeten (und im Monat des Zuzugs um ein Jahr verlängerten) Arbeitsverhältnisses in Deutschland, sondern vor allem auch aus den Angaben der Klägerin gegenüber dem Migrationsamt in C ("Gesuch auf erwerbslosen Aufenthalt"). Der Umzug in die Schweiz müsse angesichts der damaligen Beschäftigungssituation der Klägerin nichts mit dem Wunsch nach beruflicher Veränderung zu tun gehabt haben. Er könne ebenso auf der Überlegung beruht haben, dass in der Schweiz ihre Arbeitseinkünfte (wo immer sie sie auch erzielte und künftig erzielen werde) niedriger besteuert würden.

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cc) Das FG hat damit sein Urteil --selbständig tragend-- darauf gestützt, dass im Zeitpunkt des Zuzugs in die Schweiz eine Absicht der Klägerin zur dortigen Aufnahme einer unselbständigen Arbeit nicht bestanden hat, so dass der Umzug nicht im Hinblick auf eine bevorstehende Arbeitsaufnahme in der Schweiz (s. insoweit insbesondere Wassermeyer in Flick/ Wassermeyer/Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 4 Rz 130, 131; s.a. FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 22. Januar 2008  11 K 245/05, EFG 2008, 1360 - dort zu 4.a cc der Gründe) erfolgt war. Dazu hat das FG auf die im konkreten Fall erkennbaren äußeren Merkmale und Verhaltensweisen abgestellt: Es hat dabei sowohl den Umstand späterer Bewerbungen um Beschäftigung in der Schweiz und in Deutschland als auch den vor dem Zuzug abgeschlossenen und im Zuzugsmonat in seiner Laufzeit verlängerten Arbeitsvertrag über eine (wenn auch befristete) Beschäftigung in Deutschland und den Inhalt des Gesuchs gegenüber dem schweizerischen Migrationsamt auf erwerbslosen Aufenthalt einbezogen. Die vom FG getroffene Würdigung, dass der Klägerin auf dieser Grundlage der ihr obliegende Nachweis einer entsprechenden Absicht (s. allgemein z.B. Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Kempermann, a.a.O., Art. 4 Rz 128; Wilke in Gosch/Kroppen/Grotherr, DBA-Kommentar, Art. 4 DBA-Schweiz Rz 58; s.a. Hamminger in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 Schweiz Rz 135b) nicht gelungen ist, ist nachvollziehbar und damit zumindest möglich; ein Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze liegt nicht vor. Die Klägerin hält dieser Würdigung letztlich nur ihre eigene Einschätzung entgegen, dass es ausreiche, wenn sich die Absicht der Arbeitsaufnahme in der Schweiz auf das nächste (Folge-)Arbeitsverhältnis beziehe. Dies genügt aber schon angesichts der Möglichkeit einer weiteren Verlängerung des Arbeitsvertrages nicht, um die tatrichterliche Würdigung des FG in revisionsrechtlich relevanter Weise zu erschüttern. Auf dieser Grundlage ist eine Bindung im Revisionsverfahren eingetreten (§ 118 Abs. 2 FGO), die die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/2002 im Streitfall hindert.

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Bundesfinanzhof Urteil, 10. Jan. 2012 - I R 49/11 zitiert 6 §§.

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(1) Ist die Revision unzulässig, so verwirft der Bundesfinanzhof sie durch Beschluss. (2) Ist die Revision unbegründet, so weist der Bundesfinanzhof sie zurück. (3) Ist die Revision begründet, so kann der Bundesfinanzhof 1. in der Sache selbs

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(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe. Soweit im Fall des § 33 Abs. 1 Nr. 4 die Vorschriften dieses Unterabschnitts durch Landesgesetz für anwendbar erklärt werden, ka

Einkommensteuergesetz - EStG | § 2 Umfang der Besteuerung, Begriffsbestimmungen


(1) 1Der Einkommensteuer unterliegen 1. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb,3. Einkünfte aus selbständiger Arbeit,4. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit,5. Einkünfte aus Kapitalvermögen,6. Einkünfte aus Vermiet

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(1) 1Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. 2Zum Inland im Sinne dieses Gesetzes gehört auch der der Bundesrepublik Deutschland zustehende Anteil 1. an d

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Bundesfinanzhof Beschluss, 27. Juli 2011 - I R 44/10

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bei uns veröffentlicht am 19.10.2010

Tatbestand 1 I. Die Beteiligten streiten über die Auslegung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgen

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(1) Ist die Revision unzulässig, so verwirft der Bundesfinanzhof sie durch Beschluss.

(2) Ist die Revision unbegründet, so weist der Bundesfinanzhof sie zurück.

(3) Ist die Revision begründet, so kann der Bundesfinanzhof

1.
in der Sache selbst entscheiden oder
2.
das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
Der Bundesfinanzhof verweist den Rechtsstreit zurück, wenn der in dem Revisionsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Beigeladene ein berechtigtes Interesse daran hat.

(4) Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision zurückzuweisen.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs zugrunde zu legen.

(6) Die Entscheidung über die Revision bedarf keiner Begründung, soweit der Bundesfinanzhof Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Das gilt nicht für Rügen nach § 119 und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(1)1Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.2Zum Inland im Sinne dieses Gesetzes gehört auch der der Bundesrepublik Deutschland zustehende Anteil

1.
an der ausschließlichen Wirtschaftszone, soweit dort
a)
die lebenden und nicht lebenden natürlichen Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrunds erforscht, ausgebeutet, erhalten oder bewirtschaftet werden,
b)
andere Tätigkeiten zur wirtschaftlichen Erforschung oder Ausbeutung der ausschließlichen Wirtschaftszone ausgeübt werden, wie beispielsweise die Energieerzeugung aus Wasser, Strömung und Wind oder
c)
künstliche Inseln errichtet oder genutzt werden und Anlagen und Bauwerke für die in den Buchstaben a und b genannten Zwecke errichtet oder genutzt werden, und
2.
am Festlandsockel, soweit dort
a)
dessen natürliche Ressourcen erforscht oder ausgebeutet werden; natürliche Ressourcen in diesem Sinne sind die mineralischen und sonstigen nicht lebenden Ressourcen des Meeresbodens und seines Untergrunds sowie die zu den sesshaften Arten gehörenden Lebewesen, die im nutzbaren Stadium entweder unbeweglich auf oder unter dem Meeresboden verbleiben oder sich nur in ständigem körperlichen Kontakt mit dem Meeresboden oder seinem Untergrund fortbewegen können; oder
b)
künstliche Inseln errichtet oder genutzt werden und Anlagen und Bauwerke für die in Buchstabe a genannten Zwecke errichtet oder genutzt werden.

(2)1Unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind auch deutsche Staatsangehörige, die

1.
im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und
2.
zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts in einem Dienstverhältnis stehen und dafür Arbeitslohn aus einer inländischen öffentlichen Kasse beziehen,
sowie zu ihrem Haushalt gehörende Angehörige, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder keine Einkünfte oder nur Einkünfte beziehen, die ausschließlich im Inland einkommensteuerpflichtig sind.2Dies gilt nur für natürliche Personen, die in dem Staat, in dem sie ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, lediglich in einem der beschränkten Einkommensteuerpflicht ähnlichen Umfang zu einer Steuer vom Einkommen herangezogen werden.

(3)1Auf Antrag werden auch natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 haben.2Dies gilt nur, wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 Prozent der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 nicht übersteigen; dieser Betrag ist zu kürzen, soweit es nach den Verhältnissen im Wohnsitzstaat des Steuerpflichtigen notwendig und angemessen ist.3Inländische Einkünfte, die nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nur der Höhe nach beschränkt besteuert werden dürfen, gelten hierbei als nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegend.4Unberücksichtigt bleiben bei der Ermittlung der Einkünfte nach Satz 2 nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegende Einkünfte, die im Ausland nicht besteuert werden, soweit vergleichbare Einkünfte im Inland steuerfrei sind.5Weitere Voraussetzung ist, dass die Höhe der nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte durch eine Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde nachgewiesen wird.6Der Steuerabzug nach § 50a ist ungeachtet der Sätze 1 bis 4 vorzunehmen.

(4) Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 und des § 1a beschränkt einkommensteuerpflichtig, wenn sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 haben.

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe. Soweit im Fall des § 33 Abs. 1 Nr. 4 die Vorschriften dieses Unterabschnitts durch Landesgesetz für anwendbar erklärt werden, kann die Revision auch darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Landesrecht beruhe.

(2) Der Bundesfinanzhof ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(3) Wird die Revision auf Verfahrensmängel gestützt und liegt nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 vor, so ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden. Im Übrigen ist der Bundesfinanzhof an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden.

(1)1Der Einkommensteuer unterliegen

1.
Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,
2.
Einkünfte aus Gewerbebetrieb,
3.
Einkünfte aus selbständiger Arbeit,
4.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit,
5.
Einkünfte aus Kapitalvermögen,
6.
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung,
7.
sonstige Einkünfte im Sinne des § 22,
die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt.2Zu welcher Einkunftsart die Einkünfte im einzelnen Fall gehören, bestimmt sich nach den §§ 13 bis 24.

(2)1Einkünfte sind

1.
bei Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit der Gewinn (§§ 4 bis 7k und 13a),
2.
bei den anderen Einkunftsarten der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (§§ 8 bis 9a).
2Bei Einkünften aus Kapitalvermögen tritt § 20 Absatz 9 vorbehaltlich der Regelung in § 32d Absatz 2 an die Stelle der §§ 9 und 9a.

(3) Die Summe der Einkünfte, vermindert um den Altersentlastungsbetrag, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende und den Abzug nach § 13 Absatz 3, ist der Gesamtbetrag der Einkünfte.

(4) Der Gesamtbetrag der Einkünfte, vermindert um die Sonderausgaben und die außergewöhnlichen Belastungen, ist das Einkommen.

(5)1Das Einkommen, vermindert um die Freibeträge nach § 32 Absatz 6 und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge, ist das zu versteuernde Einkommen; dieses bildet die Bemessungsgrundlage für die tarifliche Einkommensteuer.2Knüpfen andere Gesetze an den Begriff des zu versteuernden Einkommens an, ist für deren Zweck das Einkommen in allen Fällen des § 32 um die Freibeträge nach § 32 Absatz 6 zu vermindern.

(5a)1Knüpfen außersteuerliche Rechtsnormen an die in den vorstehenden Absätzen definierten Begriffe (Einkünfte, Summe der Einkünfte, Gesamtbetrag der Einkünfte, Einkommen, zu versteuerndes Einkommen) an, erhöhen sich für deren Zwecke diese Größen um die nach § 32d Absatz 1 und nach § 43 Absatz 5 zu besteuernden Beträge sowie um die nach § 3 Nummer 40 steuerfreien Beträge und mindern sich um die nach § 3c Absatz 2 nicht abziehbaren Beträge.2Knüpfen außersteuerliche Rechtsnormen an die in den Absätzen 1 bis 3 genannten Begriffe (Einkünfte, Summe der Einkünfte, Gesamtbetrag der Einkünfte) an, mindern sich für deren Zwecke diese Größen um die nach § 10 Absatz 1 Nummer 5 abziehbaren Kinderbetreuungskosten.

(5b) Soweit Rechtsnormen dieses Gesetzes an die in den vorstehenden Absätzen definierten Begriffe (Einkünfte, Summe der Einkünfte, Gesamtbetrag der Einkünfte, Einkommen, zu versteuerndes Einkommen) anknüpfen, sind Kapitalerträge nach § 32d Absatz 1 und § 43 Absatz 5 nicht einzubeziehen.

(6)1Die tarifliche Einkommensteuer, vermindert um den Unterschiedsbetrag nach § 32c Absatz 1 Satz 2, die anzurechnenden ausländischen Steuern und die Steuerermäßigungen, vermehrt um die Steuer nach § 32d Absatz 3 und 4, die Steuer nach § 34c Absatz 5 und den Zuschlag nach § 3 Absatz 4 Satz 2 des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1985 (BGBl. I S. 1756), das zuletzt durch Artikel 412 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, ist die festzusetzende Einkommensteuer.2Wurde der Gesamtbetrag der Einkünfte in den Fällen des § 10a Absatz 2 um Sonderausgaben nach § 10a Absatz 1 gemindert, ist für die Ermittlung der festzusetzenden Einkommensteuer der Anspruch auf Zulage nach Abschnitt XI der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen; bei der Ermittlung der dem Steuerpflichtigen zustehenden Zulage bleibt die Erhöhung der Grundzulage nach § 84 Satz 2 außer Betracht.3Wird das Einkommen in den Fällen des § 31 um die Freibeträge nach § 32 Absatz 6 gemindert, ist der Anspruch auf Kindergeld nach Abschnitt X der tariflichen Einkommensteuer hinzuzurechnen; nicht jedoch für Kalendermonate, in denen durch Bescheid der Familienkasse ein Anspruch auf Kindergeld festgesetzt, aber wegen § 70 Absatz 1 Satz 2 nicht ausgezahlt wurde.

(7)1Die Einkommensteuer ist eine Jahressteuer.2Die Grundlagen für ihre Festsetzung sind jeweils für ein Kalenderjahr zu ermitteln.3Besteht während eines Kalenderjahres sowohl unbeschränkte als auch beschränkte Einkommensteuerpflicht, so sind die während der beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte in eine Veranlagung zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht einzubeziehen.

(8) Die Regelungen dieses Gesetzes zu Ehegatten und Ehen sind auch auf Lebenspartner und Lebenspartnerschaften anzuwenden.

Tatbestand

1

I. Die Beteiligten streiten über die Auslegung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992 (BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928) --DBA-Schweiz 1971/1992--. Streitjahr ist 2005.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger und wohnte bis Ende Januar 2004 in Deutschland. Er war seit 1998 für die H-AG in der Schweiz nichtselbständig tätig. Am 27. Januar 2004 erwarb er eine Wohnung in A in der Schweiz, wohin er sich unter Aufgabe seines deutschen Wohnsitzes abmeldete. Sein Weg zur Arbeitsstätte verringerte sich durch den Umzug von 35 km (1 Stunde) Autofahrt auf 0,5 km Fußweg je einfache Strecke.

3

Das Arbeitsverhältnis zur H-AG endete zum 30. November 2004. Im Dezember 2004 nahm der Kläger eine nichtselbständige Tätigkeit für die M-GmbH in Deutschland auf, und zwar in B. Die Anstellung bei der M-GmbH war zunächst bis zum 31. Dezember 2005 befristet, wurde aber später zum 30. November 2005 vorzeitig beendet. Während der Zeit der Beschäftigung bei der M-GmbH pendelte der Kläger arbeitstäglich von A nach B und zurück. Im Dezember 2005 war der Kläger arbeitslos; seit Januar 2006 war er erneut in der Schweiz nichtselbständig tätig.

4

Im Streitjahr erzielte der Kläger für seine Tätigkeit für die M-GmbH Bruttoeinnahmen in Höhe von 49.500 €. Davon wurden 2.227,50 € Lohnsteuer einbehalten; in der Lohnsteuerbescheinigung wurde auf die Abzugsteuer von 4,5 % gemäß Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 hingewiesen.

5

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) ging zunächst davon aus, dass der Kläger für das Streitjahr der erweiterten beschränkten Steuerpflicht unterliege. Daraufhin beantragte der Kläger unter Hinweis auf § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG) eine Veranlagung zur Einkommensteuer. Dem entsprechend veranlagte das FA ihn als unbeschränkt Steuerpflichtigen. Es rechnete die in der Schweiz gezahlte Steuer mit Ausnahme der Feuerwehrersatzabgabe in Höhe von 196,25 CHF auf die Einkommensteuer an. Die gegen den Einkommensteuerbescheid gerichtete Klage hatte Erfolg; das Finanzgericht (FG) hob den Bescheid ersatzlos auf (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 24. September 2009  3 K 3034/07, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2010, 624).

6

Mit seiner Revision rügt das FA eine Verletzung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992. Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Kläger für das Streitjahr nicht in Deutschland zur Einkommensteuer veranlagt werden darf.

9

1. Der Kläger hatte nach den Feststellungen des FG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen wurden und deshalb für den Senat bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), im Streitjahr seinen alleinigen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz. Er war deshalb in Deutschland nicht unbeschränkt steuerpflichtig und aus abkommensrechtlicher Sicht in der Schweiz ansässig (Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/1992). Zugleich war er sog. Grenzgänger i.S. des Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992, weshalb sein aus Deutschland stammender Arbeitslohn in der Schweiz besteuert werden durfte (Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992). Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung. Dasselbe gilt insoweit, als der Kläger die in § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen genannten Voraussetzungen erfüllte und deshalb nach dieser Vorschrift der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht unterlag und dass diese Steuerpflicht seine aus Deutschland stammenden Arbeitseinkünfte umfasste.

10

2. Einer Veranlagung des Klägers zur Einkommensteuer steht jedoch für das Streitjahr Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/1992 entgegen. Danach unterliegt ein in der Schweiz ansässiger Grenzgänger in Deutschland regelmäßig nur einer Quellenbesteuerung (Art. 15a Abs. 1 Sätze 2 und 3 DBA-Schweiz 1971/1992). Die in Art. 15a Abs. 1 Sätze 2 und 3 DBA-Schweiz 1971/1992 getroffene Regelung gilt zwar nur vorbehaltlich des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 (Art. 15a Abs. 1 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992). Die letztgenannte Vorschrift hebt jedoch unter den Gegebenheiten des Streitfalls die Wirkung des Art. 15a Abs. 1 Sätze 2 und 3 DBA-Schweiz 1971/1992 nicht auf.

11

a) Nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 darf Deutschland unter bestimmten, in der Vorschrift näher bezeichneten Voraussetzungen eine in der Schweiz ansässige natürliche Person ungeachtet anderer Bestimmungen des Abkommens besteuern. Das gilt jedoch nicht, wenn die Person in der Schweiz ansässig geworden ist, um hier eine echte unselbständige Arbeit für einen Arbeitgeber auszuüben, an dem sie über das Arbeitsverhältnis hinaus weder unmittelbar noch mittelbar durch Beteiligung oder in anderer Weise wirtschaftlich wesentlich interessiert ist (Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992).

12

b) Im Streitfall sind die in Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 genannten Voraussetzungen erfüllt.

13

aa) Der Kläger ist nach den bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG im Jahr 2004 in die Schweiz gezogen. Er hat im Anschluss daran nichtselbständig für die H-AG gearbeitet, an der er nicht in der in Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 genannten Weise interessiert war. Sein Wegzug in die Schweiz war durch diese Arbeitstätigkeit veranlasst; das hat das FG ohne Rechtsfehler daraus geschlossen, dass sich die neue Wohnung des Klägers in geringer Entfernung zu seiner Arbeitsstätte befand und sein Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte maßgeblich verkürzt wurde. Zudem sind private Gründe für den Umzug weder vom FG festgestellt noch vom FA geltend gemacht worden. Angesichts dessen ist der Kläger in die Schweiz verzogen, um i.S. von Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 dort eine Arbeit auszuüben.

14

bb) Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger seine Tätigkeit für die H-AG nicht im Anschluss an den Umzug oder zumindest im zeitlichen Umfeld des Umzugs aufgenommen hat, sondern schon seit 1998 bei der H-AG beschäftigt war. Das FG hat zutreffend ausgeführt, dass eine in diesem Sinne einschränkende Auslegung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 nicht sachgerecht ist.

15

aaa) Das gilt zunächst im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift. Die dort verwendete Formulierung "um ... auszuüben" bringt zwar zum Ausdruck, dass der Umzug von der Absicht getragen sein muss, anschließend in der Schweiz tätig zu werden. Er besagt aber zumindest nicht zwingend, dass die Vorschrift nicht eingreift, wenn die Tätigkeit in der Schweiz schon vor dem Umzug begonnen hatte und im Anschluss an den Umzug fortgesetzt werden soll. Eine dahin gehende Einschränkung hätte indessen ohne Schwierigkeiten klar und eindeutig vereinbart werden können, indem z.B. statt des Wortes "auszuüben" der Begriff "aufzunehmen" verwendet worden wäre. Angesichts dessen weist der in dieser Hinsicht neutral gehaltene Abkommenstext eher darauf hin, dass es auf die zeitliche Abfolge von Arbeitsaufnahme und Wohnsitzwechsel nicht ankommen soll.

16

bbb) Der Blick auf die Entstehungsgeschichte der Regelung führt nicht zu einem abweichenden Ergebnis. Es gibt keine Verlautbarungen aus der Zeit der Abkommensverhandlungen, die darauf schließen lassen, dass die Vertragsstaaten bei der Schaffung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 nur den Wegzug zwecks künftiger Arbeitsaufnahme, nicht aber den Wegzug zwecks Fortsetzung einer bereits begonnenen Arbeitstätigkeit im Auge hatten. Im Einführungsschreiben des Bundesministers der Finanzen (BMF) zum DBA-Schweiz 1971 heißt es zwar, "Motiv für den Wohnsitzwechsel" müsse "die Absicht" gewesen sein, "eine ... Tätigkeit in der Schweiz auszuüben" (BMF-Schreiben vom 26. März 1975, BStBl I 1975, 479, Tz. 2.2.3.4, Satz 2). Diese Formulierung gibt jedoch zum einen nur eine einseitige Stellungnahme einer deutschen Behörde, nicht aber ein mit der Schweiz abgestimmtes Verständnis wieder; zum anderen beinhaltet sie erneut den in zeitlicher Hinsicht neutralen Ausdruck "auszuüben". Soweit die deutsche Finanzverwaltung in späteren Verlautbarungen (Grenzgänger-Handbuch, Fach A, Teil 4 Nr. 1) ohne weitere Begründung eine in diesem Punkt eingeschränkte Auslegung vorgenommen hat, wäre diese Sicht im gerichtlichen Verfahren selbst dann nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen verbindlich, wenn sie auf einer Verständigungsvereinbarung mit den zuständigen Schweizer Behörden beruhen sollte (vgl. dazu Senatsurteil vom 2. September 2009 I R 111/08, BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387).

17

ccc) Vor allem aber hat das FG zu Recht darauf hingewiesen, dass die vom FA befürwortete eingeschränkte Auslegung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 zu nicht interessengerechten und wertungswidersprüchlichen Unterscheidungen führen würde. Der Zweck der Vorschrift liegt erkennbar darin, einen bestimmten Personenkreis deshalb von der "Wartepflicht" gemäß Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 zu befreien, weil bei ihm der Wegzug aus Deutschland auf anzuerkennenden wirtschaftlichen Gründen beruht und die Gefahr einer "Steuerflucht" nicht besteht (Senatsurteil in BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387). Dieser Gedanke greift jedoch nicht nur dann durch, wenn der Umzug im Hinblick auf eine bevorstehende Arbeitsaufnahme erfolgt; er erfasst vielmehr erst recht die Situation, in der ein Arbeitnehmer nach Aufnahme einer Arbeit in der Schweiz zunächst seinen Wohnsitz in Deutschland beibehält und erst im weiteren Verlauf in die Schweiz verzieht. Hier ist der Bezug zwischen Umzug und Arbeitstätigkeit sogar eindeutiger und unmittelbarer als z.B. dann, wenn im Zeitpunkt des Umzugs die Aufnahme einer Tätigkeit in der Schweiz geplant ist, sich dieses Vorhaben aber später zerschlägt; da in jenem Fall Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 eingreift (Senatsurteil in BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387), muss bei einem Umzug im Hinblick auf eine schon bestehende und in Zukunft fortzusetzende Arbeitstätigkeit erst recht dasselbe gelten (ebenso Walter, Internationale Wirtschaftsbriefe 2007, 661, 667).

18

ddd) Zu einer abweichenden Beurteilung führt nicht der Vortrag des FA, dass Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 eine Ausnahme von der Regel des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 enthalte und deshalb eng auszulegen sei. In diesem Zusammenhang muss nicht der Frage nachgegangen werden, ob es einen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts gibt, dass Ausnahmebestimmungen eng auszulegen sind. Jedenfalls müsste ein solcher hinter dem Gebot der widerspruchsfreien und am Gesetzeszweck orientierten Auslegung zurücktreten. Letzteres aber spricht im Streitfall für eine Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992.

19

Der Senat teilt in diesem Zusammenhang zudem nicht die Befürchtung des FA, dass die vom FG befürwortete Auslegung Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 von einer Ausnahmevorschrift zu einer "Massenvorschrift" umgestalte. Der Kläger weist zu Recht darauf hin, dass ein aus beruflichen Gründen in die Schweiz verziehender Arbeitnehmer in aller Regel seine dortige Arbeitstätigkeit für längere Zeit fortsetzen wird und dass sich dann die Frage nach der Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 zumeist schon deshalb nicht stellen wird, weil der Arbeitnehmer nach deutschem Steuerrecht keine hier steuerpflichtigen Einkünfte erzielt. Im Streitfall tritt diese Frage nur deshalb auf, weil der Kläger alsbald nach seinem Umzug in die Schweiz eine Arbeitsstelle in Deutschland angenommen hat. Dass in dieser Situation Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 für einschlägig erachtet wird, lässt den Ausnahmecharakter dieser Norm unberührt.

20

eee) Eine solche Handhabung widerspricht schließlich nicht der bisherigen Rechtsprechung zur Auslegung der Vorschrift. Das gilt zum einen in Hinblick auf das Senatsurteil in BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387, in dem es darum ging, dass eine im Zeitpunkt des Wegzugs bestehende Absicht zur Arbeitsaufnahme in der Schweiz später nicht verwirklicht werden konnte. Der Senat hat dazu ausgeführt, dass das Bestehen jener Absicht für die Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 genüge; mit der hier in Rede stehenden Problematik hat er sich nicht befasst. Ähnliches gilt in Bezug auf das Urteil vom 19. November 2003 I R 64/02 (BFH/NV 2004, 765), das einen aus persönlichen Gründen in die Schweiz verzogenen und weiterhin in Deutschland tätigen Arbeitnehmer betrifft, und das ebenfalls eine Tätigkeit in Deutschland betreffende Urteil des FG Baden-Württemberg vom 22. Januar 2008  11 K 245/05 (EFG 2008, 1360). In seinem Urteil vom 4. Dezember 2007  12 K 19/04 (EFG 2008, 592) hat das FG Baden-Württemberg zwar Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 für nicht anwendbar erachtet, wenn bereits Arbeitsverhältnisse in der Schweiz bestehen und dort lediglich ein weiteres Arbeitsverhältnis begründet wird; der dort beurteilte Sachverhalt war aber insoweit besonders gelagert, als der Arbeitnehmer sowohl vor als auch nach seinem Wegzug sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz tätig war. Soweit das Urteil auf dem Gedanken beruht, dass Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971/1992 allgemein eine erstmalige Verlagerung der Einkunftsquelle in die Schweiz voraussetzt, folgt der Senat dem nicht.

21

c) Da hiernach Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/1992 eine Veranlagung des Klägers zur Einkommensteuer hindert, hat das FG den angefochtenen Bescheid zu Recht aufgehoben. Dem steht der auf § 1 Abs. 3 EStG gestützte Antrag des Klägers auf Veranlagung nicht entgegen. Denn ein solcher Antrag kann nicht nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem FG widerrufen (Blümich/Ebling, § 1 EStG Rz 290; Gosch in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 1 Rz 25), sondern auch hilfsweise für den Fall gestellt werden, dass das FA oder das FG nicht aus anderen Gründen zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung gelangt. Letzteres ist, wie das FG ohne Rechtsfehler angenommen hat und das FA nicht in Abrede stellt, im Streitfall geschehen. Der auf § 1 Abs. 3 EStG gestützte Antrag ist daher gegenstandslos, da der Kläger von jeglicher Veranlagung zur Einkommensteuer befreit ist.

Tatbestand

1

I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer ablehnenden Billigkeitsentscheidung (Antrag auf Erlass der Einkommensteuer des Streitjahres 2004).

2

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein deutscher Staatsangehöriger, verzog im April 2004 von X in die Schweiz. Dort hatte er einen gemeinsamen Wohnsitz mit seiner Lebenspartnerin, einer Schweizer Staatsangehörigen; die Partner heirateten im Januar 2008.

3

Zum 31. März 2004 gab der Kläger seine bisherige Berufstätigkeit in X auf; seit 15. April 2004 arbeitete er wieder in Deutschland. Seither ist er Grenzgänger aus der Schweiz. Neben Einkünften aus der nichtselbständigen Tätigkeit erzielte der Kläger im Streitjahr aus Deutschland außerdem (negative) Einkünfte aus der Vermietung eines Grundstücks sowie Einkünfte aus Kapitalvermögen.

4

Am 30. Januar 2006 gab der Kläger eine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr als beschränkt Steuerpflichtiger ab. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) wies den Kläger darauf hin, dass eine Veranlagung nach Maßgabe der unbeschränkten Steuerpflicht durchzuführen sei. Das FA bat um Einreichung einer entsprechenden Erklärung unter Angabe der nach dem Wegzug erzielten deutschen und schweizerischen Einkünfte und um Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) --DBA-Schweiz 1971--.

5

Im Rahmen des Verfahrens zur Festsetzung der Einkommensteuer des Streitjahres trug der Kläger u.a. vor, dass er wegen Heirat in die Schweiz verzogen sei. Aufgrund der Billigkeitsregelung in Tz. 41 des gemeinsamen Einführungsschreibens zur Neuregelung der Grenzgängerbesteuerung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 19. September 1994, BStBl I 1994, 683 [für Besteuerungssachverhalte ab 1. Januar 2010: § 18 Abs. 2 der Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 20. Dezember 2010, BGBl I 2010, 2187, BStBl I 2011, 146], sowie Schreiben der Eidgenössischen Steuerverwaltung --EStV-- vom 6. September 1994, abgedruckt in Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb, Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz-Deutschland, A 3.3.10) habe er einen Anspruch auf Erlass der Einkommensteuer. Das FA setzte die Einkommensteuer unter Anwendung des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 fest und verwies den Kläger auf die Möglichkeit, sein Erlassbegehren in einem gesonderten Verfahren zu verfolgen. Die Steuerfestsetzung ist bestandskräftig. Einen Erlass der Einkommensteuer lehnte das FA später ab. Die anschließende Klage blieb erfolglos (Finanzgericht --FG-- Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 6. Mai 2010  3 K 3043/09, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2010, 1980).

6

Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung materiellen und formellen Rechts; er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids in der Fassung der Einspruchsentscheidung die festgesetzte deutsche Einkommensteuer zu erlassen, hilfsweise, das FA zu verpflichten, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) neu zu bescheiden.

7

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

9

Die Ablehnung des FA, die Einkommensteuer zu erlassen, ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat daher weder einen Anspruch auf Erlass der Einkommensteuer noch auf Neubescheidung seines Erlassantrags.

10

1. Nach § 163 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) kann eine Steuer u.a. niedriger festgesetzt werden, wenn ihre Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist; § 227 Halbsatz 1 AO sieht vor, dass die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen können, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist. Die Unbilligkeit der Erhebung einer Steuer, an die §§ 163, 227 AO die Möglichkeit einer abweichenden Steuerfestsetzung oder eines Erlasses knüpfen, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben, wobei die Beteiligten des Streitfalles zu Recht nur um die erste Variante streiten. Sachlich unbillig ist die Erhebung vor allem dann, wenn sie im Einzelfall nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen hat, stehen jedoch dem Erlass entgegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 19. März 2009 V R 48/07, BFHE 225, 215, BStBl II 2010, 92).

11

Abweichende Steuerfestsetzung und Erlass sind Maßnahmen der finanzbehördlichen Billigkeit im Steuerschuldverhältnis, über die in einem vom Steuerfestsetzungsverfahren gesonderten Verfahren durch eigenständigen Verwaltungsakt zu entscheiden ist. Dieser Verwaltungsakt unterliegt, wenn die begehrte Billigkeitsmaßnahme abgelehnt wurde, nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung (§ 102 FGO); diese beschränkt sich darauf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht beachtet wurden oder Ermessen fehlerhaft ausgeübt wurde.

12

Ist eine Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Vorgesetzte Dienststellen können dazu ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften erlassen, die unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) von Bedeutung sein können; das gilt aber nur, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen innerhalb der Grenzen halten, die das Grundgesetz und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen. Deshalb muss bei einer Billigkeitsrichtlinie die getroffene Regelung Recht und Billigkeit entsprechen (z.B. BFH-Urteil in BFHE 225, 215, BStBl II 2010, 92). Dabei ist für die Auslegung einer ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie das Gericht eine solche Verwaltungsanweisung versteht, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das Gericht darf daher solche Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (z.B. BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460).

13

2. Das FA hat --wie das FG zutreffend entschieden hat-- weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens unbeachtet gelassen noch sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Der Ablehnungsbescheid ist daher nicht rechtswidrig.

14

a) Nach Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 darf unter bestimmten Voraussetzungen eine von Deutschland in die Schweiz verzogene Person u.a. im Jahr des Wegzugs mit ihren aus Deutschland stammenden Einkünften in Deutschland besteuert werden. Darum geht es im Streitfall, da der Kläger im Streitjahr von Deutschland in die Schweiz verzogen ist und in der Folgezeit weiterhin Einkünfte aus einer in Deutschland und für einen deutschen Arbeitgeber ausgeübten Tätigkeit (und weitere aus Deutschland stammende Einkünfte) erzielt hat. Inhalt der Regelung ist eine Verzögerung der Gewährung der Abkommensvorteile für den sog. Wegzüger, um einer "Steuerflucht" entgegenzuwirken (s. Senatsurteil vom 2. September 2009 I R 111/08, BFHE 226, 276, 282, BStBl II 2010, 387, 390). Dass die aus dem Wortlaut dieser Norm ableitbaren Voraussetzungen erfüllt bzw. die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung in Satz 4 des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 nicht erfüllt sind und dass das FA das daraus erwachsene deutsche Besteuerungsrecht dem Grunde und der Höhe nach zutreffend in der Steuerfestsetzung umgesetzt hat, steht nicht im Streit.

15

b) Das BMF hat in seinem Einführungsschreiben zur Neuregelung der sog. Grenzgängerbesteuerung (in BStBl I 1994, 683) allerdings bestimmt, dass Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 nicht anzuwenden ist, "wenn der Wegzug in die Schweiz wegen Heirat mit einer Person schweizerischer Staatsangehörigkeit erfolgt" (Tz. 41). Dies geht auf eine Verständigungsvereinbarung des BMF mit der EStV "betr. Wegzüger-Grenzgänger" zurück (Schreiben des Bundesministers der Finanzen vom 21. April 1977/Schreiben der EStV vom 10. August 1977, abgedruckt in Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb, a.a.O., B 4.4 Nr. 13). Diese Regelung kam rückwirkend zum Inkrafttreten des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (ab dem Jahr 1972) zur Anwendung (z.B. Erlass des Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen vom 12. Oktober 1977, abgedruckt in Locher/Meier/ von Siebenthal/Kolb, a.a.O., B 4.4 Nr. 14). Motive für diese Vereinbarung aus deutscher Sicht sind nicht veröffentlicht. Grundgedanke der Regelung ist aus schweizerischer Sicht, "der Familienzusammenführung einen höheren Stellenwert einzuräumen als der vom Gesetz als Regelfall vermuteten 'Steuerflucht'"; diese "familiären Gründe" könnten jedenfalls durch einen Zeitablauf von 10 Monaten zwischen Wegzug und Heirat (Hinweis auf "für diesen Anlass üblicherweise zu treffende Vorbereitungen") noch nicht entfallen sein (so die EStV in einer Niederschrift zu einer [gescheiterten] Verständigungsregelung vom 7. April 2005, abgedruckt in Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb, a.a.O., B 4.4 Nr. 26). Die deutschen Finanzbehörden der Länder haben zu dieser Verständigungsvereinbarung zwischen BMF und EStV Verwaltungsanweisungen erlassen (u.a. die Oberfinanzdirektion Karlsruhe in Fach A Teil 4 Nr. 1 des sog. Grenzgängerhandbuchs), nach der ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Wegzug und Heirat erforderlich ist; dieser sei "als noch gegeben anzusehen, wenn die Heirat in einem Zeitraum von sechs Monaten vor und sechs Monaten nach dem Wegzug erfolgt".

16

c) Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 19. November 2003 I R 64/02 (BFH/NV 2004, 765) entschieden, dass die genannte Regelung über den klaren Wortlaut des Abkommens hinausgeht und deshalb nur als Billigkeitsregelung gewertet werden kann. Eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung liegt darin nicht, weil der Wortlaut des Abkommens für diese Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 keinen Anhalt gibt (so auch die dortige Vorinstanz --FG Baden-Württemberg-- im Urteil vom 5. August 2002  12 K 297/01, EFG 2003, 913; zustimmend Hahn, juris-Praxisreport Steuerrecht 1/2004 Anm. 4; Wilke in Gosch/Kroppen/ Grotherr, DBA-Kommentar, Art. 4 DBA-Schweiz Rz 69; Brandis in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 15a Schweiz Rz 35; wohl auch Walter, Internationale Wirtschaftsbriefe 2007, 661 [Fach 5, Gruppe 2, S. 633, 636 f.]; s.a. --bezogen auf Tz. 14 des BMF-Schreibens in BStBl I 1994, 683-- Senatsurteil vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602). Es geht damit entgegen der Ansicht der Revision bei der Frage, ob der Kläger die Voraussetzungen der Billigkeitsregelung ("Wegzug wegen Heirat") erfüllt, nicht darum, einen unbestimmten Rechtsbegriff --als (negative) Tatbestandsvoraussetzung einer Eingriffsnorm-- auszulegen; insoweit ist die Lage mit dem auf Art. 4 Abs. 4 Satz 4 DBA-Schweiz 1971 bezogenen Senatsurteil in BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387 nicht vergleichbar. Vielmehr geht es um das Maß der (behördlichen) Billigkeitsregelung, die nicht eigenständig Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen des § 102 FGO ist.

17

d) Der Kläger hält die Billigkeitsregelung im gerichtlichen Verfahren für beachtlich. Denn die darin aufgenommene Zeitregel sei als "willkürliche" Einschränkung der Begünstigung anzusehen; nach der Grundregel "Wegzug wegen Heirat" sei deshalb in seinem Sinne zu entscheiden. Dem ist nicht beizupflichten. Richtigerweise geht es darum, ob die Billigkeitsregelung in der Ausgestaltung, die sie tatsächlich gefunden hat --hier: Begünstigung einer Familienzusammenführung, aber nur bei einer Heirat und nur im zeitlichen Zusammenhang mit dem Wegzug--, in Einklang mit dem Wortlaut und dem Regelungszweck des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971 noch als sachgerechte Beschreibung einer sachlichen Unbilligkeit der gesetzlichen Regelung verstanden werden kann. Wäre dies nicht der Fall, könnte sich der Kläger im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der ablehnenden Ermessensentscheidung der Behörde schon von daher nicht zu seinen Gunsten auf Tz. 41 des BMF-Schreibens in BStBl I 1994, 683 berufen. Der Senat folgt indessen der --unter den Beteiligten nicht streitigen-- Einschätzung des FG, dass der Dispens von der Anwendung der Abwandererregelung im Falle einer Familienzusammenführung durch Heirat eine sachliche Unbilligkeit vermeidet und dass --insoweit vom FG ausdrücklich festgestellt-- die Zeitregel der 6-monatigen Frist vor oder nach dem Wegzug als willkürfreie Indizienregel für den sachlichen Zusammenhang zwischen Wegzug und Heirat anzusehen ist.

18

Dazu hat das FG zur Zeitgrenze ausgeführt, dass der Wortlaut "wegen Heirat" die von der Verwaltung vertretene Auslegung zulasse. Damit werde für Rechtssicherheit gesorgt: Die Frage, wann der definitive Entschluss zur Eheschließung gefallen sei (und ob er ggf. zwischenzeitlich weggefallen und später wieder neu gefasst worden sei), sei eine innere Tatsache. Sie könne letztlich nur jeder Ehegatte für sich selbst zweifelsfrei beantworten; dieses Wissen gehöre außerdem zur engsten Privatsphäre eines Menschen. Jegliche Sachverhaltsaufklärung durch Finanzbehörden oder Gerichte erfordere ein Eindringen in diese Sphäre; zudem seien die Überprüfungsmöglichkeiten der Angaben naturgemäß eingeschränkt. Daher könne die Finanzverwaltung --letztlich wohl aus Zweckmäßigkeitserwägungen-- in die Formulierung "wegen Heirat" auch ein Zeitmoment hineinlesen, um dem Rechnung zu tragen. Eine zeitliche Grenze schaffe zudem Planungssicherheit für Heiratswillige, vermittele Steuerpflichtigen über den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung Vertrauensschutz und setze sie insoweit nicht den möglichen Unwägbarkeiten einer späteren Tatsachen- und Beweiswürdigung durch Dritte aus. Diesen Erwägungen des FG, die die von den Finanzbehörden gezogene Zeitgrenze als jedenfalls willkürfrei beschreiben, stimmt der Senat zu. Im Übrigen wird man auch der Stellungnahme der EStV in der Niederschrift vom 7. April 2005 (a.a.O.) eine Zeitgrenze entnehmen können.

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe. Soweit im Fall des § 33 Abs. 1 Nr. 4 die Vorschriften dieses Unterabschnitts durch Landesgesetz für anwendbar erklärt werden, kann die Revision auch darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Landesrecht beruhe.

(2) Der Bundesfinanzhof ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(3) Wird die Revision auf Verfahrensmängel gestützt und liegt nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 vor, so ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden. Im Übrigen ist der Bundesfinanzhof an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden.