vorgehend
Verwaltungsgericht Bayreuth, B 7 K 17.32779, 09.11.2018

Gericht

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.

1. Die Voraussetzungen für den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) sind nicht gegeben.

Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2017 - 11 ZB 17.31711 - juris Rn. 2; BVerwG, B.v. 21.11.2017 - 1 B 148.17 u.a. - juris Rn. 4 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Frage,

„ob äthiopische Staatsangehörige als (einfaches) Mitglied der in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation TBOJ/UOSG, die der OLF nahesteht, mit politisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssen“,

nicht erfüllt. Die Frage weist keinen Klärungsbedarf mehr auf, weil sie inzwischen auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung des Senats auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann. Der Senat hat entschieden, dass infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 Personen wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisationen der Ginbot7, OLF oder ONLF nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten müssen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 - 8 B 17.31645 - juris; U.v. 13.2.2019 - 8 B 18.30257 - juris; U.v. 12.3.2019 - 8 B 18.30274 - juris; U.v. 12.3.2019 - 8 B 18.30252 - juris).

Für die Klärung einer Tatsachenfrage bedarf es auch nicht der Rechtskraft der erlassenen Entscheidungen des Senats. Da das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Tatsachenfragen nicht beitragen kann (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO), ist eine höchstrichterliche Klärung der Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse durch das Berufungsgericht in aller Regel weder möglich noch erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, Stand März 2019, § 78 Rn. 147; vgl. auch Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 144; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 38).

Der Umstand, dass die bezeichnete Grundsatzfrage erst während des laufenden Zulassungsverfahrens und nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist geklärt wurde, kann die Zulassung der Berufung nicht rechtfertigen. Denn die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache beurteilt sich nicht nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels, sondern nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag. Eine ursprünglich bestehende Grundsatzbedeutung entfällt daher, wenn die Rechts- oder Tatsachenfrage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag geklärt worden ist (vgl. BGH B.v. 12.2.2019 - I ZR 189/17 - juris Rn. 3; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, § 124 Rn. 145, 150; § 124a Rn. 256 f.). Nur dann, wenn eine zunächst grundsätzlich klärungsbedürftige Frage nachträglich durch eine Entscheidung des Obergerichts geklärt wird und das angefochtene Urteil von dieser Entscheidung abweicht, so kann die Grundsatzrüge unter bestimmten Voraussetzungen in eine Divergenzrüge umgedeutet und dem zunächst wegen grundsätzlicher Bedeutung begründeten Zulassungsantrag stattgegeben werden (vgl. BVerwG, B.v. 29.10.2015 - 3 B 70.15 u.a. - BVerwGE 153, 169 = juris Leitsatz 3 und Rn. 9; B.v. 27.4.2017 - 1 B 6.17 - juris Rn. 7; B.v. 19.12.2017 - 8 B 7.17 u.a. - ZOV 2018, 54 = juris Rn. 1; BVerfG, B.v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 - NVwZ 2000, 1163 = juris Rn. 23). Das gilt auch im Falle des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG, der § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nachgebildet ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.2.1999 - 27 ZB 98.31112 - juris). Eine solche Abweichung liegt hier jedoch nicht vor, weil das angegriffene Urteil nicht in Widerspruch zu den genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 13. Februar 2019 und 12. März 2019 steht.

2. Ebenso wenig kann sich der Kläger auf den Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) berufen.

Von einer vorschriftswidrigen Besetzung eines Gerichts ist nur auszugehen, wenn in dem behaupteten Verstoß gegen § 4 VwGO i.V.m. § 21e GVG zugleich ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt (BVerwG, B.v. 22.1.2014 - 4 B 53.13 - juris Rn. 2). Gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die Bestimmung des gesetzlichen Richters erfolgt durch das Gerichtsverfassungsgesetz, die Prozessordnungen sowie die Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des jeweiligen Gerichts. Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 20.6.2012 - 2 BvR 1048/11 - BVerfGE 131, 268 = juris 129; BayVerfGH, E.v. 12.8.2011 - Vf. 74-VI-10 - juris Rn. 23; BVerwG, B.v. 7.1.2019 - 7 B 16.18 - juris Rn. 21, jeweils m.w.N.).

Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann. Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 20.2.2018 - 2 BvR 2675 - NJW 2018, 1155 = juris Rn. 17 m.w.N.). Daher müssen die Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche(r) Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind. Auch die die gesetzlichen Bestimmungen ergänzenden Regelungen über die Geschäftsverteilung in den jährlich aufzustellenden Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte, die die Zuständigkeit der Spruchkörper und ihre Zusammensetzung festlegen, müssen daher zum einen der Schriftform genügen und zum anderen im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den berufenen Richter gelangt (sog. Abstraktionsprinzip, vgl. BVerwG, B.v. 7.1.2019 - 7 B 16.18 - juris Rn. 15 m.w.N.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 20.2.2018, a.a.O.).

Der Kläger begründet den behaupteten Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG damit, dass die 7. Kammer des Verwaltungsgerichts über seine Klage vom 10. August 2017 gegen den Bescheid des Bundesamts vom 2. August 2017 entschieden hat, obwohl sein Verfahren ursprünglich entsprechend der damaligen Geschäftsverteilung bei der 2. Kammer des Verwaltungsgerichts anhängig geworden war. Die Zuständigkeit für Verfahren nach dem Asylgesetz von Asylbewerbern aus Äthiopien sei der neu gebildeten 7. Kammer erst mit dem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2018 zugewiesen worden, der keinen Übergang von Restanten vorsehe.

Der Senat hat den Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts, auf den sich der Zulassungsantrag bezogen hat, eingesehen und sich vom Verwaltungsgericht die maßgeblichen Präsidiumsbeschlüsse vorlegen lassen. Danach liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.

Es ist zwar zutreffend, dass der Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts für das Jahr 2018 unter der Nummer 3.2 a) die allgemeine Regelung vorsieht, dass beim Wechsel der Kammerzuständigkeit die am 31. Dezember 2017 anhängigen Verfahren jeweils bei der bis dahin zuständigen Kammer verbleiben. Hinsichtlich der Zuständigkeiten für die mit Wirkung zum 15. Dezember 2017 neu gebildete 7. Kammer wurde jedoch mit Präsidiumsbeschluss vom 12. Dezember 2017 (im Hinblick auf andere Rechtsgebiete, vgl. unter Nr. 2) sowie mit dem hier maßgeblichen Präsidiumsbeschluss vom 20. Dezember 2017 (vgl. unter Nr. 7) eine Sonderregelung getroffen, wonach dieser Kammer ab dem 1. Januar 2018 unter anderem die neu eingehenden Verfahren von Asylbewerbern aus Äthiopien einschließlich der zu diesem Zeitpunkt bei der 2. bzw. 4. Kammer anhängigen Restanten aus diesem Bereich zugewiesen wurden.

Der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2018 nimmt auf diese Beschlüsse zwar nicht ausdrücklich Bezug. Mangels entsprechender Anhaltspunkte in der Sitzungsniederschrift kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass das Präsidium mit der am 21. Dezember 2017 beschlossenen Geschäftsverteilung, die die allgemeine Regelung unter Nr. 2.3 a) enthielt, die mit Präsidiumsbeschluss vom Vortag getroffene Sonderregelung für die neu gebildete 7. Kammer aufheben wollte. Vielmehr ist die fehlende Bezugnahme als Redaktionsversehen zu werten. Dies wird auch aus dem Umstand ersichtlich, dass das Präsidium mit Beschluss vom 22. Dezember 2017 (auf den der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2018 ausdrücklich hinweist) eine - hier nicht einschlägige - Änderung des Beschlusses vom 20. Dezember 2017 beschlossen und damit zu erkennen gegeben hat, dass es sich an diesen Beschluss weiterhin gebunden fühlt.

Gegen die Übertragung bereits anhängiger Verfahren auf eine andere Kammer bestehen vorliegend keine rechtlichen Bedenken. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbietet nicht, bereits anhängige Sachen durch den jährlichen Geschäftsverteilungsplan einem anderen Spruchkörper zuzuweisen. Auch in diesen Fällen gilt aber, dass der Geschäftsverteilungsplan die umzuverteilenden Geschäfte nach allgemeinen, abstrakten und objektiven Merkmalen bestimmen muss. Das Abstraktionsprinzip schließt zwar nicht aus, bereits anhängige, neu zu verteilende Sachen - soweit notwendig - in gewissem Umfang zu konkretisieren. Es dürfen jedoch nicht einzelne ausgesuchte Verfahren zugewiesen werden (BVerwG, B.v. 4.4.2018 - 3 B 45.16 - NVwZ 2019, 82 = juris Rn. 16 m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird der Präsidiumsbeschluss vom 20. Dezember 2017 gerecht. Er bestimmt abstrakt-generell, dass alle zum 1. Januar 2018 bei der 2. und 4. Kammer des Verwaltungsgerichts anhängigen Verfahren von Asylbewerbern aus Äthiopien sowie alle ab diesem Zeitpunkt neu eingehenden Streitigkeiten aus diesem Bereich der 7. Kammer zugewiesen werden. Damit liegt keine mit dem Abstraktionsprinzip unvereinbare Einzelzuweisung vor. Auch ist der Willkürmaßstab durch diese Regelung nicht verletzt, weil die Bildung der neuen 7. Kammer gerade im Hinblick auf die Überlastung der bereits bestehenden Kammern erfolgte und damit ein sachlicher Grund für den Übergang der Restanten vorlag.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG.

4. Angesichts der fehlenden Erfolgsaussichten des Zulassungsantrages war auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für das Zulassungsverfahren nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO abzulehnen. Im für die Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife, d.h. nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2007 - 10 C 39.07 u.a. - AuAS 2008, 11 = juris Rn. 1; BayVGH, B.v. 1.2.2019 - 11 C 18.1631 - juris Rn. 12) und Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen waren die angeführte Grundsatzentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs vom 13. Februar 2019 und 12. März 2019 zu der grundsätzlich bedeutsamen Frage der Gefahr flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgungsmaßnahmen für äthiopische Staatsangehörigen wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit für eine Organisation, die einer in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisation nahesteht, bereits erlassen. Denn der Kläger hat im Zulassungsverfahren erst mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20. Mai 2019 die Prozesskostenhilfeunterlagen vorgelegt.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).

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(1) Das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist unanfechtbar. Das gilt auch, wenn nur das Klagebegehren gegen die Entscheidung über den Asylantrag als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, das Klagebegehren im Übrigen hingegen als unzulässig oder unbegründet abgewiesen worden ist.

(2) In den übrigen Fällen steht den Beteiligten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(3) Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

(4) Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss, der keiner Begründung bedarf. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) § 134 der Verwaltungsgerichtsordnung findet keine Anwendung, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts nach Absatz 1 unanfechtbar ist.

(7) Ein Rechtsbehelf nach § 84 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids zu erheben.

(8) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 132 Absatz 1 und § 137 Absatz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung auch zu, wenn das Oberverwaltungsgericht

1.
in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und
2.
die Revision deswegen zugelassen hat.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde kann auf diesen Zulassungsgrund nicht gestützt werden. Die Revision ist beschränkt auf die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat. In dem hierfür erforderlichen Umfang ist das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 137 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt für die Beurteilung der allgemeinen Lage diejenigen herkunfts- oder zielstaatsbezogenen Erkenntnisse, die von den in Satz 1 Nummer 1 genannten Gerichten verwertet worden sind, die ihm zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung oder Entscheidung (§ 77 Absatz 1) von den Beteiligten vorgelegt oder die von ihm beigezogen oder erhoben worden sind. Die Anschlussrevision ist ausgeschlossen.

(8a) Das Bundesministerium des Innern und für Heimat evaluiert im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Justiz die Revision nach Absatz 8 drei Jahre nach Inkrafttreten.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da keiner der geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 AsylG) hinreichend dargelegt ist.

1. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist. Ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, a.a.O. § 124a Rn. 72). Ist die angegriffene Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, setzt die Zulassung der Berufung voraus, dass für jeden dieser Gründe die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind (Kopp/ Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 124a Rn. 7).

Diese Voraussetzungen erfüllt der Zulassungsantrag nicht. Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann, wenn die Verfolgung von staatlichen Strafverfolgungsbehörden ausgeht. Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung jedoch auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt und ist unter Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid gemäß § 77 Abs. 2 AsylG zum einen davon ausgegangen, dass der Vortrag der Klägerin nicht glaubhaft sei und ihr keine Verfolgung in ihrem Heimatland drohe. Zum anderen hat es angenommen, dass selbst wenn die geschilderten Vorkommnisse tatsächlich passiert wären, es sich dabei nicht um eine Verfolgung aufgrund eines in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Anknüpfungsmerkmal handeln würde. Darüber hinaus ist das Verwaltungsgericht auch noch davon ausgegangen, dass die Klägerin jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG innerhalb der Russischen Föderation habe. Hinsichtlich der beiden ersten Begründungen greift kein Berufungszulassungsgrund durch. Auf die Frage der inländischen Fluchtalternative kommt es daher nicht entscheidungserheblich an.

Auch die von der Klägerin als grundsätzlich angesehene Frage, ob die von der Organisation „ROO“ und vom „Kulturverein für Tschetschenen und Inguschen in Österreich“ ausgestellten Urkunden als Beweis und als Ersatz für eine Selbstauskunft des Betroffenen bzw. eines Bevollmächtigten bei der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation verwendet werden können, kann nicht zur Zulassung der Berufung führen. Die Klägerin hat schon nicht dargelegt, dass es sich dabei um eine Frage handelt, die im Interesse der Einheitlichkeit und Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf. Es handelt sich in Wahrheit um eine Frage der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung im Einzelfall, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist.

2. Das erstinstanzliche Urteil weicht auch nicht von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder Bundesverwaltungsgerichts ab.

Eine Divergenz im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Vorschrift (vgl. BVerwG, B.v. 28.1.2004 – 6 PB 15.03 – NVwZ 2004, 889/890) mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz oder einem verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz von einem in der Rechtsprechung der genannten übergeordneten Gerichte aufgestellten Rechts- oder Tatsachensatz oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent abweicht und die Entscheidung darauf beruht (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Oktober 2016, § 124 Rn. 42; Happ in Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 73 m.w.N.). Zwischen den Gerichten muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes bestehen (vgl. BVerwG, B.v. 27.10.2014 – 2 B 52.14 – juris Rn. 5). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35.16 – juris Rn. 12 m.w.N.; Happ a.a.O.; Rudisile a.a.O.).

Soweit die Klägerin vorträgt, das erstinstanzliche Urteil weiche vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 mit dem Aktenzeichen 2 BvR 1616.93 ab, meint sie wohl das Urteil mit dem Aktenzeichen 2 BvR 1516.93. Welchen Rechtssatz das Verwaltungsgericht aufgestellt haben soll, der von einem Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts abweicht, bezeichnet die Klägerin aber nicht, sondern führt nur aus, die Beweiswürdigung genüge nicht den vom Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil entwickelten Grundsätzen. Damit ist eine Divergenzrüge nicht hinreichend dargelegt.

In Bezug auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 1989 (9 B 239.89 – InfAuslR 1989, 349) ist eine Abweichung ebenfalls nicht dargelegt, denn auch insoweit führt die Klägerin nur aus, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts weiche von den vom Bundesverwaltungsgericht erarbeiteten Grundsätzen der Beweiswürdigung ab. Dies reicht für eine Divergenzrüge nicht aus.

3. Auch ein Verfahrensfehler nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nicht hinreichend dargelegt. Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe gegen den Amtsermittlungsgrundsatz verstoßen, da es nicht weiter bei ihr nachgefragt und ihren Ehemann nicht als Zeugen vernommen habe. Bei einem (hier nicht ersichtlichen) Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO handelt es sich schon nicht um einen absoluten Revisionsgrund nach § 138 VwGO, der von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG erfasst wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2015 – 11 ZB 15.30091 – juris Rn. 2; B.v. 13.4.2015 – 13a ZB 14.30047 – juris Rn. 4; OVG NRW, B.v. 25.3.2015 – 13 A 493/15.A – juris).

Die Würdigung von der Klägerin vorgelegten Unterlagen durch das Verwaltungsgericht verstößt auch nicht gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nur dann vor, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2017 – 2 BvR 2584/12 – NJW 2017, 1731 = juris Rn. 27 m.w.N.). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und den von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfG a.a.O.). Danach sind die Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Es hat sich mit der vorgelegten Bescheinigung der Organisation „ROO“ und dem Schreiben des Kulturvereins befasst und ist unter Würdigung einer Auskunft des Auswärtigen Amts zu dem Ergebnis gekommen, dass sich daraus keine politische Verfolgung der Klägerin in ihrem Heimatland ableiten lässt. Dem setzt die Klägerin nichts entgegen, sondern behauptet nur, die Rechtsanwendung sei willkürlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. August 2017 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und hilfsweise die Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes.

1. Der Kläger ist äthiopischer Staatsangehöriger und gehört dem Volksstamm der Oromo an. Bis zu seiner Ausreise lebte er in seinem Heimatland in der Stadt Robe, die er nach seiner Einlassung am 10. September 2013 verließ. Danach hielt er sich zunächst im Sudan und in Libyen auf und gelangte am 30. April 2015 auf dem Landweg über Italien und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland, wo er am 3. Mai 2015 Asyl beantragte.

Bei seiner persönlichen Anhörung zu seinem Verfolgungsschicksal beim Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) am 3. Februar 2017 gab der Kläger an, er sei bei der Ausreise 16 Jahre alt gewesen. Papiere besitze er nicht. Seine Familie habe in Robe ein Hotel betrieben, wovon seine Mutter heute noch lebe. Er habe sich bis zur Ausreise dort aufgehalten. Im Heimatland lebten außerdem ein Bruder, zwei Schwestern, zwei Onkel und eine Tante; sein Vater sei verstorben. Er sei Schüler gewesen und habe seinen Eltern geholfen. Die Schule habe er bis zur achten Klasse besucht und diese mit 16 Jahren ohne einen Abschluss verlassen.

Am 3. Juni 2013 hätten sie gegen den äthiopischen Masterplan und gegen die Ungerechtigkeit demonstriert. Es sei auf dieser Demonstration ganz vorne dabei gewesen und habe ein Plakat getragen sowie ein Gedicht vorgelesen. Am nächsten Tag seien Polizisten in die Schule gekommen und hätten sie festgenommen, weil auf der Demonstration Bilder und Videoaufzeichnungen von ihnen gemacht worden seien. Man habe sie zum Gefängnis gebracht und dort einen Monat lang eingesperrt. Im Gefängnis sei er drei Tage lang in der Nacht geschlagen worden. Man habe ihm Zähne ausgeschlagen und er habe nur wenig zu essen erhalten. Er sei wieder frei gekommen, weil sein Onkel unterschrieben habe, dass er ihn bei Bedarf wieder zum Gefängnis zurückbringen werde. Er habe eine Ladung für den 11. Juni 2013 erhalten. Als er hingegangen sei, habe man ihn zu dem Gedicht und dem Plakat befragt. Am 2. August 2013 habe man ihn mit einem Gefangenentransport zu einem großen Gefängnis bringen wollen. Es sei ein Markttag gewesen. Er habe vom Auto herunterspringen und in der Menge auf dem Markt verschwinden können. Er sei zu Fuß zu einem anderen Dorf gelaufen und habe sich dort versteckt. Als er seine Mutter angerufen habe, habe diese berichtet, dass jeden Tag Polizisten kämen und nach ihm suchten. Sie seien bei dem Telefonat zu dem Entschluss gekommen, dass eine Rückkehr zu gefährlich sei und er besser Äthiopien verlassen sollte. Die Polizisten hätten seine Mutter geschlagen, um sie zum Verrat seines Aufenthaltsorts zu zwingen. Man habe ihr angedroht, ihr das Hotel wegzunehmen.

Auf die Frage, wann er aus dem Gefängnis frei gekommen sei, nannte der Kläger das Datum 3. August 2013. Als er aufgefordert wurde, die Reihenfolge der Ereignisse mit dem jeweiligen Datum auf einem Zettel zu notieren, gab er an, er sei am 3. Juni 2013 verhaftet worden. Am 21. Juni 2013 sei er freigekommen. Er habe für drei Termine Ladungen erhalten, nämlich für den 20., 21.und 28. August 2013. Er habe alle drei Termine wahrgenommen. Auf Nachfrage, warum er zunächst den 11. Juni als Ladungstermin angegeben habe, erklärte der Kläger, man habe ihm vier Termine gegeben. Der 11. Juni stimme auch. Nach der Freilassung aus dem Gefängnis sei gegen ihn ein Schulverbot erlassen worden; er habe sich bei seiner Mutter aufgehalten. Auf die Frage, wie es komme, dass er am 2. August mit einem Gefangenentransport habe verlegt werden sollen, obwohl er an diesem Tag nicht im Gefängnis gewesen sei, erklärte er, er sei an diesem Tag nicht im Gefängnis gewesen, sondern habe von der Polizei dorthin gebracht werden sollen. Darauf hingewiesen, dass er das bisher nicht geschildert habe und dass er darstellen solle, wie es zu einer erneuten Festnahme gekommen sei, gab der Kläger an, er sei nur einmal festgenommen worden. Das Datum 2. August 2013 sei von ihm falsch angegeben worden, richtig sei der 29. August 2013. An diesem Tag seien sie morgens um 7:00 Uhr herausgefahren. Ungefähr 30 Minuten später sei er von dem Auto, einem Isuzu Pickup, der hinten offen gewesen sei, abgesprungen. Es seien viele Gefangene gewesen. Dem Wagen sei ein anderes Polizeiauto gefolgt, um die Gefangenen zu bewachen. Er sei abgesprungen und in die Menschenmenge hineingelaufen. Auf die Frage, wie es komme, dass er am 29. August im Gefängnis gewesen sei, erklärte der Kläger, er sei am 28. August bei dem Termin im Gefängnis gewesen. Dort sei er festgenommen worden. Wie lange er sich nach seiner Flucht in dem Dorf aufgehalten habe, könne er nicht angeben, weil er unter Stress gestanden habe. Er habe sich bei Menschen versteckt und von diesen Essen erhalten. Seine Mutter habe ihnen Geld für den Weg in den Sudan gegeben. Dort sei ihm das Geld ausgegangen, aber andere Mitflüchtlinge und der Schleuser hätten ihn finanziell unterstützt, sodass er weiter gekommen sei. Der Schleuser habe von den anderen Flüchtlingen Geld für ihn verlangt, weil er der jüngste unter den Flüchtlingen gewesen sei.

Im Fall einer Rückkehr erwarte er, ins Gefängnis zu kommen oder getötet zu werden. In Deutschland engagiere er sich exilpolitisch für die Sache des Oromo-Volkes. Hierzu übergab er eine Mitgliedsbescheinigung der TBOJ/UOSG (Tokkummaa Barattoota Oromoo Biyyaa Jarmanii/Union of Oromo-Students in Europe, German Branch) und drei Fotos von einer Demonstration.

2. Mit Bescheid vom 21. März 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung und im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls werde er nach Äthiopien abgeschoben (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, das Vorbringen des Klägers zu seinen Vorfluchtgründen sei aufgrund seiner widersprüchlichen Angaben nicht glaubhaft. Eine Gefährdung wegen der exilpolitischen Tätigkeit sei aufgrund ihrer untergeordneten Bedeutung nicht zu befürchten.

3. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, weiter hilfsweise auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, geltend gemacht. Das Verwaltungsgericht Würzburg hat der Klage mit Urteil vom 29. August 2017 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 21. März 2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es könne offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist sei. Ungeachtet des Vorfluchtgeschehens drohten diesem im Falle der Rückkehr jedenfalls aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit an seine politische Überzeugung anknüpfende staatliche Verfolgungshandlungen. Nach der aktuellen Erkenntnislage melde der äthiopische Sicherheitsdienst unterschiedslos sämtliche von ihm beobachtete oppositionelle Tätigkeiten im Ausland, ohne zwischen bloßen Mitläufern und herausgehobenen Personen zu differenzieren. Damit bestehe nunmehr auch für äthiopische Staatsangehörige, die sich zu vom äthiopischen Staat als terroristisch eingestuften Organisationen oder zu einer Exilorganisation, die einer solchen Organisation nahe stehe, bekennen würden und ein Mindestmaß an Aktivität im Rahmen dieser Organisationen vorweisen könnten, eine konkrete Gefahr bei einer Rückführung nach Äthiopien.

4. Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 14. November 2017 (Az. 21 ZB 17.31340) zugelassenen Berufung. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, die Quellenlage trage weiterhin nicht den Schluss, dass im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG wegen Nachfluchtaktivitäten der Art zu befürchten sei, die der Kläger praktiziere. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für einen Anspruch auf unionsrechtlichen subsidiären Schutz oder auf das nationale ausländerrechtliche Abschiebungsverbot. Sonstige Gründe, die zu einer Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheids führen könnten, seien ebenfalls nicht ersichtlich.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. August 2017 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Zur Begründung gibt er an, er habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Wie verschiedene vorgelegte Fotografien und Bescheinigungen belegten, habe er seine exilpolitische Betätigung für die TBOJ/UOSG weiterhin fortgesetzt. Auch einfachen aktiven Mitgliedern dieser Organisation drohe bei Rückkehr nach Äthiopien asylrelevante Verfolgung. Die aktuelle innenpolitische Lage in Äthiopien bleibe auch nach der Ernennung des Oromo Abyi Ahmed zum Premierminister unübersichtlich und volatil. Oromische Flüchtlinge, die in Deutschland politisch für die OLF (TBOJ/UOSG) aktiv gewesen seien, würden als potentielle mutmaßliche Unterstützer einer separatistischen Bewegung angesehen werden, die die Existenz des Staates Äthiopien bedrohten. Diese Gesinnung würde ihnen unterstellt werden, weil sie nicht direkt nach der Ernennung von Abyi Ahmed zum Premier nach Äthiopien zurückgekehrt seien. Sie würden mit Sicherheit früher oder später festgenommen, für unbestimmte Zeit inhaftiert und misshandelt werden. Da der Kläger vorverfolgt ausgereist sei, bestehe eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen würden. Stichhaltige Gründe, die diese Vermutung entkräften könnten, lägen angesichts der aktuellen politischen Situation in Äthiopien nicht vor. Schon aufgrund der Vorverfolgung, zumindest aber wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten, sei dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 26. März 2018 zu verschiedenen Fragen Beweis erhoben durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amts bzw. eines schriftlichen Gutachtens von Amnesty International, des GIGA-Instituts für Afrika-Studien und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe unter anderem zu der Frage, ob nach der aktuellen innenpolitischen Lage in Äthiopien äthiopischen Staatsangehörigen, allein weil sie (einfaches) Mitglied einer in Deutschland exilpolitisch tätigen, von der äthiopischen Regierung als Terrororganisation eingestuften oder einer ihr nahestehenden Organisation sind, ohne in dieser Organisation eine herausgehobene Stellung innezuhaben, bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien von staatlicher Seite schwere physische oder psychische Misshandlungen oder Haft auf bestimmte oder unbestimmte Zeit drohen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamts vom 21. März 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Es kann offen bleiben, ob dem Kläger im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zustand. Er hat jedenfalls in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. I.) noch auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. II.). Auch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (vgl. unten Ziff. III.) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. unten Ziff. IV.) steht dem Kläger nicht zu. Das Urteil des Verwaltungsgerichts war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten - hier nicht einschlägigen - besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 S. 9 - im Folgenden: RL 2011/95/EU) umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 11). Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind unter anderem gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).

Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 = juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - DVBl 2008, 1255 = juris Rn. 37).

2. Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Infolge des den in das Berufungsverfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zu entnehmenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse seit April 2018 und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle in Äthiopien kann im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder angenommen werden, dass dem Kläger aufgrund der behaupteten früheren Ereignisse in Äthiopien (vgl. dazu unten a) noch infolge seiner exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland (vgl. dazu unten b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

a) Es kann offen bleiben, ob der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien im Jahr 2013 aufgrund der Geschehnisse, die er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt geschildert hat, bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob er deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu seinen Gunsten annimmt, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung, sodass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG nicht greift. Dies ergibt sich aus Folgendem:

aa) Die politische Situation in Äthiopien hat sich für Regierungsgegner und Oppositionelle bereits seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Anfang des Jahres kündigte der damalige Premierminister Heilemariam Desalegn nach zweijährigen andauernden Protesten Reformmaßnahmen und die Freilassung von politischen Gefangenen an. Am 15. Februar 2018 gab er bekannt, sein Amt als Regierungschef und Parteivorsitzender der regierenden EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Demokratic Front) niederzulegen, um den Weg für Reformen freizumachen. Dennoch verhängte die äthiopische Regierung am 16. Februar 2018 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand mit der Begründung, Proteste und Unruhen verhindern zu wollen. Nachdem der Rat der EPRDF, die sich aus den vier regionalen Parteien TPLF (Tigray People's Liberation Front), ANDM (Amhara National Democratic Movement), OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation) und SEPDM (Southern Ethiopian Peoples’ Democratic Movement) zusammensetzt, Abiy Ahmed mit 108 von 180 Stimmen zum Premierminister gewählt hatte (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Aktuell von Juni 2018, „Abiy Superstar - Reformer oder Revolutionär“ [im Folgenden: SWP-Aktuell von Juni 2018]; Ministry of Immigration and Integration, The Danish Immigration Service, Ethiopia: Political situation and treatment of opposition, September 2018, Deutsche (Teil)-Übersetzung [im Folgenden: The Danish Immigration Service] S. 11), wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt. Zwar kommt Abiy Ahmed ebenfalls aus dem Regierungsbündnis der EPRDF, ist aber der Erste in diesem Amt, der in Äthiopien der Ethnie der Oromo angehört (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 11.7.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 [im Folgenden: Schweizerische Flüchtlingshilfe] S. 5).

Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Die bisher einflussreiche TPLF, die zentrale Stellen des Machtapparates und der Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hatte (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018 [im Folgenden: AA, Ad-hoc-Bericht] S. 8), stellt nur noch zwei Minister (vgl. SWP-Aktuell von Juni 2018). Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1). Die renommierte Menschenrechtsanwältin Meaza Ashenafi wurde zur ranghöchsten Richterin des Landes ernannt (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Äthiopien vom 8.1.2019 [im Folgenden: BFA Länderinformationsblatt] S. 6). Am 5. Juni 2018 wurde der am 16. Februar 2018 verhängte sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen und Oppositionsparteien eingeladen, aus dem Exil zurückzukehren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 5 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 10).

Gerade auch für (frühere) Oppositionelle hat sich die Situation deutlich und mit asylrechtlicher Relevanz verbessert. Bereits unmittelbar nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 wurde das berüchtigte „Maekelawi-Gefängnis“ in Addis Abeba geschlossen, in dem offenbar insbesondere auch aus politischen Gründen verhaftete Gefangene verhört worden waren (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14; BFA Länderinformationsblatt S. 24; AA, Ad-hoc-Bericht S. 17). Im August 2018 wurde auch das bis dahin für Folter berüchtigte „Jail Ogaden“ in der Region Somali geschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24 f.). In der ersten Jahreshälfte 2018 sind ca. 25.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden. Seit Anfang des Jahres sind über 7.000 politische Gefangene freigelassen worden, darunter führende Oppositionspolitiker wie der Oppositionsführer der Region Oromia, Merera Gudina, und sein Stellvertreter Bekele Gerba (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9 f.), weiterhin der Anführer von Ginbot7, Berghane Nega, der unter dem früheren Regime zum Tode verurteilt worden war, und der Kommandant der ONLF, Abdikarim Muse Qalbi Dhagah (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 6). Am 26. Mai 2018 wurde Andargachew Tsige, ein Führungsmitglied von Ginbot7, begnadigt, der sich kurz nach seiner Entlassung öffentlichwirksam mit Premierminister Abiy Ahmed getroffen hatte (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 10). Neben führenden Politikern befinden sich unter den Freigelassenen auch Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (The Danish Immigration Service S. 13).

Am 20. Juli 2018 wurde zudem ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019 [im Folgenden: AA, Stellungnahme vom 7.2.2019]; AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; The Danish Immigration Service S. 14).

Weiterhin wurde am 5. Juli 2018 die Einstufung der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7 (auch Patriotic Ginbot7 oder PG7), OLF und ONLF (Ogaden National Liberation Front) als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019; AA, Ad-hoc-Bericht S. 18 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; VG Bayreuth, U. v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 44 m.w.N.). Daraufhin sind sowohl Vertreter der OLF (Jawar Mohammed) als auch der Ginbot7 (Andargachew Tsige) aus der Diaspora nach Äthiopien zurückgekehrt (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.). Nach einem Treffen des Gründers und Vorsitzenden der Ginbot7 (Berhanu Nega) mit Premierminister Abiy Ahmed im Mai 2018 hat die Ginbot7 der Gewalt abgeschworen. Die ONLF verkündete am 12. August 2018 einen einseitigen Waffenstillstand (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 22). 1.700 Rebellen der ONLF in Äthiopien haben inzwischen ihre Waffen niedergelegt (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 9.2.2019 „Separatisten in Äthiopien legen Waffen nieder“). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Asmara (Eritrea) ein Versöhnungsabkommen. Am 15. September 2018 wurde in Addis Abeba die Rückkehr der OLF unter der Führung von Dawud Ibsa gefeiert. Die Führung der OLF kündigte an, nach einer Aussöhnung mit der Regierung fortan einen friedlichen Kampf für Reformen führen zu wollen (vgl. Bundesamt für ..., Briefing Notes vom 17.9.2018 - Äthiopien; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). In den vergangenen sechs Monaten sind verschiedene herausgehobene äthiopische Exilpolitiker nach Äthiopien zurückgekehrt, die nunmehr teilweise aktive Rollen im politischen Geschehen haben (vgl. AA, Stellungahme vom 7.2.2019). So wurde etwa die Oppositionspolitikerin Birtukan Mideksa, die Anfang November 2018 nach sieben Jahren Exil in den Vereinigten Staaten zurückkehrte, am 23. November 2018 zur Vorsitzenden der nationalen Wahlkommission gewählt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 23).

Schließlich wurden Verbote für soziale Medien aufgehoben. Im Juni 2018 hat die Regierung beschlossen, eine Reihe von Webseiten, Blogs, Radio- und TV-Sendern zu entsperren, die für die Bevölkerung vorher nicht zugänglich gewesen sind. Dies betraf nach Bericht eines nationalen Beobachters auch die beiden in der Diaspora angesiedelten TV-Sender ESAT und OMN (vgl. The Danish Immigration Service S. 12); die Anklage gegen den Leiter des OMN, Jawar Mohammed, wurde fallengelassen (vgl. BFA Länderinformationsblatt, S. 22).

Unter Zugrundelegung dieser positiven Entwicklungen ist nicht anzunehmen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der von ihm angegebenen früheren oppositionellen Tätigkeit und Flucht noch Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger für den Fall einer früheren Unterstützung der OLF durch die Teilnahme an einer Demonstration in Äthiopien verfolgt werden könnte. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass auch die OLF von der Terrorliste gestrichen wurde, tausende von politischen Gefangenen freigelassen wurden und in den vergangenen Monaten sogar ehemals führende Oppositionspolitiker unbehelligt nach Äthiopien zurückgekehrt sind, spricht alles dafür, dass auch der Kläger trotz einer eventuellen früheren Verfolgung im Falle seiner Rückkehr keiner der in § 3a AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen (mehr) ausgesetzt sein wird.

bb) Zwar haben die Reformbestrebungen des neuen Premierministers auch Rückschläge erlitten. So ist es in Äthiopien in den vergangenen Monaten mehrfach zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Bevölkerung gekommen. Auch leidet das Land mehr denn je unter ethnischen Konflikten (vgl. The Danish Immigration Service S. 11). Am 15. September 2018 kam es nach Rückkehr der Führung der OLF zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten verschiedener Lager sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Zu weiteren Todesopfern kam es, als tausende Menschen gegen diese Gewaltwelle protestierten (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8, 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7). Bei einer Demonstration gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich der ethnisch motivierten Zusammenstöße im ganzen Land vertrieb die Polizei die Demonstranten gewaltsam und erschoss dabei 5 Personen. Insgesamt 28 Menschen fanden bei den Zusammenstößen angeblich den Tod. Kurz darauf wurden mehr als 3.000 junge Personen festgenommen, davon 1.200 wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration gegen ethnische Gewalt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7), die laut Angaben der Polizei nach „Resozialisierungstrainings“ allerdings wieder entlassen wurden (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11). Auch soll die äthiopische Luftwaffe bei Angriffen im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 sieben Zivilisten getötet haben. Die Regierung räumte hierzu ein, Soldaten in die Region verlegt zu haben, warf der OLF aber kriminelle Handlungen vor. Mit einer Militäroffensive sollte die Lage wieder stabilisiert werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien).

Auch in den Regionen sind Gewaltkonflikte nach wie vor nicht unter Kontrolle (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6 f.). In den Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray werden immer mehr Menschen durch Gewalt vertrieben. Aufgrund der Ende September 2018 in der Region Benishangul Gumuz einsetzenden Gewalt wurden schätzungsweise 240.000 Menschen vertrieben (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8 f.). Rund um den Grenzübergang Moyale kam es mehrfach, zuletzt Mitte Dezember 2018, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen der Somali- und Oromia-Region sowie den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Über 200.000 Menschen sind seit Juli 2018 vor ethnischen Konflikten in der Somali-Region geflohen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 9 f.). Auch in der Region Benishangul Gumuz sind bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden aktiv und es bestehen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien, welche regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Trotz des Einsatzes von Sicherheitskräften des Bundes zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Ebenso gibt es an der Grenze zwischen der Region Oromia und der SNNPR bewaffnete Auseinandersetzungen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien deswegen allein in der ersten Jahreshälfte 2018 auf etwa 1,4 Millionen Menschen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“).

Bei diesen Ereignissen handelt es sich nach Überzeugung des Senats auf der Grundlage der angeführten Erkenntnismittel aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes bzw. um Geschehnisse, die sich nicht als Ausdruck willentlicher und zielgerichteter staatlicher Rechtsverletzungen, sondern als Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder als Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen darstellen. Dies zeigt etwa auch die Tatsache, dass das äthiopische Parlament am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet hat, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20).

cc) Soweit der Kläger geltend gemacht hat, die Situation in Äthiopien bleibe trotz der Änderung der politischen Verhältnisse unübersichtlich und instabil, ist dies tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Dem kommt nach Auffassung des Senats aber asylrechtlich keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Dem Kläger ist zuzugestehen, dass trotz der tiefgreifenden Veränderungen in Äthiopien seit der Machtübernahme von Premierminister Abiy Ahmed die Verhältnisse noch nicht als gefestigt gewertet werden können. Dafür dürfte vor allem der Umstand sprechen, dass sich nach dem Machtantritt des neuen Premierministers, der vor allem mit den Stimmen aus Oromia und Amhara, aber gegen die Stimmen der Tigray und der Vertreter der Region der südlichen Nationen gewählt wurde, die Spannungen zwischen der regierenden EPRDF, die bislang von der Ethnie ihrer Gründungsgruppe TPLF dominiert wurde, welche die Tigray repräsentiert, und der Region Tigray in jüngster Zeit verschärft haben, offenbar nachdem die Regierung gegen Mitglieder der TPLF vorgegangen war. Als Folge der veränderten Machtverhältnisse innerhalb der Führung der EPDRF sind neue Formen der ethnisch motivierten Gewalt aufgetreten (vgl. The Danish Immigration Service S. 9, 11), die vor allem in den Regionen nach wie vor nicht unter Kontrolle sind. Hierdurch ist die Zahl der Binnenflüchtlinge erheblich gestiegen und die Gefahr einer Teilung des Landes bleibt nicht ausgeschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 7; Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“). Auch auf Premierminister Abiy Ahmed selbst wurde bereits ein Anschlag verübt (nordbayern.de vom 18.11.2018 „Für eine Rückkehr nach Äthiopien ist es viel zu früh“; vgl. SWP-Aktuell Nr. 32 von Juni 2018, „Abiy-Superstar - Reformer oder Revolutionär“).

Für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, ist es aber nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind. Soweit in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung - ohne genauere Auseinandersetzung mit der insoweit einschlägigen Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU - die Auffassung vertreten wird, dass die nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU maßgebenden stichhaltigen Gründe keine anderen Gründe sein könnten als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU maßgebend sind (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 29 Rn. 58; VGH BW, U.v. 27.8.2014 - A 11 S 1128/14 - Asylmagazin 2014, 389 = juris Rn. 34; U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 35; U.v. 30.5.2017 - A 9 S 991/15 - juris Rn. 28), vermag dem der Senat nicht zu folgen. Anders als im Rahmen der Prüfung eines nachträglichen Grundes für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU, bei der nach Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu untersuchen ist, ob die Veränderung der Umstände, aufgrund derer ein Drittstaatangehöriger oder ein Staatenloser als Flüchtling anerkannt wurde, erheblich und nicht nur vorübergehend ist, sieht die Regelung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU eine solche Untersuchung nicht vor.

Eine entsprechende Heranziehung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU im Rahmen der Prüfung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU scheidet nach Auffassung des Senats aus, weil die Sach- und Interessenlage in beiden Fällen nicht vergleichbar ist. Während es im Rahmen des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nämlich um eine Beweiserleichterung für die erstmalige Anerkennung eines Asylsuchenden als Flüchtling geht, betrifft Art. 11 RL 2011/95/EU, der seine Umsetzung in den §§ 72 ff. AsylG erfahren hat, die Beendigung und das Erlöschen des Flüchtlingsstatus nach einer bereits erfolgten Anerkennung. Im letzteren Fall hat der Betroffene also bereits einen gesicherten Rechtsstatus erhalten, der ihm nach dem Willen des Richtliniengebers aus Gründen des Vertrauensschutzes nur unter engen Voraussetzungen wieder entzogen können werden soll (vgl. zur gleichlautenden (Vorgänger-)Regelung des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates, KOM(2001) 510 endgültig, S. 26 f., wonach „der Mitgliedstaat, der sich auf die Beendigungsklausel beruft, sicherstellen muss, dass Personen, die das Land aus zwingenden, auf früheren Verfolgungen oder dem Erleiden eines ernsthaften nicht gerechtfertigten Schadens beruhenden Gründen nicht verlassen wollen, ein angemessener Status zuerkannt wird und sie die erworbenen Rechte behalten“; vgl. auch zum Erlöschen des subsidiären Schutzes nach Art. 16 RL 2011/95/EU die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 24.1.2019 zur Rechtssache C-720/17, wonach „nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Veränderung so wesentlich und nicht nur vorübergehend sein muss, dass zuerkannte Status nicht ständig in Frage gestellt werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland der Begünstigten kurzfristig ändert, was diesen die Stabilität ihrer Situation garantiert“). An einem entsprechenden Vertrauensschutz fehlt es, wenn ein Kläger sein Heimatland zwar vorverfolgt im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU verlassen hat, ihm jedoch noch kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem von der zitierten Rechtsprechung und Literatur in Bezug genommenen Urteil des EuGH vom 2. März 2010 (Az. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdullah) entnehmen, zumal auch diese Entscheidung lediglich das Erlöschen des Flüchtlingsstatus betrifft.

b) Ebenso wenig ergibt sich nach aktueller Auskunftslage die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund von Umständen nach der Ausreise des Klägers aus Äthiopien (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG). Insbesondere ist die exilpolitische Betätigung des Klägers in Deutschland für die der OLF nahestehenden TBOJ/UOSG infolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nicht (mehr) geeignet, eine derartige Furcht zu begründen.

Insoweit gelten die obigen Ausführungen (vgl. unter I.2. a) aa) und bb)) entsprechend. Aufgrund der jüngsten gesetzlichen Regelungen und der Maßnahmen der Regierung unter Führung von Premierminister Abiy Ahmed, insbesondere der Streichung der OLF von der Terrorliste und der Rückkehr namhafter Exilpolitiker der OLF, kann nicht (mehr) angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit, etwa weil sie - wie der Kläger - (einfaches) Mitglied der TBOJ/UOSG sind oder waren oder weil sie diese Organisation durch die Teilnahme an einer oder an mehreren Demonstrationen oder Versammlungen unterstützt haben, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (vgl. ebenso VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 48; VG Regensburg, U.v. 13.11.2018 - RO 2 K 17.32132 - juris Leitsatz und Rn. 34; VG Düsseldorf, U.v. 13.12.2018 - 6 K 4004/17.A - juris Rn. 54). Dies bestätigt auch die Einschätzung des Auswärtigen Amts, wonach aktuell nicht davon auszugehen ist, dass eine (einfache) Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist, bzw. in einer ihr nahestehenden Organisation bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019 S. 2). Ähnlich äußerte sich ein Vertreter der Britischen Botschaft, nach dessen Einschätzung es Mitgliedern der Diaspora, die sich entscheiden, nach Äthiopien zurückzukehren, erlaubt ist, sich wieder als Bürger in die Gesellschaft zu integrieren und etwa auch Privatunternehmen zu gründen (vgl. The Danish Immigration Service S. 19).

Soweit der Kläger die Befürchtung geäußert hat, dass alle Angehörigen der oromischen Opposition wegen einer vom Staat unterstellten separatistischen Haltung in Äthiopien weiterhin verfolgt würden, entbehrt dies jeder Grundlage. Richtig ist zwar, dass die OLF in der Vergangenheit für die Unabhängigkeit der Region Oromia, der bevölkerungsreichsten Region Äthiopiens mit ungefähr 35 Prozent der Einwohner, gekämpft hat und zumindest ein Teil ihrer Anhänger diese wohl auch heute noch anstrebt (vgl. The Danish Immigration Service S. 15, 20). Trotz der separatistischen Bestrebungen wurde die OLF aber von der Terrorliste gestrichen und von der Regierung eingeladen, zum Dialog nach Äthiopien zurückzukehren. Diesem Aufruf sind führende Mitglieder der OLF wie Jawar Mohammed aus dem Exil in den USA und Dawud Ibsa aus dem Exil in Eritrea gefolgt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). Allein dies spricht gegen die Besorgnis des Klägers.

Die Ursache dafür, dass sich in letzter Zeit der Konflikt zwischen Regierung und OLF verschärft hat und es nach ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Oromo und ethnischen Minderheiten zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Regierung gekommen ist (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien), liegt nach Überzeugung des Senats nicht in den separatistischen Bestrebungen der OLF begründet, sondern in dem Umstand, dass militante Teile der OLF entgegen ihrer Ankündigung ihre Ziele teilweise weiterhin mit Waffengewalt verfolgen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 18). So hat etwa der äthiopische Sender Fana berichtet, die Einsatzkräfte der Regierung hätten nach einer Militäroffensive im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 über 800 militante Mitglieder der OLF inhaftiert (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Der Regierung geht es nach aktueller Auskunftslage mit ihren Einsätzen vor allem darum, bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden sowie bestehende Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien zu bekämpfen und durch hohe Präsenz von Regierungstruppen und Sicherheitskräften und gegebenenfalls durch militärisches Eingreifen die Lage zu beruhigen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9; BFA Länderinformationsblatt S. 11, 15; BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Auch insoweit handelt es sich aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen oppositionelle Oromo, sondern um die Ahndung kriminellen Unrechts und die Abwehr allgemeiner Gefahren.

Auch für die Annahme des Klägers, nur prominente Oppositionspolitiker würden vom Staat verschont, unbekannte Personen, die sich gegen die Politik der regierenden EPRDF gestellt hätten oder stellten, seien hingegen weiterhin von Verfolgung bedroht, gibt es keine Anhaltpunkte. Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed weiterhin zahlreiche Personen ohne Anklage in Haft verblieben sind (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 6, 9), nicht die Annahme, dass Rückkehrer aus dem Exil mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, zumal nach Angaben eines nationalen Beobachters eine Reihe von Gefangenen schlichtweg „vergessen wurde“ (vgl. The Danish Immigration Service S. 13 f.). Darüber hinaus spricht auch der generelle Erlass des Amnestiegesetzes gegen die Annahme, nur herausgehobene politische Gegner könnten hiervon betroffen sein. Schließlich sind keine Fälle bekannt, in denen zurückgekehrte Äthiopier, die in Deutschland exilpolitisch tätig waren, wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit durch die äthiopischen Behörden inhaftiert oder misshandelt wurden (vgl. AA, Stellungnahme vom 14.6.2018 S. 4; AA, Ad-hoc-Bericht S. 25).

II.

Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes in Deutschland zu.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

1. Dass dem Kläger bei seiner Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht er selbst nicht geltend.

2. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass dem Kläger in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (zu diesem Erfordernis vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 54 ff. m.w.N.).

3. Schließlich steht dem Kläger auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu.

Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (zum Ganzen vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.)

Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei dem Kläger, der keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Konflikte zwischen Ethnien, wie sie etwa in der Südregion von Gambella oder im Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali vorkommen, oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen, insbesondere Ogaden, haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 20). Jedenfalls lässt sich für die Stadt Robe, aus der der Kläger stammt und in der er sich zuletzt aufgehalten hat, nicht feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson im Fall einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

III.

Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund schlechter humanitärer Bedingungen liegen ebenfalls nicht vor.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 9). Sind Armut und staatliche Mittel ursächlich für schlechte humanitäre Bedingungen, kann dies nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. EGMR, U. v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f.; BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Leitsatz 3 und Rn. 23; VGH BW, U. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.).

Dass sich der Kläger in einer derartigen besonders gravierenden Lage befände, macht er weder geltend noch ist dies sonst ersichtlich. Zwar ist Äthiopien bei etwa 92,7 Millionen Einwohnern mit einem jährlichen Brutto-National-Einkommen von etwa 927 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder der Welt. Auch wenn das Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren wesentlich über dem regionalen und internationalen Durchschnitt lag, lebt ein signifikanter Teil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze. Derzeit leiden fast 8 Millionen Menschen an einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung und benötigen humanitäre Hilfe. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, die durch die Schwäche des modernen Wirtschaftssektors und die anhaltend hohe Zuwanderung aus dem ländlichen Raum verstärkt wird (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 33 f.).

Trotz dieser schwierigen Bedingungen ist aber nicht ersichtlich, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Äthiopien nicht bestreiten könnte. Er ist seinen Angaben zufolge 23 Jahre alt und hat seine Schulausbildung in Deutschland fortgesetzt. Er ist gesund und arbeitsfähig. Seine Mutter betreibt in Robe ein Hotel, in dem er bereits vor seiner Ausreise mitgeholfen hat. Auch sein Bruder und eine Schwester leben dort. Anhaltspunkte für eine fehlende Erwerbsmöglichkeit in Äthiopien bestehen nicht. Unter Zugrundelegung dieser Umstände ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

IV.

Ebenso wenig besteht wegen der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK - zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.

Nach diesen Maßstäben ist bei dem Kläger ein nationales Abschiebungsverbot nach dieser Bestimmung im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend (vgl. oben III.).

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Folgeverfahren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes sowie die Feststellung von Abschiebungsschutz.

Der am 15. November 1989 geborene Kläger ist äthiopischer Staatsangehöriger vom Volk der Oromo. Vor seiner Ausreise lebte er in A. Ab. (Yeka), wo er als Berufssportler aktiv war. Er reiste am 8. August 2010 mit einem Schengen-Visum auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein. Seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 14. Februar 2011 ab; zugleich stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit rechtskräftigem Urteil vom 22. November 2012 ab.

Am 19. Juni 2013 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag, den er im Wesentlichen auf exilpolitische Aktivitäten für die UOSG stützte. Am 16. Februar 2013 sei er in den Bundesvorstand der UOSG gewählt worden und dort als Schatzmeister aktiv. Er wirke weiterhin an Protest- und Informationsveranstaltungen der oromischen Exilopposition mit; in der Ausgabe der UOSG-Zeitschrift „B. Bi.“ vom April 2013 habe er einen regimekritischen Beitrag verfasst. Mit dem Folgeantrag wurden diverse Unterlagen vorgelegt, darunter Mitgliedsbestätigungen der TBOJ/UOSG vom 28. März 2013 sowie der Oromo Liberation Front (OLF - Foreign Affairs Department/European Regional Office) vom 14. November 2011 und 4. März 2013, ein Auszug aus der April-Ausgabe der Zeitschrift „B. Bi.“, eine Stellungnahme des Dr. T1. T2. vom 3. Mai 2013 und ein Schreiben der „Oromia Support Group Australia“ vom 20. März 2013. Bei seiner informatorischen Anhörung am 30. Oktober 2013 durch das Bundesamt gab der Kläger an, seit Ende 2011 in den Vorstand der UOSG gewählt worden zu sein, regelmäßig an Versammlungen teilzunehmen und eine Demonstration in Würzburg 2013 mitorganisiert zu haben.

Mit Bescheid vom 22. Dezember 2015 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) bzw. subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung und im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls werde er nach Äthiopien abgeschoben (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens seien zwar gegeben. Der Antragsteller habe sich seit Abschluss des Erstverfahrens am 6. März 2013 aber weiterhin nicht nennenswert exilpolitisch betätigt. Seit über zwei Jahren habe er keinerlei exilpolitische Aktivitäten unternommen; seine Tätigkeit als Kassierer der UOSG habe er nicht näher konkretisiert. Das Gutachten des Dr. T2., den der Kläger nicht persönlich kenne, enthalte nur allgemeine Feststellungen zur Lage in Äthiopien; das Gleiche gelte für die Bescheinigung aus Australien. Der angeblich vom Kläger verfasste Artikel belege keine überzeugte Regimegegnerschaft, sondern sei ein Massenphänomen, um eine Regimefeindlichkeit für das Asylverfahren nach außen zu dokumentieren.

Mit seiner beim Verwaltungsgericht Bayreuth erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung dieses Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, subsidiären Schutz zu gewähren und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG vorliegen. Im erstinstanzlichen Klageverfahren ließ er vortragen, das Bundesamt sei irrig davon ausgegangen, er habe zu seinen weiteren exilpolitischen Tätigkeiten nichts vorgetragen. Seine Funktion als Schatzmeister im Bundesvorstand der UOSG habe er im Mai 2016 aus Zeitgründen aufgegeben; seitdem sei er als Redakteur (Leiter des Editorial-Teams) der Zeitschrift „B. Bi.“ tätig. In der Mai-Ausgabe 2016 sei sein Beitrag über den Protest der Oromo gegen die Diktatur in Äthiopien veröffentlicht worden. Den europaweiten Kongress der UOSG zum Märtyrertag am 9. Januar 2016 in Nürnberg habe er vorbereitet und mit geleitet. Laut einer Bestätigung der TBOJ/UOSG vom 6. August 2016 hat sich der Kläger seit April 2014 an der Organisation mehrerer (Protest-)Veranstaltungen beteiligt; zudem wurde ihm darin die aktive Teilnahme an diversen weiteren exilpolitischen Veranstaltungen bescheinigt.

Das Verwaltungsgericht Bayreuth hat die Klage mit Urteil vom 11. August 2016 abgewiesen. Der Kläger sei nicht als exponierter, ernsthafter Oppositionsangehöriger anzusehen. Die bis Mai 2016 ausgeübte Tätigkeit im Vorstand der UOSG und seine Redaktionstätigkeit und Veröffentlichungen im Magazin „B. Bi.“ ließen kein eigenständiges exilpolitisches Profil als ernsthafter Oppositioneller erkennen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil mit Beschluss vom 29. Januar 2018 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Durch Beschluss vom 26. März 2018 hat der Senat zu verschiedenen Fragen Beweis erhoben durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amts bzw. schriftlicher Gutachten von Amnesty International, des GIGA-Instituts für Afrika-Studien und der Schweizerische Flüchtlingshilfe.

Mit der Berufung beantragt der Kläger,

die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 11. August 2016 sowie unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 22. Dezember 2015 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm subsidiären Schutz zuzusprechen und hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bestehen.

Zur Begründung wird ausgeführt: Die Annahme des Verwaltungsgerichts, exilpolitische Aktivitäten könnten nur dann eine (beachtliche) Verfolgungsgefahr begründen, wenn sie ein eigenständiges politisches Profil aufwiesen und der Betroffene somit als ernsthafter Oppositioneller anzusehen sei, treffe nicht zu. Die These, der äthiopische Staat überziehe nur tatsächlich überzeugte Akteure (vermeintlich) oppositioneller Handlungen mit Verfolgung, sei nicht belegt. Die Praxis der äthiopischen Sicherheitsbehörden zeige vielmehr, dass der bloße, nicht verifizierte Schein oder die bloße Unterstellung ausreichten, um Verfolgungsmaßnahmen auszulösen. Die innenpolitische Lage Äthiopiens habe sich seit der Wahl Abiy Ahmeds zwar erheblich verändert. Die Einladung des Ministerpräsidenten an die Oppositionsgruppen zur Rückkehr und Zusammenarbeit sowie die Aufhebung des Terrorismusverdikts für OLF und Ginbot7 bedeute aber keine Entwarnung für im Exil tätige Unterstützer der oromischen Bewegung. Die Oromos und deren Vertreter seien keine Einheit; neben den eher wenigen kooperativ und föderalistisch orientierten Politikern sei die Mehrheit der oromischen Aktivisten militant. Letztere seien vom Angebot zur Zusammenarbeit mit der Regierung Abiy Ahmeds ausgenommen; gegen sie würden Massenverhaftungen, „Brainwashing“ oder militärisches Vorgehen weiterhin angewandt. Aus Deutschland zurückkehrende aktive Unterstützer der OLF würden als potenzielle Unterstützer einer separatistischen Bewegung mit Sicherheit festgenommen, für unbestimmte Zeit inhaftiert und misshandelt, um eine befürchtete und unterstellte Haltung zu brechen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Die TBOJ/UOSG stehe der OLF nahe, die der äthiopische Staat inzwischen von der Terrorliste gestrichen habe. Exilpolitische Aktivitäten wie diejenigen des Klägers hätten bereits früher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgung geführt; seit dem politischen Umbruch in Äthiopien gelte dies umso mehr. Das staatliche Vorgehen gegen gewaltsamen Separatismus könne nicht gleichgesetzt werden mit der Verfolgung exilpolitischer Tätigkeiten.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten und auf die Gerichtsakten verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zwar gegeben sind, der Kläger in dem für die Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 12. Februar 2019 (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) aber weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG noch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG hat; auch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG steht ihm nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

I.

Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, die trotz der positiven Zulässigkeitsprüfung des Bundesamts zu überprüfen sind (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1987 - 9 C 285.86 - BVerwGE 78, 332 = juris Rn. 17 zu § 14 AsylVfG; OVG NW, B.v. 3.2.1997 - 25 A 353/97.A - AuAS 1997, 141 = juris Rn. 5; vgl. auch Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 71 Rn. 115), sind gegeben. Die Wahl des Klägers in den Bundesvorstand der TBOJ/UOSG (16.2.2013) wurde zwar nicht innerhalb von drei Monaten nach Kenntniserlangung (vgl. § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG) geltend gemacht. Allerdings begründet zumindest die Veröffentlichung des Klägers unter eigenem Namen in der Zeitschrift „B. Bi.“ vom April 2013 eine nachträgliche Änderung der Sachlage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, die sich mit Blick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu seinen Gunsten auswirken kann und die innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG geltend gemacht worden ist (vgl. auch BVerwG, U.v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = juris Rn. 10).

Ist festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen und der Antragsteller deshalb einen Anspruch auf eine erneute Sachprüfung hat, besteht im Rahmen der dann vorzunehmenden Asylerfolgsprüfung die Pflicht, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und die erforderlichen Beweise zu erheben (vgl. BVerfG, B.v. 3.3.2000 - 2 BvR 39/98 - DVBl. 2000, 1048 = juris Rn. 33; vgl. auch Marx, AsylG, § 71 Rn. 26; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 71 Rn. 103).

II.

Offen bleiben kann, ob der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG hier bereits § 28 Abs. 2 AsylG entgegensteht.

1. Nach dieser Vorschrift kann in einem Folgeverfahren die Flüchtlingseigenschaft in der Regel nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat. Mit § 28 Abs. 2 AsylG hat der Gesetzgeber die risikolose Verfolgungsprovokation durch Nachfluchtgründe, die der Betreffende nach Abschluss des ersten Asylverfahrens selbst geschaffen hat, regelhaft unter Missbrauchsverdacht gestellt. Die Substantiierungssowie die objektive Beweislast werden damit auf den Asylbewerber verlagert, der die gesetzliche Missbrauchsvermutung widerlegen muss (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = juris Rn. 14; U.v. 24.9.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = juris Rn. 21).

Da jedenfalls die nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens unter eigenem Namen publizierten Beiträge des Klägers in der Zeitschrift „B. Bi.“ unter den Tatbestand des § 28 Abs. 2 AsylG fallen, greift die gesetzliche Rechtsfolge, derzufolge die Flüchtlingseigenschaft in einem Folgeverfahren in der Regel nicht zuerkannt wird (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = juris Rn. 13).

2. Die gesetzliche Missbrauchsvermutung ist dann widerlegt, wenn der Asylbewerber den Verdacht ausräumen kann, er habe Nachfluchtaktivitäten nur oder aber hauptsächlich mit Blick auf die erstrebte Flüchtlingsanerkennung entwickelt oder intensiviert. Bleibt das Betätigungsprofil des Betroffenen nach Abschluss des Erstverfahrens unverändert, liegt die Annahme einer missbräuchlichen Verknüpfung von Nachfluchtaktivitäten und begehrtem Status eher fern. Wird der Asylbewerber jedoch nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmals exilpolitisch aktiv oder intensiviert er seine bisherigen Aktivitäten, muss er dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, dies geschehe in erster Linie, um die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu schaffen (vgl. BVerwG, B.v. 31.1.2014 - 10 B 5.14 - juris Rn. 5; U.v. 24.9.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = juris Rn. 26). Dazu hat der Tatrichter die Persönlichkeit des Asylbewerbers und dessen Motive für seine erstmalig aufgenommenen oder intensivierten Aktivitäten vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens und seines Vorfluchtschicksals einer Gesamtwürdigung zu unterziehen (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = juris Rn. 16; B.v. 31.1.2014 - 10 B 5.14 - juris Rn. 6).

Gemessen an diesen Maßstäben spricht viel dafür, dass der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hier § 28 Abs. 2 AsylG entgegensteht. Der Kläger hat bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 27. Januar 2011 noch keine exilpolitische Betätigung angeführt (vgl. S. 143 ff. der Erstverfahrensakte). Am 14. August 2011, also mehr als ein Jahr nach seiner Einreise in das Bundesgebiet (8.8.2010) und nach Ablehnung seines Asylantrags durch das Bundesamt (14.2.2011), ist er Mitglied der UOSG geworden (vgl. S. 206 der Erstverfahrensakte). Die Wahl in den Bundesvorstand der TBOJ/UOSG (16.2.2013) erfolgte kurz nach Zustellung des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts (14.1.2013). Der erste unter seinem Namen erschienene Artikel in der Zeitschrift „B. Bi.“ (April 2013) wurde wiederum kurz nach der rechtskräftigen Ablehnung seines Erstantrags (5.3.2013) veröffentlicht. Die Chronologie seiner exilpolitischen Aktivitäten deutet insgesamt darauf hin, dass der Kläger die nach außen sichtbare Betätigung seines politischen Willens immer dann steigert, wenn es die aufenthaltsrechtliche Situation erfordert. Hierfür spricht auch seine Einlassung (auf die Frage, weshalb man für die Aufgabe als Kassiers das Amt eines Vorsitzenden innehaben müsse), es sei wichtig, dass man einer von den Fünfen (Vorstandsmitgliedern) sei und vom Regime in dieser Funktion überwacht werde (vgl. S. 167 der Folgeantragsakte). Demgegenüber ist nicht zu erkennen, dass die Nachfluchtaktivitäten des Klägers auf einer kontinuierlich gewachsenen und nach außen betätigten politischen Überzeugung beruhen. Seine Antworten auf die Fragen des Bundesamts nach den Hintergründen seiner exilpolitischen Tätigkeit blieben auffallend kurz und allgemein; z.B. konnte der Kläger auf die Frage, weshalb er erst im April 2013 einen Beitrag über die Inhaftierung Unschuldiger veröffentlicht habe, keine plausible Antwort geben (vgl. S. 166 der Folgeantragsakte).

III.

Jedenfalls hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG.

1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 S. 9 - im Folgenden: RL 2011/95/EU) umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 11). Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind unter anderem gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).

Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 = juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann 30 (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - DVBl 2008, 1255 = juris Rn. 37).)

2. Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Infolge des den in das Berufungsverfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zu entnehmenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse seit April 2018 und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle in Äthiopien kann im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder angenommen werden, dass dem Kläger aufgrund der behaupteten früheren Ereignisse in Äthiopien (vgl. dazu unten III.2.1) noch infolge seiner exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland (vgl. dazu unten III.2.2) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

2.1 Es kann offen bleiben, ob der Kläger aufgrund einer Vorverfolgung die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann.

2.1.1 Bei der Frage, ob der Kläger vor seiner Ausreise bereits verfolgt wurde, ist der Senat zwar nicht an die - dies ablehnende - Feststellung des Verwaltungsgerichts im ersten Asylurteil gebunden (vgl. SächsOVG, U.v. 22.11.2014 - A 3 A 519/12 -Asylmagazin 2015, 208 = juris Rn. 39; so auch betreffend ein den Asyl- und Flüchtlingsschutz zusprechendes Urteil BVerwG, U.v. 7.9.2010 - 10 C 11.09 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 42 = juris Rn. 19). Die Gesamtwürdigung aller Umstände - auch der mit dem Folgeantrag vorgelegten Unterlagen - spricht aber (weiterhin) nicht dafür, dass der Kläger sein Heimatland vorverfolgt verlassen hat. Insbesondere stützen die im Folgeantragsverfahren vorgelegten Unterlagen keine gegenüber dem Asylerstverfahren abweichende Einschätzung. Die Aussage im Schreiben der „Oromia Support Group Australia“ vom 20. März 2013 („Support Letter“), der Kläger habe aktiv an Schülerprotesten teilgenommen, bei denen viele seiner Mitschüler getötet worden seien (vgl. S. 34 der Folgeantragsakte), besitzt keinen Beweiswert, weil nicht erkennbar ist, woher die in Australien ansässige Exilorganisation belastbare Erkenntnisse zur individuellen Verfolgungssituation des Klägers in Äthiopien erlangt haben sollte. Die Stellungnahme des Dr. Trevor Trueman vom 3. Mai 2013, den der Kläger nicht kennt (vgl. S. 167 der Folgeantragsakte), bezieht sich allein auf die exilpolitischen Tätigkeiten des Klägers in Deutschland.

2.1.2 Selbst wenn man zugunsten des Klägers annimmt, dass er bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung, sodass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG nicht greift. Dies ergibt sich aus Folgendem:

2.1.2.1 Die politische Situation in Äthiopien hat sich für Regierungsgegner und Oppositionelle bereits seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Anfang des Jahres kündigte der damalige Premierminister Heilemariam Desalegn nach zweijährigen andauernden Protesten Reformmaßnahmen und die Freilassung von politischen Gefangenen an. Am 15. Februar 2018 gab er bekannt, sein Amt als Regierungschef und Parteivorsitzender der regierenden EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Demokratic Front) niederzulegen, um den Weg für Reformen freizumachen. Dennoch verhängte die äthiopische Regierung am 16. Februar 2018 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand mit der Begründung, Proteste und Unruhen verhindern zu wollen. Nachdem der Rat der EPRDF, die sich aus den vier regionalen Parteien TPLF (Tigray People's Liberation Front), ANDM (Amhara National Democratic Movement), OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation) und SEPDM (Southern Ethiopian Peoples’ Democratic Movement) zusammensetzt, Abiy Ahmed mit 108 von 180 Stimmen zum Premierminister gewählt hatte (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Aktuell von Juni 2018, „Abiy Superstar - Reformer oder Revolutionär“ [im Folgenden: SWP-Aktuell von Juni 2018]; Ministry of Immigration and Integration, The Danish Immigration Service, Ethiopia: Political situation and treatment of opposition, September 2018, Deutsche (Teil-)Übersetzung [im Folgenden: The Danish Immigration Service] S. 11), wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt. Zwar kommt Abiy Ahmed ebenfalls aus dem Regierungsbündnis der EPRDF, ist aber der Erste in diesem Amt, der in Äthiopien der Ethnie der Oromo angehört (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 11.7.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 [im Folgenden: Schweizerische Flüchtlingshilfe] S. 5).

Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Die bisher einflussreiche TPLF, die zentrale Stellen des Machtapparates und der Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hatte (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018 [im Folgenden: AA, Ad-hoc-Bericht] S. 8), stellt nur noch zwei Minister (vgl. SWP-Aktuell von Juni 2018). Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1). Die renommierte Menschenrechtsanwältin Meaza Ashenafi wurde zur ranghöchsten Richterin des Landes ernannt (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Äthiopien vom 8.1.2019 [im Folgenden: BFA Länderinformationsblatt], S. 6). Am 5. Juni 2018 wurde der am 16. Februar 2018 verhängte sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen und Oppositionsparteien eingeladen, aus dem Exil zurückzukehren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 5 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 10).

Gerade auch für (frühere) Oppositionelle hat sich die Situation deutlich und mit asylrechtlicher Relevanz verbessert. Bereits unmittelbar nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 wurde das berüchtigte „Maekelawi-Gefängnis“ in Addis Abeba geschlossen, in dem offenbar insbesondere auch aus politischen Gründen verhaftete Gefangene verhört worden waren (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14; BFA Länderinformationsblatt S. 24; AA, Ad-hoc-Bericht S. 17). Im August 2018 wurde auch das bis dahin für Folter berüchtigte „Jail Ogaden“ in der Region Somali geschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24 f.). In der ersten Jahreshälfte 2018 sind ca. 25.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden. Seit Anfang des Jahres sind über 7.000 politische Gefangene freigelassen worden, darunter führende Oppositionspolitiker wie der Oppositionsführer der Region Oromia, Merera Gudina, und sein Stellvertreter Bekele Gerba (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9 f.), weiterhin der Anführer von Ginbot7, Berghane Nega, der unter dem früheren Regime zum Tode verurteilt worden war, und der Kommandant der ONLF, Abdikarim Muse Qalbi Dhagah (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 6). Am 26. Mai 2018 wurde Andargachew Tsige, ein Führungsmitglied von Ginbot7, begnadigt, der sich kurz nach seiner Entlassung öffentlichwirksam mit Premierminister Abiy Ahmed getroffen hatte (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11). Neben führenden Politikern befinden sich unter den Freigelassenen auch Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (The Danish Immigration Service S. 13).

Am 20. Juli 2018 wurde zudem ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019 [im Folgenden: AA, Stellungnahme vom 7.2.2019]; AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; The Danish Immigration Service S. 14).

Weiterhin wurde am 5. Juli 2018 die Einstufung der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7 (auch Patriotic Ginbot7 oder PG7), OLF und ONLF (Ogaden National Liberation Front) als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019; AA, Ad-hoc-Bericht S. 18 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; VG Bayreuth, U. v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 44 m.w.N.). Daraufhin sind sowohl Vertreter der OLF (Jawar Mohammed) als auch der Ginbot7 (Andargachew Tsige) aus der Diaspora nach Äthiopien zurückgekehrt (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.). Nach einem Treffen des Gründers und Vorsitzenden der Ginbot7 (Berhanu Nega) mit Premierminister Abiy Ahmed im Mai 2018 hat die Ginbot7 der Gewalt abgeschworen. Die ONLF verkündete am 12. August 2018 einen einseitigen Waffenstillstand (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6, 22). 1.700 Rebellen der ONLF in Äthiopien haben inzwischen ihre Waffen niedergelegt (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 9.2.2019 „Separatisten in Äthiopien legen Waffen nieder“). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Asmara (Eritrea) ein Versöhnungsabkommen. Am 15. September 2018 wurde in Addis Abeba die Rückkehr der OLF unter der Führung von Dawud Ibsa gefeiert. Die Führung der OLF kündigte an, nach einer Aussöhnung mit der Regierung fortan einen friedlichen Kampf für Reformen führen zu wollen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 17.9.2018 - Äthiopien; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). In den vergangenen sechs Monaten sind verschiedene herausgehobene äthiopische Exilpolitiker nach Äthiopien zurückgekehrt, die nunmehr teilweise aktive Rollen im politischen Geschehen haben (vgl. AA, Stellungahme vom 7.2.2019). So wurde etwa die Oppositionspolitikerin Birtukan Mideksa, die Anfang November 2018 nach sieben Jahren Exil in den Vereinigten Staaten zurückkehrte, am 23. November 2018 zur Vorsitzenden der nationalen Wahlkommission gewählt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 23).

Schließlich wurden Verbote für soziale Medien aufgehoben. Im Juni 2018 hat die Regierung beschlossen, eine Reihe von Webseiten, Blogs, Radio- und TV-Sendern zu entsperren, die für die Bevölkerung vorher nicht zugänglich gewesen sind. Dies betraf nach Bericht eines nationalen Beobachters auch die beiden in der Diaspora angesiedelten TV-Sender ESAT und OMN (vgl. The Danish Immigration Service S. 12); die Anklage gegen den Leiter des OMN, Jawar Mohammed, wurde fallengelassen (vgl. BFA Länderinformationsblatt, S. 22).

Unter Zugrundelegung dieser positiven Entwicklungen ist nicht anzunehmen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der von ihm angegebenen früheren oppositionellen Tätigkeit noch Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger für den Fall einer früheren Unterstützung der OLF in Äthiopien verfolgt werden könnte. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass auch die OLF von der Terrorliste gestrichen wurde, tausende von politischen Gefangenen freigelassen wurden und in den vergangenen Monaten sogar ehemals führende Oppositionspolitiker unbehelligt nach Äthiopien zurückgekehrt sind, spricht alles dafür, dass auch der Kläger trotz einer eventuellen früheren Verfolgung im Falle seiner Rückkehr keiner der in § 3a AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen (mehr) ausgesetzt sein wird.

2.1.2.2 Zwar haben die Reformbestrebungen des neuen Premierministers auch Rückschläge erlitten. So ist es in Äthiopien in den vergangenen Monaten mehrfach zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Bevölkerung gekommen. Auch leidet das Land mehr denn je unter ethnischen Konflikten (vgl. The Danish Immigration Service S. 11). Am 15. September 2018 kam es nach Rückkehr der Führung der OLF zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten verschiedener Lager sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Zu weiteren Todesopfern kam es, als tausende Menschen gegen diese Gewaltwelle protestierten (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8, 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7). Bei einer Demonstration gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich der ethnisch motivierten Zusammenstöße im ganzen Land vertrieb die Polizei die Demonstranten gewaltsam und erschoss dabei 5 Personen. Insgesamt 28 Menschen fanden bei den Zusammenstößen angeblich den Tod. Kurz darauf wurden mehr als 3.000 junge Personen festgenommen, davon 1.200 wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration gegen ethnische Gewalt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7), die laut Angaben der Polizei nach „Resozialisierungstrainings“ allerdings wieder entlassen wurden (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11). Auch soll die äthiopische Luftwaffe bei Angriffen im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 sieben Zivilisten getötet haben. Die Regierung räumte hierzu ein, Soldaten in die Region verlegt zu haben, warf der OLF aber kriminelle Handlungen vor. Mit einer Militäroffensive sollte die Lage wieder stabilisiert werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien).

Auch in den Regionen sind Gewaltkonflikte nach wie vor nicht unter Kontrolle (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6 f.). In den Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray werden immer mehr Menschen durch Gewalt vertrieben. Aufgrund der Ende September 2018 in der Region Benishangul Gumuz einsetzenden Gewalt wurden schätzungsweise 240.000 Menschen vertrieben (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8 f.). Rund um den Grenzübergang Moyale kam es mehrfach, zuletzt Mitte Dezember 2018, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen der Somali- und Oromia-Region sowie den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Über 200.000 Menschen sind seit Juli 2018 vor ethnischen Konflikten in der Somali-Region geflohen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 9 f.). Auch in der Region Benishangul Gumuz sind bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden aktiv und es bestehen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien, welche regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Trotz des Einsatzes von Sicherheitskräften des Bundes zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Ebenso gibt es an der Grenze zwischen der Region Oromia und der SNNPR bewaffnete Auseinandersetzungen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien deswegen allein in der ersten Jahreshälfte 2018 auf etwa 1,4 Millionen Menschen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“).

Bei diesen Ereignissen handelt es sich nach Überzeugung des Senats auf der Grundlage der angeführten Erkenntnismittel aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes bzw. um Geschehnisse, die sich nicht als Ausdruck willentlicher und zielgerichteter staatlicher Rechtsverletzungen, sondern als Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder als Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen darstellen. Dies zeigt etwa auch die Tatsache, dass das äthiopische Parlament am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet hat, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20).

2.1.2.3 Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, die Situation in Äthiopien bleibe trotz der Änderung der politischen Verhältnisse unübersichtlich und instabil, ist dies tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Dem kommt nach Auffassung des Senats aber asylrechtlich keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Dem Kläger ist zuzugestehen, dass trotz der tiefgreifenden Veränderungen in Äthiopien seit der Machtübernahme von Premierminister Abiy Ahmed die Verhältnisse noch nicht als gefestigt gewertet werden können. Dafür dürfte vor allem der Umstand sprechen, dass sich nach dem Machtantritt des neuen Premierministers, der vor allem mit den Stimmen aus Oromia und Amhara, aber gegen die Stimmen der Tigray und der Vertreter der Region der südlichen Nationen gewählt wurde, die Spannungen zwischen der regierenden EPRDF, die bislang von der Ethnie ihrer Gründungsgruppe TPLF dominiert wurde, welche die Tigray repräsentiert, und der Region Tigray in jüngster Zeit verschärft haben, offenbar nachdem die Regierung gegen Mitglieder der TPLF vorgegangen war. Als Folge der veränderten Machtverhältnisse innerhalb der Führung der EPDRF sind neue Formen der ethnisch motivierten Gewalt aufgetreten (vgl. The Danish Immigration Service S. 9, 11), die vor allem in den Regionen nach wie vor nicht unter Kontrolle sind. Hierdurch ist die Zahl der Binnenflüchtlinge erheblich gestiegen und die Gefahr einer Teilung des Landes bleibt nicht ausgeschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 7; Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“). Auch auf Premierminister Abiy Ahmed selbst wurde bereits ein Anschlag verübt (nordbayern.de vom 18.11.2018 „Für eine Rückkehr nach Äthiopien ist es viel zu früh“; vgl. SWP-Aktuell Nr. 32 von Juni 2018, „Abiy-Superstar - Reformer oder Revolutionär“).

Für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, ist es aber nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind. Soweit in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung - ohne genauere Auseinandersetzung mit der insoweit einschlägigen Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU - die Auffassung vertreten wird, dass die nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU maßgebenden stichhaltigen Gründe keine anderen Gründe sein könnten als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU maßgebend sind (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 29 Rn. 58; VGH BW, U.v. 27.8.2014 - A 11 S 1128/14 - Asylmagazin 2014, 389 = juris Rn. 34; U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 35; U.v. 30.5.2017 - A 9 S 991/15 - juris Rn. 28), vermag dem der Senat nicht zu folgen. Anders als im Rahmen der Prüfung eines nachträglichen Grundes für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU, bei der nach Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu untersuchen ist, ob die Veränderung der Umstände, aufgrund derer ein Drittstaatangehöriger oder ein Staatenloser als Flüchtling anerkannt wurde, erheblich und nicht nur vorübergehend ist, sieht die Regelung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU eine solche Untersuchung nicht vor.

Eine entsprechende Heranziehung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU im Rahmen der Prüfung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU scheidet nach Auffassung des Senats aus, weil die Sach- und Interessenlage in beiden Fällen nicht vergleichbar ist. Während es im Rahmen des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nämlich um eine Beweiserleichterung für die erstmalige Anerkennung eines Asylsuchenden als Flüchtling geht, betrifft Art. 11 RL 2011/95/EU, der seine Umsetzung in den §§ 72 ff. AsylG erfahren hat, die Beendigung und das Erlöschen des Flüchtlingsstatus nach einer bereits erfolgten Anerkennung. Im letzteren Fall hat der Betroffene also bereits einen gesicherten Rechtsstatus erhalten, der ihm nach dem Willen des Richtliniengebers aus Gründen des Vertrauensschutzes nur unter engen Voraussetzungen wieder entzogen können werden soll (vgl. zur gleichlautenden (Vorgänger-)Regelung des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates, KOM(2001) 510 endgültig, S. 26 f., wonach „der Mitgliedstaat, der sich auf die Beendigungsklausel beruft, sicherstellen muss, dass Personen, die das Land aus zwingenden, auf früheren Verfolgungen oder dem Erleiden eines ernsthaften nicht gerechtfertigten Schadens beruhenden Gründen nicht verlassen wollen, ein angemessener Status zuerkannt wird und sie die erworbenen Rechte behalten“; vgl. auch zum Erlöschen des subsidiären Schutzes nach Art. 16 RL 2011/95/EU die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 24.1.2019 zur Rechtssache C-720/17, wonach „nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Veränderung so wesentlich und nicht nur vorübergehend sein muss, dass zuerkannte Status nicht ständig in Frage gestellt werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland der Begünstigten kurzfristig ändert, was diesen die Stabilität ihrer Situation garantiert“). An einem entsprechenden Vertrauensschutz fehlt es, wenn ein Kläger sein Heimatland zwar vorverfolgt im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU verlassen hat, ihm jedoch noch kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem von der zitierten Rechtsprechung und Literatur in Bezug genommenen Urteil des EuGH vom 2. März 2010 (Az. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdullah) entnehmen, zumal auch diese Entscheidung lediglich das Erlöschen des Flüchtlingsstatus betrifft.

2.2 Ebenso wenig ergibt sich nach aktueller Auskunftslage die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland für die der OLF nahestehenden TBOJ/UOSG. Infolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien ist diese nicht (mehr) geeignet, eine begründete Furcht vor Verfolgung nach § 3 Abs. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1a AsylG zu begründen.

2.2.1 Insoweit gelten die obigen Ausführungen (vgl. unter III.2.1.2.1 und III.2.1.2.2) entsprechend. Aufgrund der jüngsten gesetzlichen Regelungen und der Maßnahmen der Regierung unter Führung von Premierminister Abiy Ahmed, insbesondere der Streichung der OLF von der Terrorliste und der Rückkehr namhafter Exilpolitiker der OLF, kann nicht (mehr) angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit, etwa weil sie - wie der Kläger - Mitglied der TBOJ/UOSG sind oder waren, diese Organisation durch die Teilnahme an Demonstrationen oder Versammlungen (zum Teil unter Mitorganisation) oder durch andere Unterstützeraktivitäten wie die Mitarbeit bei einer exilpolitischen Zeitschrift (Leiter Editorial-Team) oder auch durch regierungskritische Äußerungen oder Veröffentlichungen in exilpolitischen Zeitschriften oder sonstigen Medien unterstützt haben, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (vgl. ebenso VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 48; VG Regensburg, U.v. 13.11.2018 - RO 2 K 17.32132 - juris Leitsatz und Rn. 34; VG Düsseldorf, U.v. 13.12.2018 - 6 K 4004/17.A - juris Rn. 54). Dies bestätigt auch die Einschätzung des Auswärtigen Amts, wonach aktuell nicht davon auszugehen ist, dass eine (einfache) Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist, bzw. in einer ihr nahestehenden Organisation bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019 S. 2). Ähnlich äußerte sich ein Vertreter der Britischen Botschaft, nach dessen Einschätzung es Mitgliedern der Diaspora, die sich entscheiden, nach Äthiopien zurückzukehren, erlaubt ist, sich wieder als Bürger in die Gesellschaft zu integrieren und etwa auch Privatunternehmen zu gründen (vgl. The Danish Immigration Service S. 19).

2.2.2 Auch aufgrund seiner (früheren) Vorstandstätigkeit im Bundes- bzw. Landesvorstand der TBOJ/UOSG drohen dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlungen. Infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 begründet allein die Tatsache, dass sich äthiopische Asylbewerber in Deutschland exponiert (vgl. zu diesem Kriterium BayVGH, B.v. 14.11.2017 - 21 ZB 17.31340 - juris Rn. 2; B.v. 14.7.2015 - 21 ZB 15.30119 - juris Rn. 5; U.v. 25.2.2008 - 21 B 07.30363 - juris Rn. 16) exilpolitisch betätigt haben, grundsätzlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgungsgefahr; eine Rückkehrgefährdung erscheint auf Basis der aktuellen Auskunftslage allenfalls noch in besonders gelagerten Ausnahmefällen denkbar (vgl. ebenso VG Bayreuth, U.v. 5.9.2018 - B 7 K 17.33349 - juris Rn. 64; ähnlich VG Regensburg, B.v. 19.6.2018 - RO 2 E 18.31617 - juris Rn. 25; VG Ansbach, B.v. 11.10.2018 - AN 3 E 18.31175 - juris Rn. 36). Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch belegt, dass inzwischen namhafte Vertreter der äthiopischen Exilopposition der Einladung des neuen Premierministers gefolgt und zurückgekehrt sind, um sich am politischen Diskurs in Äthiopien zu beteiligen (vgl. The Danish Immigration Service S. 5; BFA Länderinformationsblatt S. 5; vgl. eingehend hierzu oben unter III.2.1.2.1).

2.2.3 Soweit der Kläger die Befürchtung geäußert hat, dass alle Angehörigen der oromischen Opposition wegen einer vom Staat unterstellten separatistischen Haltung in Äthiopien weiterhin verfolgt würden, entbehrt dies jeder Grundlage. Richtig ist zwar, dass die OLF in der Vergangenheit für die Unabhängigkeit der Region Oromia, der bevölkerungsreichsten Region Äthiopiens mit ungefähr 35 Prozent der Einwohner, gekämpft hat und zumindest ein Teil ihrer Anhänger diese wohl auch heute noch anstrebt (vgl. The Danish Immigration Service S. 15, 20). Trotz der separatistischen Bestrebungen wurde die OLF aber von der Terrorliste gestrichen und von der Regierung eingeladen, zum Dialog nach Äthiopien zurückzukehren. Diesem Aufruf sind führende Mitglieder der OLF wie Jawar Mohammed aus dem Exil in den USA und Dawud Ibsa aus dem Exil in Eritrea gefolgt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). Allein dies spricht gegen die Besorgnis des Klägers.

Die Ursache dafür, dass sich in letzter Zeit der Konflikt zwischen Regierung und OLF verschärft hat und es nach ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Oromo und ethnischen Minderheiten zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Regierung gekommen ist (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien), liegt nach Überzeugung des Senats nicht in den separatistischen Bestrebungen der OLF begründet, sondern in dem Umstand, dass militante Teile der OLF entgegen ihrer Ankündigung ihre Ziele teilweise weiterhin mit Waffengewalt verfolgen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 18). So hat etwa der äthiopische Sender Fana berichtet, die Einsatzkräfte der Regierung hätten nach einer Militäroffensive im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 über 800 militante Mitglieder der OLF inhaftiert (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Der Regierung geht es nach aktueller Auskunftslage mit ihren Einsätzen vor allem darum, bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden sowie bestehende Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien zu bekämpfen und durch hohe Präsenz von Regierungstruppen und Sicherheitskräften und gegebenenfalls durch militärisches Eingreifen die Lage zu beruhigen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9; BFA Länderinformationsblatt S. 11, 15; BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Auch insoweit handelt es sich aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen oppositionelle Oromo, sondern um die Ahndung kriminellen Unrechts und die Abwehr allgemeiner Gefahren.

2.2.4 Auch für die Annahme des Klägers, nur prominente Oppositionspolitiker würden vom Staat verschont, unbekannte Personen, die sich gegen die Politik der regierenden EPRDF gestellt hätten oder stellten, seien hingegen weiterhin von Verfolgung bedroht, gibt es keine Anhaltpunkte. Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed weiterhin zahlreiche Personen ohne Anklage in Haft verblieben sind (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 6, 9), nicht die Annahme, dass Rückkehrer aus dem Exil mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, zumal nach Angaben eines nationalen Beobachters eine Reihe von Gefangenen schlichtweg „vergessen wurde“ (vgl. The Danish Immigration Service S. 13 f.). Darüber hinaus spricht auch der generelle Erlass des Amnestiegesetzes gegen die Annahme, nur herausgehobene politische Gegner könnten hiervon betroffen sein. Schließlich sind keine Fälle bekannt, in denen zurückgekehrte Äthiopier, die in Deutschland exilpolitisch tätig waren, wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit durch die äthiopischen Behörden inhaftiert oder misshandelt wurden (vgl. AA, Stellungnahme vom 14.6.018 S. 4; AA, Ad-hoc-Bericht S. 25).

IV.

Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes in Deutschland zu.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

1. Dass dem Kläger bei seiner Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht er selbst nicht geltend.

2. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass dem Kläger in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (zu diesem Erfordernis vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 54 ff. m.w.N.).

3. Schließlich steht dem Kläger auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu.

Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (zum Ganzen vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.)

Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG beim Kläger, der keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Konflikte zwischen Ethnien, wie sie etwa in der Südregion von Gambella oder im Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali vorkommen, oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen, insbesondere Ogaden, haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 20). Jedenfalls lässt sich für die äthiopische Hauptstadt, wo sich der Kläger die letzten zwei bis drei Jahre bis zu seiner Ausreise aufgehalten hat (vgl. S. 250 f. der Erstverfahrensakte), nicht feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson im Fall einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Das Gleiche gilt für die Stadt Ambo, in der der Kläger aufgewachsen ist.

V.

Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.

1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen ist nicht gegeben.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 9). Sind Armut und staatliche Mittel ursächlich für schlechte humanitäre Bedingungen, kann dies nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. EGMR, U. v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f.; BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Leitsatz 3 und Rn. 23; VGH BW, U. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.).

Dass sich der Kläger in einer derartigen besonders gravierenden Lage befände, macht er weder geltend noch ist dies sonst ersichtlich. Zwar ist Äthiopien bei etwa 92,7 Millionen Einwohnern mit einem jährlichen Brutto-National-Einkommen von etwa 927 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder der Welt. Auch wenn das Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren wesentlich über dem regionalen und internationalen Durchschnitt lag, lebt ein signifikanter Teil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze. Derzeit leiden fast 8 Millionen Menschen an einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung und benötigen humanitäre Hilfe. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, die durch die Schwäche des modernen Wirtschaftssektors und die anhaltend hohe Zuwanderung aus dem ländlichen Raum verstärkt wird (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 33 f.).

Trotz dieser schwierigen Bedingungen ist aber nicht ersichtlich, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Äthiopien nicht bestreiten könnte. Er ist 29 Jahre alt, gesund, arbeitsfähig und hat eine Schulausbildung. In Deutschland ist er seit 2013 erwerbstätig und hat hieraus zuletzt einen Bruttoarbeitslohn von monatlich ca. 1.770 Euro erwirtschaftet. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass er über das für eine (bescheidene) Existenzgründung in Äthiopien notwendige Startkapital verfügt. Unter Zugrundelegung dieser Umstände ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

2. Ebenso wenig besteht wegen der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK - zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.

Nach diesen Maßstäben ist beim Kläger ein nationales Abschiebungsverbot im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend (vgl. oben V.1).

VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die nach eigenen Angaben am ... Juli 1988 in W. geborene Klägerin ist äthiopische Staatsangehörige vom Volke der Gurage. Sie gab an, am 12. Januar 2013 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein. Am 16. Januar 2013 stellte sie einen Asylantrag.

Bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 8. April 2014 gab die Klägerin an, ihr Vater habe sich für die EPPF engagiert und sei von der Polizei festgenommen worden. Zur Finanzierung ihres eigenen Lebensunterhalts habe sie verschiedene Schreibtätigkeiten ausgeübt. Dabei habe sie unter anderem auch politische Schriftstücke auf ihrem Computer geschrieben oder kopiert und weitergegeben. Am 15. September 2012 sei sie von einem Freund ihres Vaters informiert worden, dass ihr Laden aufgebrochen und durchsucht worden sei. Sie sei daraufhin nicht nach Hause, sondern zu einer Kirche gelaufen. Am nächsten Morgen habe ihre Mutter ihr erzählt, dass Leute nach ihr gefragt hätten. Die Klägerin habe sich daraufhin vier Monate bei Freunden in Gurage versteckt und sei dann mithilfe eines Schleppers ausgereist.

In Deutschland sei sie exilpolitisch tätig. Seit dem 9. Februar 2013 sei sie Mitglied bei EPCOU und seit dem 1. Januar 2014 Mitglied der EPPF Germany. Sie nehme regelmäßig an Versammlungen und Demonstrationen dieser Organisationen teil. Zudem sei sie seit dem 14. September 2013 für EPCOU als Head of Media and Communication tätig sowie Executive Editor of M1. Magazine, eine Zeitschrift der EPCOU. In dieser Zeitschrift sowie in zwei anderen habe sie unter namentlicher Nennung auch Artikel veröffentlicht. Bei der EPPF Gemany sei sie Deputy Editor of Netsanet Le Ethiopia Radio und betätige sich bei diesem Internetradio auch als Nachrichtensprecherin.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2), erkannte die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung und im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls werde sie nach Äthiopien abgeschoben (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Der Sachvortrag der Klägerin reiche nicht aus, um eine Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen. Die Klägerin habe keine plausiblen Angaben zur Gefährdung ihrer Person machen können. Auch der Verfolgungsakteur sei von der Klägerin nicht konkretisiert worden. Sie habe während der Anhörung immer wieder von Leuten erzählt, die ihren Laden durchsucht und ihre Mutter besucht hätten. Es sei nicht nachvollziehbar, ob es sich bei den Verfolgern um private oder staatliche Personen gehandelt habe. Ferne führe das Vorbringen der Klägerin, sie sei Mitglied der EPPF und EPCOU in Deutschland, ebenso wenig wie die exilpolitische Betätigung der Klägerin zu einem Anspruch auf Flüchtlingsschutz oder Asyl. Im Falle der Klägerin bewege sich die exilpolitische Tätigkeit in dem Rahmen, den äthiopische Asylbewerber regelmäßig ausfüllten. Ihre vorgetragene Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen in Deutschland sowie Veröffentlichungen von Artikeln seien nicht geeignet, eine andere Entscheidung herbeizuführen. Die Klägerin sei allenfalls als politische Mitläuferin einzuschätzen. Sonstige Hinweise dafür, dass ihr Verhalten als gegen die äthiopische Regierung gerichtet aufgefasst werden könne und ihr daher Verfolgung drohe, seien nicht ersichtlich. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes oder Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.

Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgerichts Würzburg mit Urteil vom 29. April 2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden könne, da ihr Vorbringen nicht glaubhaft sei. Die Darstellung ihres individuellen Verfolgungsschicksals sei in wesentlichen Punkten oberflächlich, widersprüchlich und in sich unstimmig. Damit sei das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin in Äthiopien keiner politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeiten drohten der Klägerin ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen der äthiopischen Sicherheitskräfte. Zwar habe sie nachgewiesen, Mitglied der EPPFG und der EPCOU zu sein, diverse Versammlungen und Demonstrationen dieser Organisationen zu besuchen und Texte in Exilzeitschriften veröffentlicht zu haben. Auch sei sie in verschiedenen Funktionen bei diesen Organisationen tätig. Dennoch erweise sich die Klägerin nicht als exilpolitisch exponierte Person. Aufgrund ihrer Angaben zur ihren politischen Aktivitäten in der mündlichen Verhandlung zeige sich die Klägerin als weitgehend unpolitischer Mensch, der sich trotz der vorgetragenen exilpolitischen Aktivitäten dem äthiopischen Staat nicht als ernst zu nehmende Regimegegnerin gegenüberstehe. Die exilpolitischen Tätigkeiten der Klägerin bewegten sich vielmehr in dem Rahmen, den äthiopische Asylbewerber nach den Erkenntnissen des Gerichts regelmäßig ausfüllten. Die Angaben der Klägerin ließen nicht darauf schließen, dass es sich bei ihren Posten und Tätigkeiten um real ausgefüllte Funktionen mit echtem politischem Profil jenseits einfacher Verwaltungs-, Koordinations- und Layout-Aufgaben handele. In ihrer Funktion als Bayer Media and communication head der EDFM sei die Klägerin bislang nicht oder jedenfalls kaum nach außen in Erscheinung getreten. Angesichts der inzwischen massenhaft stattfindenden exilpolitischen Veranstaltungen vermöge ihr all dies auch in der Gesamtschau keine exponierte Stellung im Vergleich zu anderen äthiopischen Asylsuchenden zu verschaffen. Nichts anderes gelte im Hinblick auf die Tätigkeit der Klägerin als Executive Editor eine exilpolitischen Zeitung bzw. bezüglich der Veröffentlichung eigener Beiträge in dieser Zeitschrift. In diesem Gesamtkontext begründe auch die Tätigkeit der Klägerin beim Radio keine exponierte Stellung der Klägerin. Soweit die Klägerin subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG und die Feststellung von Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehre, sei die Klage ebenfalls nicht begründet.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer durch Beschluss des Senats vom 31. Januar 2018 (Az. 8 ZB 16.30118) wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Berufung. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vorverfolgt ausgereist zu sein. Jedenfalls drohe ihr aufgrund ihrer vielfältigen exilpolitischen Aktivitäten eine Verfolgung in ihrem Heimatland. Insoweit werde unter Vorlage von Nachweisen zur Betätigung bei der EDFM auf die bereits im Vor- als auch im Klageverfahren vorgelegten Nachweise zu den weiteren Tätigkeiten verwiesen. Das Verwaltungsgericht habe in seinem angefochtenen Urteil die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Gefährdung der Klägerin aufgrund ihrer langjährigen und umfangreichen exilpolitischen Aktivitäten vollkommen verkannt. Ungeachtet der Streichung von OLF, Ginbot7 und ONLF von der Terrorliste sei es noch zu keiner vollständigen Änderung bei der Verfolgung Oppositioneller gekommen. Tausende politische Gefangene befänden sich weiter in Haft; im September 2018 sei es wieder zu Massenverhaftungen gekommen. Die positiven Veränderungen unter Abiy Ahmed bzw. dessen Handlungen seien in der EPRDF äußerst umstritten. Das Nachgeben Abiy Ahmeds gegenüber der Opposition habe der nicht mehr beherrschbaren Situation in Äthiopien gegolten, ohne dass dieser zu einem vollständigen Umdenken in der EPRDF und insbesondere der TPLF geführt habe. Die Amnestieregelung sei hier nicht relevant, weil die sechsmonatige Antragsfrist inzwischen abgelaufen sei. Mit Blick auf ihren am 29. Mai 2016 geborenen Sohn sei zumindest festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Die Klägerin werde bei einer Rückkehr nach Äthiopien keine Möglichkeit haben, eine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit zu erlangen sowie ihrem Sohn eine kindgerechte Versorgung zu gewährleisten. Ein familiäres Netzwerk sei eine wichtige Vorbedingung dafür, dass eine unverheiratete Äthiopierin ein eigenes Leben aufbauen und für sich selbst sorgen könne. Äthiopische Frauen hätten im Verhältnis zu äthiopischen Männern immer noch ein dreifaches Risiko einer Arbeitslosigkeit.

Die Klägerin beantragt,

I.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. April 2016 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 1. Februar 2016 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;

hilfsweise festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Durch Beschluss vom 26. März 2018 hat der Senat zu verschiedenen Fragen Beweis erhoben durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtiges Amt bzw. eines schriftlichen Gutachtens von Amnesty International, des GIGA-Instituts für Afrika-Studien und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, unter anderem zu der Frage, ob nach der aktuellen innenpolitischen Lage in Äthiopien äthiopischen Staatsangehörigen, allein weil sie (einfaches) Mitglied einer in Deutschland exilpolitisch tätigen, von der äthiopischen Regierung als Terrororganisation eingestuften oder einer ihr nahestehenden Organisation sind, ohne in dieser Organisation eine herausgehobene Stellung innezuhaben, bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien von staatlicher Seite schwere physische oder psychische Misshandlungen oder Haft auf bestimmte oder unbestimmte Zeit drohen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Ablehnung der in der Berufungsinstanz noch geltend gemachten Ansprüche im Bescheid des Bundesamts vom 1. Februar 2016 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Es kann offen bleiben, ob der Klägerin die Ansprüche im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung zustanden. Die Klägerin hat jedenfalls in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. I.) noch auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. II.). Auch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (vgl. unten Ziff. III.) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. unten Ziff. IV.) steht der Klägerin nicht zu.

I.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten - hier nicht einschlägigen - besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 S. 9 - im Folgenden: RL 2011/95/EU) umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 11). Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind unter anderem gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).

Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 = juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - DVBl 2008, 1255 = juris Rn. 37).

2. Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Infolge des den in das Berufungsverfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zu entnehmenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse seit April 2018 und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle in Äthiopien kann im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder angenommen werden, dass der Klägerin aufgrund der behaupteten früheren Ereignisse in Äthiopien (vgl. dazu unten a) noch infolge ihrer exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland (vgl. dazu unten b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

a) Es kann offen bleiben, ob die Klägerin vor ihrer Ausreise aus Äthiopien im Jahr 2013 aufgrund der Geschehnisse, die sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt geschildert hat, bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob sie deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu ihren Gunsten annimmt, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung, sodass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG nicht greift. Dies ergibt sich aus Folgendem:

aa) Die politische Situation in Äthiopien hat sich für Regierungsgegner und Oppositionelle bereits seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Anfang des Jahres kündigte der damalige Premierminister Heilemariam Desalegn nach zweijährigen andauernden Protesten Reformmaßnahmen und die Freilassung von politischen Gefangenen an. Am 15. Februar 2018 gab er bekannt, sein Amt als Regierungschef und Parteivorsitzender der regierenden EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Democratic Front) niederzulegen, um den Weg für Reformen freizumachen. Dennoch verhängte die äthiopische Regierung am 16. Februar 2018 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand mit der Begründung, Proteste und Unruhen verhindern zu wollen. Nachdem der Rat der EPRDF, die sich aus den vier regionalen Parteien TPLF (Tigray People's Liberation Front), ANDM (Amhara National Democratic Movement), OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation) und SEPDM (Southern Ethiopian Peoples’ Democratic Movement) zusammensetzt, Abiy Ahmed mit 108 von 180 Stimmen zum Premierminister gewählt hatte (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Aktuell von Juni 2018, „Abiy Superstar - Reformer oder Revolutionär“ [im Folgenden: SWP-Aktuell von Juni 2018]; Ministry of Immigration and Integration, The Danish Immigration Service, Ethiopia: Political situation and treatment of opposition, September 2018, Deutsche (Teil)-Übersetzung [im Folgenden: The Danish Immigration Service] S. 11), wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt. Zwar kommt Abiy Ahmed ebenfalls aus dem Regierungsbündnis der EPRDF, ist aber der Erste in diesem Amt, der in Äthiopien der Ethnie der Oromo angehört (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 11.7.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 [im Folgenden: Schweizerische Flüchtlingshilfe] S. 5).

Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Die bisher einflussreiche TPLF, die zentrale Stellen des Machtapparates und der Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hatte (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018 [im Folgenden: AA, Ad-hoc-Bericht] S. 8), stellt nur noch zwei Minister (vgl. SWP-Aktuell von Juni 2018). Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1; „Focus Äthiopien - Der politische Umbruch 2018“ vom 16. Januar 2019 der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Staatssekretariat für Migration SEM [im Folgenden: SEM] S. 8 f). Die renommierte Menschenrechtsanwältin Meaza Ashenafi wurde zur ranghöchsten Richterin des Landes ernannt (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Äthiopien vom 8.1.2019 [im Folgenden: BFA Länderinformationsblatt] S. 6; SEM S. 7). Am 5. Juni 2018 wurde der am 16. Februar 2018 verhängte sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen und Oppositionsparteien eingeladen, aus dem Exil zurückzukehren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 5 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 10; SEM S. 6).

Gerade auch für (frühere) Oppositionelle hat sich die Situation deutlich und mit asylrechtlicher Relevanz verbessert. Bereits unmittelbar nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 wurde das berüchtigte „Maekelawi-Gefängnis“ in Addis Abeba geschlossen, in dem offenbar insbesondere auch aus politischen Gründen verhaftete Gefangene verhört worden waren (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14; BFA Länderinformationsblatt S. 24; AA, Ad-hoc-Bericht S. 17). Im August 2018 wurde auch das bis dahin für Folter berüchtigte „Jail Ogaden“ in der Region Somali geschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24 f.). In der ersten Jahreshälfte 2018 sind ca. 25.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden. Seit Anfang des Jahres sind über 7.000 politische Gefangene freigelassen worden, darunter führende Oppositionspolitiker wie der Oppositionsführer der Region Oromia, Merera Gudina, und sein Stellvertreter Bekele Gerba (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9 f.), weiterhin der Anführer von Ginbot7, Berghane Nega, der unter dem früheren Regime zum Tode verurteilt worden war, und der Kommandant der ONLF, Abdikarim Muse Qalbi Dhagah (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 6). Am 26. Mai 2018 wurde Andargachew Tsige, ein Führungsmitglied von Ginbot7, begnadigt, der sich kurz nach seiner Entlassung öffentlichwirksam mit Premierminister Abiy Ahmed getroffen hatte (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 10). Neben führenden Politikern befinden sich unter den Freigelassenen auch Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (The Danish Immigration Service S. 13).

Am 20. Juli 2018 wurde zudem ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019 [im Folgenden: AA, Stellungnahme vom 7.2.2019]; AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; The Danish Immigration Service S. 14).

Weiterhin wurde am 5. Juli 2018 die Einstufung der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7 (auch Patriotic Ginbot7 oder PG7), OLF und ONLF (Ogaden National Liberation Front) als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019; AA, Ad-hoc-Bericht S. 18 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; SEM S. 15; VG Bayreuth, U. v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 44 m.w.N.). Daraufhin sind sowohl Vertreter der OLF (Jawar Mohammed) als auch der Ginbot7 (Andargachew Tsige) aus der Diaspora nach Äthiopien zurückgekehrt (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; SEM S. 17, 19). Nach einem Treffen des Gründers und Vorsitzenden der Ginbot7 (Berhanu Nega) mit Premierminister Abiy Ahmed im Mai 2018 hat die Ginbot7 der Gewalt abgeschworen (SEM S. 17). Die ONLF verkündete am 12. August 2018 einen einseitigen Waffenstillstand und unterzeichnete am 21. Oktober 2018 ein Friedensabkommen mit der äthiopischen Regierung (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 22; SEM S. 24 f.). 1.700 Rebellen der ONLF in Äthiopien haben inzwischen ihre Waffen niedergelegt (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 9.2.2019 „Separatisten in Äthiopien legen Waffen nieder“). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Asmara (Eritrea) ein Versöhnungsabkommen. Am 15. September 2018 wurde in Addis Abeba die Rückkehr der OLF unter der Führung von Dawud Ibsa gefeiert. Die Führung der OLF kündigte an, nach einer Aussöhnung mit der Regierung fortan einen friedlichen Kampf für Reformen führen zu wollen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 17.9.2018 - Äthiopien; SEM S. 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). In den vergangenen sechs Monaten sind verschiedene herausgehobene äthiopische Exilpolitiker nach Äthiopien zurückgekehrt, die nunmehr teilweise aktive Rollen im politischen Geschehen haben (vgl. AA, Stellungahme vom 7.2.2019). So wurde etwa die Oppositionspolitikerin Birtukan Mideksa, die Anfang November 2018 nach sieben Jahren Exil in den Vereinigten Staaten zurückkehrte, am 23. November 2018 zur Vorsitzenden der nationalen Wahlkommission gewählt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 23; SEM S. 7).

Schließlich wurden Verbote für soziale Medien aufgehoben. Im Juni 2018 hat die Regierung beschlossen, eine Reihe von Webseiten, Blogs, Radio- und TV-Sendern zu entsperren, die für die Bevölkerung vorher nicht zugänglich gewesen sind. Dies betraf nach Bericht eines nationalen Beobachters auch die beiden in der Diaspora angesiedelten TV-Sender ESAT und OMN (vgl. The Danish Immigration Service S. 12); die Anklage gegen den Leiter des OMN, Jawar Mohammed, wurde fallengelassen (vgl. BFA Länderinformationsblatt, S. 22).

Unter Zugrundelegung dieser positiven Entwicklungen ist nicht anzunehmen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der von ihr angegebenen früheren oppositionellen Tätigkeit noch Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin für den Fall einer früheren eigenen Unterstützung der EPPF (Ethiopian People’s Patriotic Front) durch das Kopieren, Schreiben und die Weitergabe politischer Schriftstücke oder infolge der vorgetragenen Unterstützung der EPPF durch ihren Vater in Äthiopien verfolgt werden könnte. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die EPPF der Ginbot7 nahesteht (der Armeeflügel der EPPF wurde 2006 mit Ginbot7 verschmolzen, vgl. AA, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 2; im Jahr 2015 haben sich Ginbot7 und EPPF zum Bündnis „Arbegnoch - Ginbot7 for Unity and Democracy Movement (AGUDM)“ zusammengeschlossen, vgl. GIGA - Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien, Stellungnahme vom 19.5.2018 an den Verwaltungsgerichtshof S. 5) und die Ginbot7 von der Terrorliste gestrichen wurde, tausende von politischen Gefangenen freigelassen wurden und in den vergangenen Monaten sogar ehemals führende Oppositionspolitiker unbehelligt nach Äthiopien zurückgekehrt sind, spricht alles dafür, dass auch die Klägerin trotz einer eventuellen früheren Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr keiner der in § 3a AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen (mehr) ausgesetzt sein wird.

bb) Zwar haben die Reformbestrebungen des neuen Premierministers auch Rückschläge erlitten. So ist es in Äthiopien in den vergangenen Monaten mehrfach zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Bevölkerung gekommen. Auch leidet das Land mehr denn je unter ethnischen Konflikten (vgl. The Danish Immigration Service S. 11). Am 15. September 2018 kam es nach Rückkehr der Führung der OLF zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten verschiedener Lager sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Zu weiteren Todesopfern kam es, als tausende Menschen gegen diese Gewaltwelle protestierten (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8, 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7). Bei einer Demonstration gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich der ethnisch motivierten Zusammenstöße im ganzen Land vertrieb die Polizei die Demonstranten gewaltsam und erschoss dabei fünf Personen. Insgesamt 28 Menschen fanden bei den Zusammenstößen angeblich den Tod. Kurz darauf wurden mehr als 3.000 junge Personen festgenommen, davon 1.200 wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration gegen ethnische Gewalt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7), die laut Angaben der Polizei nach „Resozialisierungstrainings“ allerdings wieder entlassen wurden (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; SEM S. 20). Auch soll die äthiopische Luftwaffe bei Angriffen im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 sieben Zivilisten getötet haben. Die Regierung räumte hierzu ein, Soldaten in die Region verlegt zu haben, warf der OLF aber kriminelle Handlungen vor. Mit einer Militäroffensive sollte die Lage wieder stabilisiert werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien; vgl. auch SEM S. 21 f.).

Auch in den Regionen sind Gewaltkonflikte nach wie vor nicht unter Kontrolle (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6 f.; SEM S. 30 ff.). In den Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray werden immer mehr Menschen durch Gewalt vertrieben. Aufgrund der Ende September 2018 in der Region Benishangul Gumuz einsetzenden Gewalt wurden schätzungsweise 240.000 Menschen vertrieben (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8 f.). Rund um den Grenzübergang Moyale kam es mehrfach, zuletzt Mitte Dezember 2018, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen der Somali- und Oromia-Region sowie den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Über 200.000 Menschen sind seit Juli 2018 vor ethnischen Konflikten in der Somali-Region geflohen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 9 f.). Auch in der Region Benishangul Gumuz sind bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden aktiv und es bestehen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien, welche regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Trotz des Einsatzes von Sicherheitskräften des Bundes zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Ebenso gibt es an der Grenze zwischen der Region Oromia und der SNNPR bewaffnete Auseinandersetzungen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien deswegen allein in der ersten Jahreshälfte 2018 auf etwa 1,4 Millionen Menschen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“).

Bei diesen Ereignissen handelt es sich nach Überzeugung des Senats auf der Grundlage der angeführten Erkenntnismittel aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes bzw. um Geschehnisse, die sich nicht als Ausdruck willentlicher und zielgerichteter staatlicher Rechtsverletzungen, sondern als Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder als Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen darstellen. Dies zeigt etwa auch die Tatsache, dass das äthiopische Parlament am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet hat, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20). Am 20. Dezember 2018 hat das äthiopische Repräsentantenhaus als Reaktion auf die ethnischen Konflikte zudem beschlossen, auf Bundesebene eine Kommission für Verwaltungsgrenzen und Identitätsfragen zu schaffen (vgl. SEM S. 32 f.).

cc) Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, die Situation in Äthiopien sei trotz des politischen Umbruchs noch nicht stabil, ist dies tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Dem kommt nach Auffassung des Senats aber asylrechtlich keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Der Klägerin ist zuzugestehen, dass trotz der tiefgreifenden Veränderungen in Äthiopien seit der Machtübernahme von Premierminister Abiy Ahmed die Verhältnisse noch nicht als gefestigt gewertet werden können. Dafür dürfte vor allem der Umstand sprechen, dass sich nach dem Machtantritt des neuen Premierministers, der vor allem mit den Stimmen aus Oromia und Amhara, aber gegen die Stimmen der Tigray und der Vertreter der Region der südlichen Nationen gewählt wurde, die Spannungen zwischen der regierenden EPRDF, die bislang von der Ethnie ihrer Gründungsgruppe TPLF dominiert wurde, welche die Tigray repräsentiert, und der Region Tigray in jüngster Zeit verschärft haben, offenbar nachdem die Regierung gegen Mitglieder der TPLF vorgegangen war. Als Folge der veränderten Machtverhältnisse innerhalb der Führung der EPDRF sind neue Formen der ethnisch motivierten Gewalt aufgetreten (vgl. The Danish Immigration Service S. 9, 11; SEM S. 8 ff., 26), die vor allem in den Regionen nach wie vor nicht unter Kontrolle sind. Hierdurch ist die Zahl der Binnenflüchtlinge erheblich gestiegen und die Gefahr einer Teilung des Landes bleibt nicht ausgeschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 7; Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“). Auch auf Premierminister Abiy Ahmed selbst wurde bereits ein Anschlag verübt (nordbayern.de vom 18.11.2018 „Für eine Rückkehr nach Äthiopien ist es viel zu früh“; vgl. SWP-Aktuell Nr. 32 von Juni 2018, „Abiy-Superstar - Reformer oder Revolutionär“) und gegen ihn ein Putschversuch unternommen (vgl. SEM S. 29).

Für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, ist es aber nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind. Soweit in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung - ohne genauere Auseinandersetzung mit der insoweit einschlägigen Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU - die Auffassung vertreten wird, dass die nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU maßgebenden stichhaltigen Gründe keine anderen Gründe sein könnten als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU maßgebend sind (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 29 Rn. 58; VGH BW, U.v. 27.8.2014 - A 11 S 1128/14 - Asylmagazin 2014, 389 = juris Rn. 34; U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 35; U.v. 30.5.2017 - A 9 S 991/15 - juris Rn. 28), vermag dem der Senat nicht zu folgen. Anders als im Rahmen der Prüfung eines nachträglichen Grundes für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU, bei der nach Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu untersuchen ist, ob die Veränderung der Umstände, aufgrund derer ein Drittstaatangehöriger oder ein Staatenloser als Flüchtling anerkannt wurde, erheblich und nicht nur vorübergehend ist, sieht die Regelung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU eine solche Untersuchung nicht vor.

Eine entsprechende Heranziehung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU im Rahmen der Prüfung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU scheidet nach Auffassung des Senats aus, weil die Sach- und Interessenlage in beiden Fällen nicht vergleichbar ist. Während es im Rahmen des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nämlich um eine Beweiserleichterung für die erstmalige Anerkennung eines Asylsuchenden als Flüchtling geht, betrifft Art. 11 RL 2011/95/EU, der seine Umsetzung in den §§ 72 ff. AsylG erfahren hat, die Beendigung und das Erlöschen des Flüchtlingsstatus nach einer bereits erfolgten Anerkennung. Im letzteren Fall hat der Betroffene also bereits einen gesicherten Rechtsstatus erhalten, der ihm nach dem Willen des Richtliniengebers aus Gründen des Vertrauensschutzes nur unter engen Voraussetzungen wieder entzogen können werden soll (vgl. zur gleichlautenden (Vorgänger-)Regelung des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates, KOM(2001) 510 endgültig, S. 26 f., wonach „der Mitgliedstaat, der sich auf die Beendigungsklausel beruft, sicherstellen muss, dass Personen, die das Land aus zwingenden, auf früheren Verfolgungen oder dem Erleiden eines ernsthaften nicht gerechtfertigten Schadens beruhenden Gründen nicht verlassen wollen, ein angemessener Status zuerkannt wird und sie die erworbenen Rechte behalten“; vgl. auch zum Erlöschen des subsidiären Schutzes nach Art. 16 RL 2011/95/EU die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 24.1.2019 zur Rechtssache C-720/17, wonach „nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Veränderung so wesentlich und nicht nur vorübergehend sein muss, dass zuerkannte Status nicht ständig in Frage gestellt werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland der Begünstigten kurzfristig ändert, was diesen die Stabilität ihrer Situation garantiert“). An einem entsprechenden Vertrauensschutz fehlt es, wenn ein Kläger sein Heimatland zwar vorverfolgt im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU verlassen hat, ihm jedoch noch kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem von der zitierten Rechtsprechung und Literatur in Bezug genommenen Urteil des EuGH vom 2. März 2010 (Az. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdullah) entnehmen, zumal auch diese Entscheidung lediglich das Erlöschen des Flüchtlingsstatus betrifft.

b) Ebenso wenig ergibt sich nach aktueller Auskunftslage die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund von Umständen nach der Ausreise der Klägerin aus Äthiopien (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG). Insbesondere ist die exilpolitische Betätigung der Klägerin in Deutschland für die der Ginbot7 nahestehenden EPPFG bzw. der Nachfolgeorganisation EDFM (Ethiopian Democratic Forces Movement) infolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nicht (mehr) geeignet, eine derartige Furcht zu begründen.

Insoweit gelten die obigen Ausführungen (vgl. unter Rn.27 ff.) entsprechend. Aufgrund der jüngsten gesetzlichen Regelungen und der Maßnahmen der Regierung unter Führung von Premierminister Abiy Ahmed, insbesondere der Streichung der Ginbot7 von der Terrorliste und der Rückkehr namhafter Exilpolitiker, kann nicht (mehr) angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit, etwa weil sie - wie die Klägerin - (einfaches) Mitglied der EPCOU (Ethiopian Political and Civil Organization Union) sowie der EPPFG bzw. EDFM sind oder waren oder weil sie diese Organisation durch die Teilnahme an Demonstrationen oder Versammlungen oder andere Aktivitäten wie etwa als Editor, Bayer Media and Communication Head oder Nachrichtensprecherin oder auch durch regierungskritische Äußerungen oder Veröffentlichungen in exilpolitischen Zeitschriften oder sonstigen Medien unterstützt haben, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (vgl. ebenso VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 48; VG Regensburg, U.v. 13.11.2018 - RO 2 K 17.32132 - juris Leitsatz und Rn. 34; VG Düsseldorf, U.v. 13.12.2018 - 6 K 4004/17.A - juris Rn. 54). Dies bestätigt auch die Einschätzung des Auswärtigen Amts, wonach aktuell nicht davon auszugehen ist, dass eine (einfache) Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist, bzw. in einer ihr nahestehenden Organisation bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019 S. 2). Ähnlich äußerte sich ein Vertreter der Britischen Botschaft, nach dessen Einschätzung es Mitgliedern der Diaspora, die sich entscheiden, nach Äthiopien zurückzukehren, erlaubt ist, sich wieder als Bürger in die Gesellschaft zu integrieren und etwa auch Privatunternehmen zu gründen (vgl. The Danish Immigration Service S. 19). Hinzukommt, dass nach eigener Darstellung der Klägerin die Organisationen, für welche sie in Deutschland tätig war, seit etwa einem Jahr ihre Aktivitäten eingestellt haben, um den Wandel und den neuen Premierminister Abiy Ahmed zu unterstützen (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift vom 12.3.2019).

Abgesehen davon begründet infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 allein die Tatsache, dass sich äthiopische Asylbewerber in Deutschland exponiert (vgl. zu diesem Kriterium BayVGH, B.v. 14.11.2017 - 21 ZB 17.31340 - juris Rn. 2; B.v. 14.7.2015 - 21 ZB 15.30119 - juris Rn. 5; U.v. 25.2.2008 - 21 B 07.30363 - juris Rn. 16) exilpolitisch betätigt haben, grundsätzlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgungsgefahr; eine Rückkehrgefährdung erscheint auf Basis der aktuellen Auskunftslage allenfalls noch in besonders gelagerten Ausnahmefällen denkbar (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 - 8 B 18.30257 - noch nicht veröffentlicht; ebenso VG Bayreuth, U.v. 5.9.2018 - B 7 K 17.33349 - juris Rn. 64; ähnlich VG Regensburg, B.v. 19.6.2018 - RO 2 E 18.31617 - juris Rn. 25; VG Ansbach, B.v. 11.10.2018 - AN 3 E 18.31175 - juris Rn. 36). Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch belegt, dass inzwischen namhafte Vertreter der äthiopischen Exilopposition der Einladung des neuen Premierministers gefolgt und zurückgekehrt sind, um sich am politischen Diskurs in Äthiopien zu beteiligen (vgl. The Danish Immigration Service S. 5; BFA Länderinformationsblatt S. 5; SEM S. 15; vgl. eingehend hierzu oben Rn. 31).

Auch der Hinweis der Klägerin auf regionale (ethnische) Konflikte rechtfertigt keine andere Einschätzung. Dass es in letzter Zeit nach ethnischen Auseinandersetzungen zu gewalttätigen Zusammenstößen von Oppositionsgruppen mit der Regierung gekommen ist (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien), liegt nach der Überzeugung das Bestreben der Regierung zugrunde, bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden sowie bestehende Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien zu bekämpfen und durch hohe Präsenz von Regierungstruppen und Sicherheitskräften und gegebenenfalls durch militärisches Eingreifen die Lage zu beruhigen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9; BFA Länderinformationsblatt S. 11, 15; BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Insoweit handelt es sich nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle, sondern um die Ahndung kriminellen Unrechts und die Abwehr allgemeiner Gefahren.

Für die Annahme der Klägerin, nur prominente Oppositionspolitiker würden vom Staat verschont, unbekannte Personen, die sich gegen die Politik der regierenden EPRDF gestellt hätten oder stellten, seien hingegen weiterhin von Verfolgung bedroht, gibt es ebenfalls keine Anhaltpunkte. Insbesondere rechtfertigt der Umstand, dass nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed weiterhin zahlreiche Personen ohne Anklage in Haft verblieben sind (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 6, 9), nicht die Annahme, dass Rückkehrer aus dem Exil mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, zumal nach Angaben eines nationalen Beobachters eine Reihe von Gefangenen schlichtweg „vergessen wurde“ (vgl. The Danish Immigration Service S. 13 f.). Darüber hinaus spricht auch der generelle Erlass des Amnestiegesetzes gegen die Annahme, nur herausgehobene politische Gegner könnten hiervon betroffen sein. Schließlich sind keine Fälle bekannt, in denen zurückgekehrte Äthiopier, die in Deutschland exilpolitisch tätig waren, wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit durch die äthiopischen Behörden inhaftiert oder misshandelt wurden (vgl. AA, Stellungnahme vom 14.6.2018 S. 4; AA, Ad-hoc-Bericht S. 25). Auch wenn die sechsmonatige Frist zur Beantragung der Amnestie inzwischen abgelaufen ist, worauf die Klägerin hinweist, ist angesichts des unter Abiy Ahmed eingeleiteten Dialogs zur Rückkehr und zum Dialog von Oppositionsangehörigen (vgl. oben unter I.2 a) aa)) grundsätzlich nicht mit Verfolgungsmaßnahmen gegen im Ausland exilpolitisch tätig gewordenen Asylbewerbern zu rechnen.

c) Angesichts der in das Verfahren eingeführten und aufgrund des Beweisbeschlusses vom 26. März 2018 eingeholten Erkenntnisquellen (insbesondere AA, Auskünfte vom 7.2.2019 an den Verwaltungsgerichtshof bzw. das Verwaltungsgericht Dresden und Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018, BFA Länderinformationsblatt vom 8.1.2018; The Danish Immigration Service, September 2018) verfügt der Senat über die erforderliche Sachkunde, ohne dass es der Einholung weiterer Sachverständigengutachten oder Auskünfte bedurfte (vgl. BVerwG, B.v. 27.3.2000 - 9 B 518.99 - NVwZ 2000, Beilage Nr. 9, 99 = juris Rn. 12; B.v. 11.2.1999 - 9 B 381.98 - DVBl 1999, 1206 = juris Rn. 4; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17 - juris Rn. 45). Dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bedingt gestellten Beweisantrag zu der behaupteten Tatsache, dass äthiopische Staatsangehörige, die in Deutschland für die EPPFG sowie die EDFMS politisch aktiv und dies gerade in einer Leitungsfunktion sind oder dies gewesen sind, im Falle ihrer Rückkehr nach Äthiopien aufgrund ihrer exilpolitischen Aktivitäten festgenommen, für unbestimmte Zeit in Haft gehalten wurden und werden und ihnen durch äthiopische Sicherheitskräfte Misshandlungen und Folterungen drohen, musste deshalb nicht entsprochen werden.

Die Klägerin hat zudem nicht substanziiert dargetan, dass die beantragte Beweiserhebung bessere oder andere Erkenntnisse bringen würde als die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Materialien (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2014 - 13a ZB 14.30073 - juris Rn. 8). Soweit sie sich darauf beruft, die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017 an den Verwaltungsgerichtshof sei widersprüchlich bzw. unzureichend, weil sie auf das Schreiben vom 14. Juni 2018 verweise, in dem es die Rückkehrgefährdung einfacher Mitlieder exilpolitischer Organisationen nicht abschließend bewertet habe und sich mit der Aussage des Ad-hoc-Berichts vom 17. Oktober 2018, der eine Rückkehrgefährdung dieser Personen für möglich halte, nicht auseinandersetze, kann dem nicht gefolgt werden. Die daraus gezogene Schlussfolgerung des Klägers, es sei nicht hinreichend geklärt, wie sich die Verfolgungssituation von Oppositionellen in Äthiopien aktuell darstelle, teilt der Senat nicht. Die Aussagekraft der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, es sei nicht davon auszugehen, dass eine (einfache) Mitgliedschaft einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist bzw. einer ihr nahestehenden Organisation, bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. S. 2 des Schreibens an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019) wird nicht dadurch geschmälert, dass sich die Auskunftsbehörde nicht ausdrücklich mit ihren früheren, hiervon teilweise abweichenden Einschätzungen, auseinandersetzt. Im Übrigen hat das Auswärtige Amt seine aktuelle Einschätzung in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Dresden vom 7. Februar 2019, die der Senat in der mündlichen Verhandlung ergänzend in das Verfahren eingeführt hat, bestätigt. Hiernach liegen dem Auswärtigen Amt, dessen Einschätzungen maßgeblich auf vor Ort gewonnenen Erkenntnissen der Auslandsvertretungen beruhen, keine Hinweise darauf vor, dass in jüngster Zeit Anhänger bzw. Unterstützer von der Terrorliste gestrichener oppositioneller Gruppierungen alleine aufgrund dieser Eigenschaft angeklagt oder angegriffen würden (vgl. S. 2 des Schreibens vom 7.2.2019 an das VG Dresden). Diese Bewertung steht auch im Einklang mit der Aussage des Dänischen Ministeriums für Immigration und Integration, wonach sich die Gesamtsituation für die Oppositionsparteien nach der Ernennung Abiy Ahmeds verbessert habe (vgl. The Danish Immigration Service S. 5); die letztgenannte Aussage beruht u.a. auf der Einschätzung der Britischen Botschaft, wonach Personen mit einer mutmaßlichen Verbindung zu Oppositionsgruppen nicht mehr festgenommen und die meisten politischen Gefangenen freigelassen würden (vgl. The Danish Immigration Service S. 23). Inwieweit die vom Kläger vorgelegte Veröffentlichung „Focus Äthiopien - Der politische Umbruch 2018“ vom 16. Januar 2019 der Schweizerischen Eidgenossenschaft diesen u.a. auf Botschaftsinformationen beruhenden Lagebewertungen entgegenstünde, hat der Kläger nicht substanziiert dargelegt. Im Übrigen geht auch dieser Bericht davon aus, dass viele Oppositionsparteien - darunter Ginbot7 (vgl. SEM S. 16 f.) - inzwischen entkriminalisiert sind (vgl. SEM S. 33).

Im Übrigen fehlt es an der Entscheidungserheblichkeit, soweit sich der bedingte Beweisantrag - in Abweichung von dem für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) - auf die Behauptung der Festnahme und Inhaftierung in der Vergangenheit bezieht („wurden“).

II.

Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht der Klägerin auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes in Deutschland zu.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

1. Dass der Klägerin bei ihrer Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht sie selbst nicht geltend.

2. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass der Klägerin in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (zu diesem Erfordernis vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 54 ff. m.w.N.).

3. Schließlich steht der Klägerin auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu.

Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (zum Ganzen vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.)

Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei der Klägerin, die keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Konflikte zwischen Ethnien, wie sie etwa in der Südregion von Gambella oder im Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali vorkommen, oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen, insbesondere Ogaden, haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 20). Jedenfalls lässt sich für die äthiopische Hauptstadt, wo sich die Klägerin zuletzt aufgehalten hat, bzw. für die Stadt Welkite, aus der sie stammt, nicht feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson im Fall einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

III.

Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund schlechter humanitärer Bedingungen liegen ebenfalls nicht vor.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 9). Sind Armut und staatliche Mittel ursächlich für schlechte humanitäre Bedingungen, kann dies nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. EGMR, U. v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f.; BVerwG U.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 9 unter Verweis auf BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Leitsatz 3 und Rn. 23; VGH BW, U. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.).

Dass sich die Klägerin in einer derartigen besonders gravierenden Lage befände, macht sie weder geltend noch ist dies sonst ersichtlich. Zwar ist Äthiopien bei etwa 92,7 Millionen Einwohnern mit einem jährlichen Brutto-National-Einkommen von etwa 927 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder der Welt. Auch wenn das Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren wesentlich über dem regionalen und internationalen Durchschnitt lag, lebt ein signifikanter Teil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze. Derzeit leiden fast 8 Millionen Menschen an einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung und benötigen humanitäre Hilfe. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, die durch die Schwäche des modernen Wirtschaftssektors und die anhaltend hohe Zuwanderung aus dem ländlichen Raum verstärkt wird (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 33 f.).

Trotz dieser schwierigen Bedingungen ist aber nicht ersichtlich, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt in Äthiopien nicht bestreiten könnte. Sie hat eine qualifizierte Schulausbildung von 12 Schuljahren genossen, ist 30 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig. Sie hat in Addis Abeba vor ihrer Ausreise in einem eigenen Büro entgeltliche Schreibtätigkeiten ausgeführt und macht derzeit in Deutschland eine Ausbildung im Bereich Mediengestaltung. Anhaltspunkte für eine fehlende Erwerbsmöglichkeit in Äthiopien, insbesondere in der Hauptstadt Addis Abeba, bestehen nicht. Unter Zugrundelegung dieser Umstände ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Dieser Beurteilung steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin als ledige Mutter eines Kleinkindes nach Äthiopien zurückkehren würde. Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Stuttgart vom 13. Juli 2017 ausgeführt, dass es möglich ist, dass eine alleinstehende Mutter in Äthiopien einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Auch nach Auskunftslage des BFA sind berufstätige Mütter in Addis Abeba an der Tagesordnung (Länderinformationsblatt S. 30). Da die Klägerin über eine gute Schulbildung sowie eine Berufsausbildung verfügt, hat sie im Vergleich zu anderen äthiopischen Frauen bessere Chancen auf eine Erwerbstätigkeit und ein höheres Gehalt, zumal beides nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes wie in Deutschland oft von Schul- bzw. Sekundarbildung abhängig ist (vgl. S. 1 des Schreibens vom 7.2.2019 an das VG Stuttgart). Im Übrigen leben nach ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift vom 12.3.2019) ihre alleinstehende Mutter, ihr Bruder sowie noch eine Tante väterlicherseits in Äthiopien. Die Klägerin verfügt damit zum einen über Betreuungsmöglichkeiten für ihren Sohn sowie zum anderen über ein familiäres Netzwerk vor Ort, welches auch nach ihren eigenem Vortrag eine wichtige Vorbedingung dafür ist, als unverheiratete Frau ein eigenes Leben aufzubauen und für sich selbst sorgen zu können.

Vor diesem Hintergrund drängt sich keine Beweiserhebung auf. Dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bedingt gestellten Beweisantrag zu der behaupteten Tatsache, dass es einer äthiopischen Staatsangehörigen mit einem nichtehelichen Kind ohne familiäre Unterstützung oder Netzwerk unmöglich sei, ihr wirtschaftliches Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, war nicht weiter nachzugehen. Die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten sowie die von der Klägerin vorgelegten Erkenntnisquellen versetzen den Senat in die Lage, sich über das Beweisthema ein umfassendes Bild zu verschaffen sowie eine hinreichend sichere Beurteilung der aufgeworfenen Frage (vgl. BVerwG, B.v. 27.3.2013 - 10 B 34.12 - NVwZ-RR, 620 ff.). Das Gericht verfügt insofern über genügend eigene Sachkunde. Ferner hat die Klägerin nicht substanziiert dargetan, dass die beantragte Beweiserhebung andere bzw. bessere Erkenntnisse bringen würde als die, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden.

Insofern sind weder unter Zugrundelegung der landesweiten Lebensverhältnisse in Äthiopien noch bei Berücksichtigung der persönlichen Situation der Klägerin die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt.

IV.

Ebenso wenig besteht wegen der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK - zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.

Nach diesen Maßstäben ist bei der Klägerin ein nationales Abschiebungsverbot nach dieser Bestimmung im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend (vgl. oben Rn. 55).

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der nach eigenen Angaben am ... 1993 in D. geborene Kläger ist äthiopischer Staatsangehöriger vom Volk der Amharen. Er gibt an, am 19. März 2014 auf dem Luftweg von Addis Abeba kommend über den Flughafen Frankfurt/Main in das Bundesgebiet eingereist zu sein. Am 2. April 2014 stellte er einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) am 13. Oktober 2015 gab der Kläger an, sein Vater habe für die EPPF Medikamente aus Dschibuti geschmuggelt und an verschiedenen Orten gelagert, wo sie der Kläger abgeholt und nahe der Stadt Bahadar an Leute der EPPF übergeben habe. Am 11. Januar 2014 sei sein Vater von der Polizei abgeholt worden. Der Kläger sei verdächtigt worden, Dokumente seines Vaters zu verstecken. Das Lager sei von der Ortsverwaltung mit der Begründung versiegelt worden, sein Vater unterstütze Terroristen. In der Folge sei der Kläger mehrmals bei Autofahrten angehalten worden; er habe Strafen zahlen müssen bzw. der Führerschein sei ihm entzogen worden. Am 22. Januar 2014 sei er zum Polizeirevier verbracht worden. Man habe ihm zwei Fotos gezeigt, auf denen er beim Verladen großer Pakete mit Medikamenten zu sehen sei. Der Hauptmann habe die Namen der Personen auf den Fotos wissen wollen. Als er gesagt habe, diese nicht zu kennen, sei er geschlagen worden; ein Zahn sei ihm ausgeschlagen worden. Am 24. Januar 2014 sei er freigelassen worden mit der Drohung, wenn er irgendetwas mache, ereile ihn das gleiche Schicksal wie seinen Vater. Am nächsten Tag sei er auf Anraten seines Bruders nach Addis Abeba gefahren und von dort am 19. März 2014 mithilfe eines Schleppers ausgereist.

Als Beleg für seine exilpolitischen Aktivitäten für die EPPFG legte der Kläger dem Bundesamt u.a. Bestätigungen vor, die eine Mitgliedschaft seit 9. August 2014 bescheinigen.

Mit Bescheid vom 12. Mai 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers (Nr. 2) sowie seinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Nr. 4). Die Abschiebung nach Äthiopien wurde angedroht, sollte keine Ausreise innerhalb von 30 Tagen erfolgen (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, bei der Polizeigewalt handle es sich um einen „Amtswalterexzess“, der durch äthiopische Sicherheitsbehörden häufiger verübt werde, sodass potenziell jeder Äthiopier damit rechnen müsse. Die exilpolitischen Tätigkeiten begründeten keinen Flüchtlingsschutz, weil sie nicht über Aktivitäten einfacher Mitglieder hinausgingen.

Am 30. Mai 2016 erhob der Kläger hiergegen beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage. Mit Schriftsatz vom 6. September 2017 ließ er Teilnahmebescheinigungen der EPPFG und Kopien von Lichtbildern von exilpolitischen Veranstaltungen vorlegen.

Das Verwaltungsgericht Regensburg hat die Klage mit Urteil vom 29. September 2017 abgewiesen. Die Angaben des Klägers zu den Geschehnissen in Äthiopien und seiner Flucht seien nicht glaubhaft. Seine Angaben zu seinen Papieren bzw. die Tatsache, dass er keinerlei Papiere vorgelegt habe, erweckten erhebliche Zweifel an seiner Identität und Glaubwürdigkeit. Bei der Schilderung seines Verfolgungsschicksals sei ein gehäuftes und fast musterartiges Auftreten von Abweichungen festzustellen, sodass davon auszugehen sei, dass es sich nicht um selbst Erlebtes handle. Es sei auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger wegen seiner exilpolitischen Betätigung in Deutschland bei seiner Rückkehr eine Verfolgung drohe. Seine exilpolitische Tätigkeit übersteige nicht das übliche Maß, sodass er von den äthiopischen Behörden nicht als „gefährlicher Oppositioneller“ angesehen werde.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 29. Januar 2018 zugelassene Berufung. Zur Begründung macht der Kläger geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts vorverfolgt ausgereist zu sein. Jedenfalls drohe ihm aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten Verfolgung. Seit März 2017 übe er die Funktion „intelligence Regensburg and surrounded“ in der EPPFG aus und betätige sich im „Wiederaufbau-Komitee“. Als Beleg für seine exilpolitischen Aktivitäten legte er Bescheinigungen der EPPFG, EDFM sowie Lichtbilder über die Teilnahme an exilpolitischen Veranstaltungen vor. Das Verwaltungsgericht Würzburg gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass einem äthiopischen Staatsangehörigen, der sich - wie der Kläger für die EPPFG - in einem Mindestmaß für eine Organisation betätige, die einer als terroristisch eingestuften Vereinigung nahestehe, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung drohe. Ungeachtet der Streichung von OLF, Ginbot7 und ONLF von der Terrorliste sei es noch zu keiner vollständigen Änderung bei der Verfolgung Oppositioneller gekommen. Tausende politische Gefangene befänden sich weiter in Haft; im September 2018 sei es wieder zu Massenverhaftungen gekommen. Die positiven Veränderungen unter Abiy Ahmed bzw. dessen Handlungen seien in der EPRDF äußerst umstritten. Das Nachgeben Abiy Ahmeds gegenüber der Opposition habe der nicht mehr beherrschbaren Situation in Äthiopien gegolten, ohne dass dies zu einem vollständigen Umdenken in der EPRDF und insbesondere der TPLF geführt habe. Die Amnestieregelung sei hier nicht relevant, weil die sechsmonatige Antragsfrist inzwischen abgelaufen sei.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 29. September 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen sowie hilfsweise festzustellen, dass bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Äthiopien vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat durch Beschluss vom 26. März 2018 zu verschiedenen Fragen Beweis erhoben durch Einholung einer amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amts bzw. schriftlicher Gutachten von Amnesty International, des GIGA-Instituts für Afrika-Studien und der Schweizerische Flüchtlingshilfe u.a. zu der Frage, ob nach der aktuellen innenpolitischen Lage in Äthiopien äthiopischen Staatsangehörigen, allein weil sie (einfaches) Mitglied einer in Deutschland exilpolitisch tätigen, von der äthiopischen Regierung als Terrororganisation eingestuften oder einer ihr nahestehenden Organisation sind, ohne in dieser Organisation eine herausgehobene Stellung innezuhaben, bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien von staatlicher Seite schwere physische oder psychische Misshandlungen oder Haft auf bestimmte oder unbestimmte Zeit drohen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Ablehnung der in der Berufungsinstanz noch geltend gemachten Ansprüche im Bescheid des Bundesamts vom 12. Mai 2016 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Es kann offen bleiben, ob dem Kläger die Ansprüche im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung zustanden. Der Kläger hat jedenfalls in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. I.) noch auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. unten Ziff. II.). Auch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (vgl. unten Ziff. III.) oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. unten Ziff. IV.) steht dem Kläger nicht zu.

I.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

1. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten - hier nicht einschlägigen - besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 S. 9 - im Folgenden: RL 2011/95/EU) umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 11). Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind unter anderem gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG), wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).

Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 = juris Rn. 94). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23).

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - DVBl 2008, 1255 = juris Rn. 37).

2. Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Infolge des den in das Berufungsverfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zu entnehmenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse seit April 2018 und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle in Äthiopien kann im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder angenommen werden, dass dem Kläger aufgrund der behaupteten früheren Ereignisse in Äthiopien (vgl. dazu unten a) noch infolge seiner exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland (vgl. dazu unten b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

a) Es kann offen bleiben, ob der Kläger vor seiner Ausreise aus Äthiopien im Jahr 2014 aufgrund der Geschehnisse, die er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt geschildert hat, bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob er deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu seinen Gunsten annimmt, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung, sodass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG nicht greift. Dies ergibt sich aus Folgendem:

aa) Die politische Situation in Äthiopien hat sich für Regierungsgegner und Oppositionelle bereits seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Anfang des Jahres kündigte der damalige Premierminister Heilemariam Desalegn nach zweijährigen andauernden Protesten Reformmaßnahmen und die Freilassung von politischen Gefangenen an. Am 15. Februar 2018 gab er bekannt, sein Amt als Regierungschef und Parteivorsitzender der regierenden EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Democratic Front) niederzulegen, um den Weg für Reformen freizumachen. Dennoch verhängte die äthiopische Regierung am 16. Februar 2018 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand mit der Begründung, Proteste und Unruhen verhindern zu wollen. Nachdem der Rat der EPRDF, die sich aus den vier regionalen Parteien TPLF (Tigray People's Liberation Front), ANDM (Amhara National Democratic Movement), OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation) und SEPDM (Southern Ethiopian Peoples’ Democratic Movement) zusammensetzt, Abiy Ahmed mit 108 von 180 Stimmen zum Premierminister gewählt hatte (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Aktuell von Juni 2018, „Abiy Superstar - Reformer oder Revolutionär“ [im Folgenden: SWP-Aktuell von Juni 2018]; Ministry of Immigration and Integration, The Danish Immigration Service, Ethiopia: Political situation and treatment of opposition, September 2018, Deutsche (Teil)-Übersetzung [im Folgenden: The Danish Immigration Service] S. 11), wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt. Zwar kommt Abiy Ahmed ebenfalls aus dem Regierungsbündnis der EPRDF, ist aber der Erste in diesem Amt, der in Äthiopien der Ethnie der Oromo angehört (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 11.7.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 [im Folgenden: Schweizerische Flüchtlingshilfe] S. 5).

Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Die bisher einflussreiche TPLF, die zentrale Stellen des Machtapparates und der Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hatte (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018 [im Folgenden: AA, Ad-hoc-Bericht] S. 8), stellt nur noch zwei Minister (vgl. SWP-Aktuell von Juni 2018). Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1; „Focus Äthiopien - Der politische Umbruch 2018“ vom 16. Januar 2019 der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Staatssekretariat für Migration SEM [im Folgenden: SEM] S. 8 f.). Die renommierte Menschenrechtsanwältin Meaza Ashenafi wurde zur ranghöchsten Richterin des Landes ernannt (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Äthiopien vom 8.1.2019 [im Folgenden: BFA Länderinformationsblatt] S. 6; SEM S. 7). Am 5. Juni 2018 wurde der am 16. Februar 2018 verhängte sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen und Oppositionsparteien eingeladen, aus dem Exil zurückzukehren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 5 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 10; SEM S. 6).

Gerade auch für (frühere) Oppositionelle hat sich die Situation deutlich und mit asylrechtlicher Relevanz verbessert. Bereits unmittelbar nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 wurde das berüchtigte „Maekelawi-Gefängnis“ in Addis Abeba geschlossen, in dem offenbar insbesondere auch aus politischen Gründen verhaftete Gefangene verhört worden waren (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14; BFA Länderinformationsblatt S. 24; AA, Ad-hoc-Bericht S. 17). Im August 2018 wurde auch das bis dahin für Folter berüchtigte „Jail Ogaden“ in der Region Somali geschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24 f.). In der ersten Jahreshälfte 2018 sind ca. 25.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden. Seit Anfang des Jahres sind über 7.000 politische Gefangene freigelassen worden, darunter führende Oppositionspolitiker wie der Oppositionsführer der Region Oromia, Merera Gudina, und sein Stellvertreter Bekele Gerba (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9 f.), weiterhin der Anführer von Ginbot7, Berghane Nega, der unter dem früheren Regime zum Tode verurteilt worden war, und der Kommandant der ONLF, Abdikarim Muse Qalbi Dhagah (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 6). Am 26. Mai 2018 wurde Andargachew Tsige, ein Führungsmitglied von Ginbot7, begnadigt, der sich kurz nach seiner Entlassung öffentlichwirksam mit Premierminister Abiy Ahmed getroffen hatte (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 10). Neben führenden Politikern befinden sich unter den Freigelassenen auch Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (The Danish Immigration Service S. 13).

Am 20. Juli 2018 wurde zudem ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019 [im Folgenden: AA, Stellungnahme vom 7.2.2019]; AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; The Danish Immigration Service S. 14).

Weiterhin wurde am 5. Juli 2018 die Einstufung der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7 (auch Patriotic Ginbot7 oder PG7), OLF und ONLF (Ogaden National Liberation Front) als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019; AA, Ad-hoc-Bericht S. 18 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; SEM S. 15; VG Bayreuth, U. v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 44 m.w.N.). Daraufhin sind sowohl Vertreter der OLF (Jawar Mohammed) als auch der Ginbot7 (Andargachew Tsige) aus der Diaspora nach Äthiopien zurückgekehrt (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; SEM S. 17, 19). Nach einem Treffen des Gründers und Vorsitzenden der Ginbot7 (Berhanu Nega) mit Premierminister Abiy Ahmed im Mai 2018 hat die Ginbot7 der Gewalt abgeschworen (SEM S. 17). Die ONLF verkündete am 12. August 2018 einen einseitigen Waffenstillstand und unterzeichnete am 21. Oktober 2018 ein Friedensabkommen mit der äthiopischen Regierung (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 22; SEM S. 24 f.). 1.700 Rebellen der ONLF in Äthiopien haben inzwischen ihre Waffen niedergelegt (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 9.2.2019 „Separatisten in Äthiopien legen Waffen nieder“). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Asmara (Eritrea) ein Versöhnungsabkommen. Am 15. September 2018 wurde in Addis Abeba die Rückkehr der OLF unter der Führung von Dawud Ibsa gefeiert. Die Führung der OLF kündigte an, nach einer Aussöhnung mit der Regierung fortan einen friedlichen Kampf für Reformen führen zu wollen (vgl. Bundesamt für ..., Briefing Notes vom 17.9.2018 - Äthiopien; SEM S. 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“). In den vergangenen sechs Monaten sind verschiedene herausgehobene äthiopische Exilpolitiker nach Äthiopien zurückgekehrt, die nunmehr teilweise aktive Rollen im politischen Geschehen haben (vgl. AA, Stellungahme vom 7.2.2019). So wurde etwa die Oppositionspolitikerin Birtukan Mideksa, die Anfang November 2018 nach sieben Jahren Exil in den Vereinigten Staaten zurückkehrte, am 23. November 2018 zur Vorsitzenden der nationalen Wahlkommission gewählt (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 23; SEM S. 7).

Schließlich wurden Verbote für soziale Medien aufgehoben. Im Juni 2018 hat die Regierung beschlossen, eine Reihe von Webseiten, Blogs, Radio- und TV-Sendern zu entsperren, die für die Bevölkerung vorher nicht zugänglich gewesen sind. Dies betraf nach Bericht eines nationalen Beobachters auch die beiden in der Diaspora angesiedelten TV-Sender ESAT und OMN (vgl. The Danish Immigration Service S. 12); die Anklage gegen den Leiter des OMN, Jawar Mohammed, wurde fallengelassen (vgl. BFA Länderinformationsblatt, S. 22).

Unter Zugrundelegung dieser positiven Entwicklungen ist nicht anzunehmen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der von ihm angegebenen früheren oppositionellen Tätigkeit und Flucht noch Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger für den Fall einer früheren Unterstützung der EPPF durch die Beteiligung an einem Medikamentenschmuggel seines Vaters in Äthiopien verfolgt werden könnte. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die EPPF der Ginbot7 nahesteht (der Armeeflügel der EPPF wurde 2006 mit Ginbot7 verschmolzen, vgl. AA, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 2; im Jahr 2015 haben sich Ginbot7 und EPPF zum Bündnis „Arbegnoch - Ginbot7 for Unity and Democracy Movement (AGUDM)“ zusammengeschlossen, vgl. GIGA - Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien, Stellungnahme vom 19.5.2018 an den Verwaltungsgerichtshof S. 5) und Ginbot7 von der Terrorliste gestrichen wurde, tausende von politischen Gefangenen freigelassen wurden und in den vergangenen Monaten sogar ehemals führende Oppositionspolitiker unbehelligt nach Äthiopien zurückgekehrt sind, spricht alles dafür, dass auch der Kläger trotz einer eventuellen früheren Verfolgung im Falle seiner Rückkehr keiner der in § 3a AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen (mehr) ausgesetzt sein wird.

bb) Zwar haben die Reformbestrebungen des neuen Premierministers auch Rückschläge erlitten. So ist es in Äthiopien in den vergangenen Monaten mehrfach zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Bevölkerung gekommen. Auch leidet das Land mehr denn je unter ethnischen Konflikten (vgl. The Danish Immigration Service S. 11). Am 15. September 2018 kam es nach Rückkehr der Führung der OLF zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten verschiedener Lager sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Zu weiteren Todesopfern kam es, als tausende Menschen gegen diese Gewaltwelle protestierten (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8, 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7). Bei einer Demonstration gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich der ethnisch motivierten Zusammenstöße im ganzen Land vertrieb die Polizei die Demonstranten gewaltsam und erschoss dabei fünf Personen. Insgesamt 28 Menschen fanden bei den Zusammenstößen angeblich den Tod. Kurz darauf wurden mehr als 3.000 junge Personen festgenommen, davon 1.200 wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration gegen ethnische Gewalt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7), die laut Angaben der Polizei nach „Resozialisierungstrainings“ allerdings wieder entlassen wurden (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; SEM S. 20). Auch soll die äthiopische Luftwaffe bei Angriffen im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 sieben Zivilisten getötet haben. Die Regierung räumte hierzu ein, Soldaten in die Region verlegt zu haben, warf der OLF aber kriminelle Handlungen vor. Mit einer Militäroffensive sollte die Lage wieder stabilisiert werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien; vgl. auch SEM S. 21 f.).

Auch in den Regionen sind Gewaltkonflikte nach wie vor nicht unter Kontrolle (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6 f.; SEM S. 30 ff.). In den Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray werden immer mehr Menschen durch Gewalt vertrieben. Aufgrund der Ende September 2018 in der Region Benishangul Gumuz einsetzenden Gewalt wurden schätzungsweise 240.000 Menschen vertrieben (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8 f.). Rund um den Grenzübergang Moyale kam es mehrfach, zuletzt Mitte Dezember 2018, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen der Somali- und Oromia-Region sowie den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Über 200.000 Menschen sind seit Juli 2018 vor ethnischen Konflikten in der Somali-Region geflohen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 9 f.). Auch in der Region Benishangul Gumuz sind bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden aktiv und es bestehen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien, welche regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Trotz des Einsatzes von Sicherheitskräften des Bundes zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Ebenso gibt es an der Grenze zwischen der Region Oromia und der SNNPR bewaffnete Auseinandersetzungen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien deswegen allein in der ersten Jahreshälfte 2018 auf etwa 1,4 Millionen Menschen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“).

Bei diesen Ereignissen handelt es sich nach Überzeugung des Senats auf der Grundlage der angeführten Erkenntnismittel aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes bzw. um Geschehnisse, die sich nicht als Ausdruck willentlicher und zielgerichteter staatlicher Rechtsverletzungen, sondern als Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder als Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen darstellen (vgl. AA, Auskunft vom 7.2.2019 gegenüber dem Verwaltungsgericht Dresden, S. 2). Dies zeigt etwa auch die Tatsache, dass das äthiopische Parlament am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet hat, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20). Am 20. Dezember 2018 hat das äthiopische Repräsentantenhaus als Reaktion auf die ethnischen Konflikte zudem beschlossen, auf Bundesebene eine Kommission für Verwaltungsgrenzen und Identitätsfragen zu schaffen (vgl. SEM S. 32 f.).

cc) Soweit der Kläger geltend macht, die Situation in Äthiopien sei trotz des politischen Umbruchs noch nicht stabil, ist dies tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Dem kommt nach Auffassung des Senats aber asylrechtlich keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Dem Kläger ist zuzugestehen, dass trotz der tiefgreifenden Veränderungen in Äthiopien seit der Machtübernahme von Premierminister Abiy Ahmed die Verhältnisse noch nicht als gefestigt gewertet werden können. Dafür dürfte vor allem der Umstand sprechen, dass sich nach dem Machtantritt des neuen Premierministers, der vor allem mit den Stimmen aus Oromia und Amhara, aber gegen die Stimmen der Tigray und der Vertreter der Region der südlichen Nationen gewählt wurde, die Spannungen zwischen der regierenden EPRDF, die bislang von der Ethnie ihrer Gründungsgruppe TPLF dominiert wurde, welche die Tigray repräsentiert, und der Region Tigray in jüngster Zeit verschärft haben, offenbar nachdem die Regierung gegen Mitglieder der TPLF vorgegangen war. Als Folge der veränderten Machtverhältnisse innerhalb der Führung der EPDRF sind neue Formen der ethnisch motivierten Gewalt aufgetreten (vgl. The Danish Immigration Service S. 9, 11; SEM S. 8 ff., 26), die vor allem in den Regionen nach wie vor nicht unter Kontrolle sind. Hierdurch ist die Zahl der Binnenflüchtlinge erheblich gestiegen und die Gefahr einer Teilung des Landes bleibt nicht ausgeschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 7; Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“). Auch auf Premierminister Abiy Ahmed selbst wurde bereits ein Anschlag verübt (SEM S. 9; nordbayern.de vom 18.11.2018 „Für eine Rückkehr nach Äthiopien ist es viel zu früh“; vgl. SWP-Aktuell Nr. 32 von Juni 2018, „Abiy-Superstar - Reformer oder Revolutionär“) und gegen ihn ein Putschversuch unternommen (vgl. SEM S. 29).

Für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, ist es aber nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind. Soweit in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung - ohne genauere Auseinandersetzung mit der insoweit einschlägigen Bestimmung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU - die Auffassung vertreten wird, dass die nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU maßgebenden stichhaltigen Gründe keine anderen Gründe sein könnten als die, die im Rahmen der „Wegfall der Umstände-Klausel“ des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU maßgebend sind (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012, § 29 Rn. 58; VGH BW, U.v. 27.8.2014 - A 11 S 1128/14 - Asylmagazin 2014, 389 = juris Rn. 34; U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 35; U.v. 30.5.2017 - A 9 S 991/15 - juris Rn. 28), vermag dem der Senat nicht zu folgen. Anders als im Rahmen der Prüfung eines nachträglichen Grundes für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchstabe e und f RL 2011/95/EU, bei der nach Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu untersuchen ist, ob die Veränderung der Umstände, aufgrund derer ein Drittstaatangehöriger oder ein Staatenloser als Flüchtling anerkannt wurde, erheblich und nicht nur vorübergehend ist, sieht die Regelung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU eine solche Untersuchung nicht vor.

Eine entsprechende Heranziehung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU im Rahmen der Prüfung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU scheidet nach Auffassung des Senats aus, weil die Sach- und Interessenlage in beiden Fällen nicht vergleichbar ist. Während es im Rahmen des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nämlich um eine Beweiserleichterung für die erstmalige Anerkennung eines Asylsuchenden als Flüchtling geht, betrifft Art. 11 RL 2011/95/EU, der seine Umsetzung in den §§ 72 ff. AsylG erfahren hat, die Beendigung und das Erlöschen des Flüchtlingsstatus nach einer bereits erfolgten Anerkennung. Im letzteren Fall hat der Betroffene also bereits einen gesicherten Rechtsstatus erhalten, der ihm nach dem Willen des Richtliniengebers aus Gründen des Vertrauensschutzes nur unter engen Voraussetzungen wieder entzogen können werden soll (vgl. zur gleichlautenden (Vorgänger-)Regelung des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates, KOM(2001) 510 endgültig, S. 26 f., wonach „der Mitgliedstaat, der sich auf die Beendigungsklausel beruft, sicherstellen muss, dass Personen, die das Land aus zwingenden, auf früheren Verfolgungen oder dem Erleiden eines ernsthaften nicht gerechtfertigten Schadens beruhenden Gründen nicht verlassen wollen, ein angemessener Status zuerkannt wird und sie die erworbenen Rechte behalten“; vgl. auch zum Erlöschen des subsidiären Schutzes nach Art. 16 RL 2011/95/EU die Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 24.1.2019 zur Rechtssache C-720/17, wonach „nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Veränderung so wesentlich und nicht nur vorübergehend sein muss, dass zuerkannte Status nicht ständig in Frage gestellt werden, wenn sich die Lage im Herkunftsland der Begünstigten kurzfristig ändert, was diesen die Stabilität ihrer Situation garantiert“). An einem entsprechenden Vertrauensschutz fehlt es, wenn ein Kläger sein Heimatland zwar vorverfolgt im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU verlassen hat, ihm jedoch noch kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem von der zitierten Rechtsprechung und Literatur in Bezug genommenen Urteil des EuGH vom 2. März 2010 (Az. C-175/08 u.a. - NVwZ 2010, 505 - Abdullah) entnehmen, zumal auch diese Entscheidung lediglich das Erlöschen des Flüchtlingsstatus betrifft.

b) Ebenso wenig ergibt sich nach aktueller Auskunftslage die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund von Umständen nach der Ausreise des Klägers aus Äthiopien (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG). Insbesondere ist die exilpolitische Betätigung des Klägers in Deutschland für die der Ginbot7 nahestehenden EPPFG (Ethiopian People Patriotic Front Guard) infolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nicht (mehr) geeignet, eine derartige Furcht zu begründen.

Insoweit gelten die obigen Ausführungen (vgl. unter Rn. 26 ff.) entsprechend. Aufgrund der jüngsten gesetzlichen Regelungen und der Maßnahmen der Regierung unter Führung von Premierminister Abiy Ahmed, insbesondere der Streichung der Ginbot7 von der Terrorliste und der Rückkehr namhafter Exilpolitiker, kann nicht (mehr) angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit, etwa weil sie - wie der Kläger - (einfaches) Mitglied der EPPFG sind oder waren oder weil sie diese Organisation durch die Teilnahme an Demonstrationen oder Versammlungen unterstützt haben, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (vgl. ebenso VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris Rn. 48; VG Regensburg, U.v. 13.11.2018 - RO 2 K 17.32132 - juris Leitsatz und Rn. 34; VG Düsseldorf, U.v. 13.12.2018 - 6 K 4004/17.A - juris Rn. 54). Dies bestätigt auch die Einschätzung des Auswärtigen Amts, wonach aktuell nicht davon auszugehen ist, dass eine (einfache) Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist, bzw. in einer ihr nahestehenden Organisation bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019 S. 2). Ähnlich äußerte sich ein Vertreter der Britischen Botschaft, nach dessen Einschätzung es Mitgliedern der Diaspora, die sich entscheiden, nach Äthiopien zurückzukehren, erlaubt ist, sich wieder als Bürger in die Gesellschaft zu integrieren und etwa auch Privatunternehmen zu gründen (vgl. The Danish Immigration Service S. 19).

Auch aufgrund seiner innerhalb der EPPFG übernommenen Funktion zur Werbung und Aufklärung von Mitgliedern („intelligence Regensburg and surrounded“ bzw. „Wiederaufbau-Komitee“) drohen dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlungen. Der Senat vermag aus den hierzu in der mündlichen Verhandlung gegebenen Schilderungen des Klägers (vgl. S. 3 f. der Sitzungsniederschrift vom 12.3.2019) schon nicht zu erkennen, inwieweit damit eine „Leitungsfunktion“ in der EPPFG wahrgenommen würde. Hinzu kommt, dass der Kläger nach eigener Darstellung seit etwa einem Jahr an keiner exilpolitischen Versammlung mehr teilgenommen hat (vgl. S. 3 der Sitzungsniederschrift vom 12.3.2019). Abgesehen davon begründet infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 allein die Tatsache, dass sich äthiopische Asylbewerber in Deutschland exponiert (vgl. zu diesem Kriterium BayVGH, B.v. 14.11.2017 - 21 ZB 17.31340 - juris Rn. 2; B.v. 14.7.2015 - 21 ZB 15.30119 - juris Rn. 5; U.v. 25.2.2008 - 21 B 07.30363 - juris Rn. 16) exilpolitisch betätigt haben, grundsätzlich nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgungsgefahr; eine Rückkehrgefährdung erscheint auf Basis der aktuellen Auskunftslage allenfalls noch in besonders gelagerten Ausnahmefällen denkbar (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 - 8 B 18.30257 - noch nicht veröffentlicht; ebenso VG Bayreuth, U.v. 5.9.2018 - B 7 K 17.33349 - juris Rn. 64; ähnlich VG Regensburg, B.v. 19.6.2018 - RO 2 E 18.31617 - juris Rn. 25; VG Ansbach, B.v. 11.10.2018 - AN 3 E 18.31175 - juris Rn. 36). Diese Einschätzung wird insbesondere dadurch belegt, dass inzwischen namhafte Vertreter der äthiopischen Exilopposition der Einladung des neuen Premierministers gefolgt und zurückgekehrt sind, um sich am politischen Diskurs in Äthiopien zu beteiligen (vgl. The Danish Immigration Service S. 5; BFA Länderinformationsblatt S. 5; SEM S. 15; vgl. eingehend hierzu oben Rn. 30).

Auch der Hinweis des Klägers auf regionale (ethnische) Konflikte rechtfertigt keine andere Einschätzung. Dass es in letzter Zeit nach ethnischen Auseinandersetzungen zu gewalttätigen Zusammenstößen von Oppositionsgruppen - insbesondere der OLF - mit der Regierung gekommen ist (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien), liegt nach der Überzeugung das Bestreben der Regierung zugrunde, bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden sowie bestehende Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien zu bekämpfen und durch hohe Präsenz von Regierungstruppen und Sicherheitskräften und gegebenenfalls durch militärisches Eingreifen die Lage zu beruhigen (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9; BFA Länderinformationsblatt S. 11, 15; BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 - Äthiopien). Insoweit handelt es sich nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle, sondern um die Ahndung kriminellen Unrechts und die Abwehr allgemeiner Gefahren.

Der Umstand, dass nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed weiterhin zahlreiche Personen ohne Anklage in Haft verblieben sind (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 6, 9), rechtfertigt ebenfalls nicht die Annahme, dass Rückkehrer aus dem Exil mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müssten, zumal nach Angaben eines nationalen Beobachters eine Reihe von Gefangenen schlichtweg „vergessen wurde“ (vgl. The Danish Immigration Service S. 13 f.). Der pauschale Einwand des Klägers, von dem gut aufgestellten äthiopischen National Intelligence and Security Service (NISS) werde niemand vergessen, weshalb eine Verfolgungsgefahr fortbestehe, solange aus politischen Gründen Festgenommene inhaftiert blieben, erweist sich als rein spekulativ. Es sind auch keine Fälle bekannt, in denen zurückgekehrte Äthiopier, die in Deutschland exilpolitisch tätig waren, wegen ihrer exilpolitischen Tätigkeit durch die äthiopischen Behörden inhaftiert oder misshandelt wurden (vgl. AA, Stellungnahme vom 14.6.2018 S. 4; AA, Ad-hoc-Bericht S. 25). Auch wenn die sechsmonatige Frist zur Beantragung der Amnestie inzwischen abgelaufen ist, worauf der Kläger hinweist, ist angesichts des unter Abiy Ahmed eingeleiteten Dialogs zur Rückkehr und zum Dialog von Oppositionsangehörigen (vgl. oben Rn. 30) grundsätzlich nicht mit Verfolgungsmaßnahmen gegen im Ausland exilpolitisch tätig gewordenen Asylbewerbern zu rechnen.

c) Angesichts der in das Verfahren eingeführten und aufgrund des Beweisbeschlusses vom 26. März 2018 eingeholten Erkenntnisquellen (insbesondere AA, Auskünfte vom 7.2.2019 an den Verwaltungsgerichtshof bzw. das Verwaltungsgericht Dresden und Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018; BFA Länderinformationsblatt vom 8.1.2018; The Danish Immigration Service, September 2018) verfügt der Senat über die erforderliche Sachkunde, ohne dass es der Einholung weiterer Sachverständigengutachten oder Auskünfte bedurfte (vgl. BVerwG, B.v. 27.3.2000 - 9 B 518.99 - NVwZ 2000, Beilage Nr. 9, 99 = juris Rn. 12; B.v. 11.2.1999 - 9 B 381.98 - DVBl 1999, 1206 = juris Rn. 4; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17 - juris Rn. 45). Dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hilfsweise gestellten Beweisantrag zu der behaupteten Tatsache, dass äthiopische Staatsangehörige, die in Deutschland für die EPPFG politisch aktiv und dies gerade in einer Leitungsfunktion sind oder dies gewesen sind, im Falle ihrer Rückkehr nach Äthiopien aufgrund ihrer exilpolitischen Aktivitäten festgenommen, für unbestimmte Zeit in Haft gehalten wurden und werden und ihnen durch äthiopische Sicherheitskräfte Misshandlungen und Folterungen drohen, musste deshalb nicht entsprochen werden.

Der Kläger hat auch nicht substanziiert dargetan, dass die beantragte Beweiserhebung bessere oder andere Erkenntnisse bringen würde als die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Materialien (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2014 - 13a ZB 14.30073 - juris Rn. 8). Soweit er sich darauf beruft, die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017 an den Verwaltungsgerichtshof sei widersprüchlich bzw. unzureichend, weil sie auf das Schreiben vom 14. Juni 2018 verweise, in dem es die Rückkehrgefährdung einfacher Mitlieder exilpolitischer Organisationen nicht abschließend bewertet habe und sich mit der Aussage des Ad-hoc-Berichts vom 17. Oktober 2018, der eine Rückkehrgefährdung dieser Personen für möglich halte, nicht auseinandersetze, kann dem nicht gefolgt werden. Die daraus gezogene Schlussfolgerung des Klägers, es sei nicht hinreichend geklärt, wie sich die Verfolgungssituation von Oppositionellen in Äthiopien aktuell darstelle, teilt der Senat nicht. Die Aussagekraft der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, es sei nicht davon auszugehen, dass eine (einfache) Mitgliedschaft einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist bzw. einer ihr nahestehenden Organisation, bei aktueller Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. S. 2 des Schreibens an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019) wird nicht dadurch geschmälert, dass sich die Auskunftsbehörde nicht ausdrücklich mit ihren früheren, hiervon teilweise abweichenden Einschätzungen auseinandersetzt. Im Übrigen hat das Auswärtige Amt seine aktuelle Einschätzung in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Dresden vom 7. Februar 2019 bestätigt. Hiernach liegen dem Auswärtigen Amt, dessen Einschätzungen maßgeblich auf vor Ort gewonnenen Erkenntnissen der Auslandsvertretungen beruhen, keine Hinweise darauf vor, dass in jüngster Zeit Anhänger bzw. Unterstützer von der Terrorliste gestrichener oppositioneller Gruppierungen alleine aufgrund dieser Eigenschaft angeklagt oder angegriffen würden (vgl. AA, Auskunft vom 7.2.2019 an das Verwaltungsgericht Dresden, S. 2). Diese Bewertung steht auch im Einklang mit der Aussage des Dänischen Ministeriums für Immigration und Integration, wonach sich die Gesamtsituation für die Oppositionsparteien nach der Ernennung Abiy Ahmeds verbessert habe (vgl. The Danish Immigration Service S. 5); die letztgenannte Aussage beruht u.a. auf der Einschätzung der Britischen Botschaft, wonach Personen mit einer mutmaßlichen Verbindung zu Oppositionsgruppen nicht mehr festgenommen und die meisten politischen Gefangenen freigelassen würden (vgl. The Danish Immigration Service S. 23). Inwieweit die vom Kläger vorgelegte Veröffentlichung des SEM vom 16. Januar 2019 diesen u.a. auf Botschaftsinformationen beruhenden Lagebewertungen entgegenstünde, hat der Kläger nicht substanziiert dargelegt. Im Übrigen geht auch dieser Bericht davon aus, dass viele Oppositionsparteien - darunter Ginbot7 (vgl. SEM S. 16 f.) - inzwischen entkriminalisiert sind (vgl. SEM S. 33).

Im Übrigen trifft die in dem (bedingten) Beweisantrag aufgestellte Prämisse der Wahrnehmung einer „Leitungsfunktion“ für die EPPFG im Fall des Klägers - wie unter Rn. 41 bereits dargelegt - nicht zu, sodass sich die unter Beweis gestellte Tatsache als nicht entscheidungserheblich erweist. An der Entscheidungserheblichkeit fehlt es zudem, soweit sich der Beweisantrag - in Abweichung von dem für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) - auf die Behauptung der Festnahme und Inhaftierung in der Vergangenheit bezieht („wurden“).

II.

Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes in Deutschland zu.

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

1. Dass dem Kläger bei seiner Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht er selbst nicht geltend.

2. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass dem Kläger in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (zu diesem Erfordernis vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 54 ff. m.w.N.).

3. Schließlich steht dem Kläger auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu.

Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines so hohen Niveaus willkürlicher Gewalt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land bzw. in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich, welches mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) gegeben sein muss. So kann die notwendige Individualisierung ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (zum Ganzen vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.)

Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei dem Kläger, der keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Konflikte zwischen Ethnien, wie sie etwa in der Südregion von Gambella oder im Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali vorkommen, oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen, insbesondere Ogaden, haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 20). Jedenfalls lässt sich für die Stadt Desse, aus der der Kläger stammt und in der er sich bis Januar 2014 aufgehalten hat, nicht feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass jede Zivilperson im Fall einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

III.

Die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund schlechter humanitärer Bedingungen liegen ebenfalls nicht vor.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 9). Sind Armut und staatliche Mittel ursächlich für schlechte humanitäre Bedingungen, kann dies nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“ zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. EGMR, U. v. 28.6.2011 - 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278, 282 f.; BVerwG U.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 9 unter Verweis auf BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Leitsatz 3 und Rn. 23; VGH BW, U. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 82 ff. m.w.N.).

Dass sich der Kläger in einer derartigen besonders gravierenden Lage befände, macht er weder geltend noch ist dies sonst ersichtlich. Zwar ist Äthiopien bei etwa 92,7 Millionen Einwohnern mit einem jährlichen Brutto-National-Einkommen von etwa 927 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder der Welt. Auch wenn das Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren wesentlich über dem regionalen und internationalen Durchschnitt lag, lebt ein signifikanter Teil der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze. Derzeit leiden fast 8 Millionen Menschen an einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung und benötigen humanitäre Hilfe. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, die durch die Schwäche des modernen Wirtschaftssektors und die anhaltend hohe Zuwanderung aus dem ländlichen Raum verstärkt wird (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 33 f.).

Trotz dieser schwierigen Bedingungen ist aber nicht ersichtlich, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Äthiopien nicht bestreiten könnte. Er ist seinen Angaben zufolge 25 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig. In Deutschland ist er seit drei Jahren als Metallschweißer erwerbstätig und hat hieraus zuletzt einen Bruttoarbeitslohn von monatlich ca. 1.730 Euro erwirtschaftet. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass er über das für eine (bescheidene) Existenzgründung in Äthiopien notwendige Startkapital verfügt. Unter Zugrundelegung dieser Umstände ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

IV.

Ebenso wenig besteht wegen der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Allerdings kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 31 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK - zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.

Nach diesen Maßstäben ist bei dem Kläger ein nationales Abschiebungsverbot nach dieser Bestimmung im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen gelten insoweit entsprechend (vgl. oben III.).

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung

1.
von Bundesrecht oder
2.
einer Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes eines Landes, die ihrem Wortlaut nach mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt,
beruht.

(2) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

(3) Wird die Revision auf Verfahrensmängel gestützt und liegt nicht zugleich eine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 vor, so ist nur über die geltend gemachten Verfahrensmängel zu entscheiden. Im übrigen ist das Bundesverwaltungsgericht an die geltend gemachten Revisionsgründe nicht gebunden.

(1) Das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist unanfechtbar. Das gilt auch, wenn nur das Klagebegehren gegen die Entscheidung über den Asylantrag als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, das Klagebegehren im Übrigen hingegen als unzulässig oder unbegründet abgewiesen worden ist.

(2) In den übrigen Fällen steht den Beteiligten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(3) Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

(4) Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss, der keiner Begründung bedarf. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) § 134 der Verwaltungsgerichtsordnung findet keine Anwendung, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts nach Absatz 1 unanfechtbar ist.

(7) Ein Rechtsbehelf nach § 84 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids zu erheben.

(8) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 132 Absatz 1 und § 137 Absatz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung auch zu, wenn das Oberverwaltungsgericht

1.
in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und
2.
die Revision deswegen zugelassen hat.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde kann auf diesen Zulassungsgrund nicht gestützt werden. Die Revision ist beschränkt auf die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat. In dem hierfür erforderlichen Umfang ist das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 137 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt für die Beurteilung der allgemeinen Lage diejenigen herkunfts- oder zielstaatsbezogenen Erkenntnisse, die von den in Satz 1 Nummer 1 genannten Gerichten verwertet worden sind, die ihm zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung oder Entscheidung (§ 77 Absatz 1) von den Beteiligten vorgelegt oder die von ihm beigezogen oder erhoben worden sind. Die Anschlussrevision ist ausgeschlossen.

(8a) Das Bundesministerium des Innern und für Heimat evaluiert im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Justiz die Revision nach Absatz 8 drei Jahre nach Inkrafttreten.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist unanfechtbar. Das gilt auch, wenn nur das Klagebegehren gegen die Entscheidung über den Asylantrag als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, das Klagebegehren im Übrigen hingegen als unzulässig oder unbegründet abgewiesen worden ist.

(2) In den übrigen Fällen steht den Beteiligten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(3) Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

(4) Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss, der keiner Begründung bedarf. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) § 134 der Verwaltungsgerichtsordnung findet keine Anwendung, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts nach Absatz 1 unanfechtbar ist.

(7) Ein Rechtsbehelf nach § 84 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids zu erheben.

(8) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 132 Absatz 1 und § 137 Absatz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung auch zu, wenn das Oberverwaltungsgericht

1.
in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und
2.
die Revision deswegen zugelassen hat.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde kann auf diesen Zulassungsgrund nicht gestützt werden. Die Revision ist beschränkt auf die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat. In dem hierfür erforderlichen Umfang ist das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 137 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt für die Beurteilung der allgemeinen Lage diejenigen herkunfts- oder zielstaatsbezogenen Erkenntnisse, die von den in Satz 1 Nummer 1 genannten Gerichten verwertet worden sind, die ihm zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung oder Entscheidung (§ 77 Absatz 1) von den Beteiligten vorgelegt oder die von ihm beigezogen oder erhoben worden sind. Die Anschlussrevision ist ausgeschlossen.

(8a) Das Bundesministerium des Innern und für Heimat evaluiert im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Justiz die Revision nach Absatz 8 drei Jahre nach Inkrafttreten.

Für die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die Vorschriften des Zweiten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechend. Die Mitglieder und drei Vertreter des für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 zuständigen Spruchkörpers bestimmt das Präsidium jeweils für die Dauer von vier Jahren. Die Mitglieder und ihre Vertreter müssen Richter auf Lebenszeit sein.

(1) Das Präsidium bestimmt die Besetzung der Spruchkörper, bestellt die Ermittlungsrichter, regelt die Vertretung und verteilt die Geschäfte. Es trifft diese Anordnungen vor dem Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer. Der Präsident bestimmt, welche richterlichen Aufgaben er wahrnimmt. Jeder Richter kann mehreren Spruchkörpern angehören.

(2) Vor der Geschäftsverteilung ist den Richtern, die nicht Mitglied des Präsidiums sind, Gelegenheit zur Äußerung zu geben.

(3) Die Anordnungen nach Absatz 1 dürfen im Laufe des Geschäftsjahres nur geändert werden, wenn dies wegen Überlastung oder ungenügender Auslastung eines Richters oder Spruchkörpers oder infolge Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Richter nötig wird. Vor der Änderung ist den Vorsitzenden Richtern, deren Spruchkörper von der Änderung der Geschäftsverteilung berührt wird, Gelegenheit zu einer Äußerung zu geben.

(4) Das Präsidium kann anordnen, daß ein Richter oder Spruchkörper, der in einer Sache tätig geworden ist, für diese nach einer Änderung der Geschäftsverteilung zuständig bleibt.

(5) Soll ein Richter einem anderen Spruchkörper zugeteilt oder soll sein Zuständigkeitsbereich geändert werden, so ist ihm, außer in Eilfällen, vorher Gelegenheit zu einer Äußerung zu geben.

(6) Soll ein Richter für Aufgaben der Justizverwaltung ganz oder teilweise freigestellt werden, so ist das Präsidium vorher zu hören.

(7) Das Präsidium entscheidet mit Stimmenmehrheit. § 21i Abs. 2 gilt entsprechend.

(8) Das Präsidium kann beschließen, dass Richter des Gerichts bei den Beratungen und Abstimmungen des Präsidiums für die gesamte Dauer oder zeitweise zugegen sein können. § 171b gilt entsprechend.

(9) Der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts ist in der von dem Präsidenten oder aufsichtführenden Richter bestimmten Geschäftsstelle des Gerichts zur Einsichtnahme aufzulegen; einer Veröffentlichung bedarf es nicht.

(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.

Tenor

1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 - 1 StR 93/11 - und das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 18. November 2010 - 1 KLs 4 Js 1276/06 jug. - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

2. ...

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung einer Sicherungsverwahrung, die in der Anlassverurteilung gemäß § 66a StGB vorbehalten war.

I.

2

1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung fand mit dem Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002, in Kraft getreten am 28. August 2002 (BGBl I S. 3344), in das Strafgesetzbuch Eingang. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, die Verhängung der Maßregel im Urteil zunächst vorzubehalten und über die Anordnung in einem Nachverfahren am Ende der Strafvollstreckung zu entscheiden. Die Gefährlichkeitsprognose sollte auf diese Weise zeitlich nach hinten verlagert und durch Einbeziehung von Erkenntnissen aus dem Strafvollzug auf eine breitere Grundlage gestellt werden können (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5). Flankiert wurde die Regelung durch eine eigene Verfahrensvorschrift in § 275a StPO, die vorsah, dass das Gericht des ersten Rechtszuges über die im Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung entscheidet. Damit sollte klargestellt werden, dass die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung Teil des Erkenntnisverfahrens ist und in zwei Akten durchgeführt wird. Dem Verurteilten sollten in beiden Verfahrensschritten die gleichen Verfahrensrechte zukommen (vgl. BTDrucks 14/9264, S. 10 f.).

3

2. § 66a StGB in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344; im Folgenden: § 66a StGB a.F.) hatte folgenden Wortlaut:

4

§ 66a

5

Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

6

(1) Ist bei der Verurteilung wegen einer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Straftaten nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, ob der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 gefährlich ist, so kann das Gericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 erfüllt sind.

7

(2) Über die Anordnung der Sicherungsverwahrung entscheidet das Gericht spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt, ab dem eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, auch in Verbindung mit § 454b Abs. 3 der Strafprozessordnung, möglich ist. Es ordnet die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergibt, dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

8

(3) Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung darf erst nach Rechtskraft der Entscheidung nach Absatz 2 Satz 1 ergehen. Dies gilt nicht, wenn die Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 Nr. 2 offensichtlich nicht vorliegen.

9

§ 66 StGB in der Fassung desselben Gesetzes (im Folgenden: § 66 StGB a.F.) lautete:

10

§ 66

11

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

12

(1) Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn

13

1. der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,

14

2. er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und

15

3. die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist.

16

(2) Hat jemand drei vorsätzliche Straftaten begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen.

17

(3) Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 3, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.

18

(4) Im Sinne des Absatzes 1 Nr. 1 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine vorsätzliche Tat, in den Fällen des Absatzes 3 eine der Straftaten der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.

19

3. a) Die Anordnung des Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB a.F. erfolgt zusammen mit der Anlassverurteilung durch das erkennende Gericht. Sie setzt in formeller Hinsicht voraus, dass der Betroffene wegen einer Tat nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F., das heißt, wegen eines Verbrechens oder einer der weiteren in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. genannten Straftaten, verurteilt wird. Ferner müssen die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB, nämlich die in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. genannten gewichtigen (Vor-)Verurteilungen vorliegen.

20

Aus der Verweisung von § 66a Abs. 1, § 66 Abs. 3 StGB a.F. auf § 66 Abs. 1 Nr. 3 a.F. StGB hat die Rechtsprechung abgeleitet, dass der Ausspruch eines Vorbehalts nach § 66a Abs. 1 StGB a.F. die Feststellung eines Hangs des Verurteilten zur Begehung erheblicher Straftaten, nämlich solcher, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, voraussetzt (grundlegend hierzu BGHSt 50, 188 <194 f.>).

21

Nicht positiv feststehen dürfe hingegen zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung die in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. vorausgesetzte Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen vorbehaltene und primäre Sicherungsverwahrung in einem "strikten Ausschließlichkeitsverhältnis" zueinander: Vorrangig ist die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB zu prüfen. Die Möglichkeit der Anordnung des Vorbehalts entbindet das erkennende Gericht nicht von seiner umfassenden Aufklärungspflicht. Erst wenn die für die Anordnung erforderliche Gefährlichkeit des Betroffenen nicht feststellbar ist, kommt § 66a StGB zum Tragen (vgl. BGHSt 50, 188 <193>). Nach der Rechtsprechung setzt dies eine "erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit" dafür voraus, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies auch zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; Urteil vom 20. November 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11; so auch Ullenbruch, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/1, 1. Aufl. 2005, § 66a Rn. 30; Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 66a Rn. 8).

22

b) Zuständig für die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist gemäß § 74f Abs. 1, § 120a Abs. 1 GVG in der hier maßgeblichen Fassung vom 8. Juli 2008 (Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008, BGBl I S. 1212) das Gericht des ersten Rechtszugs, das heißt, die Strafkammer beziehungsweise der Strafsenat des Oberlandesgerichts, welche beziehungsweise welcher bereits zuvor über die Anordnung des Vorbehaltes entschieden hatte. Die Entscheidung ergeht gemäß § 275a StPO in der hier maßgeblichen Fassung vom 29. Juli 2009 (Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2274) durch Urteil nach Durchführung einer Hauptverhandlung. Für diese gelten im Wesentlichen die gleichen Regelungen wie für die Hauptverhandlung, auf deren Grundlage die Verurteilung des Täters und die Anordnung des Vorbehalts erfolgen. Vor der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung holt das Gericht gemäß § 275a Abs. 4 Satz 1 StPO das Gutachten eines Sachverständigen ein.

23

§ 66a Abs. 2 StGB a.F. sah vor, dass über die Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt entschieden wird, ab dem eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, auch in Verbindung mit § 454b Abs. 3 StPO, möglich ist.

24

Die Sicherungsverwahrung ist zwingend anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs von ihm erhebliche Straftaten erwarten lässt, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen (§ 66a Abs. 2 StGB a.F.; jetzt: § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB). Voraussetzung ist daher die prognostizierte Gefahr schwerwiegender Delikte gegen die Person (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 324/05 -, juris, Rn. 6).

25

4. Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 3007) dehnte mit einer Änderung des § 106 JGG den Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung auf Heranwachsende aus, die nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilt werden.

26

5. Mit der Umgestaltung der Sicherungsverwahrung durch das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) haben die Vorschriften der §§ 66, 66a StGB Änderungen erfahren. Insbesondere ist einerseits der Anwendungsbereich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ausgeweitet worden. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage kann nunmehr auch gegen sogenannte Ersttäter der Vorbehalt ausgesprochen werden (§ 66a Abs. 2 StGB). Entsprechend der Gesamtkonzeption der gesetzlichen Neuregelung ist andererseits der Straftatenkatalog der Anlasstaten reduziert worden. Einfache Vermögens- und Eigentumsdelikte kommen als Anlasstaten nicht mehr in Betracht.

27

6. Der Zweite Senat hat mit Urteil vom 4. Mai 2011 - neben den anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung - auch § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Zugleich hat er gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Vorschriften bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013, nach Maßgabe der Gründe angeordnet (BVerfGE 128, 326 <332>).

28

7. Nach dem dazu vorliegenden Gesetzesentwurf (vgl. hierzu Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, BTDrucks 17/9874, S. 14) ist beabsichtigt, am Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung festzuhalten. Im Jugendstrafrecht soll die nachträgliche Sicherungsverwahrung durch eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung, auch für Ersttäter, ersetzt werden. Für Heranwachsende, die nach allgemeinem Strafrecht verurteilt werden, sind entsprechende Änderungen vorgesehen.

II.

29

Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

30

1. Der 1944 geborene Beschwerdeführer ist etwa seit den 1980er Jahren kontinuierlich wegen pädophiler Straftaten im In- und Ausland strafrechtlich in Erscheinung getreten und wiederholt zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.

31

a) Er absolvierte in den Jahren 1972 und 1975 das Erste und Zweite Staatsexamen für das Lehramt an Realschulen. Im Jahr 1974 oder 1975 trat er aus dem staatlichen Schuldienst aus und erwarb mit seiner damaligen Lebensgefährtin - seiner späteren Ehefrau - ein Internat. Bei den Internatsschülern handelte es sich um zunächst 12, später 30 Jungen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren.

32

In der Zeit von 1976 bis 1977 kam es zu sexuellen Übergriffen des Beschwerdeführers gegenüber den Schülern. Infolgedessen wurde er mit Urteil des Landgerichts München II vom 24. Oktober 1980 wegen sieben sachlich zusammentreffender Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, davon in drei Fällen jeweils rechtlich zusammentreffend mit einem Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zugleich wurde ein Berufsverbot angeordnet, wonach dem Beschwerdeführer jede Tätigkeit in einer mit der Erziehung und Betreuung von Personen unter 18 Jahren befassten Einrichtung für die Dauer von fünf Jahren untersagt war. Infolge der erlittenen Untersuchungs- und Auslieferungshaft von zwei Jahren - der Beschwerdeführer war während seiner Untersuchungshaft in die Niederlande geflüchtet - wurde er mit Verkündung des Urteils in die Freiheit entlassen.

33

b) Zwischen 1980 und 1983 war der Beschwerdeführer in Südtirol als angestellter Lehrer an verschiedenen Gymnasien sowie als Kulturreferent für den Rundfunk tätig. In dieser Zeit kam es zu wiederholten sexuellen Übergriffen gegenüber Minderjährigen, weswegen er mit Urteil des Appellationsgerichtshofs Trient vom 5. November 1986 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde.

34

c) Nachdem ihm 1988 die Verbüßung seiner Haft als Freigänger genehmigt worden war, ließ sich der Beschwerdeführer in Deutschland nieder. In der Folgezeit kam es erneut zu sexuellen Übergriffen. Das Landgericht Köln verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 24. Juni 1991 wegen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen, sowie in sieben Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem wurde ihm auf Lebenszeit verboten, einen Beruf auszuüben, der die Ausbildung, Betreuung und Beaufsichtigung von Jugendlichen zum Gegenstand hat. Dieses Berufsverbot wurde im Jahre 1992 zur Bewährung ausgesetzt, soweit es die Ausbildung, Betreuung und Beaufsichtigung von Jugendlichen ab 15 Jahren betraf.

35

d) Während des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Belgien in der Zeit von Juli 1991 bis Ende 1995 wurde gegen ihn wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen ermittelt, ein Tatnachweis konnte nicht geführt werden.

36

e) In den Jahren 1995 und 1996 ging der Beschwerdeführer einer Lehrtätigkeit an einer Universität in Kolumbien nach. Nach Erkenntnissen des BKA Wiesbaden, welche vom Beschwerdeführer nicht bestätigt wurden, soll gegen den Beschwerdeführer und weitere Personen der dringende Tatverdacht des fortgesetzten Missbrauchs von Kindern und der Herstellung kinderpornographischer Schriften bestanden haben.

37

f) Im Jahr 1998 wurde der Beschwerdeführer in Tschechien wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen unter 15 Jahren in Haft genommen. Nach Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft Köln stellte diese das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

38

g) Mit Urteil des Bezirksgerichts Pilsen vom 30. Juni 2006 wurde der Beschwerdeführer wegen Sexualstraftaten an Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

39

2. a) Das Landgericht Deggendorf verurteilte den Beschwerdeführer am 22. Februar 2008 wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, der versuchten Vergewaltigung in drei Fällen und des Verstoßes gegen ein Berufsverbot in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren. Zugleich wurde die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

40

b) Die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil vom 22. Februar 2008 verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 9. September 2008. Die Annahme des Landgerichts, wegen der Weigerung des Beschwerdeführers, sich explorieren oder begutachten zu lassen, könne dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nicht festgestellt und deswegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung nur vorbehalten werden, sei zwar nicht rechtsfehlerfrei. Zur Feststellung der Gefährlichkeit eines Hangtäters bedürfe es keiner Erkenntnisse, die nur mit dessen Zustimmung gewonnen werden könnten. Vielmehr ergebe sich die Gefährlichkeit regelmäßig allein aus der hier getroffenen Feststellung eines Hangs. Anhaltspunkte für nach den Taten eingetretene Umstände, die die hangbedingte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers auch nur möglicherweise in Frage stellen könnten, seien nicht ansatzweise zu erkennen. Da die Strafkammer sich letztlich nur durch das Fehlen der von ihr rechtsfehlerhaft für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Erkenntnisse an der Anordnung der Sicherungsverwahrung gehindert gesehen habe, sei der Beschwerdeführer aber durch die nur vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht beschwert.

41

3. a) Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Deggendorf vom 3. Dezember 2009 ordnete das Landgericht Deggendorf - große Jugendkammer - mit hier angegriffenem Urteil vom 18. November 2010 gegen den Beschwerdeführer nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an.

42

aa) Am 29. September 2010 hatte die Kammer gemäß § 33b Abs. 2 JGG beschlossen, in der Besetzung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Jugendschöffen zu entscheiden. Den Besetzungseinwand des Beschwerdeführers vom 17. November 2010, mit dem dieser geltend machte, die Jugendkammer sei zwingend mit drei Berufsrichtern zu besetzen, hatte die Kammer mit Beschluss vom 18. November 2010 zurückgewiesen. Wie schon im Anlassverfahren sei eine Besetzung mit zwei Berufsrichtern zur sachgerechten Behandlung des Falls ausreichend. Die Sache sei, nachdem nur noch die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausstehe, nicht außerordentlich umfangreich. Die Rechtslage stelle sich nicht schwieriger als im Anlassverfahren dar.

43

bb) Das von der Kammer in Auftrag gegebene forensisch-psychiatrische Gutachten war aufgrund der Weigerung des Beschwerdeführers, an der Begutachtung mitzuwirken, nach Aktenlage erstellt worden. Der beauftragte Sachverständige Prof. Dr. Osterheider hatte ausweislich des landgerichtlichen Urteils ausgeführt, es sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass bei dem Beschwerdeführer eine Präferenzstörung im Sinne einer Pädophilie vom ausschließlichen Typus (Kernpädophilie, ICD-10: F65.4) vorliege, die auch den Bereich der Ephebophilie umfasse. Die Ephebophilie beschreibe einen Zustand sexueller Reizbarkeit durch in der Pubertät befindliche Jugendliche, wohingegen pädophile Täter nur durch vorpubertäre Kinder und Jugendliche gereizt würden. Die Kernpädophilie zeichne sich durch eine hohe Progredienz sowie eine hohe Rückfallhäufigkeit aus. Für eine Pädophilie vom ausschließlichen Typus bestehe abstrakt eine 80%-ige Rückfallwahrscheinlichkeit. Bei sogenannten ich-syntonen Tätern wie dem Beschwerdeführer sei typisch, dass sie ihre Abweichung nicht als störend, abweichend oder normverletzend empfänden, keinerlei Therapiemotivation hätten und bereits bei der Berufswahl ihrer pädophilen Orientierung nachgingen. Es sei als wahrscheinlich zu beurteilen, dass der Beschwerdeführer bei einer unbehandelten Entlassung schnell Kontakt zu Kindern oder Jugendlichen suchen würde. Bei dem Beschwerdeführer bestehe ein seit dreißig Jahren eingeschliffenes Verhaltensmuster und somit eine fest eingewurzelte Neigung. Die Störung bestehe seit der Pubertät, mit einer Persönlichkeitsnachreifung sei nicht zu rechnen. Demzufolge sei von einer ungünstigen Prognose auszugehen. Es bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit deliktanaloger Taten.

44

Die Kammer schloss sich den Ausführungen des Sachverständigen an. Angesichts der Vorverurteilungen und der Anlasstaten bestehe kein Zweifel daran, dass beim Beschwerdeführer eine Pädophilie vom ausschließlichen Typ vorliege. Vom Beschwerdeführer gehe für die Allgemeinheit immer noch eine hohe Gefahr aus. Er habe im Rahmen der sozialtherapeutischen Behandlung die Anlasstaten geleugnet, setze sich mit seiner Delinquenz nicht auseinander und stelle die rechtlichen Aspekte der Haft in den Vordergrund. Aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers und eines Vorfalls mit einem Mithäftling sei eine Weiterführung der Therapie als nicht zielführend angesehen und daher abgebrochen worden. Der Beschwerdeführer habe in seinem letzten Wort zudem unter Beweis gestellt, dass er die Anlasstaten nach wie vor leugne und keinerlei Delikts- beziehungsweise Therapieeinsicht habe. Die Kammer sei daher zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Beschwerdeführer ein eingeschliffener innerer Zustand beziehungsweise eine fest eingewurzelte Neigung zur Begehung deliktanaloger Taten bestehe. Der Beschwerdeführer neige intensiv zu den beschriebenen Rechtsbrüchen. Die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit ergebe sich schon aus dem festgestellten Hang.

45

Das Landgericht berücksichtigte einerseits das Alter des Beschwerdeführers, den zwischenzeitlich eingetretenen Tod der Ehefrau und den voraussichtlichen Verbleib des Beschwerdeführers in der Strafhaft bis zum Endstrafenzeitpunkt im Oktober 2013. In die Abwägung stellte die Kammer andererseits die große Anzahl der Vorverurteilungen, die Vielzahl der Taten über einen langen Zeitraum und die hohe Zahl der Opfer ein. Ferner, so die Kammer, sei zu sehen, dass sich der Beschwerdeführer in keiner Weise mit den von ihm begangenen Taten auseinandersetze und pauschal der Gesellschaft die Schuld dafür zuschreibe. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterliege zwar als ultima ratio engen Grenzen, sei hier jedoch verhältnismäßig.

46

b) Auf Antrag des Generalbundesanwalts verwarf der Bundesgerichtshof mit angegriffenem Beschluss vom 29. März 2011 gemäß § 349 Abs. 2 StPO die Revision des Beschwerdeführers, mit der dieser den absoluten Revisionsgrund einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts gemäß § 338 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 33b Abs. 2 JGG geltend machte und die Verletzung materiellen Rechts rügte, als unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung habe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben.

III.

47

Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seines Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie - unter Berufung auf das Urteil des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 - einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.

48

1. Die Besetzung der Jugendkammer mit zwei Berufsrichtern verstoße gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Kammer hätte aufgrund der Eingriffstiefe sowie der Schwierigkeit der Rechtsfrage zwingend mit drei Berufsrichtern besetzt sein müssen. Der Gesetzgeber habe bei Schwurgerichtsverfahren ebenso wie bei der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung, gerade auch aufgrund der besonderen Eingriffsqualität, eine Besetzung der Kammer mit drei Berufsrichtern vorgeschrieben. Die Schwere des Eingriffs einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung unterscheide sich jedoch nicht von der Verhängung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Gerade die Eingriffstiefe der Sicherungsverwahrung, die über die einer lebenslangen Freiheitsstrafe hinausgehe, begründe die Schwierigkeit der Angelegenheit. Im Übrigen ergebe sich die Schwierigkeit im vorliegenden Fall auch aus dem Umstand, dass das Landgericht Deggendorf in seinem Urteil vom 22. Februar 2008 die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung völlig verkannt habe, wie sich aus der Revisionsentscheidung vom 9. September 2008 ergebe. Das Landgericht habe schließlich verkannt, dass mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache dem Gericht gerade kein Ermessen, sondern ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei.

49

2. Die Tatsache, dass sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 9. September 2008 nicht mit dem Beschluss des 2. Strafsenats vom 5. September 2008 (2 StR 237/08) auseinandergesetzt, diesen also übersehen habe, stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG dar. Mit diesem Beschluss habe der 2. Strafsenat in einer vergleichbaren Konstellation, in der - wie hier - die Strafkammer bei der Anlassverurteilung die gesetzlichen Voraussetzungen für den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung verkannt habe, das Urteil der Strafkammer aufgehoben.

50

3. Die Vorschrift des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB und damit die hier angeordnete Sicherungsverwahrung verstoße nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Infolgedessen seien der Beschluss des Bundesgerichtshofs und das Urteil des Landgerichts Deggendorf aufzuheben und die Angelegenheit an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

IV.

51

1. Das Bundesministerium der Justiz ist der Ansicht, die vorbehaltene Sicherungsverwahrung sei auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verfassungsgemäß. Das deutsche Strafrecht wähle mit dem zweistufigen Verfahren der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung im Interesse der individuellen Freiheit des Verurteilten eine zurückhaltende Lösung, die über die Anforderungen der Konvention hinausgehe. Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung sei für den Verurteilten günstiger als die primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung. Er erfolge, um den Eingriff in die Freiheitsgrundrechte des Betroffenen so gering wie möglich zu halten.

52

Die mit der Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung sei gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt, da sie rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht erfolge. Der erforderliche hinreichende kausale Zusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung sei bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gegeben. Die zeitlich spätere Anordnungsentscheidung sei keine neue Entscheidung, die den Kausalzusammenhang durchbreche, sondern ein Teil der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtsfolgen einer Straftat. Selbst wenn die Anordnungsentscheidung als eigenständige Gerichtsentscheidung gewertet würde, sei der Kausalzusammenhang nicht durchbrochen. Eine Durchbrechung wegen Zeitablaufs könne erst dann angenommen werden, wenn sich die Entscheidung über die Fortdauer oder Beendigung der Freiheitsentziehung auf Gründe beziehe, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung nicht übereinstimmten. Dies sei bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruhe gerade auf den Feststellungen der Anlassverurteilung und berücksichtige ergänzend die Aspekte der weiteren Entwicklung des Verurteilten.

53

2. Die Bayerische Staatsregierung sieht einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als nicht gegeben an. Das Landgericht Deggendorf habe bei der Entscheidung über die Besetzung der Strafkammer weder unter Verkennung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entschieden, noch eine willkürliche oder offensichtlich unhaltbare Auslegung des § 33b Abs. 2 JGG vorgenommen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebiete nicht, dass bei der Entscheidung über die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung nach einem Vorbehalt drei Berufsrichter an der Entscheidung mitwirken.

54

Durch die Anordnung der Sicherungsverwahrung werde der Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG verletzt. Der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 anzulegende strikte Verhältnismäßigkeitsmaßstab sei gewahrt.

55

Ein Grundrechtsverstoß ergebe sich auch nicht aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Freiheitsentzug sei im Falle der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt. Der nach dieser Vorschrift erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung liege vor. Die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung ergebe sich maßgeblich aus dem Vorbehaltsurteil und hänge von diesem ab. Letztlich handele es sich bei dem Verfahren der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung um eines, das in zwei Verfahrensabschnitte unterteilt sei, zwischen denen aber eine enge Verknüpfung bestehe. Mit der Feststellung, dass beim Verurteilten zumindest wahrscheinlich eine hangbedingte Gefährlichkeit für die Allgemeinheit bestehe, seien die Grundlagen für die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung - anders als in den Fällen des § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. - im Wesentlichen schon im Vorbehaltsurteil enthalten. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien Konstellationen für vereinbar mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK erklärt worden, bei welchen im Vergleich ein wesentlich schwächerer Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der anschließenden Freiheitsentziehung vorgelegen habe, so etwa in den Fällen Weeks./. Vereinigtes Königreich und Van Droogenbroeck ./. Belgien, in denen den Freiheitsentziehungen lediglich Verwaltungsentscheidungen zugrunde gelegen hätten. Überdies sei die Freiheitsentziehung im vorliegenden Verfahren aufgrund der beim Beschwerdeführer festgestellten Pädophilie vom ausschließlichen Typus auch gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK gerechtfertigt.

56

3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat die Stellungnahmen der Vorsitzenden des 1., 3. und 5. Strafsenats übermittelt. Der Vorsitzende des 1. Strafsenats merkt mit Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum gebotenen Kausalzusammenhang zwischen Urteil und Freiheitsentziehung an, dass nach dem Urteil eingetretenes Geschehen auch sonst zur Freiheitsentziehung führen könne, nachdem das Urteil selbst eine entsprechende Möglichkeit zwar eröffne, die Entscheidung darüber, ob es tatsächlich zur Freiheitsentziehung komme, aber nicht getroffen habe. Insoweit sei insbesondere auf die Möglichkeit des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56f StGB und § 26 JGG) oder des Widerrufs der Bewährung hinsichtlich einer Unterbringungsanordnung (§ 67g StGB) zu verweisen. Auch das Verfahren nachträglicher Gesamtstrafenbildung ermögliche den Wegfall einer im Urteil noch zugebilligten Strafaussetzung zur Bewährung beziehungsweise gebiete ihn in bestimmten Fällen sogar. Die anderen Vorsitzenden verweisen auf Rechtsprechung ihrer Senate.

57

4. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei vorliegend nicht verletzt. Die Rechtsanwendung des Landgerichts sei jedenfalls nicht willkürlich. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfordere hier von Verfassungs wegen nicht die Mitwirkung von drei Berufsrichtern.

58

Die angegriffenen Entscheidungen seien darüber hinaus auch unter Zugrundelegung der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 mit der Verfassung vereinbar. Ein Verfassungsverstoß ergebe sich nicht daraus, dass die Anordnung der zuvor vorbehaltenen Sicherungsverwahrung mit den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar wäre.

59

Indem das Ausgangsurteil über das Instrument des Vorbehalts das Vorliegen der formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung feststelle, lege es eine hinreichende Basis für die spätere Anordnung des Vollzugs. Der einzige Unterschied zur primären Sicherungsverwahrung bestehe darin, dass die Gefährlichkeit (noch) nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen sei. Das Gericht, welches später über die Anordnung zu entscheiden habe, sei an die Feststellungen und rechtliche Beurteilung der Tat durch das Tatgericht gebunden. Es treffe lediglich hinsichtlich der relevanten Gefährlichkeit eigene Feststellungen. Die nachfolgende Prüfung lasse sich als Annex zum Erkenntnisverfahren verstehen und schließe das zweigeteilte Procedere ab. Die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung greife nicht - wie die Verlängerung einer präventiven Freiheitsentziehung - zum Nachteil des Betroffenen korrigierend in den früheren Urteilsspruch ein, sondern halte sich in dem von der Ausgangsentscheidung vorgegebenen Rahmen.

60

Um eine breitere Entscheidungsgrundlage zu erreichen, werde die abschließende Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose in ein künftiges Verfahren verlagert. Vor diesem Hintergrund relativiere sich auch die Bedeutung des Zeitablaufs zwischen den Entscheidungen. Das Hinausschieben der abschließenden Bewertung der Gefährlichkeit diene - nicht zuletzt im Interesse des Betroffenen - der Sicherheit der zu treffenden Prognose.

61

Der Betroffene könne aufgrund eines Vorbehalts nicht im Unklaren darüber sein, dass der spätere Vollzug der Maßregel ernstlich in Betracht komme und im Wesentlichen nur noch von seiner weiteren Entwicklung abhänge. Dem rechts-staatlichen Anspruch, im Urteil über die Rechtsfolgen berechenbar aufgeklärt zu werden, sei mit dem Vorbehalt, der eine Warnfunktion erfülle, Genüge getan.

62

Schließlich hielten die Entscheidungen den Anforderungen für die Weitergeltung des § 66a StGB nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 auch bei einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.

63

5. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat sowie die übrigen Bundesländer haben von Stellungnahmen abgesehen.


V.

64

Der Beschwerdeführer hat auf die Stellungnahmen repliziert und sein Beschwerdevorbringen vertieft. Er ist der Ansicht, die mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verbundene Freiheitsentziehung sei nicht gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt. Der erforderliche hinreichende Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung sei nicht gegeben, da die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgekoppelt vom Schuldspruch erfolge. Dem Erfordernis einer präzisen und vorhersehbaren Anwendung des Gesetzes sei zudem nicht Rechnung getragen, da die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung vom Vollzugsverhalten des Strafgefangenen und damit einem wenig aussagekräftigen Kriterium abhängig sei.

B.

65

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die den angefochtenen Entscheidungen zugrunde liegenden Vorschriften des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) sind nach Maßgabe des Urteils des Senats vom 4. Mai 2011 mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar (I.). Sie verstoßen nicht auch aus anderen Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes (II.). Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer zwar nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (III.), jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (IV.).

I.

66

1. § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) sind gemäß dem Urteil des Senats vom 4. Mai 2011 unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Die Vorschriften genügen nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die vorhandenen Regelungen über die Sicherungsverwahrung strukturell die Wahrung der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs, die aus dem Abstandsgebot resultieren, nicht gewährleisten (vgl. BVerfGE 128, 326 <372 ff., 404>).

67

2. Zugleich hat der Senat gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe angeordnet, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013 (vgl. BVerfGE 128, 326 <332>). Danach dürfen § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. - wie alle übrigen Vorschriften, die wegen des Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt wurden - während dieser Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird dabei in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <405 f.>).

II.

68

§ 66a StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 verstößt nicht aus anderen als den genannten Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes.

69

1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verletzt nicht die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde.

70

a) Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 87, 209 <228>; 96, 375 <398>; 109, 133 <149>). Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen geschützt, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 45, 187 <228>; 109, 133 <149 f.>). Menschenwürde in diesem Sinne ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch "unwürdiges" Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>; 109, 133 <150>).

71

Für die Strafrechtspflege bedeutet das Gebot der Achtung der Menschenwürde insbesondere, dass grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen verboten sind. Der Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 109, 133 <150>). Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen auch dann erhalten bleiben, wenn der Grundrechtsberechtigte seiner freiheitlichen Verantwortung nicht gerecht wird und die Gemeinschaft ihm wegen begangener Straftaten die Freiheit entzieht. Aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt die Verpflichtung des Staates, auch die Freiheitsentziehung menschenwürdig auszugestalten. Mit der Garantie der Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn bestehen würde, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <229>; 109, 133 <150>).

72

Für die Androhung und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass diese ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug findet. Die Vollzugsanstalten sind im Blick auf die Grundrechte der eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßenden Gefangenen verpflichtet, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs, vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen, die die Lebenstüchtigkeit ernsthaft in Frage stellen und es ausschließen, dass sich der Gefangene im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben noch zurechtzufinden vermag, im Rahmen des Möglichen zu begegnen. Schädlichen Wirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen ist entgegenzuwirken. Diese Maßstäbe gelten auch für die Unterbringung von Straftätern in der Sicherungsverwahrung (BVerfGE 109, 133 <150 f.>).

73

b) Gemessen an diesen Maßstäben verstößt das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht gegen die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG.

74

aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass die Menschenwürde durch eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist. Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern (vgl. BVerfGE 45, 187 <242>; 109, 133 <151>). Die vom Grundgesetz vorgegebene Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums rechtfertigen es, unabdingbare Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Gemeinschaftsgüter vor Schaden zu bewahren. Das Grundgesetz hat das Spannungsverhältnis Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person aufgelöst, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Vor diesem Hintergrund ist die Sicherungsverwahrung auch als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit mit dem Grundgesetz vereinbar (vgl. BVerfGE 109, 133 <151 f.>).

75

bb) Für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ergibt sich keine hiervon abweichende Beurteilung. Der von ihr Betroffene wird nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Die Maßregel dient ebenso wie alle anderen Formen der Sicherungsverwahrung als Präventivmaßnahme dem Schutz wesentlicher Gemeinschaftsgüter. Zwar unterscheiden sich ihre Voraussetzungen von denen der primären Sicherungsverwahrung insofern, als zum Zeitpunkt der Verurteilung und Anordnung des Vorbehalts die Gefährlichkeit des Betroffenen nicht mit hinreichender Sicherheit feststehen muss und darf. Allerdings setzt der Vorbehalt eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür voraus, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; BGH, Urteil vom 20. Novem-ber 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11).

76

Der Betroffene wird zwar im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zum Zeitpunkt der Verurteilung sowie in der Regel zumindest während eines großen Teils seiner Strafhaft über sein weiteres Schicksal im Ungewissen gelassen, über ihm schwebt gleichsam das "Damoklesschwert" der Sicherungsverwahrung. Er hat jedoch die Herbeiführung der Voraussetzungen der späteren Maßregelanordnung weitgehend selbst in der Hand (vgl. Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 14). So kann er etwa durch Mitwirkung an einer Therapie zu einer für ihn günstigen Gefährlichkeitsprognose beitragen. Nach dem Urteil des Senats vom 4. Mai 2011 ist das gesamte System der Sicherungsverwahrung so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 326 <377>). Das Abstandsgebot verlangt, dass schon während des Strafvollzugs alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Gefährlichkeit des Verurteilten zu reduzieren, wenn später die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. Insbesondere muss gewährleistet sein, dass etwa erforderliche psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlungen zeitig beginnen, mit der gebotenen hohen Intensität durchgeführt und möglichst vor dem Strafende abgeschlossen werden (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>).

77

Hinzu kommt, dass sich die Belastungssituation im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht wesentlich von derjenigen der primären Sicherungsverwahrung unterscheidet (zur Vereinbarkeit der zeitlich unbegrenzten Sicherungsverwahrung mit Art. 1 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 109, 133 <153>). Auch derjenige, bei dem mit der Verurteilung die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet wird, unterliegt insofern der Ungewissheit, ob er nach der Verbüßung der Strafhaft tatsächlich in der Sicherungsverwahrung untergebracht wird, als das Gericht nach § 67c Abs. 1 StGB vor dem Ende des Strafvollzugs prüft, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert, das heißt, ob die bei der Entscheidung getroffene Gefährlichkeitsprognose noch aufrechtzuerhalten oder andernfalls die Vollstreckung gemäß § 67c Abs. 1 Satz 2 StGB zur Bewährung auszusetzen ist.

78

Dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung angesichts der mit ihm verbundenen Ungewissheiten zu besonderen Belastungen psychischer oder physischer Art führt, die als unmenschlich, grausam oder erniedrigend zu werten wären, ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar. Gerade der bloße Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ist geeignet, dem Betroffenen zu verdeutlichen, dass er nicht einem für ihn unbeherrschbaren Verlauf ausgeliefert ist, und kann zu einer größeren Bereitschaft führen, an einer Therapie mitzuwirken, um eine spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung zu vermeiden (vgl. Kreuzer/Bartsch, Forum Strafvollzug 2010, S. 124 <134>; ähnlich Streng, in: Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, 2003, S. 611 <635>; Arloth, in: Schöch/Jehle , Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, S. 327 <331>).

79

2. § 66a StGB a.F. verstößt jenseits des bereits im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellten Verstoßes gegen das Abstandsgebot nicht aus weiteren Gründen gegen das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Es liegt unter keinem weiteren Gesichtspunkt eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vor (a). Insbesondere enthält die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht (b). Auch die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (c) und des Gebots der Rechtssicherheit sind gewahrt (d).

80

a) aa) Die Freiheit der Person nimmt - als Grundlage und Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgers - einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sie als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien statuiert (BVerfGE 35, 185<190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372 f.>). Präventive Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht, die - wie die Sicherungsverwahrung - nicht dem Schuldausgleich dienen, sind nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies erfordert. Dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit ist der Freiheitsanspruch des Untergebrachten entgegenzuhalten; beide sind im Einzelfall abzuwägen (BVerfGE 109, 133 <157>; 128, 326 <372 f.>). Dabei müssen die Grenzen der Zumutbarkeit gewahrt bleiben; das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen ist sowohl auf der Ebene des Verfahrensrechts als auch materiellrechtlich abzusichern (vgl. BVerfGE 70, 297 <311>; 109, 133 <157 ff.>; 128, 326 <373>).

81

bb) Nach diesen Maßstäben genügt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Sie steht zu dem angestrebten Ziel - dem Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5) - nicht in einem unangemessenen Verhältnis.

82

(1) Die Anordnung des Vorbehalts stellt für den Betroffenen bei Abwägung mit dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit keine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung muss für die Anordnung des Vorbehalts eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird. Zum anderen setzt die Anordnung des Vorbehalts gemäß § 66a Abs. 1 StGB a.F. auch das Vorliegen eines Hangs voraus (etwas anders § 66a Abs. 1 Nr. 3 und § 66a Abs. 2 Nr. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 , wonach die Gefährlichkeit und das Vorliegen eines Hangs zumindest wahrscheinlich sein müssen). Der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung kann daher nach seiner gesetzlichen Ausgestaltung nicht bloß rein vorsorglich angeordnet werden. Bestehen aber gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährlichkeit des Verurteilten, stellt es sich nicht als unangemessen dar, wenn er, obwohl Zweifel nicht ausgeräumt werden können, mit dem Vorbehalt einer späteren Sicherungsverwahrung belastet wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass mit dem Vorbehalt keine rechtlichen Nachteile für den Vollzug der Strafe verbunden sind. Insbesondere steht der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung der Gewährung von Vollzugslockerungen nicht entgegen; diese sind vielmehr aus Gründen, die das Gericht zum Abstandsgebot formuliert hat, geboten (vgl. BVerfGE 128, 326 <381 f.>).

83

In Rechnung zu stellen ist ferner, dass es sich bei der ursprünglichen Einschätzung, es bestehe eine erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Verurteilten, rückblickend betrachtet nicht um eine falsche Prognose gehandelt haben muss, wenn der Betroffene zum Ende seiner Strafhaft nicht als gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft wird und daher von der Verhängung der Maßregel abgesehen wird. Die Erkenntnis, dass der Betroffene nicht für die Allgemeinheit gefährlich ist, kann vielmehr auch daraus resultieren, dass der Betroffene seine Gefährlichkeit während seiner Zeit im Strafvollzug etwa durch die erfolgreiche Teilnahme an einer therapeutischen Behandlung reduzieren oder beseitigen konnte.

84

(2) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung und deren spätere Anordnung stehen auch nicht angesichts der in Betracht kommenden Anlass- und Vortaten außer Verhältnis zur Intensität des Grundrechtseingriffs. Zwar kann der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 1 StGB a.F. in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB a.F. bei einer Verurteilung wegen sämtlicher Verbrechenstatbestände und entsprechender Vorverurteilungen erfolgen, so dass als Anlass- und Vortaten auch solche in Betracht kommen, die sich nicht gegen höchstpersönliche Rechtsgüter richten. Die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung im Urteil vorzubehalten und später anzuordnen, wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass die für den Vorbehalt erforderliche erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit sich auf solche drohenden Straftaten beziehen muss, durch die im Sinne des § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. potentielle Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden. Kann die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. nur zum Schutz der genannten Rechtsgüter erfolgen, so kann auch nur insoweit ein Vorbehalt angeordnet werden (vgl. Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 28; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 66a Rn. 4; Ullenbruch, in: Münchener Kommentar zum StGB, Band 2/1, 1. Aufl. 2005, § 66a Rn. 31). Damit ist die Anordnung des Vorbehalts und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Praxis regelmäßig dann ausgeschlossen, wenn im Vorfeld Straftaten begangen worden sind, die keine körperliche und seelische Schädigung beim Opfer hervorgerufen haben und nicht geeignet waren, solche Schädigungen herbeizuführen. Dem ultima-ratio-Prinzip im Rahmen der Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>) wird auf diese Weise Rechnung getragen.

85

(3) Eine andere Beurteilung der Angemessenheit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Gefährlichkeitsprognose bei der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 StGB a.F. auf das Verhalten des Betroffenen im Strafvollzug gestützt wird. Auch im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung besteht die Möglichkeit einer validen Gefährlichkeitsprognose (zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit von Prognosegutachten als Grundlage der Sicherungsverwahrung vgl. BVerfGE 109, 133 <158>; 128, 326 <373>).

86

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll die Berücksichtigung des Verhaltens des Verurteilten im Strafvollzug vor allem dessen Entwicklung in einer Behandlung als gewichtigen Prognosefaktor erfassen. Weitere prognoserelevante Gesichtspunkte könnten beispielsweise aggressive Handlungen gegen Strafvollzugsbedienstete oder Mitgefangene, Straftaten oder subkulturelle Aktivitäten im Vollzug, Drohungen oder andere Äußerungen sein, die auf eine Rückkehr in kriminelle Subkulturen und eine Wiederaufnahme insbesondere von Gewalt- oder Sexualkriminalität hindeuten (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 7).

87

Bedenken, was die Aussagekraft des Vollzugsverhaltens für die Gefährlichkeitsprognose betrifft (vgl. Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 1. Aufl. 2009, § 66a Rn. 10; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 66a Rn. 8; Nedopil, NStZ 2002, S. 344 <349>), führen lediglich dazu, dass das Verhalten des Betroffenen mit besonderer Vorsicht zu würdigen ist, nicht aber zur Verfassungswidrigkeit des Instituts der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Der begrenzten Aussagekraft des Verhaltens des Betroffenen im Strafvollzug trägt die Rechtsprechung bereits dadurch Rechnung, dass allgemein verbreitete und vollzugstypische Verhaltensweisen, wie etwa unfreundliches, aufsässiges Verhalten oder einfache Sachbeschädigungen, nicht ohne weiteres als Hinweis auf eine erhebliche Gefährlichkeit eines Verurteilten gewertet werden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 324/05 -, juris, Rn. 6; Beschluss vom 10. November 2006 - 1 StR 483/06 -, juris, Rn. 9; zur entsprechenden Rechtsprechung im Hinblick auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 -, NJW 2006, S. 531 <535>; Urteil vom 19. Januar 2006 - 4 StR 222/05 -, NJW 2006, S. 1446 <1448>; Beschluss vom 28. August 2007 - 5 StR 267/07 -, juris; Beschluss vom 22. Januar 2009 - 1 StR 618/08 -, juris, Rn. 15; BVerfGK 9, 108 <113>).

88

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das Verhalten des Strafgefangenen im Strafvollzug in der Gesamtwürdigung mit seiner Person und seinen Taten hinreichend Aufschluss über seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit gibt. Für aussagekräftig im Hinblick auf die zu erstellende Gefährlichkeitsprognose werden insbesondere Erkenntnisse im Rahmen einer therapeutischen Behandlung in der Strafhaft erachtet, die im ersten psychiatrischen Gutachten nicht explorierbar gewesen sind (vgl. Schreiber/Rosenau, in: Venzlaff/Foerster , Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 53 <100>; Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 57; Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 1. Aufl. 2009, § 66a Rn. 11). Als Anhaltspunkte für eine eher ungünstige Prognose werden in diesem Zusammenhang etwa genannt: Keine Einsicht in eigene Probleme, Tendenz zur Bagatellisierung, Unmöglichkeit, sich der speziellen Problematik zu nähern, Verweigerung therapeutischer Angebote, mehrfache Therapieabbrüche (vgl. Rasch, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 376).

89

Hinzu kommt, dass mit Blick auf das ultima-ratio-Prinzip künftig in größerem Maße als bislang Vollzugslockerungen vorzusehen und zu gewähren sind, so dass die Gefährlichkeitsprognose auf eine tragfähigere Grundlage gestellt werden kann (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>). Damit wird zugleich der Gefahr begegnet, dass sich der Betroffene wegen der Versagung von Vollzugslockerungen nicht bewähren kann. Falls dennoch das Vollzugsverhalten nach den dargelegten Maßstäben im Einzelfall nicht aussagekräftig sein sollte und auch im Rahmen der Gesamtwürdigung von Täter, Tat und der Entwicklung im Strafvollzug keine fundierte Prognose getroffen werden kann, darf die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden.

90

b) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung enthält auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht.

91

Die Europäische Menschenrechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz. Sie ist jedoch als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Dies gilt auch für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <315 ff.>; 128, 326 <366 ff.>; zur Aufnahme der Wertungen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip BVerfGE 128, 326 <371>).

92

Auch nach den demgemäß heranzuziehenden Wertungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK greift die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht unverhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht ein.

93

Art. 5 EMRK enthält in Absatz 1 eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung (vgl. nur EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 86, m.w.N.). Die Voraussetzungen des Haftgrundes nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK liegen nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB a.F. vor (aa). Dagegen ist eine Rechtfertigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK regelmäßig ausgeschlossen; inwieweit eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK zu rechtfertigen ist, kann offen bleiben (bb).

94

aa) Die mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. verbundene Freiheitsentziehung findet ihre Rechtfertigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK.

95

(1) Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gestattet eine "rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht". Der Begriff "Verurteilung" ist so zu verstehen, dass er sowohl eine Schuldfeststellung bezeichnet, nachdem das Vorliegen einer Straftat in der gesetzlich vorgesehenen Weise festgestellt wurde, als auch die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme. Darüber hinaus bedeutet das Wort "nach" in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht lediglich, dass die Freiheitsentziehung zeitlich auf die Verurteilung folgt. Zusätzlich muss sich die Freiheitsentziehung aus dieser Verurteilung ergeben, ihr folgen und von ihr abhängen oder kraft dieser Verurteilung angeordnet werden ("the detention must result from, follow and depend upon or occur by virtue of the conviction"). Mit anderen Worten muss zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang ("sufficient causal connection") bestehen (grundlegend EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 35; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 87 f.).

96

(2) Nach diesen Maßstäben kann die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach zuvor ergangenem Vorbehalt gemäß § 66a Abs. 2 StGB a.F. für sich betrachtet nicht als Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden (a). Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist jedoch von einem hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung und der Verurteilung auszugehen (b). Der erforderliche Kausalzusammenhang wird nicht durch den Zeitablauf zwischen der Verurteilung und der Anordnung der Sicherungsverwahrung durchbrochen (c).

97

(a) Die Entscheidung eines Strafvollstreckungsgerichts über den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung erfüllt nicht das Erfordernis einer Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK, da sie keine Schuldfeststellung beinhaltet (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 96, Urteile vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 84, Beschwerde-Nr. 27360/04 und 42225/07, Schummer ./. Deutschland, Rn. 53; ferner Urteil vom 24. November 2011, Beschwerde-Nr. 4646/08, O.H. ./. Deutschland, Rn. 82). Gleiches hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für ein Urteil angenommen, mit dem nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. In diesem Fall, so der Gerichtshof, sei allein die strafgerichtliche Aburteilung konventionsrechtlich als Verurteilung anzusehen (vgl. EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 72 f.).

98

Danach kann auch die durch Urteil nachträglich angeordnete, zuvor im Anlassurteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung jedenfalls isoliert betrachtet nicht als Verurteilung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden. Auch sie enthält - ebenso wie die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung - keine Schuldfeststellung im Sinne der zitierten Rechtsprechung. Zwar enthält das Urteil Feststellungen zur Anlassverurteilung. Hierbei handelt es sich jedoch nur um die Wiedergabe der Feststellungen, die bereits in der Anlassverurteilung rechtskräftig getroffen worden sind. Das Gericht ist an diese Feststellungen gebunden (vgl. hierzu etwa Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 82).

99

(b) Ob aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung als zweiaktiges Verfahren (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6; BTDrucks 14/9264, S. 10) der Vorbehalt und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung zusammen genommen als Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gewertet werden können, bedarf keiner Entscheidung. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, so schließt dies den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK nicht aus. Die Sicherungsverwahrung ist nämlich dann gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt, wenn zwischen ihr und der Verurteilung, welche die Schuldfeststellung beinhaltet, ein hinreichender Kausalzusammenhang existiert (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 97; Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland, Rn. 85; Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 74). Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Kriterium des hinreichenden Kausalzusammenhangs im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK ist ein solcher Kausalzusammenhang zwischen der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung und der Verurteilung zu bejahen.

100

Der Gerichtshof nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die zusammen mit der Verurteilung angeordnet wird und die nicht über die zum Zeitpunkt der Anlasstat und der Verurteilung gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer hinaus erfolgt, unter den Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK fällt (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 93 ff.; Urteil vom 21. Oktober 2010, Beschwerde-Nr. 24478/03, Grosskopf ./. Deutschland, Rn. 47; Urteil vom 9. Juni 2011, Beschwerde-Nr. 30493/04, Schmitz ./. Deutschland, Rn. 39; ferner EKMR, Entscheidung vom 4. Februar 1971, Beschwerde-Nr. 4324/69, X. ./. Deutschland; Entscheidung vom 7. Juli 1992, Beschwerde-Nr. 19969/92, Dax ./. Deutschland).

101

Nach den Maßstäben dieser Rechtsprechung steht es der Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung nicht ohne weiteres entgegen, dass letztere nicht zusammen mit der Verurteilung ausgesprochen wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich eine später angeordnete Freiheitsentziehung in dem zum Zeitpunkt der Verurteilung bestehenden gesetzlichen und durch die Verurteilung gesteckten Rahmen bewegt (aa). Diese Voraussetzung ist bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfüllt (bb). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 1 EMRK (cc).

102

(aa)(α) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat es im Hinblick auf den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung grundsätzlich nicht beanstandet, dass nach belgischem Recht ein Straftäter neben seiner Haftstrafe "der Verfügungsgewalt der Regierung" unterstellt ("mise à la disposition du gouvernement") und die Entscheidung über die Art und Weise der Vollstreckung dieser Strafe nach Verbüßung der Haft seitens des Justizministers getroffen wurde (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien; Urteil vom 13. Oktober 2009, Beschwerde-Nr. 27428/07, Schepper ./. Belgien, Rn. 35 ff.).

103

Diese Konstellation ist, was den Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Freiheitsentziehung betrifft, mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vergleichbar (so auch Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 16; Finger, Vorbehaltene und Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2008, S. 216). Zwar wurde nach belgischem Recht mit der Unterwerfung unter die Verfügungsgewalt der Regierung die Entscheidung über die Verhängung einer weiteren, zur Haftstrafe hinzutretenden Rechtsfolge - anders als beim Vorbehalt der Sicherungsverwahrung - bereits in der Verurteilung getroffen. Da das Unterwerfen unter die Verfügungsgewalt der Regierung allerdings nicht zwangsläufig zu einer tatsächlichen Freiheitsentziehung führte, sondern in unterschiedlichen Formen vollzogen werden konnte, war über den tatsächlichen Entzug der Freiheit der Sache nach ebenso wie im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht bereits im Urteil, sondern zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden. Im Fall Van Droogenbroeck ./. Belgien hat der Gerichtshof denn auch angenommen, dass die ministeriellen Entscheidungen mit dem Widerruf der bedingt erfolgten Freilassung die Freiheitsentziehung des Individualbeschwerdeführers verfügt hätten. Das verurteilende Gericht ordne die Freiheitsentziehung nicht an, sondern autorisiere sie (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 38).

104

Ähnlich verhält es sich bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Auch das Vorbehaltsurteil spricht keine Freiheitsentziehung aus, sondern eröffnet die Möglichkeit, die Freiheitsentziehung zu einem späteren Zeitpunkt anzuordnen, sofern sich der Betroffene als gefährlich für die Allgemeinheit erweisen sollte und deswegen ein Bedarf für seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht.

105

(β) Ferner hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Eriksen ./. Norwegen die Möglichkeit im norwegischen Strafrechtssystem, eine im Urteil angeordnete Präventivhaft zu verlängern und bis zur Entscheidung über die Verlängerung als provisorische Maßnahme die Untersuchungshaft anzuordnen, als Haftgrund im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK angesehen, ohne dass das zugrunde liegende Urteil gegen den Individualbeschwerdeführer eine derartige Möglichkeit vorgesehen hätte. Diese ergab sich allein aus dem Gesetz (vgl. EGMR, Urteil vom 27. Mai 1997, Beschwerde-Nr. 17391/90, Eriksen ./. Norwegen).

106

(γ) Auch die Ausführungen in der Rechtssache Haidn ./. Deutschland, in der es um die Unterbringung eines im Jahr 1999 wegen Sexualstraftaten verurteilten Individualbeschwerdeführers nach dem Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern (BayStrUBG) vom 24. Dezember 2001 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, S. 978 f.) ging, lassen erkennen, dass der Gerichtshof eine Freiheitsentziehung nicht nur dann als von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK gerechtfertigt ansieht, wenn sie bereits in der Verurteilung angeordnet wird, sondern dass auch ein Urteil, das eine Sicherungsverwahrung vorbehält, den Anforderungen an einen hinreichenden Kausalzusammenhang genügt (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04, Haidn ./. Deutschland; vgl. auch Koller, DRiZ 2011, S. 127 <132>).

107

In die gleiche Richtung deutet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 19. April 2012, die die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß dem außer Kraft getretenen § 66b Abs. 2 StGB in einem Fall betraf, in dem der Individualbeschwerdeführer bereits im Jahr 2000 und somit vor der gesetzlichen Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jahr 2004 (vgl. Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004, BGBl I S. 1838) zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass in der strafgerichtlichen Verurteilung keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei. Die Verurteilung zu dieser Zeit habe nicht einmal die Möglichkeit beinhaltet, dass der Betroffene nachträglich in der Sicherungsverwahrung untergebracht werde. Die Vorschriften, auf die die in Rede stehende Sicherungsverwahrung gestützt worden sei, seien erst nach der Tat und der Verurteilung in das Strafgesetzbuch eingeführt worden (vgl. EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 75).

108

Zusammengenommen zeigt diese Rechtsprechung, dass der Annahme eines hinreichenden Kausalzusammenhangs zwischen der Verurteilung und der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung nicht der Umstand entgegensteht, dass die Sicherungsverwahrung nicht bereits in der Verurteilung verhängt wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die Freiheitsentziehung in dem durch das zum Zeitpunkt der Verurteilung geltende Gesetz und die von einem zuständigen Gericht ausgesprochene Verurteilung gesteckten Rahmen hält (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 39; ähnlich im Hinblick auf den Widerruf einer unter Bewährung erfolgten Entlassung eines Straftäters EGMR, Urteil vom 2. März 1987, Beschwerde-Nr. 9787/82, Weeks ./. Vereinigtes Königreich, Rn. 42 f., 49 f.; vgl. ferner Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 99 f.).

109

(bb) Diese Voraussetzung ist bei der nachträglichen Anordnung der im Strafurteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfüllt. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt sich nicht als eine Korrektur, sondern als notwendige Ergänzung des strafgerichtlichen Urteils dar (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6; ferner Mushoff, Strafe - Maßregel - Sicherungsverwahrung, 2008, S. 455). Mit der Entscheidung, die Sicherungsverwahrung vorzubehalten, wird die Grundlage für eine spätere Anordnung geschaffen. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung schließt das durch den Vorbehalt zweigeteilte Verfahren lediglich ab (vgl. Hörnle, in: Festschrift für Ruth Rissing-van Saan, 2011, S. 239 <252>; Laue, JR 2010, S. 198 <203>). Sie hält sich in dem durch das Urteil gezogenen Rahmen, welches gerade die Möglichkeit eröffnet, unter den gesetzlichen Voraussetzungen spätestens bis zu dem in § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB a.F. genannten Zeitpunkt die Sicherungsverwahrung anzuordnen.

110

(cc) Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 1 EMRK, den Einzelnen vor einer willkürlichen Freiheitsentziehung zu schützen (vgl. EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Beschwerde-Nr. 5100/71 u.a., Engel u.a. ./. Niederlande, Rn. 58; Urteil vom 6. November 1980, Beschwerde-Nr. 7367/76, Guzzardi ./. Italien, Rn. 92; Urteil vom 25. Juni 1996, Beschwerde-Nr. 19776/92, Amuur ./. Frankreich, Rn. 42). Der Betroffene wird mit dem Vorbehalt im Strafurteil bereits darüber informiert, dass gegen ihn neben der verhängten Strafe eine weitere Rechtsfolge festgesetzt werden kann. Mit der Anlassverurteilung weiß er daher, dass seine Gefährlichkeit vor Ende des Strafvollzuges nochmals unter Berücksichtigung seines Vollzugsverhaltens bewertet wird. Sein Verhalten im Strafvollzug, insbesondere seine Mitarbeit in einer Therapie, kann er hierauf einrichten (vgl. Kreuzer, NStZ 2010, S. 473 <479>; Rissing-van Saan, in: Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 1173 <1183>; ferner BGH, Urteil vom 17. Februar 2011 - 3 StR 394/10 -, juris, Rn. 22). Die Voraussetzungen, unter denen die Sicherungsverwahrung letztlich angeordnet werden kann, liegen zudem nicht im freien Ermessen des Gerichts, sondern sind gesetzlich bestimmt (zu diesem Erfordernis vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 39). Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr einer willkürlichen Freiheitsentziehung bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ebenso wenig wie im Fall der primären Sicherungsverwahrung, zumal die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auf einer breiteren Tatsachengrundlage als im Falle ihrer zusammen mit der Anlassverurteilung vorgenommenen Anordnung erfolgt (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 5). Hinzu kommt, dass für die Gefährlichkeit des Verurteilten schon bei der Anlassverurteilung eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen und sein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten feststehen muss. Auf diese Weise wird vermieden, dass die vorbehaltene Sicherungsverwahrung rein vorsorglich angeordnet werden kann (siehe hierzu oben B.II.2.a)bb)(1)).

111

(c) Der Kausalzusammenhang bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird nicht durch die Zeitspanne zwischen der Verurteilung und der mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundenen Freiheitsentziehung durchbrochen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und einer weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf allmählich schwächer wird. Eine Durchbrechung des Kausalzusammenhangs nimmt er an, wenn sich die Entscheidung, dem Betroffenen seine Freiheit zu entziehen, auf Gründe stützt, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung unvereinbar wären, oder auf eine Einschätzung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen wäre. Unter diesen Umständen verwandelt sich eine Freiheitsentziehung, die zu Beginn rechtmäßig war, in eine willkürliche, mit Art. 5 EMRK nicht zu vereinbarende Freiheitsentziehung (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 40; Urteil vom 27. Mai 1997, Beschwerde-Nr. 17391/90, Eriksen ./. Norwegen, Rn. 78; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 88).

112

Dies ist nach der gesetzlichen Ausgestaltung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht der Fall. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung knüpft an das erste, den Vorbehalt aussprechende Urteil an. Mit der Anordnung wird abschließend über die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit entschieden, die zum Zeitpunkt der Aburteilung zwar nicht abschließend festgestellt, wohl aber als wahrscheinlich beurteilt werden konnte. Sinn und Zweck des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung ist es gerade, eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob die Notwendigkeit besteht, den Täter zum Schutz der Allgemeinheit in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, und damit eine genauere Gefährlichkeitsprognose zu erhalten (zu ähnlichen Erwägungen vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 79066/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 40). In die für die Erstellung der Gefährlichkeitsprognose notwendige Gesamtwürdigung fließen zudem die Feststellungen über den Täter und dessen Taten ein (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 7). Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruht daher auf Gründen, die bereits in dem Vorbehaltsurteil angelegt sind (so zur aktuellen Rechtslage Radtke, Stellungnahme zu dem Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen" - BTDrucks 17/3404 vom 9. November 2010).

113

bb) (1) Eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK kommt im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung dagegen regelmäßig nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist eine Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde zu rechtfertigen, wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, die Person an der Begehung einer Straftat zu hindern. Dieser Haftgrund stellt lediglich ein Mittel zur Verhütung einer konkreten und spezifischen Straftat dar ("a means of preventing a concrete and specific offence") und steht unter formellen Voraussetzungen ("zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde"), die im Rahmen der Sicherungsverwahrung regelmäßig nicht vorliegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat demzufolge in den Fällen, in denen er über die Konventionsmäßigkeit oder -widrigkeit von Sicherungsverwahrungen zu befinden hatte, eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK verneint (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 102, m.w.N.; Urteile vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 17792/07, Kallweit ./. Deutschland, Rn. 52, Beschwerde-Nr. 27360/04 und 42225/07, Schummer ./. Deutschland, Rn. 56; Urteil vom 14. April 2011, Beschwerde-Nr. 30060/04, Jendrowiak ./. Deutschland, Rn. 35; Urteil vom 24. November 2011, Beschwerde-Nr. 4646/08, O.H. ./. Deutschland, Rn. 83; vgl. ferner BVerfGE 128, 326 <395 f.>). Es ist daher davon auszugehen, dass der Gerichtshof auch eine nach Vorbehalt angeordnete Sicherungsverwahrung typischerweise nicht als vom Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c EMRK gerechtfertigt ansehen wird.

114

(2) Inwieweit die Freiheitsentziehung aufgrund einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung auch nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK gerecht-fertigt werden könnte, kann hier - unbeschadet der im Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 <396 ff.>) entwickelten Grundsätze - offenbleiben.

115

c) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot.

116

aa) Art. 103 Abs. 2 GG findet auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung keine Anwendung, weil diese als Maßregel der Besserung und Sicherung und nicht als Strafe im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist (vgl. BVerfGE 109, 133 <187 f.>; 128, 326 <376 f., 392 f.>). Strafbarkeit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG setzt voraus, dass das auferlegte materielle Übel mit der Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens verknüpft ist und von seiner Zielrichtung her (zumindest auch) dem Schuldausgleich dient (BVerfGE 109, 133<172 ff.>; 128, 326 <376 f., 392 f.>). Der Zweck der Sicherungsverwahrung liegt jedoch allein in der zukünftigen Sicherung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder vor einzelnen, aufgrund ihres bisherigen Verhaltens als hochgefährlich eingeschätzten Tätern. Diese Zweispurigkeit des strafrechtlichen Sanktionensystems entspricht in besonderer Weise dem rechtsstaatlich liberalen Verständnis der deutschen Strafrechtsordnung (vgl. BVerfGE 128, 326 <374, 376 f.>).

117

Maßstab ist Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, der den Gesetzgeber verpflichtet, die Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestimmen. Nur er soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen. Freiheitsentziehungen sind in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Insoweit konkretisiert Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG für den Bereich der Freiheitsentziehung die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bestimmtheitsanforderungen (vgl. BVerfGE 29, 183 <195 f.>; 76, 363 <387>; 109, 133 <188>). Präventive Freiheitsentziehungen greifen ebenso stark in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ein wie Freiheitsstrafen. Der Gesichtspunkt, dass die Vorgaben des Gesetzgebers umso genauer sein müssen, je intensiver der Grundrechts-eingriff ist und je schwerwiegender die Auswirkungen der Regelung sind (vgl. BVerfGE 86, 288 <311>; 93, 213 <238> m.w.N.) erhält daher besonderes Gewicht (BVerfGE 109, 133 <188>). Insoweit enthält Art. 104 Abs. 1 GG ein ähnliches Bestimmtheitsgebot wie Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfGE 29, 183<196>; 78, 374 <383>; 96, 68 <97>).

118

Das Bestimmtheitsgebot schließt die Verwendung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht aus (vgl. BVerfGE 11, 234 <237>; 28, 175 <183>; 48, 48 <56>; 92, 1 <12>; 126, 170 <196>). Der Gesetzgeber muss in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden (vgl. zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 28, 175<183>; 47, 109 <120 f.>; 126, 170 <195>). Dabei lässt sich der Grad der für eine Norm jeweils erforderlichen Bestimmtheit nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Tatbestandes einschließlich der Umstände ab, die zur gesetzlichen Regelung geführt haben (BVerfGE 28, 175 <183>; 86, 288 <311>; 126, 170 <196>). Gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bestehen keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverläs-sige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (BVerfGE 45, 363 <371 f.>; 86, 288 <311>). Die Rechtsprechung ist zudem gehalten, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (zum an die Rechtsprechung gerichteten Präzisierungsgebot im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 126, 170 <198>).

119

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Vorschrift des § 66a Abs. 1 StGB a.F. nicht zu beanstanden. Das für die Anordnung des Vorbehalts erforderliche Merkmal der nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbaren Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit erschließt sich hinreichend deutlich aus dem Regelungsgehalt des § 66a StGB a.F., dem Zusammenhang mit § 66 StGB a.F., der Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung.

120

Aus dem Wortlaut des § 66a Abs. 1 StGB a.F. ergibt sich, dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nur dann in Betracht kommt, wenn die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit gerade nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden kann. Der Vergleich mit den Regelungen zur primären Sicherungsverwahrung bestätigt dies. Die Anordnung des Vorbehalts ist daher zum einen ausgeschlossen, wenn das erkennende Gericht von der Gefährlichkeit, wie sie die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung verlangt, überzeugt ist (vgl. BGHSt 50, 188 <193>; BGH, Beschluss vom 9. September 2008 - 1 StR 449/08 -, NStZ 2009, S. 566 <567>). Zum anderen kommt der Vorbehalt nach dem Willen des Gesetzgebers nicht in Betracht, wenn das Gericht die Gefährlichkeit des Täters bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht für ausreichend wahrscheinlich erachtet. Das erkennende Gericht muss diesbezüglich alle seine Aufklärungsmöglichkeiten ausschöpfen (vgl. BTDrucks 14/8586, S. 6).

121

Hinsichtlich der Frage, wie wahrscheinlich die Gefährlichkeit des Betroffenen sein muss, um einen Vorbehalt aussprechen zu können, ergibt sich aus den Ausführungen des Gesetzgebers im Gesetzesentwurf zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, dass bei dieser Frage restriktive Maßstäbe anzulegen sind (vgl. auch Rissing-van Saan/Peglau, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2008, § 66a Rn. 25). Der Gesetzgeber hat darauf verwiesen, dass einem denkbaren sogenannten "Net-Widening-Effekt", also der Gefahr einer rein vorsorglichen Anordnung des Vorbehalts, vorzubeugen sei. Das Gericht müsse überprüfbar darlegen, welche Gründe für die Anordnung eines Vorbehalts sprächen (BTDrucks 14/8586, S. 6). Damit wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass die bloß theoretische, nicht ausschließbare Möglichkeit einer Gefährlichkeit des Betroffenen für die Anordnung nicht ausreicht. Die Rechtsprechung hat in diesem Sinne das Kriterium der nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbaren Gefährlichkeit im Sinne des § 66a Abs. 1 StGB a.F. dahingehend präzisiert, dass zur Anordnung des Vorbehalts eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass der Täter gefährlich für die Allgemeinheit ist und dies zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Strafvollzug auch noch sein wird (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04 -, juris, Rn. 13; Urteil vom 20. November 2007 - 1 StR 442/07 -, juris, Rn. 11).

122

cc) Der Bestimmtheitsgrundsatz ist auch unter Berücksichtigung der Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention gewahrt. Mit dem allgemeinen Erfordernis, dass die Freiheitsentziehung "rechtmäßig" und "in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise" erfolgen muss, verweist Art. 5 Abs. 1 EMRK im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss das der Freiheitsentziehung zugrunde liegende innerstaatliche Gesetz seinerseits der Konvention und den darin ausdrücklich genannten oder implizierten allgemeinen Grundsätzen entsprechen. Insbesondere muss es hinreichend zugänglich, präzise und in seiner Anwendung vorhersehbar sein (vgl. EGMR, Urteil vom 25. Juni 1996, Beschwerde-Nr. 19776/92, Amuur ./. Frankreich, Rn. 50; Urteil vom 28. März 2000, Beschwerde-Nr. 28358/95, Baranowski ./. Polen, Rn. 52; Urteil vom 9. Juli 2009, Beschwerde-Nr. 11364/03, Mooren ./. Deutschland, Rn. 73, 76; Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 90, 104). Dies ist bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung der Fall. Soweit Bedenken geltend gemacht werden, dass die Vorschriften zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung den Anforderungen an eine präzise und vorhersehbare Anwendung nicht genügten, weil die endgültige Anordnung maßgeblich vom Vollzugsverhalten des Strafgefangenen und damit einem wenig aussagekräftigen Kriterium abhängig sei (vgl. Kinzig, NJW 2011, S. 177 <179>), vermag der Senat diese aus den bereits genannten Gründen nicht zu teilen (siehe hierzu oben B.II.2.a)bb)(3)). Im Übrigen ist auch im Hinblick auf die für konventionsgemäß erachtete primäre Sicherungsverwahrung, bei der ebenfalls eine Gesamtwürdigung im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose vorzunehmen ist, davon auszugehen, dass die zugrunde liegenden Vorschriften in ihrer Anwendbarkeit vorhersehbar sind (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Oktober 2010, Beschwerde-Nr. 24478/03, Grosskopf ./. Deutschland, Rn. 53).

123

d) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt auch nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Gebot der Rechtssicherheit.

124

aa) Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit in einem spezifischen Sinne: Es verbietet, den von einem staatlichen Eingriff in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) Betroffenen über das Ausmaß dieses Eingriffs im Ungewissen zu lassen, wenn und sobald nach der jeweiligen gesetzlichen Grundlage das zulässige Ausmaß des Eingriffs einer abschließenden Beurteilung zugänglich ist. Das Gebot der Rechtssicherheit verlangt vielmehr einen Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, in dem der von einem solchen Eingriff Betroffene Gewissheit über dessen Ausmaß jedenfalls zu demjenigen Zeitpunkt erlangt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt (vgl. BVerfGE 86, 288 <327>).

125

bb) Ob diese Maßstäbe, die der Senat in seiner Entscheidung zum Verfahren der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe entwickelt hat, trotz des kategorialen Unterschiedes zwischen der Verbüßung einer dem Schuldausgleich dienenden Freiheitsstrafe und der allein von der Gefährlichkeit des Betroffenen abhängigen Anordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfGE 109, 133 <174>; 128, 326 <377>) auf letztere übertragbar sind, kann hier dahingestellt bleiben. Ein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass der von einem staatlichen Eingriff in seine Freiheit Betroffene bereits mit der Aburteilung Gewissheit über die tatsächliche Dauer der Freiheitsentziehung haben müsste, ergibt sich aus ihnen nicht (zur Verfassungsmäßigkeit der unbefristeten Sicherungsverwahrung vgl. BVerfGE 109, 133 <149 ff.>). Der Betroffene hat lediglich Anspruch auf Gewissheit über die Länge einer Freiheitsentziehung zu dem Zeitpunkt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt (vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 <1204>).

126

Hiervon ausgehend begegnet die vorbehaltene Sicherungsverwahrung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach der vom Gesetzgeber gewählten Konzeption kommt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nur dann in Betracht, wenn zum Zeitpunkt der Aburteilung trotz erheblicher, nahe liegender Wahrscheinlichkeit die Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit gerade nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Haftstrafe zum Schutz der Allgemeinheit soll daher zwecks Verbreiterung der Erkenntnisgrundlage gegen Ende der Haftzeit getroffen werden. Der Konstruktion der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist es daher gerade immanent, dass die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann.

127

Bedenken, dass im Falle der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu spät erfolge und die Gefahr bestehe, dass ein rechtzeitiger Beginn von Entlassungsvorbereitungen nicht gewährleistet sei (vgl. etwa v. Galen, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 16. April 2002; Rzepka, R & P 2003, S. 191 <202>), teilt der Senat nicht. Zum einen kann die Entscheidung hinsichtlich der Gefährlichkeit des Täters auf einer umso sichereren Grundlage erfolgen, je länger der Beobachtungszeitraum ist (vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 <1204> zur nachträglichen Sicherungsverwahrung). Zum anderen erfordert das ultima-ratio-Prinzip, dass bereits während des Strafvollzugs, wenn Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Gefährlichkeit des Verurteilten zu reduzieren (vgl. BVerfGE 128, 326 <379>). Der Gefahr, dass der Betroffene keine Chance erhält, eine für ihn günstige Gefahrenprognose herbeizuführen, da er nicht ausreichend auf eine Entlassung vorbereitet wurde (vgl. BVerfGE 86, 288 <327 f.>), wird auf diese Weise entgegengewirkt.

III.

128

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Recht auf den gesetzlichen Richter.

129

1. Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt. Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 3, 359 <364>; 29, 45 <49>; 58, 1 <45>; 82, 159 <197>; 82, 286 <299>). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (vgl. BVerfGK 5, 269 <280>; 12, 139 <144>; 15, 102 <105>).

130

2. Nach diesen Maßstäben begegnet die Besetzung der großen Jugendkammer des Landgerichts Deggendorf mit zwei Berufsrichtern keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

131

a) Nach § 33b Abs. 1 JGG in der hier maßgeblichen Fassung vom 7. Dezember 2008 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 7. Dezember 2008, BGBl I S. 2348) ist die - gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1, § 74b GVG in Jugendschutzsachen neben der Strafkammer zuständige - große Jugendkammer mit drei (Berufs-)Richtern - einschließlich des Vorsitzenden - und zwei Schöffen besetzt. § 33b Abs. 2 JGG, der § 76 Abs. 2 GVG in der Fassung vom 7. Dezember 2008 nachgebildet ist, eröffnet die Möglichkeit, mit zwei statt drei Berufsrichtern zu verhandeln, wenn nicht die Sache nach den allgemeinen Vorschriften einschließlich der Regelung des § 74e des GVG zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehört oder nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint.

132

Nach ständiger fachgerichtlicher Rechtsprechung steht der das Hauptverfahren eröffnenden Kammer bei der Entscheidung über die sogenannte Besetzungsreduktion kein Ermessen zu. Die Besetzung mit drei Berufsrichtern ist zu beschließen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache kommt der Kammer ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der es gestattet, die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Bedeutsam sind dabei etwa die Zahl der Angeklagten und Verteidiger, die Zahl der Delikte und notwendigen Dolmetscher, die Zahl der Zeugen und anderer Beweismittel, die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung. Die überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sache kann sich etwa aus der Notwendigkeit umfangreicher Sachverständigengutachten, zu erwartenden Beweisschwierigkeiten oder der rechtlichen oder tatsächlichen Kompliziertheit ergeben (vgl. zur Parallelvorschrift des § 76 Abs. 2 GVG grundlegend BGHSt 44, 328<334 f.>; BGH, Beschluss vom 14. August 2003 - 3 StR 199/03 -, NStZ 2004, S. 56; ferner Beschluss vom 16. Dezember 2003 - 3 StR 438/03 -, NStZ-RR 2004, S. 175).

133

b) Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist die Besetzungsreduktion gemäß § 76 Abs. 2 GVG beziehungsweise § 33b Abs. 2 JGG nicht maßgeblich von der Eingriffstiefe der zu erwartenden Maßnahme abhängig zu machen. Der Gesetzgeber hat gerade mit Blick auf die Bedeutung der Kammerbesetzung für die Qualität der zu treffenden Entscheidung (vgl. BTDrucks 12/1217, S. 46 f.) auch für Strafsachen, in denen die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach zuvor ergangenem Vorbehalt in Frage steht, die Besetzung der Strafkammer mit drei Richtern nicht zwingend vorgeschrieben, sondern dies von Umfang und Schwierigkeit der Sache abhängig gemacht (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2003 - 3 StR 438/03 -, NStZ-RR 2004, S. 175). Darin liegt keine unzureichende Berücksichtigung des Gewichts der Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung; vielmehr beruht die gesetzliche Regelung auf der vertretbaren Annahme, dass auch bei solchen Entscheidungen die notwendige Entscheidungsqualität von der Mitwirkung dreier Berufsrichter nur nach Maßgabe des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache abhängt.

134

Die Begriffe der Schwierigkeit und des Umfangs der Sache sind schon ihrem Wortsinn nach nicht ohne weiteres mit der Schwere der zu erwartenden Sanktion gleichzusetzen. Die Entscheidung über die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wirft zudem weder per se schwierige Rechtsfragen auf, noch ist sie stets auf einer überdurchschnittlich umfangreichen Tatsachengrundlage zu treffen, so dass die Besetzung der Kammer mit drei Berufsrichtern bei der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht zwingend erscheint. Dass im Falle einer Besetzung mit lediglich zwei Berufsrichtern eine sachgerechte Durchführung derjenigen Verfahren, in denen über die Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgeschlossen wäre, behauptet auch der Beschwerdeführer nicht.

135

c) Auch die Anwendung des § 33b Abs. 2 JGG auf den vorliegenden Fall ist weder willkürlich oder offensichtlich unvertretbar, noch lässt sie erkennen, dass die Kammer Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt hätte. Die Jugendkammer hat zur Begründung ihrer Besetzungsentscheidung ausgeführt, dass in Anbetracht der Ladung von lediglich drei Zeugen und einem Sachverständigen die Sache nicht außerordentlich umfangreich sei und sich die Rechtslage nicht schwieriger als schon im Anlassverfahren darstelle. Damit hat sie ihrer Entscheidung die Maßstäbe der fachgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde gelegt. Der Umstand, dass die Kammer in ihrem Beschluss vom 18. November 2010 von einem ihr zustehenden "Ermessen" spricht, vermag entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Mit der Formulierung hat die Kammer ersichtlich den ihr nach der Rechtsprechung zustehenden Beurteilungsspielraum gemeint.

136

Eine die Besetzung mit drei Richtern erfordernde Schwierigkeit der Sache ergibt sich, anders als der Beschwerdeführer meint, nicht aus der von ihm vorgebrachten vermeintlich unterschiedlichen Rechtsprechung der Senate des Bundesgerichtshofs zu § 66a StGB a.F. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 5. September 2008 (2 StR 237/08 -, juris) betraf das Verfahren zur Anordnung des Vorbehalts, nicht aber - wie hier - die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach vorherigem Vorbehalt.

IV.

137

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer jedoch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, weil sie auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 66a StGB a.F. beruhen. Die Gründe der Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Norm führen daher auch zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 66a Abs. 1, Abs. 2 StGB a.F. aus der Maßgabe des Urteils des Senats vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ff.) ergeben. § 66a Abs. 1, Abs. 2 StGB a.F. kann während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. In der Regel wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur Genüge getan, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfGE 128, 326 <405 f.>).

138

Die Gerichte haben nicht geprüft, ob nach diesem Maßstab die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung das Urteil vom 4. Mai 2011 nicht berücksichtigen konnten, weil es noch nicht ergangen war. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).

139

Zur Beseitigung des festgestellten Verfassungsverstoßes wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 29. März 2011 aufgehoben und die Sache an diesen zurückverwiesen. Eine Aufhebung des Urteils des Landgerichts Deggendorf vom 18. November 2010 ist hingegen nicht geboten. Insofern ist lediglich gemäß § 95 Abs. 1 BVerfGG die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG festzustellen (vgl. zum Umfang der Aufhebung fachgerichtlicher Entscheidungen auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1995 - 2 BvR 1180/94 -, juris, Rn. 14 f.; BVerfGK 14, 177 <186 f.>). Der Bundesgerichtshof hat in seiner erneuten Revisionsentscheidung unter Anwendung der Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (Nummer III.1. des Tenors in Verbindung mit den Urteilsgründen) zu prüfen, ob die vom Landgericht Deggendorf bereits getroffenen Feststellungen genügen, um abschließend über die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung entscheiden zu können, oder ob hierfür ergänzende Feststellungen zu treffen sind.

C.

140

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.

(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.

(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.

(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.

(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.

(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.

(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.

(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.

(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.

(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.

Tenor

In Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 4. Juli 2018 wird dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten Rechtsanwalt F* …, E* …, mit der Maßgabe bewilligt, dass er auf die von ihm gegebenenfalls zu tragenden Prozesskosten monatliche Raten in Höhe von 31,00 EUR zu leisten hat.

Gründe

I.

Der nach seinen Angaben 1987 im Irak geborene Antragsteller, der seit dem Jahr 2000 in Deutschland lebt und eine Duldungsbescheinigung innehat, mit der er nicht seiner Ausweis- oder Passpflicht genügt, wendet sich gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Untätigkeitsklage.

Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 22. August 2017 beantragte der Antragsteller unter Verweis auf neuere obergerichtliche Rechtsprechung die Zulassung zur Führerscheinprüfung. Dies habe die Antragsgegnerin bei einer Vorsprache des Antragstellers am 8. August 2017 mit der Begründung abgelehnt, seine Identität sei durch eine Duldungsbescheinigung nicht ausreichend nachgewiesen.

Daraufhin teilte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 23. August 2017 unter Hinweis auf den ausländerrechtlichen Status des Antragstellers mit, dass eine Zulassung zur Führerscheinprüfung auch im Falle einer Antragstellung nicht in Betracht komme. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 8. September 2016 u.a. auf § 64 AsylG abgestellt, wonach ein Ausländer für die Dauer des Asylverfahrens seiner Ausweispflicht mit der Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung genüge. Nachdem das Asylverfahren des Antragstellers negativ abgeschlossen sei, unterliege er jedoch nach § 3 AufenthG uneingeschränkt der Passpflicht. In diesem Fall könne eine Duldung nicht als ausreichender Identitätsnachweis im Sinne von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV anerkannt werden.

Daraufhin ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Ansbach einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, ggf. unter Auferlegung einer Ratenzahlung, für eine beabsichtigte Klage auf Zulassung zur Führerscheinprüfung stellen. Er sei irakischer Staatsangehöriger, halte sich seit 17 Jahren im Bundesgebiet auf und sei seit mehr als zehn Jahren im Besitz einer Duldung. Mit der Begründung der Antragsgegnerin könne die beantragte Fahrerlaubnis nicht versagt werden. Die Unterlagen gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV dienten dem Nachweis des Mindestalters. Dieser Nachweis werde durch Vorlage der Duldung erbracht. Auch die Antragsgegnerin habe wohl keinen Zweifel daran, dass der Antragsteller älter als 18 Jahre sei. Das Verwaltungsverfahren diene nicht dem Ziel, weitere Anforderungen an den Identitätsnachweis zu stellen. Aufgrund des ablehnenden Schreibens vom 23. August 2017 sei Klage geboten gewesen. Aus welchem Grund die Antragsgegnerin nochmals darauf hinweise, dass auch im Falle einer Antragstellung der Antrag abgelehnt werde, erschließe sich nicht. Vielmehr liege ein ordnungsgemäßer Antrag vor und die Antragsgegnerin habe darauf hingewiesen, dass eine weitere Antragstellung aussichtslos sei und abgelehnt würde.

Mit Beschluss vom 4. Juli 2018 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab. Dem Antragsteller fehle die Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO, da er noch keinen formgerechten Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis im Sinne von § 21 FeV gestellt und weder die notwendigen Angaben gemacht noch die notwendigen Unterlagen vorgelegt habe. Es könne daher nicht erwartet werden, dass die Antragsgegnerin eine rechtsmittelfähige Entscheidung treffe. Es sei völlig unklar, welche Fahrerlaubnis der Antragsteller begehre. Er habe keinen Sehtest nachgewiesen und kein Lichtbild vorgelegt. Auch sei nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 Satz 3 FeV vorlägen. Der Antragsgegnerin sei es daher nicht möglich, das Verfahren nach § 22 ff. FeV durchzuführen. Im Übrigen habe der Antragsteller auch dem Gericht gegenüber nicht die für die Erteilung einer Fahrerlaubnis notwendigen Angaben gemacht. Hinsichtlich der Frage, ob eine Duldungsbescheinigung ein ausreichender Nachweis gemäß § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV sei, fehle dem Antragsteller das Rechtsschutzbedürfnis. Es sei nicht ersichtlich, dass eine reine Vorfrage quasi im Wege eines Rechtsgutachtens vorab geklärt werden müsse. Vielmehr wäre diese nach § 44a VwGO im Rahmen einer möglicherweise angegriffenen Sachentscheidung der Antragsgegnerin zu bewerten.

Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde vom 24. Juli 2018 mit der Begründung, die Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags aus formaljuristischen Gründen sei nicht hinnehmbar. Auch könne nicht hingenommen werden, dass eine Behörde einen Bürger bei einer Vorsprache nicht darauf hinweise, dass ein formeller schriftlicher Antrag zu stellen sei. Außerdem entfalle das Erfordernis einer formalistischen Antragstellung, wenn der Bürger abgewiesen und noch darauf hingewiesen werde, dass sein Antrag nicht aufgenommen werde. Am 23. Juli 2018 habe der Antragsteller mit einer Zeugin nochmals bei der Antragsgegnerin vorgesprochen, seine Duldung, eine Teilnahmebescheinigung an einer Schulung in Erster Hilfe und die Bescheinigung über einen Sehtest vorgelegt sowie eine Fahrschule benannt. Er sei wiederum abgewiesen worden, ohne dass ein entsprechender Antrag aufgenommen oder ihm erklärt worden wäre, dass noch weitere Unterlagen fehlten. In Fällen, in denen eindeutig sei, dass die Verwaltung das Antragsbegehren ablehnen werde, könne auch vor Ablauf der Dreimonatsfrist Klage erhoben werden.

Mit Schreiben vom 7. August 2018 ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten bei der Antragsgegnerin einen schriftlichen Antrag auf „Zulassung zur Führerscheinprüfung der Klasse B“ mit Unterlagen über die Teilnahme an einer Schulung in Erster Hilfe und über einen Sehtest sowie mit einem Lichtbild und einer aktuellen Duldungsbescheinigung stellen.

Mit Antwortschreiben vom 4. September 2018 teilte die Antragsgegnerin mit, der Antragsteller sei lediglich im Besitz einer bis 8. Januar 2019 befristeten Duldungsbescheinigung. Nach Rücksprache mit der Ausländerbehörde seien die Zweifel an seiner Identität nicht ausgeräumt, da er auch dort keine zur Klärung geeigneten Dokumente vorgelegt habe. Aufgrund dieser Umstände sei sein Antrag bisher nicht angenommen worden. Ein rechtsmittelfähiger Bescheid über die Ablehnung des Antrags könne erst erlassen werden, wenn ein Antrag gestellt sei. Da dieser unter den gegebenen Voraussetzungen aller Voraussicht nach abgelehnt werde, könne dies aber nicht empfohlen werden. Für den Fall, dass auf der Antragstellung bestanden werde, werde darauf hingewiesen, dass die Gebühr hierfür 200,- EUR betrage und im Fall der Ablehnung nochmals 148,70 EUR zur Zahlung fällig würden. Mit Schreiben vom 20. November 2018 korrigierte die Antragsgegnerin ihre Angabe zur Höhe der Gebühr für die Antragstellung dahingehend, dass diese 44,- EUR betrage, und verwies abermals darauf, dass ein Antrag wegen ungeklärter Identität kostenpflichtig abgelehnt werde.

Mit Schreiben vom 4. September 2018 beantragt sie unter Bezugnahme auf die Akten, die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde, mit der der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Untätigkeitsklage weiterverfolgt, ist begründet. Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe unter Anordnung einer Ratenzahlung und unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu bewilligen.

Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussichten sind gegeben, wenn ein Prozesserfolg mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, d.h. wenn bei summarischer Überprüfung ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Das ist unter anderem dann der Fall, wenn die Entscheidung von einer ungeklärten schwierigen Rechts- oder Tatsachenfrage abhängt (BVerfG, B.v. 18.9.2017 - 2 BvR 451/17 - NVwZ 2018, 319 = juris Rn. 11). Dabei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussicht grundsätzlich die Bewilligungsreife, d.h. der Zeitpunkt nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen und einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 C 18.54 - juris Rn. 7 m.w.N.; B.v. 11.1.2016 - 10 C 15.724 - juris Rn. 14 m.w.N.; BVerwG, B.v. 12.9.2007 - 10 C 39.07 u.a. - juris Rn. 1; BVerfG, B.v. 5.12.2018 - 2 BvR 2257/17 - juris Rn. 15); ausnahmsweise jedoch der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, hier des Beschwerdegerichts, wenn sich im Laufe des Verfahrens die Sach- und Rechtslage zugunsten des Antragstellers geändert hat (BayVGH, B.v. 26.11.2018, a.a.O.; B.v. 5.10.2018 - 10 C 17.322 - juris Rn. 6; B.v. 21.12.2009 - 19 C 09.2958 - juris Rn. 3 ff., jeweils m.w.N.). Denn für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage und damit auch für den Beurteilungszeitpunkt kommt es allein auf das materielle Recht an. Zudem wäre es mit dem Sinn der Vorschriften über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vereinbar, unter Berufung auf das Fehlen hinreichender Erfolgsaussichten in der Vergangenheit die Beschwerde zurückzuweisen und einen Antragsteller darauf zu verweisen, wegen einer aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage mittlerweile positiven Beurteilung der Erfolgsaussichten einen erneuten Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen (BayVGH, B.v. 26.11.2018, a.a.O.; B.v. 5.10.2018, a.a.O.; Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 166 Rn. 14a).

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind erfüllt. Der Antragsteller hat nachgewiesen, dass er die Verfahrenskosten nur in Form von Raten aufbringen kann (§ 115 Abs. 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Bei der Berechnung des einzusetzenden Einkommens konnten die geltend gemachten, aber nicht nachgewiesenen Ausgaben für seinen Sohn, die über den regelmäßig gezahlten monatlichen Kindesunterhalt von 200,- EUR hinausgehen, nicht berücksichtigt werden.

Die beabsichtigte Klage bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Dahinstehen kann, ob dies bereits im Zeitpunkt der Bewilligungsreife der Fall war, da - wie das Verwaltungsgericht annahm - der Fahrerlaubnisbehörde weder ein schriftlicher Antrag noch die nach § 21 Abs. 3 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Mai 2018 (BGBl I S. 566), erforderlichen Unterlagen noch sonst erforderliche Angaben vorlagen. Gegen diese Rechtsauffassung spricht zwar nicht, dass die hier statthafte allgemeine Leistungsklage anders als die Verpflichtungsklage grundsätzlich kein prozessuales Antragserfordernis kennt (Happ in Eyermann, VwGO, § 42 Rn. 68; BVerwG, B.v. 23.6.2009 - 2 B 66.08 - juris Rn. 4). Mit der beantragten Zulassung zur Führerscheinprüfung begehrt der Antragsteller, der noch keine Prüfung nach § 15 FeV abgelegt hat, der Sache nach die Erteilung eines Prüfauftrags an die zuständige Technische Prüfstelle für den Kraftfahrzeugverkehr gemäß § 22 Abs. 4 Satz 1 FeV und die Übersendung des bereits vorbereiteten Führerscheins zwecks Aushändigung (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.1009 - 11 C 08.2018 - juris Rn. 13, 27; Trésoret in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 10.1.2019, § 15 FeV Rn. 74). Dabei handelt es sich mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen (Art. 35 Satz 1 BayVwVfG) um ein sonstiges Verwaltungshandeln, das mit der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen ist. Da jedoch ein schriftlicher Antrag mit bestimmten Nachweisen und Unterlagen nach materiellem Recht (§ 21 Abs. 1, 3, Abs. 3 FeV) vorausgesetzt wird, könnte ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage vor Antragstellung durchaus zweifelhaft sein. Davon kann allerdings dann nicht ausgegangen werden, wenn wie hier eine Behörde die Entgegennahme eines in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Antrags verweigert, weil sie ihn für unzulässig hält. Nach Art. 24 Abs. 3 BayVwVfG darf sie erst nach Entgegennahme entscheiden, ob der ggf. auszulegende Antrag unzulässig oder unbegründet ist (vgl. Kallerhoff/Fellenberg in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 24 Rn. 68). In jedem Fall besteht eine Pflicht zur Bescheidung (Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O. § 22 Rn. 23). Nachdem vorliegend der schriftliche Antrag einschließlich der erforderlichen Unterlagen mit anwaltlichem Schreiben vom 7. August 2018 gestellt worden ist und die Antragsgegnerin eine Antragsaufnahme anlässlich der persönlichen Vorsprache des Antragstellers am 23. Juli 2018 wiederholt verweigert hatte, ist jedenfalls die sich hieraus ergebende Änderung der Sachlage zugunsten des Antragstellers nach den oben dargelegten Grundsätzen bei der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch zu berücksichtigen. Dabei ist es im Hinblick auf die Weigerung der Antragsgegnerin, sich mit dem Antrag des Antragstellers zu befassen, unschädlich, wenn jener nicht sämtliche etwa erforderlichen Einzelheiten enthalten sollte, die ggf. nach Art. 25 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG noch ergänzend abgefragt werden können.

Auch eine Klagebefugnis ist dem Antragsteller nicht abzusprechen. In analoger Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO ist die allgemeine Leistungsklage, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung des begehrten Verwaltungshandelns in seinen Rechten verletzt zu sein, und wenn nach seinem Vorbringen die Verletzung dieser Rechte möglich erscheint, wobei es ausreicht, dass ein solcher Anspruch auf der Grundlage des Klagevorbringens nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist (BVerwG, U.v. 19.11.2015 - 2 A 6/13 - juris Rn. 15; B.v. 18.12.2014 - 4 C 36.13 - BVerwGE 151, 138 = juris Rn. 14). Aus dem - bei Vorliegen der festgelegten Voraussetzungen - zwingenden Erteilungsanspruch nach § 2 Abs. 2 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. Dezember 2018 (BGBl I S. 2251), dem in §§ 21 f. FeV normierten Verfahren und § 22 Abs. 4 Satz 1 FeV folgt, dass die Fahrerlaubnisbehörde den Bewerber zur Prüfung zuzulassen hat, wenn nur noch die Prüfungen abzulegen und die übrigen Erteilungsvoraussetzungen (§ 2 Abs. 2 StVG, §§ 7 bis 19 FeV) gegeben sind. Ein derartiger Zulassungsanspruch erscheint auf der Grundlage des Vorbringens des Antragstellers nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen.

Schließlich steht auch § 44a VwGO der Erhebung einer allgemeinen Leistungsklage nicht entgegen (im Ergebnis ebenso BayVGH, B.v. 5.11.2009 - 11 C 08.3165 - juris; B.v. 17.10.2006 - 11 CE 06.974 - juris). Nach dem in §§ 21 f. FeV geregelten Verfahren zum Erwerb der Fahrerlaubnis erfolgen sämtliche von Seiten der Fahrerlaubnisbehörde durchzuführenden Verfahrenshandlungen regelmäßig vor Erteilung des Prüfauftrags. Bei Bestehen der theoretischen und praktischen Fahrprüfung, die außerhalb ihres Bereichs und ohne ihre Mitwirkung durchgeführt wird, händigt der Prüfer den Führerschein mit dem Prüfdatum versehen aus (§ 22 Abs. 4 Satz 3 FeV), womit die Fahrerlaubnis erteilt ist (§ 11 Abs. 4 Satz 7 FeV). In diesem zweigeteilten Verfahren kann daher die Erteilung des das Verwaltungsverfahren bei der Fahrerlaubnisbehörde abschließenden Prüfauftrags als abschließende Sachentscheidung im Sinne des § 44a VwGO angesehen werden (zu den vollstreckungsrechtlichen Problemen einer Verpflichtungsklage gerichtet auf die Erteilung einer Fahrerlaubnis unter Vorbehalt vgl. Trésoret, a.a.O. § 15 FeV Rn. 74 f.).

Hinsichtlich des vom Antragsteller angestrebten Verwaltungsverfahrens ist zwischen den Beteiligten derzeit lediglich streitig, ob die Duldungsbescheinigung des Antragstellers als geeigneter Nachweis im Sinne von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV überhaupt in Betracht kommt. Der Rechtsansicht der Antragsgegnerin, dass die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 8.9.2016 - 3 C 16.15 - BVerwGE 156, 111 = juris) insofern nicht einschlägig sei, kann nicht gefolgt werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist in dieser Entscheidung ausgehend vom Normzweck des § 2 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 StVG i.V.m. § 21 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 FeV, die Identifikation des Fahrerlaubnisbewerbers und das Erreichen des Mindestalters sicherzustellen sowie die Feststellung fahreignungsrelevanter Tatsachen in den maßgeblichen Registern zu ermöglichen, zu dem Schluss gekommen, dass ein amtlicher, d.h. von einer Behörde herrührender Nachweis, wie eine Aufenthaltsgestattung gemäß § 64 AsylG, ungeachtet des Vermerks, die Angaben zur Person beruhten auf den eigenen Angaben des Inhabers, diesen Zweck erfüllen kann, sofern keine konkreten Zweifel an den Angaben bestehen und insbesondere das Erreichen des Mindestalters nicht zweifelhaft ist (a.a.O. Rn. 14 ff.). Aus diesen allgemeinen Maßgaben und dem Verweis auf weitere Rechtsprechung und einen Ministerialerlass, wonach auch ein Reiseausweis für Flüchtlinge, eine Duldungsbescheinigung oder die ausländerrechtliche Aktenlage als ausreichender Nachweis gemäß § 21 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 FeV anzusehen ist (a.a.O Rn. 20), ergibt sich, dass es die Reichweite seiner Entscheidung nicht auf den Einzelfall einer Aufenthaltsgestattung beschränkt, sondern auf vergleichbare Dokumente, wie die hier vorliegende Duldungsbescheinigung, übertragbar verstanden hat (vgl. Trésoret, a.a.O. § 21 FeV Rn. 90, 93). Die Frage, ob der Ausländer gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG der Passpflicht unterliegt oder ob er dieser, etwa durch eine Duldungsbescheinigung im Sinne des § 48 Abs. 2 AufenthG, genügt, hat für die Entscheidung ersichtlich keine Rolle gespielt. Entgegenstehende frühere Rechtsprechung (wie etwa BayVGH, B.v. 26.2.2002 - 11 CE 02.225) ist durch die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts überholt (Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht. 45. Aufl. 2019, § 21 FeV Rn. 12).

Ob die Identität des Antragstellers nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen hinreichend nachgewiesen ist, ob insbesondere ein verlässlicher Abgleich mit den für die Fahrerlaubniserteilung relevanten Registern möglich ist (vgl. Dauer, a.a.O.; BVerwG, U.v. 8.9.2016 a.a.O. Rn. 16, 23 ff.; OVG NW, B.v. 5.6.2014 - 16 A 1851/11 - juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 5.11.2009, a.a.O. Rn. 33 ff.), ist offen und wird im Klageverfahren zu klären sein. Zweifel am Erreichen des Mindestalters können aufgrund der Aufenthaltsdauer des Antragstellers im Inland nicht bestehen.

Da es in dem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende tatsächliche und rechtliche Fragen geht, ist dem Antragsteller gemäß § 121 Abs. 2 ZPO sein Bevollmächtigter beizuordnen.

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Nachdem der Beschwerde stattgegeben wurde, ist das Verfahren nach Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG gerichtskostenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4, § 127 Abs. 4 ZPO).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist unanfechtbar. Das gilt auch, wenn nur das Klagebegehren gegen die Entscheidung über den Asylantrag als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, das Klagebegehren im Übrigen hingegen als unzulässig oder unbegründet abgewiesen worden ist.

(2) In den übrigen Fällen steht den Beteiligten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(3) Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

(4) Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss, der keiner Begründung bedarf. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) § 134 der Verwaltungsgerichtsordnung findet keine Anwendung, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts nach Absatz 1 unanfechtbar ist.

(7) Ein Rechtsbehelf nach § 84 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids zu erheben.

(8) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 132 Absatz 1 und § 137 Absatz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung auch zu, wenn das Oberverwaltungsgericht

1.
in der Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat von deren Beurteilung durch ein anderes Oberverwaltungsgericht oder durch das Bundesverwaltungsgericht abweicht und
2.
die Revision deswegen zugelassen hat.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde kann auf diesen Zulassungsgrund nicht gestützt werden. Die Revision ist beschränkt auf die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat. In dem hierfür erforderlichen Umfang ist das Bundesverwaltungsgericht abweichend von § 137 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung nicht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt für die Beurteilung der allgemeinen Lage diejenigen herkunfts- oder zielstaatsbezogenen Erkenntnisse, die von den in Satz 1 Nummer 1 genannten Gerichten verwertet worden sind, die ihm zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung oder Entscheidung (§ 77 Absatz 1) von den Beteiligten vorgelegt oder die von ihm beigezogen oder erhoben worden sind. Die Anschlussrevision ist ausgeschlossen.

(8a) Das Bundesministerium des Innern und für Heimat evaluiert im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Justiz die Revision nach Absatz 8 drei Jahre nach Inkrafttreten.